Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis - Lena Posch - E-Book

Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis E-Book

Lena Posch

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Beschreibung

Forschung für die Praxis Das Werk stellt die für Vernehmungen von Opfern, Zeuginnen und Zeugen sowie Beschuldigten relevanten psychologischen Forschungsbefunde dar. Vernehmungsbeamtinnen und -beamte treffen in ihrer Vernehmungspraxis auf unterschiedlichste Aussagepersonen, z.B. Opferzeuginnen und -zeugen, Kinder, Jugendliche und Personen mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen. Jeder Mensch hat sehr verschiedene personale, motivationale und soziale Voraussetzungen, auf die in jedem Fall individuell reagiert werden muss. Mit Vernehmungstechniken und Fallbeispielen Die Autorin zeigt die nach aktuellem Forschungsstand geeigneten und weniger geeigneten Vernehmungstechniken auf und grenzt sie voneinander ab. Fall- und Transkriptbeispiele veranschaulichen die Praxis. Zudem werden am Ende der Kapitel die daraus folgenden Implikationen für die Vernehmung behandelt. Mit Erläuterungen der allgemeinen Grundsätze Erläutert werden Grundsätze, die generell zur Anwendung kommen sollten – wie ein ergebnisoffenes Vorgehen, eine unvoreingenommene Haltung und ein respektvoller, nicht vorverurteilender Umgang mit allen Aussagepersonen. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität bestimmter Personengruppen sind darüber hinaus möglicherweise Besonderheiten zu beachten und in der Vernehmung besonders zu berücksichtigen. Auch darauf wird in prägnanter und verständlicher Form eingegangen. Aus dem Inhalt: Sozial- und kommunikationspsychologische Aspekte der Vernehmung Aufbau der Vernehmung und Fragetechniken Vernehmung von Opferzeuginnen und Opferzeugen Vernehmung von Kindern Psychologische Aspekte der Beschuldigtenvernehmung Gibt es nonverbale Lügenmerkmale? Vernehmungs- und aussagepsychologisch relevante Aspekte bei Personen mit psychischen Störungen und kognitiven Beeinträchtigungen Das Buch ist ein wichtiger Baustein für die Professionalisierung polizeilicher Vernehmungen. Innovatives Nachschlagewerk für ... ... Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in Studium und Ausbildung sowie für die Polizeipraxis.

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Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis

Von

Prof. Dr. Lena Posch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-415-07270-1

© 2023 Richard Boorberg Verlag

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelfoto: © Photographee.eu – stock.adobe.com

E-Book-Umsetzung: abavo GmbH, Nebelhornstraße 8, 86807 Buchloe

Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG | Scharrstraße 2 | 70563 Stuttgart

Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresden

www.boorberg.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Vorwort

1. Einführung: Ziele der Vernehmung und Relevanz psychologischer Aspekte

2. Wahrnehmungs- und gedächtnispsychologische Grundlagen

2.1 Von der Wahrnehmung zur Erinnerung: Informationsverarbeitung und Gedächtnis

2.2 Aufbau des Langzeitgedächtnisses

2.3 Der Abruf von Erinnerungen

2.4 Wahrnehmungs- und Gedächtnisverfälschungen

2.4.1 Beeinflussungsfaktoren in der Wahrnehmungssituation

2.4.2 Der Einfluss von Stress auf die Encodierung, Konsolidierung und den Abruf von Erinnerungen

2.4.3 Der Einfluss von Alkohol auf die Gedächtnisleistung

2.4.4 Gedächtnisverfälschungen und Abruf

2.4.5 Suggestionseffekte

2.5 Wahrnehmung und Wiedererkennen von Personen und Gesichtern

2.5.1 Zeug:innenbezogene Faktoren

2.5.2 Faktoren aufseiten der Zielperson (täter:innenbezogene Faktoren)

2.5.3 Situationsbezogene Einflussfaktoren

3. Sozial- und kommunikationspsychologische Aspekte der Vernehmung

3.1 Mögliche kommunikationspsychologische Barrieren in der Vernehmung

3.2 Sozialpsychologische Effekte und Fehlerquellen: Soziale Wahrnehmung und schemageleitete Informationsverarbeitung

4. Aufbau der Vernehmung und Fragetechniken

4.1 Phasen der Vernehmung

4.2 Geeignete und ungeeignete Frageformen

4.3 Vernehmungsbeispiel und Folgen ungeeigneter Befragungstechniken

4.4 Aktives Zuhören zur Förderung der Aussagebereitschaft und des freien Berichts

4.5 Das Kognitive Interview

4.5.1 Theoretischer Hintergrund des Kognitiven Interviews

4.5.2 Die vier kognitiven Basistechniken der Ursprungsversion des Kognitiven Interviews

4.5.3 Einbettung der Techniken in eine Gesprächsstruktur: das erweiterte Kognitive Interview

4.5.4 Wirksamkeit und praktischer Nutzen des Kognitiven Interviews

5. (Kommunikations-)Psychologisch relevante Rahmenbedingungen der Vernehmung

5.1 Anwesenheit von Begleitpersonen bei der Vernehmung von Zeug:innen

5.2 Vernehmungen mit Dolmetscher:innen

5.3 Dokumentation von Vernehmungen

5.3.1 Audio/Videografie und Protokollierung

5.3.2 Der Eindrucksvermerk

6. Vernehmung von Opferzeug:innen

6.1 Situation von Opferzeug:innen

6.2 Auswirkungen von Traumabesonderheiten auf Vernehmung und Aussage

6.3 Umgang mit Opferzeug:innen und Vermeidung einer sekundären Viktimisierung bei Opfern von Sexualstraftaten

6.4 Aussagen über multiple Vorfälle

6.5 Umgang mit Widersprüchen

6.6 Zeitverzögerte Anzeigen bei Sexualdelikten

7. Vernehmung von Kindern

7.1 Entwicklungspsychologische Aspekte aussagerelevanter Kompetenzbereiche

7.1.1 Sprachentwicklung und Begriffsverständnis im Vorschulalter

7.1.2 Autobiografisches Gedächtnis, Abruf von Erinnerungen und Aussagetüchtigkeit

7.1.3 Zeitliche Einordnung eines Ereignisses

7.1.4 Kompetenz zu Lügen, Täuschen, Verschweigen

7.1.5 Berichte über mehrfach stattfindende Vorfälle

7.1.6 Unterscheidung von Realität und Fantasie und andere Quellenverwechslungsfehler

7.1.7 Suggestibilität von Kindern und potenzielle suggestive Einflüsse in der Vernehmung

7.2 Aspekte der Vernehmungsgestaltung bei Kindern

7.2.1 Strukturierte Vernehmungsleitfäden

7.2.2 Übungsphase zu einem nicht-tatrelevanten Ereignis

7.2.3 Überleitung zum Sachverhalt

7.2.4 Puppen und Spielzeuge

7.2.5 Anfertigen von Zeichnungen

7.2.6 Bildkartenmethode

7.3 Aussagemotivation bei Kindern

7.4 Umgang mit kindlichen Opferzeug:innen bei Anzeigen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs

8. Psychologische Aspekte der Beschuldigtenvernehmung

8.1 Allgemeines zur Vernehmungssituation und Aussage- und Geständnisbereitschaft

8.2 Mögliche Aussagehemmnisse

8.3 Informationssammelnde Vernehmungsansätze

8.4 Strategische Vernehmungsgestaltung und Beweispräsentation

8.4.1 Gegenstrategien von Beschuldigten und Perspektivübernahme durch die Vernehmenden

8.4.2 Das Stellen nicht antizipierbarer Fragen

8.4.3 Strategische Beweispräsentation (Strategic Use of Evidence Technique)

8.5 Jugendliche als Beschuldigte

8.5.1 Entwicklungspsychologische Aspekte der Pubertät und Adoleszenz

8.5.2 Umgang mit jugendlichen Beschuldigten

8.6 Risikofaktoren für falsche Geständnisse

9. Gibt es nonverbale Lügenmerkmale?

9.1 Annahmen und Befunde zu nonverbalen Indikatoren für Täuschung

9.2 Mikroexpressionen zum Erkennen von Lügen?!

9.3 Was misst der sogenannte „Lügendetektor“?

10. Inhaltsanalytische Beurteilung der Zeugenaussage

10.1 Zur Methode der Glaubhaftigkeitsbegutachtung

10.2 Aussagetüchtigkeit

10.3 Arten von Falschaussagen und kognitive Anforderungen einer Falschaussage

10.4 Prüfung der Aussagequalität anhand von Glaubhaftigkeitsmerkmalen

10.5 Aussagevalidität

10.6 Polizeiliche Relevanz der Grundkenntnisse der Aussagepsychologie für die Vernehmungsgestaltung

11. Vernehmungs- und aussagepsychologisch relevante Aspekte bei Personen mit psychischen Störungen und kognitiven Beeinträchtigungen

11.1 Vernehmungsfähigkeit, Aussagetüchtigkeit und deren mögliche psychopathologisch bedingte Beeinträchtigung

11.2 Ausgewählte psychische Störungen und deren mögliche Auswirkungen auf die Aussage(tüchtigkeit) und die Vernehmung

11.3 Vernehmung von Menschen mit einer Störung der Intelligenzentwicklung (Intelligenzminderung)

11.4 Vernehmung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen

11.5 Dokumentation psychischer Auffälligkeiten im Rahmen von Beschuldigtenvernehmungen

Literatur

Glossar

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Erweitertes Drei-Stufen-Modell der Informationsaufnahme und -verarbeitung des Gedächtnisses nach Atkinson & Shiffrin (1968; geringfügig mod. nach Myers, 2014, S. 330)

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Abbildung 2: Vergessenskurven unterschiedlichen Sinngehalts (aus Greuel et al., 1998, S. 30)

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Abbildung 3: Struktur des Langzeitgedächtnisses (mod. nach Diekelmann, 2018; Myers, 2005; 2014)

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Abbildung 4: Die vier Seiten einer Nachricht und der/die vierohrige Empfänger:in des kommunikationspsychologischen Modells von Schulz von Thun (2014, S. 33 und 49)

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Abbildung 5: Eindrucksvermerk aus einer Ermittlungsakte zum Tatverdacht des sexuellen Missbrauchs eines lernbehinderten 9-jährigen Zeugen

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Abbildung 6: Wechselwirkung zwischen Suggestibilität und Suggestivität in Befragungssituationen (eigene Darstellung nach Greuel, 2001)

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Abbildung 7: Schematische Darstellung der Phasen des PEACE-Modells (mod. nach Clarke & Milne, 2001)

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Abbildung 8: Phasen des untersuchenden Vernehmungsansatzes PEEKAA (eigene Darstellung nach CTI, 2017)

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Abbildung 9: Schematischer Ablauf der strategischen Beweispräsentation (eigene Darstellung nach Clemens et al., 2020, S. 55/56)

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Abbildung 10: Die drei Fehler auf dem Weg zum vernehmungsinduzierten falschen Geständnis (eigene Darstellung nach Leo, 2008; 2019)

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Frageformen und deren Geeignetheit in der Vernehmung (nach Greuel et al., 1998, S. 65–68; Milne & Bull, 2003a, S. 33–35)

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Tabelle 2: Zusammenfassung der Vorteile des aktiven Zuhörens in der Vernehmung

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Tabelle 3: Gesprächsphasen des erweiterten Kognitiven Interviews (nach Fisher & Geiselman, 1992 und Griffiths & Milne, 2010)

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Tabelle 4: Die Entwicklung der Fähigkeit Erinnerungen abzurufen und zu berichten als elementare Voraussetzungen der Aussagetüchtigkeit (Zusammenfassende Darstellung nach Volbert, 2005, S. 243–245 u. 253, vgl. auch Greuel, 2001, S. 243 u. 255)

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Tabelle 5: Beispiele erlaubter Vernehmungsmethoden und verbotener Täuschung (Diemer, 2019, Rn. 19/20)

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Tabelle 6: Mögliche Einflussfaktoren auf die Geständnisbereitschaft (nach Deslauriers-Varin et al., 2011; St-Yves & Deslauriers-Varin, 2009; Houston et al., 2014)

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Tabelle 7: Arten falscher Geständnisse nach Kassin und Wrightsman (1985) und deren mögliche Ursachen (nach Kassin & Gudjonsson, 2004)

