Verlorene Seelen 4 - Sprung ins Ungewisse - Claudia Choate - E-Book

Verlorene Seelen 4 - Sprung ins Ungewisse E-Book

Claudia Choate

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Beschreibung

Die junge Robin-Marie Keller hat mit ihrem Pferd Jumping Jack, genau wie ihr Vater einige Jahre zuvor, gute Chancen, eine bekannte Springreiterin zu werden. Bis die Ignoranz und Unachtsamkeit ihres Ex-Freundes nicht nur ihren Traum, sondern beinahe ihr ganzes Leben zerstört. Doch der seit Jahren an Leukämie erkrankte und von diesem Kampf gezeichnete Deutsch-Franzose Pierre Chevalier, der seit kurzem von Robins Vater im Anfängerkurs unterrichtet wird, gibt das Mädchen nicht auf. Verbissen kämpft er gegen Koma, Verzweiflung und Angst, um ihr zurück ins Leben zu helfen.

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INHALTSVERZEICHNIS

Liebesblind

Ende und Anfang

Schicksalsstunden

Auf der Intensivstation

Gespräch unter Männern

Rehabilitation

Wieder daheim

Vertrauensbruch

Geduldsprobe

Unerwarteter Rückschlag

Professionelle Hilfe

Nächtliche Kämpfe

Reitunterricht

Überraschungen

Die römischen Göttinnen

Weihnachtsüberraschungen

Erfolgreiche Rückkehr

Das Versprechen

Solange du bei mir bist

Danksagung

Weitere Titel von C.Choate

LIEBESBLIND

“Sieger des heutigen Turniers ist Robin-Marie Keller auf Jumping Jack. Der zehnjährige Wallach hat heute seinem Namen alle Ehre gemacht“, kam es aus dem Lautsprecher und die Siegerin ritt mit stolz erhobenem Haupt zu dem Turnierleiter, um ihre Schleife abzuholen. Ihre langen, blonden Haare waren zu einem ordentlichen Zopf geflochten und reichten ihr bis in die Mitte der schwarzen Turnierjacke. Die makellos weiße Hose hob sich von dem dunkelbraunen Fell des Wallachs und dem schwarzen Sattel deutlich ab.

Nachdem sie ihre gelbe Schleife in Empfang genommen hatte, durfte sie die anderen bei ihrer Siegerrunde anführen und ritt schließlich auf den Ausgang zu, wo sie von einem blonden Jungen in Empfang genommen wurde, der sie zu sich herunter zog und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte. „Toller Ritt, Kleines“, lobte er sie und das Mädchen schaute belustigt auf ihn hinunter.

„Wer ist hier klein?“, fragte sie amüsiert, denn auf dem Pferd überragte sie den Jungen um einen knappen Meter.

„Na du“, gab er zurück. „Bis du auf meinem Level mitmachen kannst, musst du noch um einiges besser werden. Aber ich gebe zu, dein heutiger Erfolg ist ein kleiner Trost gegen dein Versagen letzte Woche.“

„Immerhin bin ich auf Platz drei gekommen“, widersprach Robin beleidigt.

„Mädchen, kapier’ endlich, dass Platz drei für Versager ist. Gewinner landen auf dem ersten. Wir sehen uns später. Ich treffe mich noch mit ein paar Kumpels.“ Damit drehte er sich um und verschwand in der Menge.

Manchmal verstand sie Marcus einfach nicht. Okay, er war ein begnadeter Reiter, aber auch er gewann nicht immer. Ein dritter Platz ist doch auch etwas Schönes, fand Robin, obwohl sie natürlich stolz auf ihre heutige Leistung war. Es hatte ihr wehgetan, als der Junge nach ihrem Abwurf letzte Woche zwei Tage kein Wort mit ihr gesprochen hatte.

Dabei konnte sie gar nichts dafür. Die Sonne hatte sie geblendet und dadurch hatte sie den Abstand zum Hindernis falsch eingeschätzt, wodurch Jumping Jack zu spät hochgekommen war. Sie hatte das Poltern noch in den Ohren, als die blöde Stange ihre Halterung verlassen hatte und auf den Boden fiel.

Doch heute hatte sie alles richtig gemacht. Ihr Pferd war in Hochform und sie hatte sich heute Morgen vorgenommen, doppelt aufzupassen und keinen Fehler zu machen. Und es hatte sich gelohnt.

Als sie am Gästestall ankam, sprang sie aus dem Sattel und umarmte den Wallach, den sie seit vielen Jahren kannte. Ihr Vater hatte ihn selbst ausgebildet und trainierte sie beide auch jetzt noch mehrfach pro Woche. Der ehemals recht erfolgreiche Turnierreiter Wolfgang Keller war stolz auf die Erfolge seiner Tochter und hatte die Vision, dass sie in seine Fußstapfen treten würde. Seine eigene Karriere hatte aufgrund eines Unfalls während eines Turniers, bei dem er sich eine schwere Rückenverletzung zugezogen hatte, ein jähes Ende gefunden. Heute ging es ihm zwar wieder einigermaßen gut, er konnte sogar wieder reiten, aber die Belastung des regelmäßigen Springtrainings hielt sein Rücken nicht mehr aus. Deshalb arbeitete er heute ausschließlich als Ausbilder und Trainer auf dem Storchenhof, den er nach dem Tod seiner Eltern zusammen mit seiner Frau Renate führte. Dort hatte Robin auch Marcus kennengelernt, den ihr Vater ebenfalls trainierte und der sein Pferd bei ihnen stehen hatte.

Eine halbe Stunde später hatte Robin ihr Pferd versorgt und für den Transport nach Hause vorbereitet. Sie schloss die Boxentür und machte sich auf den Weg zu den anderen, die an der Umzäunung des Springplatzes standen und sich königlich zu amüsieren schienen.

„Hallo, Kleines“, empfing sie Marcus und gab ihr erneut einen Kuss, bevor er ihr den Arm um die Schulter legte und sie an sich zog, damit auch jeder wusste, dass sie seine Freundin war.

„Du sollst mich nicht immer so nennen, Marcus“, sagte sie leise. Sie war zwar ein gutes Jahr jünger und auch etwas kleiner als der Junge neben ihr, aber wenn er sie als Kleine oder Kleines bezeichnete, kam sie sich immer wie ein Kind vor. Immerhin wurde sie demnächst sechzehn, war also schon lange kein Kind mehr und sah auch körperlich alles andere als wie ein kleines Mädchen aus. Dies schien vor allem den Jungen aufzufallen, weshalb Marcus keine Gelegenheit ausließ, seine Besitzansprüche zur Schau zu stellen. Robin genoss das im Stillen ein bisschen, obwohl er es hin und wieder etwas übertrieb.

Marcus überhörte ihre Bemerkung und blickte erneut auf den Parcours, auf dem aktuell ein Anfänger-Springen abgehalten wurde. Immer wieder prusteten er und seine Freunde los, wenn erneut eine Stange fiel.