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Tabelle 8: Kurzübersicht Risikofaktoren für falsche Geständnisse

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Tabelle 9: Möglichkeiten des Zustandekommens (partieller) falscher Aussagen (Greuel, 2012, S. 38, leicht modifiziert und ergänzt)

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Tabelle 10: Qualitätsmerkmale glaubhafter Aussagen mit kurzer Beschreibung (nach Greuel et al., 1998)

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Tabelle 11: Schweregrade der Störungen der Intelligenzentwicklung und Beeinträchtigungen nach ICD-11 (WHO, 2019)

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Vorwort

Aufgrund der hohen Bedeutsamkeit qualitativ hochwertiger Vernehmungen und resultierender Aussagen von Opferzeug:innen, Kindern und Beschuldigten sowohl für die betroffenen Personen als auch die Sicherstellung eines fairen Ermittlungsverfahrens und nicht zuletzt oftmals den Ausgang eines Strafverfahrens ist eine wissenschaftlich fundierte Vernehmungspraxis (und entsprechende Lehre) von hoher Relevanz (vgl. in Bezug auf Beschuldigte das sehr treffende Positionspapier von May et al., 2022).

Ziel dieses Buches ist, (angehenden) Polizeibeamt:innen für Vernehmungen von (Opfer-)zeug:innen und Beschuldigten relevante psychologische Forschungsbefunde darzustellen und (nach aktuellem Forschungsstand) geeignete und weniger geeignete Vernehmungstechniken herauszustellen und voneinander abzugrenzen. Dabei wurde immer versucht einen Praxisbezug herzustellen, z. T. unter Darbietung von Fall- und Transkriptbeispielen (diese sind selbstverständlich vollständig anonymisiert, etwaige darin enthaltene Namen wurden ausgetauscht). Zudem werden am Ende der Kapitel zusammenfassend die daraus folgenden Implikationen für die Vernehmung dargestellt.

Vernehmungsbeamt:innen werden in ihrer Vernehmungspraxis auf unterschiedlichste Aussagepersonen mit sehr verschiedenen personalen, motivationalen und sozialen Voraussetzungen treffen und müssen in jedem Fall individuell reagieren. Keinesfalls können hier pauschale Hinweise gegeben werden. Es gibt jedoch einige Grundsätze, die generell zur Anwendung kommen sollten – wie ein ergebnisoffenes Vorgehen, eine unvoreingenommene Haltung und ein respektvoller, nicht vorverurteilender Umgang mit allen Aussagepersonen. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität bestimmter Gruppen, wie z. B. Opfern einer Straftat, Kindern, Menschen mit Intelligenzminderungen oder psychischen Erkrankungen, sind darüber hinaus möglicherweise Besonderheiten zu beachten und in der Vernehmung besonders zu berücksichtigen (z. B. eine erhöhte Suggestibilität bei Menschen mit einer Intelligenzminderung und das Erfordernis eines entsprechend angepassten Befragungsverhaltens) – insbesondere um eine möglichst hohe Aussagequalität zu erhalten, keine falschen Schlüsse zu ziehen und im Hinblick auf Beschuldigte ein faires Ermittlungsverfahren zu gewährleisten und das Risiko eines falschen Geständnisses zu minimieren. Es wird deshalb auf verschiedene Personengruppen als Aussagepersonen eingegangen (z. B. Opferzeug:innen, Kinder, Jugendliche, Personen mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen).

Für die Vernehmung spielen vielfältige sozial-, kommunikations-, kognitions- und aussagepsychologische sowie je nach Gegenüber auch entwicklungs-, persönlichkeits- und klinisch-psychologische Aspekte eine Rolle – sie alle erschöpfend und umfassend hier darzustellen würde den Rahmen eines solchen Buches sprengen, weshalb versucht wurde, vernehmungsrelevante Grundlagen prägnant und verständlich darzustellen.

Abschließend sei angemerkt, dass eine wissenschaftlich fundierte Lehre und Ausbildung im Bereich der Vernehmung nicht ausreichend ist, damit diese auch tatsächlich in der Praxis umgesetzt wird. Entsprechende Studien verweisen beispielsweise darauf, dass – selbst darin geschulte – Ermittlungsbeamt:innen überwiegend Frageformen verwenden, die dem Erinnerungsabruf abträglich sind (Launay & Py, 2015 für ein Review). Dies deutet darauf hin, dass das Frageverhalten, das einmal „on the job“ erlernt wurde (z. B. das Stellen von überwiegend geschlossenen Fragen) relativ änderungsresistent ist (Launay & Py, 2015). Es ist also im Gebiet der Vernehmung entscheidend, das vermittelte Wissen bereits vor dessen Anwendung in der Praxis einzuüben und dann in der Praxis fortlaufend durch Trainings, Supervision und Feedback fortzuentwickeln (vgl. dazu Sticher, 2016; Sticher & Schicht, 2019), bevor sich also ein ungünstiger Befragungsstil „einschleift“, der dann nicht mehr modifiziert wird. So kann ein Buch wie das vorliegende letztlich nur ein Baustein in der Professionalisierung polizeilicher Vernehmungen sein.

Auf dem Weg der Entstehung dieses Buches haben mich verschiedene Personen maßgeblich unterstützt, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte: Frauke Waghals danke ich für ihre Hilfe bei Literaturrecherchen und Korrekturlesen. Selina Hans danke ich sehr herzlich für Literaturrecherchen und -aufbereitungen, das Erstellen von Grafiken, Unterstützung bei der Erstellung des Glossars und ihre Korrekturanmerkungen. Bei Johanna Paping möchte ich mich für ihre hohe Einsatzbereitschaft in der Abschlussphase der Manuskripterstellung bedanken, für die Literaturprüfung und die Erstellung des Literaturverzeichnisses und eine Vielzahl an finalen Korrekturarbeiten. Meinem Kollegen Benjamin Sklarek sei herzlich gedankt für seine differenzierte Rückmeldung und Kommentare zum Manuskript. Dr. Franziska Falkenhagen und Ingeborg Rosch gilt mein herzlicher Dank für ihre hilfreichen Anmerkungen und Anregungen zu einzelnen Kapiteln. Mein ganz besonderer Dank gilt darüber hinaus Prof. Dr. Peter Wetzels, der sich trotz seiner hohen beruflichen Eingebundenheit die Zeit für eine kritische Durchsicht des Manuskripts genommen und dieses durch wertvolle Hinweise und Verbesserungsvorschläge bereichert hat. Dies weiß ich sehr zu schätzen! Privat gilt mein ganz persönlicher Dank meinem Mann Ole, der mich bei der Bewältigung der großen Herausforderung, die ein solches Buch inmitten der Pandemie mit drei kleinen Kindern bedeutet, auf vielfältigste Weise unterstützt hat.

Vorbemerkung zur gendergerechten Sprache

Es wurde so weit wie (ohne deutliche Verkomplizierung der Sätze) möglich versucht eine genderneutrale Ausdrucksweise zu wählen. Um jedoch bei einem so umfangreichen Text auch die Lesbarkeit nicht aus dem Blick zu verlieren, wurde an Stellen wo dies nicht ohne Nennung beider Formen möglich war, entweder die weibliche oder die männliche Form genutzt, die dann stellvertretend für alle Geschlechter steht. Bei den Ausführungen zu den Opfern von Sexualdelikten wurde in solchen Fällen dann die weibliche Form für die Opfer, die männliche für die Beschuldigten gewählt. Dies geschah lediglich vor dem Hintergrund, dass dies die Verteilung im polizeilichen Hellfeld widerspiegelt, keinesfalls ist dies in irgendeiner Form wertend gemeint. Auch hier beziehen sich die Ausführungen dann auf alle Geschlechter. Dies ist sicher nur eine pragmatische, keinesfalls aber zufriedenstellende Lösung, wofür ich im Vorfeld um Nachsicht bitte.

L. Posch, Hamburg im September 2022

1.Einführung: Ziele der Vernehmung und Relevanz psychologischer Aspekte

Vernehmungen gehören zum „Kerngeschäft“ (kriminal-)polizeilicher Ermittlungstätigkeit. Der Bundesgerichtshof definiert eine Vernehmung folgendermaßen: „Zum Begriff der Vernehmung im Sinne der Strafprozessordnung gehört, dass der Vernehmende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr Auskunft verlangt“ (BGH, 1996). Das primäre Ziel der Vernehmung besteht darin, Beweise im Rahmen des Ermittlungsverfahrens zu erheben und den Sachverhalt der Straftat umfassend aufzuklären (vgl. Greuel, 2008).

Zeug:innenaussagen spielen als Personalbeweis trotz fortschreitender Kriminaltechnik eine immense Rolle im Ermittlungs- und Strafverfahren (Hallenberger & Wagner, 2003). Da unsere Wahrnehmung aber nicht wie ein Kameraobjektiv funktioniert und unser Gedächtnisabruf nicht wie das Abspielen eines aufgezeichneten Videos, sondern zwischen Wahrnehmung und Abruf eines Ereignisses vielfältige Möglichkeiten einer Verfälschung bestehen, sind Zeug:innenaussagen sehr fehleranfällig. Dies zeigte nicht zuletzt noch einmal eindrücklich eine aktuelle Auswertung aller erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren bzw. Fehlurteile in Deutschland, aufgrund derer die betroffenen Personen fälschlicherweise zwischen 1990 und 2016 inhaftiert waren – in 17 von 29 Fällen (= 49 %) war eine Fehlidentifikation von Augenzeug:innen die Ursache (Taubert et al., 2020).

Störfaktoren in der Wahrnehmungssituation und der späteren Konsolidierungs- und Speicherphase können zwar durch die Ermittler:innen nicht geändert werden, sie haben aber Einfluss auf die Abrufsituation in der späteren Vernehmung (vgl. Brockmann & Chedor, 1999). Daher ist es wichtig, die möglichen Fehlerquellen und Verfälschungsmechanismen zu kennen, um Zeug:innenaussagen besser einschätzen zu können und zudem mögliche Fehlerquellen in der Vernehmungssituation (= Abruf) zu vermeiden bzw. Zeug:innen bestmöglich zu einem unverfälschten und umfangreichen Abruf zu verhelfen. Denn bei dem Produkt der Vernehmung (also der entstandenen Aussage) handelt es sich nicht zuletzt um eine kommunikative Rekonstruktion eines Sachverhalts, die durch die subjektiven Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse aller beteiligter Kommunikationspartner:innen (Zeug:innen/Beschuldigte und Vernehmende) geprägt ist, sodass sie niemals ein objektives Abbild der Realität sein kann (vgl. Greuel, 2008). Vielmehr wird die Aussage „zum einen von den Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Rekonstruktionsleistungen des Zeugen, zum anderen von den kommunikativen Techniken des Vernehmenden bestimmt“ (Greuel, 2008, S. 222).

Ein fundiertes Wissen über Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse und deren Störanfälligkeit, sozialpsychologische Einflussfaktoren in der Vernehmungssituation sowie psychologisch günstige Vernehmungs- und Fragetechniken, auch in Bezug auf besonders vulnerable Personengruppen (z. B. Kinder oder Personen mit Intelligenzminderungen), ist für Polizeibeamt:innen deshalb von hoher Relevanz. Denn die Qualität der Aussage und damit ihre Gerichtsverwertbarkeit ergeben sich unmittelbar aus der Qualität der geführten Vernehmung (Greuel, 2008). In Bezug auf Zeug:innenaussagen ist insbesondere die Qualität der ersten Vernehmung bzw. der Erstaussage und deren genaue Aufzeichnung für den weiteren Ermittlungsverlauf von elementarer Bedeutung (Milne & Bull, 2014). Spätere Abweichungen beeinträchtigen die Verwertbarkeit der Aussage und können die Konstanz und damit die Glaubhaftigkeit der Aussage infrage stellen.