„Hey, Jungs. Ihr habt auch mal angefangen“, schimpfte sie nach einer Weile, weil ihr die jungen Reiter leid taten.

„Aber so blöd haben wir uns bestimmt nicht angestellt“, kicherte Marcus und seine Freunde stimmten ebenfalls mit ein. Robin schüttelte zwar den Kopf über das kindische Benehmen, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Doch sie war fast froh, als ihr Vater schließlich zum Aufbruch mahnte und sie bat, Jumping Jack in den Hänger zu verladen. Wenige Minuten später machte sie es sich neben Marcus auf dem großen Beifahrersitz des Pferdetransporters bequem, während sie zurück zum Storchenhof fuhren, wo sie stürmisch von Purzel, Robins kleinem Jack-Russel-Terrier, begrüßt wurden.

„Ja, mein Junge. Ich bin ja wieder da. Hast du mich so vermisst?“, fragte sie amüsiert, als der kleine Hund wie ein Flummi an ihr hoch hüpfte.

„Der hat einen riesen Zwergen-Aufstand gemacht, als du weg warst“, sagte ein großer, junger Mann mit einem blonden Stoppelkopf und Sommersprossen im Gesicht lachend.

Robin wirbelte bei seiner Stimme herum. „Christian!“, rief sie begeistert und flog dem Mann in die Arme. „Was machst du denn hier?“

„Hallo Schwesterchen. Mann, bist du gewachsen im letzten Jahr“, grinste Christian. „Du bist ja eine richtige junge Dame geworden.“

„Ich werde ja auch schon sechzehn“, teilte sie ihm mit.

„Ist mir wohl bekannt, Robin. Das ist auch ein Grund, warum ich hier bin. Ich habe ein paar Tage Urlaub und wollte zu deinem Geburtstag nach Hause kommen, bevor ich ins Ausland muss.“

„Du musst ins Ausland?“ Robin blickte ihn irritiert an.

„Ja, für voraussichtlich ein Jahr. Aber mach’ dir nichts draus, für dich ist das auch nicht anders, als wenn ich in der Kaserne in Bayern hocke und keinen Urlaub bekomme. Ich bin halt nur ein bisschen weiter weg.“

„Aber ist das nicht gefährlich?“

Christian warf seinem Vater einen Blick zu, der fast unmerklich den Kopf schüttelte. „Auch nicht gefährlicher, als in der Kaserne hier. Ich werde schon auf mich aufpassen. Du weißt doch: Unkraut vergeht nicht.“ Damit gab er ihr einen Kuss auf die Wange und trat zu seinem Vater. „Hallo Papa. Schön, dich zu sehen. Was macht der Rücken?“

„Im Moment ganz gut. Schön, dass du kommen konntest, Junge. Wie lange bleibst du?“

„Zwei Wochen“, antwortete der junge Mann und blickte dann zu Marcus hinüber. „Und du bist bestimmt Robins Freund. Marcus, wenn ich mich nicht irre, richtig?“

Der Junge nickte und reichte ihm die Hand. „Guten Tag, Herr Keller.“

„Sag’ Christian zu mir. Ich komme mir sonst so alt vor.“

„Auch gut“, stellte Marcus fest und drehte sich zu Robin um. „Wir treffen uns noch im Club, kommst du mit?“

„Tut mir leid, aber ich muss mich erst einmal um Jumping Jack kümmern.“

„Kann das nicht jemand anderes machen?“, fragte der Junge, dem es gar nicht passte, dass Robin sich dem gutaussehenden Mann an den Hals geworfen hatte und der entsprechend misslaunig war.

Jetzt mischte sich der Trainer ein: „Nein, Marcus. Das kann niemand anderes machen. Jumping Jack ist Robins Pferd und sie hat sich darum zu kümmern. Mag sein, dass das bei dir nicht so ist – bei uns schon.“ Damit drehte er sich um und öffnete die Heckklappe, während Robin ihrem Freund einen entschuldigenden Blick zuwarf.

„Dann eben nicht. – Wir sehen uns, Kleines.“ Schnell drückte er ihr einen Kuss auf den Mund und verschwand um die Stallecke.

Christian blickte erstaunt auf seine kleine Schwester, sagte jedoch nichts, sondern folgte ihr zur Rückseite des Fahrzeuges. Erst als sie Jack in den Stall gebracht hatte und gerade dabei war, ihm die Transportbandagen zu entfernen, beugte er sich über die untere Hälfte der Boxentür und blickte sie nachdenklich an. „Du küsst ihn?“, fragte er schließlich, als sie eine der Bandagen über die Tür hing.

„Wen?“, fragte sie verwundert.

„Marcus natürlich.“

„Warum auch nicht? Immerhin ist er ja mein Freund.“

„Aber du bist fünfzehn!“, stellte ihr Bruder fest und es klang fast wie ein Vorwurf.

Langsam dämmerte es dem Mädchen, worauf er hinaus wollte. Sie kam auf ihn zu und stützte ihre Unterarme auf die Oberkannte der Tür. „Erstens werde ich in ein paar Tagen sechzehn und zweitens brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„Brauche ich also nicht?“, fragte er ungläubig.

„Nein, brauchst du nicht. Mehr als Küssen und Händchenhalten läuft da nicht. Außerdem: wie alt warst du denn bei deinem Ersten Mal?“

Christians Wangen bekamen eine leichte Röte und er senkte den Kopf: „Das ist etwas völlig anderes.“

Robin lachte amüsiert auf: „Warum? Weil du ein Junge bist und ich ein Mädchen?“

„Nein… ja… ich meine…“, stotterte Christian unsicher.

„Irgendwie süß, wenn du so verlegen wirst, großer Bruder. Aber für den Fall, dass du es nicht weißt: ich bin aufgeklärt. Und außerdem habe ich überhaupt kein Interesse, mit Marcus zu schlafen. Also mach’ dir keine Gedanken über ungelegte Eier. Ich weiß schon, was ich tue.“

„Na hoffentlich sieht er das auch so.“

„Ich habe es ihm gesagt und er akzeptiert das“, gab Robin im Brustton der Überzeugung zurück, doch ihr Bruder blickte immer noch ein wenig ungläubig und nahm sich vor, den Freund seiner Schwester ein wenig im Auge zu behalten. Was fand sie nur an dem eingebildeten Knaben?

Am nächsten Tag nach der Schule hatte er Gelegenheit, sich Marcus einmal etwas genauer anzusehen. Christian war selber ein guter Reiter, was auch nicht verwunderlich war, da er einen Großteil seines Lebens hier auf dem Storchenhof verbracht hatte. Dennoch war er nicht mehr oft geritten, seit er zur Bundeswehr gegangen war. Lediglich bei seinen Besuchen zu Hause fand er die Gelegenheit, sich mal wieder in den Sattel zu schwingen. Aber er hatte dennoch ein Auge für wertvolle Tiere und gute Reiter. Und Marcus und sein Pferd gehörten definitiv beide dazu. Sein schwarz-brauner Wallach war ein edles Tier, das mit Sicherheit nicht billig gewesen war und über ein enormes Springpotential zu verfügen schien. Aber Christian bemerkte auch etwas Anderes. Während Robin und ihr Pferd Jack eine Einheit bildeten, schien es ihm fast, als wenn Marcus gegen sein Pferd arbeitete. Er war so von sich selber überzeugt, dass er das Tier oft behinderte und es war fast ein Wunder, dass nicht mehr Stangen zu Boden gingen, was wohl mehr dem Können des Pferdes als dem des Reiters zuzurechnen war. Dieser Ansicht schien sein Vater allerdings auch zu sein, denn er versuchte immer wieder, den Jungen zu korrigieren, was ihm jedoch nur teilweise gelang. Wenn wirklich einmal eine Stange herunterpurzelte, schien der Reiter die Schuld ausschließlich beim Pferd zu suchen, anstatt sich mal an die eigene Nase zu fassen.

Christian konnte immer weniger verstehen, warum seine Schwester sich mit Marcus abgab. Sie war schon immer sehr tierlieb gewesen und hatte eine enge Beziehung zu Jack und Purzel. Marcus hingegen schien sein Pferd als Sportgerät, als einfache Sache anzusehen, die zu funktionieren hatte. Aber er wollte den Jungen nicht zu schnell verurteilen. Vielleicht hatte er auch einfach nur einen schlechten Tag.

„Hast du Lust auf einen Ausritt, Robin?“, fragte Christian am Ende der Stunde.

„Klar hab ich das. Mach’ dir ein Pferd fertig und wir treffen uns an der großen Koppel.“

„Na dann bis gleich.“

„Kommst du auch mit, Marcus?“, fragte das Mädchen, als sie einige Minuten später zusammen zum Gatter ritten.

„Nee, ist mir zu langweilig. Ich habe noch was vor. Kommst du nachher in den Club?“

„Geht nicht, muss noch Hausis machen und lernen. Wir schreiben morgen Mathe.“

„Vergiss’ doch mal die blöde Schule und hab’ mal ein bisschen Spaß. Du hast dich schon ewig nicht mehr sehen lassen.“

„Also gut, ich komme später vorbei. Aber nur bis halb neun, sonst bekomme ich Ärger.“

Marcus erwiderte etwas Unverständliches und machte sich auf den Weg zum Stall, während das Mädchen sich zu ihrem Treffpunkt begab. Christian wartete bereits auf sie.

„Wie hast du das denn so schnell geschafft?“, fragte sie verdattert, da ihr Bruder gerade erst zum Stall gegangen war.

„Ich hatte Stella schon fertig gemacht, bevor ich zum Trainingsplatz gegangen bin. Ich musste sie nur noch holen“, grinste Christian frech.

„Na dann zeige mal, ob du inzwischen alles verlernt hast“, forderte Robin ihn auf und trieb ihren Wallach an. Bald darauf erreichten sie das Meer und jagten über den Strandabschnitt, der für Reiter und Hunde freigegeben war.

„Du glaubst gar nicht, wie ich das vermisst habe, Robin. Es ist wirklich schade, dass ich so selten nach Hause komme im Moment“, stellte Christian fest, als sie schließlich im Schritt zurück zum Storchenhof ritten.

„Doch, ich kann mir das schon vorstellen. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich so lange nicht reiten könnte. Ich raste ja schon aus, wenn wir eine Woche auf Klassenfahrt gehen und ich dann nicht in den Sattel komme. Es ist einfach herrlich, so über den Strand zu galoppieren.“

„Dann pass’ besser auf, dass du irgendwann jemanden heiratest, der deine Leidenschaft teilt“, grinste ihr Bruder.

„Na, da habe ich ja noch etwas Zeit“, antwortete sie frech. „Apropos, wie sieht es denn in der Beziehung bei dir aus?“

Christian lachte auf. „Wie soll es da schon aussehen? Ich habe doch gar keine Zeit für langfristige Beziehungen.“

„Aber für kurzfristige?“, fragte sie grinsend.

„Das wiederum, kleine Schwester, geht dich nichts an“, antwortete er geheimnisvoll und Robin hatte keine Ahnung, ob er sie nur aufziehen wollte oder ob es da tatsächlich hin und wieder eine Freundin gab.

Der Club, wie Marcus ihn nannte, war eigentlich ein Jugendtreff, in dem sich die Kinder und Jugendlichen aus dem Ort regelmäßig einfanden, um etwas zu spielen, sich zu unterhalten oder einfach nur abzuhängen. Marcus und seine Kumpels waren hier Dauergäste, unterhielten sich über Gott und die Welt und spielten Pool. Robin wusste meist gar nicht, warum er so viel Wert darauf legte, dass sie mitkam, denn oft saß sie sowieso nur dabei und ließ die Jungen reden, da es immer wieder um Themen ging, die sie nicht interessierten.

Als sie den Jugendtreff betrat, war ihr Freund gerade beim Billardspielen. Er zog sie kurz in seine Arme und gab ihr einen Kuss, bevor er sagte: „Gut, dass du kommst, Kleines. Kannst du mir vielleicht ’ne Cola mitbringen, wenn du dir was zu trinken holst?“

„Ja klar, mach’ ich.“ Robin machte sich auf den Weg zu der kleinen Bar, an der man verschiedene – natürlich nichtalkoholische – Getränke erstehen konnte. Kurz darauf kam sie mit zwei Gläsern zurück zum Billardtisch und drückte Marcus sein Glas in die Hand, das er gierig hinunterspülte.

„Das tut gut“, seufzte er. „Ich hatte schon die ganze Zeit tierischen Durst.“

„Warum hast du dir dann nicht einfach schon was geholt?“, fragte das Mädchen verwirrt.

„Keine Lust. Geh’ mal ein Stück zur Seite, sonst pikse ich dich.“ Damit schob er sie etwas weg, um Platz für seinen Queue zu haben. Robin lehnte sich mit ihrem Glas an die Wand und schaute ihm eine Weile zu, bis die Jungen das Spiel beendeten und zu den gemütlichen Sesseln gingen, die in einer Ecke standen. Dort ließ sie sich neben ihm nieder und lehnte sich in seinen ausgestreckten Arm, den er ihr um die Schulter legte.

Nachdem wenig später ein gutaussehender Junge den Raum betrat und sich in der Nähe an die Wand lehnte, warf das Mädchen einen neugierigen Blick auf den Neuankömmling. Sofort drücke Marcus sie fester an sich und als der Junge ebenfalls seinen Blick über die Anwesenden gleiten ließ und schließlich an dem hübschen Mädchen hängenblieb, drückte ihr Freund ihr einen langen Kuss auf den Mund. Mit einem zufriedenen Lächeln registrierte er, dass der fremde Junge sich abwandte.