Auch haben sowohl die polizeilichen Zeug:innen- als auch Beschuldigtenvernehmungen einen bedeutsamen Einfluss auf das weitere Strafverfahren. Dies ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass sich nachfolgende Entscheidungen im weiteren Verfahrensverlauf darauf stützen (z. B. ob und wie weiter ermittelt, ob Anklage erhoben oder eingestellt wird etc.), die Vernehmungsprotokolle zur Vorbereitung der (meist erst Jahre später stattfindenden) mündlichen Hauptverhandlung genutzt werden, zur Rekonstruktion des Sachverhalts beitragen und Staatsanwaltschaft und Gericht einen ersten Eindruck der vernommenen Person (z. B. der Kooperationsbereitschaft) und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussage vermitteln (Capus et al., 2014). Das Ziel sollte also immer der Erhalt einer möglichst genauen, unbeeinflussten und vollständigen Aussage sein. Um eine solche zu erzielen, ist es die primäre Aufgabe der Vernehmenden, die Aussageperson sowohl motivational als auch kognitiv in die Lage zu versetzen, die in ihrem Gedächtnis gespeicherten Inhalte bestmöglich abzurufen. Zwar kann dabei keine völlig fehlerfreie Aussage erwartet werden. Vernehmende sollten jedoch über die notwendigen Kenntnisse verfügen, die allgemeinen Kompetenzen von Zeug:innen insofern einschätzen zu können, als dass sie völlig unplausible von realistischen Schilderungen/Erinnerungsleistungen unterscheiden können.

Eine gelingende Vernehmung erfordert zwei Kompetenzbereiche der Vernehmenden in Bezug auf die Gestaltung und das Ergebnis der Vernehmung, zum einen kommunikative und soziale Kompetenz, zum anderen kognitive und analytische (Milne & Bull, 2003a) bzw. fachliche Kompetenz (Sticher, 2016). Die soziale Kompetenz wird nicht zuletzt dadurch unter Beweis gestellt, dass es gelingt, sich auf verschiedene Aussagepersonen einzustellen, angemessene Sprache zu wählen, der Aussageperson (unabhängig von persönlicher Einstellung) mit Respekt zu begegnen (was auch bedeutet, das eigene nonverbale Verhalten unter Kontrolle zu haben), Empathie zu zeigen und durch Gesprächsmanagement und -techniken eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre und Arbeitsbeziehung herzustellen (vgl. Milne & Bull, 2003a; Sticher, 2016). Zur kognitiven und analytischen Kompetenz gehört ein fundiertes Wissen über die Entstehung menschlicher Gefühle und Verhaltensweisen, z. B. um nicht nur zu hören, was die vernommene Person sagt, sondern auch dahinter liegende Aspekte wie die Dynamik des geschilderten Ereignisses sowie die Aussageperson und deren motivationale Bedingungen in Gänze zu verstehen und dabei auch Einflussfaktoren auf den eigenen „ersten Eindruck“ einer Person zu reflektieren (vgl. Milne & Bull, 2003a).

2.Wahrnehmungs- und gedächtnispsychologische Grundlagen

2.1Von der Wahrnehmung zur Erinnerung: Informationsverarbeitung und Gedächtnis

Wenn Zeug:innen etwas beobachten oder erleben, laufen zwischen der Wahrnehmung des Ereignisses und dem Abruf in der Vernehmung verschiedene Prozesse ab, die jeweils fehleranfällig sind und deshalb nachfolgend erläutert werden sollen. Ziel ist, ein Verständnis der menschlichen Informationsverarbeitung und Gedächtnisprozesse zu vermitteln, um dadurch Fehler und Verzerrungen besser einschätzen und in der Vernehmung vermeiden zu können. Um ein Ereignis zu erinnern und in der Vernehmungssituation abrufen zu können, müssen die eintreffenden Informationen im Gehirn ankommen, d. h. im Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis encodiert (kurzfristig gespeichert und verarbeitet), ins Langzeitgedächtnis befördert (konsolidiert) und dort dauerhaft abgelegt (gespeichert) und zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. in der Vernehmung, wieder aufgefunden (d. h. abgerufen) werden (vgl. Myers, 2014).

Nach dem einflussreichen und viel zitierten Mehrspeichermodell nach Atkinson und Shiffrin (1968)[1] verläuft das Entstehen unserer Erinnerungen dreistufig: Zunächst werden (z. B. visuell oder akustisch) eintreffende Reizinformationen aus der Umwelt kurzfristig und flüchtig im sensorischen Gedächtnis (Ultrakurzzeitgedächtnis) aufgezeichnet. Dabei gibt es einen eigenen sensorischen Speicher für jede Sinnesmodalität (z. B. der ikonische Speicher für visuelle Informationen, der echoische für akustische Reize etc.). Dieser verfügt über eine begrenzte Kapazität und die Speicherzeit ist sehr kurz (250 Millisekunden bis 4 Sekunden) (Solso, 2005).

Das Kurzzeitgedächtnis (das aktivierte Gedächtnis oder Arbeitsgedächtnis) hält einige der Informationen, auf die Aufmerksamkeit gerichtet wurde, für kurze Zeit fest (10 bis 60 Sekunden; Solso, 2005). Diese werden dann entweder abgespeichert oder vergessen. Doch auch seine Kapazität ist begrenzt, dort können etwa sieben (+/– zwei) Informationseinheiten (z. B. Ziffern, Buchstaben, kurze Wörter) gespeichert und fehlerfrei erinnert werden (Myers, 2014). Damit Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis gelangen, ist nach Atkinson und Shiffrin (1968) ein „Memorieren“ (rehearsal) notwendig, das heißt, eine begrenzte Menge an Informationen wird so lange im Kurzzeitgedächtnis aufrechterhalten, bis sie ins Langzeitgedächtnis übertragen (d. h. konsolidiert) wurden.

Abbildung 1: Erweitertes Drei-Stufen-Modell der Informationsaufnahme und -verarbeitung des Gedächtnisses nach Atkinson & Shiffrin (1968; geringfügig mod. nach Myers, 2014, S. 330)

Der Speicher des Langzeitgedächtnisses ist unbegrenzt, d. h. dort können prinzipiell unendlich viele Informationen aufgenommen und bis zu einer lebenslangen Dauer gespeichert bleiben. Dennoch unterliegen wir normalen Erinnerungsverlusten, die sich z. B. dadurch bemerkbar machen, dass wir lang zurückliegende Ereignisse nicht mehr in allen Details und Lebendigkeit erinnern oder auch, dass wir Dinge „vergessen“ haben. Dies kann ein Abrufproblem sein (d. h. es fehlt der entsprechende Schlüsselreiz) oder aber neue Erfahrungen blockieren den Abruf alter Gedächtnisspuren (sog. Interferenz) oder die physischen Gedächtnisspuren zerfallen über die Zeit in ihrer Stärke („Spurenzerfallhypothese“), z. B. wenn sie nicht genutzt werden (Anderson, 2013; Myers, 2014; Solso, 2005).

Nach der „Vergessenskurve“ (originär nach Ebbinghaus, 1885) verläuft dieser Prozess jedoch unterschiedlich schnell, je nachdem, ob der Inhalt eine (persönliche) Bedeutung hat. Während der Informationsverlust bei erlernten sinnlosen Silben (d. h. keine Bedeutung) am schnellsten verläuft und diese später am wenigsten erinnert werden können, werden spanische Vokabeln (die einen inhaltlichen Sinn haben) deutlich weniger schnell vergessen und besser erinnert. Am flachsten verläuft die Kurve bei selbst erlebten, autobiografischen Erinnerungen – über diese werden (Opfer-)Zeug:innen auch Jahre später noch berichten können, wenn auch nicht mehr in allen Details. In Bezug auf Augenzeug:innen, die unerwartet und beiläufig etwas wahrnehmen, das für sie zum Ereigniszeitpunkt keinerlei Bedeutung hat und wozu sie später Angaben machen sollen, gehen Greuel et al. (1998) davon aus, dass die Vergessenskurve zwischen der von sinnlosen Silben und der von spanischen Vokabeln (die immerhin intentional gelernt wurden, d. h. auf die – im Gegensatz zu einer beiläufigen Wahrnehmung – Aufmerksamkeit gerichtet wurde) liegt. Das heißt also, dass in Abhängigkeit des zeitlichen Abstands zum Ereignis mit einem relativ großen Informationsverlust zu rechnen ist, weshalb in solchen Fällen von den Augenzeug:innen wenig erinnert werden wird.

Abbildung 2: Vergessenskurven unterschiedlichen Sinngehalts (aus Greuel et al., 1998, S. 30)

2.2Aufbau des Langzeitgedächtnisses

Das Gedächtnis umfasst die „Fähigkeit, Informationen und Erfahrungen über mehr oder minder lange Zeiträume zu speichern, sie zu ordnen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abzurufen“ (Zimbardo & Gerrig, 2004, S. 293). Um zu verstehen, wie Erinnerungen abgespeichert werden und warum z. B. Teile des Gedächtnisses verloren gehen können, während andere erhalten bleiben (z. B. bei einer Amnesie) muss man sich den Aufbau des Gedächtnisses vergegenwärtigen, das in verschiedene Subsysteme untergliedert ist. Die Struktur des Langzeitgedächtnisses wird auf erster Ebene in das deklarative und non-deklarative Gedächtnis unterteilt. Im deklarativen (expliziten) Gedächtnis, dessen Inhalte durch bewusstes Abrufen erinnert werden, befindet sich das semantische Gedächtnis (Faktenwissen, Gelerntes, Allgemeinwissen) und das episodische Gedächtnis (autobiografisches Gedächtnis), wo selbst erlebte Ereignisse abgespeichert werden (Myers, 2014). Das autobiografische Gedächtnis ist bei der Vernehmung von Zeug:innen von hoher Relevanz, da es um Ereignisse mit einem Bezug zum eigenen Lebenskontext geht (vgl. Greuel et al., 1998).

Das non-deklarative (implizite) Gedächtnis wiederum speichert Informationen unbewusst, sodass auch der Abruf unbewusst bzw. unabhängig von bewusster Erinnerung erfolgt (vgl. Myers, 2014). Die dort gespeicherten Informationen spiegeln sich im Verhalten einer Person wider (z. B. motorische Fähigkeiten, prozedurales Wissen, wie man etwas tut). Auch für Priming und Konditionierungsprozesse spielt es eine wichtige Rolle. Diese Unterteilung äußert sich z. B. darin, dass explizite Erinnerungen verloren gegangen sein (z. B. im Rahmen einer Amnesie), implizite Erinnerungen und Fähigkeiten aber erhalten geblieben sein können (vgl. Anderson, 2013; Myers, 2014).

Abbildung 3: Struktur des Langzeitgedächtnisses (mod. nach Diekelmann, 2018; Myers, 2005; 2014)

2.3Der Abruf von Erinnerungen

Bei der Vernehmung handelt es sich um eine Abrufsituation – Zeug:innen oder Beschuldigte sollen ihre gespeicherten Informationen zum Sachverhalt möglichst umfangreich, detailliert und genau erinnern. Da dies insbesondere dann gelingt, wenn die Vernehmenden sie dabei bestmöglich unterstützen (ihnen also beim Abruf ihrer Erinnerungen helfen), ist es wichtig, die dabei ablaufenden Prozesse zu kennen. Psychologische Vernehmungs-/Befragungstechniken wie das Kognitive Interview (vgl. Kap. 4.5) zielen explizit darauf ab, den Abruf durch gezielte Abrufhilfen zu unterstützen.

Für den Abruf von Erinnerungen, die in einem Netz von Assoziationen gespeichert sind, brauchen wir einen damit verknüpften Hinweisreiz, um sie sozusagen „wiederzufinden“ und wieder ins Bewusstsein zu rufen, d. h. es müssen Assoziationsketten aktiviert und diejenigen Stränge identifiziert werden, die zur Erinnerung führen. Dies kann bewusst, aber auch unbewusst geschehen (z. B. wenn im Rahmen des Priming auf Basis von Vorerfahrungen spezielle Assoziationen aktiviert werden) (vgl. Myers, 2014).

Wie gut der bewusste Abruf von Erinnerungen gelingt, wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst, z. B. durch die eigene Aufmerksamkeit, die Qualität der Abrufreize (retrieval cues), die auf irgendeine Weise mit dem zu erinnernden Ereignis assoziiert sind, die assoziative Stärke zwischen „Cue“ und gesuchter Erinnerung, die Abrufstrategie, oder die Passung von Encodier- und Abrufsituation (Myers, 2014). Mit letzterer sind die Assoziationen gemeint, die während des Encodierens der Ereigniserinnerung gebildet werden – dabei kann es sich z. B. um einen Geruch oder Geschmack oder ein bestimmtes Lied als Abrufreiz handeln, die die Erinnerung an ein damit in Verbindung stehendes Ereignis auslösen.