„Ich glaube, ich sollte dann mal nach Hause“, stellte Robin kurz darauf fest. „Es ist schon spät.“

„Komm’, bleib’ doch noch ein bisschen. Es ist gerade so gemütlich“, widersprach ihr Freund und Robin ließ sich breitschlagen, noch etwas länger zu bleiben. Während sie schließlich die Haustür aufschloss, war es bereits nach neun.

„Wo kommst du denn so spät her?“, fragte ihr Vater streng, als er sie bemerkte.

Robin zuckte schuldbewusst zusammen. „Ich war noch im Jugendtreff und habe die Zeit vergessen.“

„Du weißt genau, dass du während der Woche nicht so lange wegbleiben sollst. Hast du wenigstens deine Hausaufgaben fertig?“

Verlegen schüttelte das Mädchen den Kopf: „Fast. Ich muss nur noch eine Kleinigkeit für Mathe machen.“

„Dann tu das, bitte. Und den Rest der Woche bleibst du zu Hause und kümmerst dich um die Schule. Es reicht, wenn du am Wochenende weggehst.“ Robin konnte deutlich hören, wie ungehalten er war, entschuldigte sich bei ihren Eltern und verschwand in ihrem Zimmer. Als sie sich an den Schreibtisch setzte, gähnte sie herzhaft. Aber es half nichts, sie musste noch ihre Hausaufgaben machen. Zum Lernen war sie dann aber wirklich nicht mehr im Stande, denn bereits während der Hausaufgaben fielen ihr vor Müdigkeit die Augen zu.

„Was soll’s, ich werde die Arbeit schon irgendwie schaffen“, dachte sie müde und fiel mit ihren Klamotten ins Bett.

Am nächsten Morgen bei der Mathearbeit bereute sie es jedoch zutiefst. So gut es ging, beantwortete sie die Fragen, hatte aber kein gutes Gefühl dabei. „Mann, Herr Vierstein hat es aber wieder gut gemeint heute“, stöhnte sie nach der Arbeit in der Pause. „Ich habe nur die Hälfte kapiert.“

„Wieso das denn?“, fragte ihre Klassenkameradin Kathrin verwundert. „In der Arbeit kam doch genau das vor, was er uns zum Lernen gegeben hat. Ich fand die Arbeit eher total einfach. Hast du dir die Aufgaben denn nicht angesehen?“

Robin wurde rot und senkte verlegen den Blick. „Ich bin nicht dazu gekommen. War zu spät gestern Abend.“

„Wieder im Club rumgelungert?“, fragte Kathrin missfällig.

„Jetzt fang’ du nicht auch noch an! Mein Vater hat mir schon eine Standpauke gehalten.“

„Dann solltest du mal darüber nachdenken. Vielleicht hat er ja gar nicht so unrecht.“

Beleidigt drehte Robin sich um und setzte sich in eine Ecke. ‚Macht mich nur alle fertig‘, dachte sie wütend und sprach den Rest des Tages kein Wort mehr mit Kathrin. In der zweiten Pause kam ihr Freund auf sie zu, gab ihr einen Kuss und fragte: „Wir gehen heute Abend ins Kino. Kommst du mit?“

„Ich kann nicht… weil ich gestern zu spät nach Hause gekommen bin. Habe für den Rest der Woche Hausarrest und darf nur noch an den Wochenenden weggehen.“

„Dein Alter ist manchmal ganz schön spießig, Kleines. Aber was soll‘s – wenn du nicht willst, gehe ich halt alleine.“ Damit drehte er sich um und verschwand um eine Ecke. Das Gespräch hatte nicht gerade dazu beigetragen, ihre Laune wieder zu heben und entsprechend missmutig kam sie am Nachmittag zur Reitstunde bei ihrem Vater.

„Was machst du denn heute, Robin-Marie? Dein Pferd läuft dir ja gleich weg. Nimm’ ihn mal richtig an den Zügel.“

Das Mädchen gab sich Mühe, wurde aber immer wieder korrigiert und gemaßregelt. Am Ende der Stunde kam ihr Vater auf sie zu. „Ich habe keine Ahnung, was mit dir los ist. Aber ich möchte, dass du noch eine halbe Stunde dranhängst und Bodentraining machst.“

Robin stöhnte innerlich auf, fügte sich aber in ihr Schicksal und machte sich an die Arbeit, während die anderen Reiter sich zum Sattelplatz begaben. Als sie eine Stunde später ihren Striegel in die Putzkiste pfefferte, dass es nur so polterte, fragte Christian, der lässig an der Wand lehnte: „Schlechte Laune, Schwesterchen?“

„Pass‘ bloß auf und mach’ dich ja nicht lustig über mich!“, fuhr sie ihn an und ihr Bruder zuckte unwillkürlich zusammen.

„Hey, ich hab‘ dir doch gar nichts getan“, verteidige er sich. „Willst du mir nicht sagen, was los ist?“

„Damit du mir auch noch eine Predigt hältst?“, fragte sie wütend.

„Ich dachte eigentlich eher daran, dir vielleicht zu helfen. Für Standpauken ist Papa zuständig. Was ist denn los?“

„Ach, ich weiß auch nicht“, antwortete Robin und hockte sich auf einen Strohballen.

Christian ließ sich neben ihr nieder und legte ihr den Arm um die Schulter. „Nun sag’ schon“, forderte er sie schließlich auf, als sie immer noch nichts sagte.

„Ich habe Mist gebaut“, kam es kleinlaut aus ihrem Mund.

„Das dachte ich mir schon fast, als du von einer Predigt geredet hast. Ohne Grund gibt es die normalerweise nicht. Was hast du denn gemacht?“

„Ich war gestern noch im Jugendtreff. Marcus wollte unbedingt, dass ich komme, obwohl ich dort eigentlich nur dumm rumsitze. Ich habe mich überreden lassen, etwas länger zu bleiben und dann hat Papa mir verboten, den Rest der Woche wegzugehen. Und zum Lernen bin ich auch nicht mehr gekommen. Ich glaube, die Mathearbeit habe ich total verhauen. Marcus ist auch wütend auf mich, weil ich nicht mit ins Kino darf und Papa ist wütend auf mich, weil ich mich beim Training nicht konzentrieren kann. Alle haben es auf mich abgesehen.“

„Okay. Also wegen dem Jugendzentrum weißt du selber am besten, dass du Mist gebaut hast. Und wegen der Arbeit würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen. Es ist zwar nicht schön, wenn du die Arbeit verhaust, aber du bist eine gute Schülerin. Das holst du wieder rein. Das nächste Mal lernst du eben mehr, dann bekommst du das auch hin. Und wegen dem Training: jeder hat mal einen schlechten Tag. Gib’ dir morgen eben etwas mehr Mühe und glaube an das, was du kannst, dann wird Papa auch mit dir zufrieden sein.“