Hilfreich beim Abruf ist zudem ein Zurückversetzen in den Kontext der Encodierung, d. h. den Erlebniszeitpunkt des Ereignisses (sog. Effekt des Encodierkontexts oder Encodierspezifität) (vgl. Anderson, 2013; Myers, 2014) – eine Maßnahme, die auch für eine Vernehmung gut genutzt werden kann (vgl. die Technik „mentale Wiederherstellung des Wahrnehmungskontexts“ als Bestandteil des Kognitiven Interviews in Kap. 4.5). Die Alltagswirksamkeit dieser „Abrufstrategie“ ist sicherlich den meisten von uns in irgendeiner Form deutlich geworden, z. B. wenn man an einen Ort zurückkommt, an dem man etwas erlebt hat und plötzlich damit verknüpfte Erinnerungen auf einen einströmen. Auch erinnert man sich besser (kann Erinnerungen besser abrufen), wenn man sich in einem ähnlichen emotionalen Zustand oder Stimmung befindet wie zum Erlebniszeitpunkt (also des Encodierens der entsprechenden Informationen) – d. h. auch die emotionale Stimmung oder der innere Zustand kann als Abrufhilfe dienen (sog. zustandsabhängiges Gedächtnis, vgl. Myers, 2014, S. 347).

2.4Wahrnehmungs- und Gedächtnisverfälschungen

2.4.1Beeinflussungsfaktoren in der Wahrnehmungssituation

Bereits in der Wahrnehmungssituation, bspw. der Beobachtung oder des Selbsterlebens eines Überfalls, einer Schlägerei oder eines Verkehrsunfalls, werden Faktoren wirksam, die die Wahrnehmungsfähigkeit beeinflussen können.

Zu den personenbezogenen (internen) Faktoren, die sich auf die Wahrnehmungsfähigkeit zum Ereigniszeitpunkt ausgewirkt haben können, zählen zum einen sensorische Beeinträchtigungen (z. B. schlechte Seh- oder Hörfähigkeit, Rot-Grün-Blindheit) und zum anderen Faktoren, die den Zustand der Aussageperson betreffen, z. B. Müdigkeit, Alkohol- oder Drogeneinfluss (z. B. Wang et al., 2021), Medikamenteneinnahme (oder Entzug) (vgl. Heubrock, 2010), die seelische Verfassung (z. B. Angst, Stress) (z. B. Valentine & Mesout, 2009) sowie psychopathologische Einflüsse (z. B. floride Psychose, vgl. Kap. 11.1). So ist ggf. das Erfragen solcher Aspekte wichtig, um sich ein Bild von der Wahrnehmungsfähigkeit und möglichen Beeinträchtigungen zum Tatzeitpunkt zu machen – nicht, um den Schilderungen der Aussageperson weniger Glauben zu schenken, sondern um mögliche Störeinflüsse angemessen zu berücksichtigen. So kann bei Brillenträger:innen als Augenzeug:innen der banale Umstand, ob eine kurzsichtige Person während des Ereignisses ihre Brille trug (und beispielsweise überhaupt auf der anderen Straßenseite etwas beobachtet haben kann) wichtig zu erfragen sein. Bei wichtigen Ereignissen sollte ggf. die Situation nachgestellt werden, um einschätzen zu können, ob die Aussageperson, die z. B. angab, zum Tatzeitpunkt ihre Brille nicht getragen zu haben, einen Menschen überhaupt erkannt bzw. eine bestimmte Wahrnehmung gemacht haben kann.

Auch hat die emotionale Stimmung zum Ereigniszeitpunkt nicht nur Einfluss auf den Abruf von Erinnerungen (z. B. indem in schlechter Stimmung insbesondere negative Ereignisse erinnert werden, vgl. Myers, 2014), sondern auch darauf, wie wir das Verhalten anderer Menschen interpretieren (z. B. Forgas et al., 1984).

Als situations- und umgebungsabhängige (externe) Faktoren, die sich auf die Wahrnehmung der Aussageperson ausgewirkt haben können, sind z. B. physikalische Einflüsse, wie ungünstige Lichtverhältnisse zur Tatzeit, räumliche Distanz zum Tatgeschehen sowie akustische Reize (allgemeiner Geräuschpegel/Hintergrundgeräusche) oder die Anwesenheit einer Menschenmenge (vgl. Buckhout, 1975) zu nennen. Buckhout schilderte bereits 1975 ein eindrückliches Beispiel, bei dem ein Polizeibeamter ausgesagt hatte, er habe den Schwarzen[2] Angeklagten gesehen, der das Opfer erschoss, als beide in einem Eingang in ca. 40 Meter Entfernung standen. Durch eine Begehung des Tatorts zur gleichen Tageszeit und zusätzliche Lichtmessungen des Einfallswinkels im Hauseingang stellte sich heraus, dass dieser so schlecht beleuchtet war, dass man kaum die Silhouette einer Person in dem Eingang erkennen konnte, geschweige denn eine konkrete Person hätte identifizieren können.

Unsere Wahrnehmung hängt aber nicht nur von der individuellen Wahrnehmungsfähigkeit und den objektiven Merkmalen des Ereignisses (den sensorischen Informationen) ab, sondern ist vielmehr auch ein stark subjektiver Prozess, d. h. bei der Wahrnehmung einer Person oder eines Ereignisses werden bei jedem Menschen eigene subjektive Wahrnehmungsfilter wirksam, wir nehmen alles durch unsere persönliche „Brille“ wahr. Diese persönliche Brille ist unser Wahrnehmungsset – die „mentale Prädisposition, etwas Bestimmtes zu sehen und nicht etwas anderes“ (Myers, 2014, S. 242). Das individuelle Wahrnehmungsset entsteht auf Basis unserer Vorstellungen und Schemata[3], die wiederum aus unseren Erfahrungen gebildet werden, und beeinflusst maßgeblich die Organisation und Interpretation neuer oder zweideutiger (sowohl visueller als auch akustischer) Informationen (Myers, 2014). Das heißt, die Art, wie Informationen aufgenommen werden, wird zum einen durch die Strukturierung des sensorischen Systems und des Gehirns beeinflusst, vor allem aber auch von den Erfahrungen, die bestimmten Reizen ursprünglich eine Bedeutung verliehen haben, sodass Assoziationsketten im Gehirn entstanden sind, die die Umweltreize entsprechend interpretieren (Solso, 2005).