„Und was ist mit Marcus?“

„Darf ich dich mal etwas fragen, Robin?“

Das Mädchen hob den Kopf. „Was denn?“

„Was genau findest du an dem Jungen?“

Robin überlegte einen Moment. Was genau war es eigentlich, was sie an ihm fand? Sie konnte es gar nicht so genau sagen. „Er ist ein toller Reiter“, sagte sie schließlich leise und ihr Bruder konnte sich daraufhin ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

„Siehst du? Du weißt es selber nicht. Was ich bisher so gesehen habe, behandelt er dich wie sein Eigentum oder wie eine Trophäe. Kann es vielleicht sein, dass er nur mit dir zusammen ist, weil es cool ist, mit der Tochter des Trainers liiert zu sein?“

„Wie kommst du denn darauf?“, fuhr ihn seine Schwester an. „Er liebt mich!“

„Sei mir bitte nicht böse, Robin. Aber genau das glaube ich nicht.“

„Ach, du hast doch keine Ahnung!“, stellte sie fest und ging beleidigt aus dem Stall. Christian schüttelte traurig den Kopf. Wenn sie sich da mal nicht in irgendetwas verrannte.

Robin lief derweil wütend in ihr Zimmer, um sich an die Hausaufgaben zu setzen, doch Christians Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. ‚Und wenn er Recht hat?‘, fragte sie sich immer wieder und beschloss, mit Marcus darüber zu reden.

Doch vorläufig kam sie nicht dazu, da sie ihn nur in der Schule und beim Training sah, bei dem ihr Vater in der Nähe war.

ENDE UND ANFANG

Zwei Tage später rief ihre Mutter sie nach dem Training ins Büro. Frau Keller kümmerte sich hauptsächlich um das Organisatorische des Storchenhofs: machte Verträge mit den Einstellern, organisierte die Reitstunden, rührte in der Werbetrommel und machte die Einteilungen der Schulpferde. Auch für Futterbestellungen und Reparaturaufträge sowie für die Angestellten war sie allein verantwortlich, während ihr Mann als Reitlehrer und Ausbilder tätig war.

„Ich brauche mal deine Hilfe Robin. Ich erwarte gleich noch eine Lieferung und habe daher nicht die Zeit. Kannst du bitte unserem neuen Reitschüler die Anlage und die Ställe zeigen? Sein Name ist Pierre Chevalier.“

„Aber ich spreche doch gar kein Französisch“, stellte sie fest, denn bei diesem Namen erwartete sie einen Vollblut-Franzosen.“

„Aber ich Deutsch“, kam es leise aus der Ecke. Robin zuckte verlegen zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass besagter Neuzugang sich im Raum befand. Errötend blickte sie auf den Boden, während ihre Mutter grinsend aufstand. „Darf ich vorstellen: das ist Pierre Chevalier. – Und das hier ist meine manchmal ein bisschen vorlaute Tochter Robin.“

Robin warf ihrer Mutter einen bösen Blick zu und trat dann auf den Jungen zu, der sich erhoben hatte und ihr die Hand hinhielt. Sie betrachtete den Jungen neugierig. Er war etwas größer als sie und mochte 16 oder 17 Jahre alt sein. Pierre hatte gleichmäßige Züge ohne den Ansatz eines Bartwuchses oder der typischen Hautproblemen von Teenagern. Um den Kopf trug er ein Tuch und darüber eine Baseballkappe.

Robin fiel auf, dass er sehr blass wirkte, irgendwie krank und seine sehr schlanke Figur unterstützte diesen Eindruck noch. ‚Ob er es überhaupt auf ein Pferd schaffen wird?‘, fragte sie sich im Stillen. ‚Vermutlich kann er nicht einmal einen Sattel tragen. Na, das kann ja lustig werden‘. Doch das Mädchen verkniff sich einen blöden Kommentar und ging dem Jungen voran aus dem Büro. Die nächste Stunde verbrachte sie damit, Pierre über den Hof zu führen, ihm die Koppeln, Ställe, Reithalle und Reitplatz zu zeigen und ihn mit den wichtigsten Regeln vertraut zu machen, so wie sie es schon ein Dutzend Mal mit neuen Reitschülern gemacht hatte.

Anschließend brachte sie ihn zu ihrem Vater. „Das wird dein Reitlehrer sein. Mit ihm kannst du alles Weitere klären. Ich muss mich jetzt leider an meine Hausaufgaben machen.“ Damit drehte sie sich um und ließ den Jungen ein wenig unschlüssig am Zaun stehen. Sie hatte keine Lust, sich länger mit ihm zu beschäftigen, denn sie hatte heute ihre Mathematik-Arbeit zurückbekommen und ihre schlimmsten Befürchtungen waren eingetroffen. Sie hatte als Note eine Vier-minus bekommen und sich vorgenommen, heute noch den Stoff zu wiederholen, um in der nächsten Arbeit nicht wieder so schlecht abzuschneiden. Deshalb begab sie sich nun tatsächlich in ihr Zimmer und holte die Arbeit und ihr Mathebuch aus ihrer Schultasche, um sich an die Arbeit zu machen.

Erst am Samstagabend sah sie Marcus wieder etwas länger. Zu ihrem Geburtstag hatten ihre Eltern den Grill ausgepackt und sie hatte ihren Freund zum Essen eingeladen. Nachdem sie ihre Geschenke ausgepackt hatte, schlenderten die beiden noch eine Weile über den Hof und blieben schließlich an einer Scheune stehen, in der das Stroh gelagert wurde. Marcus zog sie mit sich durch die Tür, nahm sie in den Arm und gab ihr einen langen Kuss, der sie Christians Behauptungen als völligen Humbug abstempeln ließ. Glücklich ließ sie sich ins Stroh fallen und nur Sekunden später lag Marcus neben ihr, nahm sie in die Arme und küsste sie erneut. Ein Kribbeln zog sich ihre Wirbelsäule entlang und sie schloss die Augen. Dann spürte sie plötzlich seine Hand, die sich unter ihr Shirt schob. Erschrocken starrte sie ihn an. „Was machst du da?“

„Nach was sieht es denn aus?“, fragte er lachend.

„Hör‘ bitte auf“, bat sie und hielt seine Hand fest, die sich weiter unter ihr Oberteil arbeitete und schließlich an ihren Brüsten anlangte.

„Jetzt hab‘ dich nicht so. Du bist doch jetzt 16!“

„Na und? Das ist doch kein Grund“, gab sie zurück und stand auf.

Sofort war er bei ihr und hielt sie fest. „Du verstehst es aber, einen heiß zu machen. Das gefällt mir“, grinste er und verschloss ihren Mund mit seinen Lippen, während er sie immer noch fest hielt. „Ich warte schon so lange darauf, mit dir zu schlafen.“

Robin riss sich los und gab ihm eine Ohrfeige. Etwas verwirrt blickte er sie an. „Wofür war das denn?“

„Das weißt du ganz genau“, fuhr sie ihn an. „Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht will!“

Marcus richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich hätte es wissen müssen. Du bist eben doch nur ein kleines Mädchen. Wozu habe ich nur ein halbes Jahr meine Zeit mit dir verschwendet?“ Damit drehte er sich um und verschwand aus der Scheune. Robin zog die Beine an den Körper und fing an zu weinen. Eine halbe Stunde später öffnete sich leise die Scheunentür und Christian steckte seinen Kopf in das Gebäude. „Robin? Bist du hier?“

Das Mädchen trocknete sich schnell das Gesicht und antwortet: „Ja, ich bin hier.“

Langsam trat Christian näher. In der Scheune herrschte nur Dämmerlicht, doch durch die Tür kamen noch ein paar letzte Sonnenstrahlen, die auf ihr Gesicht fielen. „Hast du geweint?“, fragte er verwundert. Robin antwortete nicht. Langsam trat der junge Mann näher und setzte sich neben sie ins Stroh. Sanft zog er sie in seine kräftigen Arme und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Als sie seine liebevolle Umarmung spürte, konnte sich das Mädchen nicht mehr zusammenreißen und fing erneut an zu weinen. „So schlimm?“, fragte er zärtlich.

Robin brauchte eine Weile, bis sie unter Tränen ein „Er ist weg“, hervorbrachte.

„Wer? Marcus?“, fragte ihr Bruder.

„Er hat gesagt, ich wäre ein kleines Mädchen, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte. Er meinte, er wüsste gar nicht, warum er sich die ganze Zeit mit mir abgegeben hätte“, schluchzte das Mädchen mit einigen Unterbrechungen, was es für Christian schwierig machte, sie zu verstehen. Doch er konnte sich seinen Teil denken und sich die Geschehnisse zusammenreimen. Insgeheim war er froh, dass sie ihn nun los war, denn in den letzten Tagen war ihm der Junge immer unsympathischer geworden und seine Vermutung, er könne sie nur als Trophäe ansehen, hatte sich zu hundert Prozent bestätigt. Doch er konnte sich auch noch gut an seine eigene erste Liebe erinnern und wie weh es getan hatte, als dieses Mädchen ihm den Laufpass gegeben hatte. Deshalb ersparte er sich Bemerkungen wie ‚Ich habe es dir ja gesagt‘ und hielt sie einfach tröstend in seinen Armen, bis sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte.

„Warum sagt er so etwas, Christian?“, fragte sie ihn verzweifelt. „Was habe ich denn falsch gemacht? Hätte ich mit ihm schlafen sollen?“

„Nein!“, antwortete er bestimmt. „Das hättest du auf keinen Fall. Damit geht man nicht leichtsinnig um. Wenn du irgendwann mit einem Jungen schlafen möchtest, dann tue es nur, wenn du dir sicher bist, dass du auch bereit dafür bist. Und wenn ein Junge das nicht akzeptiert, ist er nicht der Richtige. – Und was Marcus angeht. Ich befürchte, dass er es die ganze Zeit nur darauf abgesehen hatte. Vergiss’ ihn, und am besten so schnell wie möglich.“

„Und wenn ich das nicht kann?“

„Du wirst es. Es wird eine Weile wehtun, aber dann wird es besser werden.“ Christian legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie zurück zum Haus.

Das Turnier an diesem Sonntag lief erwartungsgemäß nicht so gut, wie sie sich das erhofft hätte. Robin war so unkonzentriert, dass sie es nicht einmal auf eine Platzierung schaffte. Niedergeschlagen führte sie Jumping Jack anschließend zum Sattelplatz. Als sie gerade dabei war, ihn für den Transport fertig zu machen, kam Marcus vorbeigeschlendert, ebenfalls in Turnierkleidung. „Ich hab‘ doch gesagt, dass du ein Looser bist. Vielleicht solltest du es mal beim A-Springen versuchen.“ Damit wandte er sich ab und führte sein Pferd zum Parcours.

Robin vergrub ihren Kopf am Halse ihres Pferdes und ließ ihren Tränen freien Lauf. Warum war Marcus auf einmal so gemein? Doch dann kam ihr plötzlich die Erleuchtung: eigentlich war er es schon immer gewesen, nur eben nicht zu ihr. Aber wenn sie an die spöttischen Bemerkungen dachte, die er beim letzten Anfänger-Springen vom Zaun gelassen hatte und sich auch andere Situationen in den Sinn rief, musste sie zugeben, dass es wirklich so war. Christians Frage kam ihr wieder in den Sinn: Was genau findest du an Marcus? Sie dachte über diese Frage nach, konnte jedoch auch jetzt nicht wirklich eine Antwort darauf finden. Marcus war ein guter Reiter, räumte einen Sieg nach dem anderen ab. Und er sah eigentlich ganz gut aus. Aber sonst? Er war weder nett noch höflich, nicht zärtlich oder liebevoll und hatte schon gar kein Verständnis für sie oder andere, sondern machte sich über Schwächere lustig. Warum also war sie eigentlich mit ihm zusammengekommen? Irgendwie war es einfach so passiert, vielleicht weil sie so viel zusammen trainiert hatten und sich ständig auf dem Reiterhof über den Weg liefen.

Wie blöd war sie doch gewesen, sich auf so jemanden einzulassen. Sie nahm sich vor, in Zukunft einen großen Bogen um den Jungen zu machen. Dass sie ihn regelmäßig sah, ließ sich leider nicht vermeiden, da ihr Vater auch ihn trainierte, aber vielleicht konnte sie weitere Kontakte vermeiden. Entschlossen trocknete sie sich die Tränen, machte Jack fertig und führte ihn zum Hänger, um ihn zu verladen. Dann ging sie auf die Suche nach Christian, den sie auf einer der Zuschauertribünen neben ihrem Vater fand. Herr Keller konzentrierte sich auf den Ritt von Marcus, der gerade über den Parcours ging, und bemerkte sie daher nicht.

„Christian? Können wir fahren?“, fragte sie leise und ihr Bruder hob den Kopf.

„Wenn du möchtest, Prinzessin. Ist Jack schon verladen?“

Robin nickte. Ihr Bruder sagte ihrem Vater kurz Bescheid und folgte dann seiner Schwester zu dem kleinen Fahrzeug seiner Mutter, das er sich ausgeborgt hatte, weil in dem Transporter nicht genügend Sitzplätze vorhanden waren und er gerne mit zum Turnier fahren wollte. Schweigend ließ sich das Mädchen auf den Beifahrersitz gleiten.

„Okay. Was ist passiert? Du gehst doch nicht ohne Grund vorzeitig von einem Turnier weg - auch wenn du keine Platzierung bekommen hast.“ Er warf ihr einen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. Robin schwieg noch immer. „Marcus?“, vermutete er schließlich.

„Er hat mich als Looser bezeichnet“, kam es schließlich kleinlaut vom Beifahrersitz.

Christian fuhr an den Fahrbahnrand und hielt den Wagen an. „Nimm’ dir das nicht zu Herzen, Robin. Marcus ist ein Idiot, der es nicht besser weiß. Wir wissen beide, was du und Jumping Jack leisten könnt, wenn ihr in Form seid. Du bist im Moment einfach nicht fit. Vielleicht solltest du in nächster Zeit das ein oder andere Turnier sein lassen und dich aufs Üben konzentrieren. Und wenn es dir besser geht, zeigst du dem Angeber, was wirklich in euch steckt.“ Er beugte sich zu ihr hinüber und nahm sie tröstend in die Arme. Vielleicht hatte er ja Recht, vielleicht konnte sie sich im Moment wirklich nicht auf ein Turnier konzentrieren, wenn in ihrem Inneren gerade eine Sturmflut tobte. „Soll ich mal mit Papa reden?“, fragte Christian nun sanft.

Robin hob den Kopf und blickte in die leuchtenden Augen ihres Bruders. Dann nickte sie schließlich. „Würdest du das tun?“

„Aber natürlich. Und wenn du willst, trainieren wir in der nächsten Woche ein bisschen zusammen. Ich muss erst am Sonntag wieder zurück nach Bayern.

„Danke“, seufzte sie erleichtert und Christian setzte den Blinker und fuhr wieder auf die Fahrbahn, um zurück zum Storchenhof zu fahren.

Christan hielt sein Versprechen. Er redete mit ihrem Vater und sorgte nicht nur dafür, dass Robin ein paar Wochen nicht zu einem Turnier fahren würde, sondern auch, dass sie nicht mehr mit Marcus zusammen trainieren musste. In der letzten Woche seines Aufenthaltes machten sie lange Ausritte am Strand und trainierten ein wenig in der Halle, während ihr Vater Marcus über den Platz scheuchte. Herr Keller wusste nichts von der versuchten Annäherung oder den Gehässigkeiten des Jungen, er hatte lediglich mitbekommen, dass sie nicht mehr ständig zusammenhingen, was er nicht weiter verwunderlich fand. Junge Menschen kamen zusammen und trennten sich wieder, warum also sollte es bei seiner Tochter anders sein.

Robin hingegen genoss die Zeit, die ihr noch mit ihrem Bruder blieb. Er half ihr, ein wenig über ihren Liebeskummer hinwegzukommen.

„Hast du eigentlich schon die ersten Jungen gesehen?“, fragte er eines Nachmittags mit einem Blick auf eines der Storchennester, die es hier genügend gab und denen der Hof seinen Namen verdankte.

„Nee, noch nicht. Aber eigentlich müsste es demnächst soweit sein. Wenn ich richtig gezählt habe, haben wir aktuell fünf Paare bei uns auf dem Hof. Das ist mehr, als letztes Jahr, da waren es nur drei. Hoffentlich kommen dieses Jahr die Jungen alle durch.“

„Das hoffe ich auch. Es gibt sowieso immer weniger dieser prächtigen Tiere. In Bayern habe ich noch gar keinen gesehen. Ich vermisse richtig das Herumgeklappere während der Balz.

Robin war traurig, als sich Christian schließlich von ihr verabschiedete und in ein Taxi stieg, das ihn an diesem frühen Nachmittag zum Bahnhof bringen würde. Er nahm sie ein letztes Mal in den Arm, sich wohl bewusst, in welche Gefahr er sich während seines Einsatzes begeben würde. Doch das Mädchen hatte davon keine Ahnung. Seine Eltern hatten ihn gebeten, ihr nicht zu erzählen, wo genau er hinging und was er dort tat. Es reichte, wenn sie sich Sorgen um ihren Sohn machten. Ihre Tochter wollten sie davon verschonen. „Denk‘ daran, Prinzessin, dass ich dir eventuell eine Zeit lang nicht antworten kann, wenn du mir eine Mail schreibst. Wundere dich nicht, ich melde mich, sobald ich kann.“

„Versprochen?“

„Versprochen!“, sagte er mit fester Stimme und gab ihr einen Kuss. „Und vergiss den Blödmann so schnell du kannst. Suche dir richtige Freunde, die dich mögen, wie du bist und nicht mit dir zusammen sind, weil es eben gut aussieht.“ Seine letzten Worte waren leise gesprochen, sodass die Eltern sie nicht hörten. Robin nickte und umarmte ihn ein letztes Mal.

„Pass‘ auf, dass dir nichts passiert.“

„Das werde ich. Mach‘ dir keine Sorgen.“ Damit stieg er in das wartende Fahrzeug und Robin winkte ihm noch nach, bis es hinter einer Kurve verschwand.

Da sie sich ohne ihren Bruder langweilte, schlenderte Robin ein wenig über den Hof. Marcus war mit einem der Pferdepfleger auf einem Turnier. Ihr Vater war heute hiergeblieben, damit er sich von seinem Sohn verabschieden konnte. Am Nachmittag würde er die Anfängergruppe betreuen, die aktuell aus fünf Jugendlichen bestand, unter ihnen auch der blasse Junge, dem Robin vor kurzem den Hof gezeigt hatte. „Robin? Kannst du uns eventuell zur Hand gehen?“, fragte ihr Vater sie, als sie am Sattelplatz vorbeikam. „Ich glaube, ich könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen.“

Robin ließ einen Blick über die vier Mädchen und den Jungen wandern, die zum ersten Mal ein Pferd striegeln und satteln sollten. Es war die erste Stunde. Die vier Mädchen im Alter zwischen zwölf und vierzehn schmachteten ihren Vater an und hingen an seinen Lippen, was Robin unwillkürlich ein Grinsen aufs Gesicht zauberte. Diese Reaktion kannte sie schon. Ihr Vater war als Springreiter recht bekannt gewesen und sah für sein Alter einfach umwerfend aus. Die meisten jungen Mädchen flogen auf ihn und Robin vermutete, dass ihm das im Stillen sogar Spaß machte.

Der Junge hingegen kam sich ein wenig fehl am Platze vor. Schüchtern stand er in einer Ecke und versuchte, seine Sache so gut wie möglich zu machen. Robin trat näher und hatte ein Einsehen mit dem Neuling, der auch heute wieder ein Tuch um den Kopf trug, jedoch ohne die Baseballkappe – vermutlich, weil er gleich einen Reithelm aufziehen musste. „Kann ich dir helfen?“, fragte sie freundlich und der Junge zuckte zusammen.

„Ich weiß nicht… ich komme damit noch nicht so ganz klar… ich habe bisher noch nie ein Pferd geputzt“, stotterte er ein wenig verlegen und Robin nahm ihm kurz entschlossen den Striegel aus der Hand.

„Komm‘, ich zeige es dir. Es ist eigentlich ganz einfach. Du heißt Pierre, richtig?“

„Ja, der Franzose, wenn du dich erinnerst“, grinste er schüchtern.

„Richtig. Da war ja was. Aber eigentlich klingst du gar nicht wie ein Franzose“, stellte sie dann fest.

„Bist du enttäuscht, wenn ich dir sagen, dass ich es auch nicht wirklich bin?“

„Aber dein Name…“, begann Robin, während sie ihn weiterputzen ließ, damit er es üben konnte.

„Genaugenommen bin ich ein halber Franzose. Mein Vater ist einer, meine Mutter ist Deutsche und ich bin ebenfalls in Deutschland geboren.“

„Dann hast du wegen deinem Vater den französischen Namen?“

„Den Nachnamen schon, den hat meine Mutter bei der Hochzeit angenommen. Den Vornamen allerdings habe ich meiner Mutter zu verdanken.“

„Wie das?“

„Das erzähle ich dir wohl besser ein anderes Mal. Die anderen sind schon fast fertig.“

Während der Reitstunde lehnte sich Robin an den Zaun und beobachtete genau, wie ihr Vater die fünf Reitanfänger langsam ans Reiten heranführte. Die heutige Stunde war hauptsächlich da, um festzustellen, wer was schon konnte oder eben auch nicht und wer gegebenenfalls erst einmal eine Longier-Stunde benötigen würde, um sich an die Bewegungen zu gewöhnen. Robin bewunderte die Geduld, die ihr Vater mit seinen Schülern haben konnte. Bei ihr war er nie so nachsichtig.

Neugierig betrachtete sie jeden einzelnen Schüler und stellte fest, dass sie scheinbar wirklich alle blutige Anfänger waren. Pierre und ein Mädchen namens Anna-Lena schienen aber zu mindestens ein gutes Taktgefühl für den Rhythmus des Gangs zu haben. Sie hatten potential, im Gegensatz zu den drei anderen Mädchen, die völlig fehl am Platze wirkten und bei denen sich Robin fast sicher war, dass sie nach wenigen Stunden wieder aufhören würden. Sie hatte zu viele Reitschüler kommen und gehen sehen, um nicht ein Auge dafür zu entwickeln. Obwohl sie zugeben musste, dass auch sie sich hin und wieder irrte.

Nach der Stunde half sie den Schülern beim Absatteln und Hufe auskratzen und brachte anschließend die Schulpferde auf die Koppel, während ihr Vater mit den Schülern redete und sie in verschiedene Gruppen einteilte.

„Ich muss wohl ziemlich schlecht gewesen sein, wenn dein Vater mich in die Longen-Stunde steckt“, stellte Pierre eine Weile später fest, als er auf sie zutrat, während sie die Pferde beobachtete.

Robin drehte sich zu ihm um. „Das würde ich nicht behaupten“, sagte sie tröstend. „Es bedeutet nur, dass du noch unsicher bist, aber nicht, dass du schlecht warst oder kein Talent hättest oder so. Bei der Longen-Stunde ist es einfach leichter, sich auf seinen Sitz zu konzentrieren. Man muss nicht alles auf einmal lernen. Sei froh darüber, dabei kannst du viel lernen.“

„Hast du auch so angefangen?“

Robin grinste. „Nicht direkt. Ich habe schon als Dreijährige mit meinem Vater zusammen auf dem Pferd gesessen, aber als ich es dann richtig gelernt habe, durfte ich auch mit der Longe anfangen. Allerdings kam ich damals auch noch nicht wirklich mit meinen Beinen an den Pferdebauch, weil ich noch zu klein war. Inzwischen habe ich damit keine Probleme mehr.“

„Ich weiß. Ich habe dich reiten sehen. So würde ich das auch gerne mal können.“

„Wenn du dir Mühe gibst, kannst du das schaffen. Ich bin nämlich alles andere als perfekt.“

„Perfekt will ich auch gar nicht sein“, stellte er fest.

„Wirklich perfekt ist wohl auch niemand, nicht einmal mein Vater. – Da fällt mir gerade ein, du wolltest mir noch sagen, warum du deinen Namen deiner Mutter verdankst.“

Pierre wurde ein wenig rot und senkte den Blick. „Versprichst du mir, dass du mich nicht auslachst?“

„Ich verspreche es“, sagte sie mit ernster Miene und blickte ihn erwartungsvoll an.

„Also das ist so: meine Mutter ist ein riesen Fan von Karl May und seinen Indianer-Geschichten. Vor allem Winnetou hat es ihr angetan. Und sie kennt natürlich auch die Verfilmungen davon. Und Winnetou wurde von einem Franzosen gespielt: Pierre Brice. Deshalb hat sie mir den Namen Pierre gegeben.“

„Und warum ist dir das peinlich? Pierre Brice war doch ein toller Schauspieler und ein gutaussehender noch dazu.“

„Du kennst ihn?“

„Nicht persönlich natürlich, aber seine Filme.“

„Jetzt sag‘ bloß noch, du hast auch die Bücher gelesen.“

Nun war es Robin, die leicht errötete und den Kopf senkte. „Ist das schlimm?“

Pierre lachte. „Nee, überhaupt nicht. Du bist der erste Teenager, der mich nicht deswegen auslacht. Ich lese die Bücher nämlich auch gerne – habe ich wohl von meiner Mutter geerbt“, gab er zu.“

„Das Gefühl kenne ich. Marcus hat mich auch deswegen ausgelacht“, sagte sie, ohne groß nachzudenken.

„Marcus? Wer ist das?“

Erschrocken merkte sie, was sie gerade gesagt hatte. „Ein Niemand“, sagte sie schließlich. „Nur ein eingebildeter Fatzke, der von meinem Vater trainiert wird und sich für was Besseres hält.“

Pierre bemerkte die Bitterkeit, die in ihrer Stimme mitschwang und hielt es für besser, nicht weiter nachzufragen. Doch ihre gute Laune war plötzlich verflogen und kurz darauf wandte sie sich ab und ging in Richtung Haus, wo sie sich auf ihr Bett fallen ließ und an die Decke starrte.

In den nächsten Wochen stürzte sich Robin in die Arbeit für die Schule. Die Sommerferien waren nicht mehr weit und es wurden noch einige Arbeiten geschrieben, die sie auf keinen Fall verhauen wollte. Ins Kino oder in den Jugendclub ging sie gar nicht mehr. Lediglich am Training nahm sie zwei Wochen später wieder teil, allerdings nicht mehr in der Gruppe, in der auch Marcus trainierte. Auf dem Hof machte sie einen großen Bogen um ihn und zu Turnieren fuhr sie erst einmal nicht mit, um ihm so wenig wie möglich zu begegnen.