Weitere Beispiele für Einflussfaktoren auf die individuelle Wahrnehmung sind:

Erwartungen und Vorwissen

– diese scheinen insbesondere dann unsere Wahrnehmung zu beeinflussen, wenn die sensorischen Reize schwach und das Wahrnehmungsobjekt dadurch uneindeutig ist, unsere Erwartungen/Vorwissen aber zuverlässig erscheinen (vgl. z. B. de Lange et al., 2018)

Einstellungen und Vorurteile

– z. B. indem implizite Vorurteile die Wahrnehmung der über den Gesichtsausdruck transportierten Emotionen anderer beeinflussen. Beispielsweise führten implizite Vorurteile von weißenUS-Amerikaner:innen gegenüber Schwarzen dazu, dass sie eher geneigt waren, Ärger/bedrohlichen Affekt in Gesichtern von Schwarzen, nicht aber denen von Weißen wahrzunehmen. Die Wahrnehmung von Emotionen beim Gegenüber wird also durch Vorurteile beeinflusst und dadurch schon sehr früh in der zwischenmenschlichen Interaktion wirksam (Hugenberg & Bodenhausen, 2003). Auch führten entsprechende Vorurteile dazu, dass nach einem Priming mit Schwarzen Gesichtern ein Gegenstand eher als Waffe fehlidentifiziert wurde als nach einem Priming mit einem weißen Gesicht (Payne, 2001).

(konkrete) Vorinformationen

– diese können die Wahrnehmung beeinflussen, z. B. ob wir überhaupt etwas wahrnehmen und aufgrund des Wissens, dass gleich etwas passieren wird, unsere Aufmerksamkeit darauf richten oder auch

wie

wir ein Ereignis oder eine Auseinandersetzung oder jemanden wahrnehmen (z. B. wenn wir Vorinformationen erhalten, dass jemand aggressiv ist, z. B. Jones et al., 2002).

Der Kontext, in dem jemand eine Wahrnehmung macht

– wir nutzen nicht nur Kontextinformationen für die Mustererkennung oder den Satzkontext für die Erkennung von Wörtern (vgl. Anderson, 2013), sondern auch den Kontext der sozialen Situation bei der Wahrnehmung eines Ereignisses. So wird beispielsweise ein Mann mit einem kleinen Mädchen im Gebüsch im Rahmen einer Fahndung nach einem Täter, der ein Mädchen entführt hat, sehr wahrscheinlich anders wahrgenommen als auf einem Spielplatz.

Begünstigt wird diese Subjektivität der Wahrnehmung weiter durch deren Selektivität. Wir richten unsere Aufmerksamkeit nur auf einen Bruchteil der Reizinformationen der Umwelt (selektive Aufmerksamkeit). Die Vielzahl an Reizen, die in jeder Sekunde auf uns einströmen, würde unsere Verarbeitungskapazität ansonsten überfordern (es wird geschätzt, dass über die fünf menschlichen Sinne pro Sekunde 11 000 000 Bits Informationen aufgenommen werden, von denen nur 40 bewusst verarbeitet werden, vgl. Myers, 2014). Das, worauf die Aufmerksamkeit (z. B. von Zeug:innen) gerichtet wird, hängt wiederum stark von dem Reiz selbst (wie distinkt, neu ist er) und zudem von persönlichen Interessen, Wissen, Vorerfahrungen, Vorurteilen etc. der Wahrnehmenden ab (Milne & Bull, 2003a) (→ Wahrnehmungsset). Ein prominentes vernehmungsrelevantes Beispiel für die selektive Aufmerksamkeit ist der sog. Waffenfokus-Effekt (s. u.).

Folgen der selektiven Wahrnehmung für die Vernehmung:

–Die Aussageperson weiß in der Situation, in der sie das Ereignis wahrnimmt (also eine Beobachtung, z. B. eines Verkehrsunfalls, eines Übergriffs o. Ä.) in der Regel nicht, dass und welche Information später wichtig ist oder dass sie dazu später von der Polizei als Zeuge/Zeugin befragt wird.–Das, worauf eine Person in der Ereignissituation ihre Aufmerksamkeit richtet, erfolgt individuell (und zwar bewusst oder unbewusst).–Das heißt: keine Aussageperson erinnert alle Details oder Aspekte eines Ereignisses, sondern jede erinnert andere, sodass verschiedene Berichte über das gleiche Ereignis entstehen (gleichwohl es Kernaspekte geben kann, die von allen Zeug:innen geschildert werden).–Wenn Zeug:innen angeben, etwas nicht zu wissen (obwohl sie doch dabei waren) muss das nicht immer ein Abrufproblem sein (dem man ggf. mit geeigneten Abrufhilfen und Fragetechniken, wie dem Kognitiven Interview begegnen kann), sondern kann auch die Folge mangelnder Aufmerksamkeit zum Ereigniszeitpunkt sein – es ist dann keine Erinnerung im Gedächtnis abgelegt worden (Milne & Bull, 2003a).–Dass sich die Schilderungen verschiedener Zeug:innen zum Sachverhalt unterscheiden, ist somit durchaus zu erwarten – wenn sie sich zu sehr gleichen, kann dies eher ein Hinweis auf vorherige Gespräche oder Absprachen sein.–Um abzuschätzen, wie viel die Zeug:innen überhaupt wahrgenommen haben (bzw. wie groß ihre Wahrnehmungsbereitschaft und verfügbare Aufmerksamkeit überhaupt war), kann es hilfreich sein Kontrollfragen zu stellen wie: Was tat die Person zum Zeitpunkt der Wahrnehmung? Von woher kam sie? Wo wollte sie hin? Was hatte sie eigentlich vor? Woran dachte sie gerade? War sie abgelenkt?

2.4.2Der Einfluss von Stress auf die Encodierung, Konsolidierung und den Abruf von Erinnerungen

Die Einflüsse von Stress und hoher emotionaler Erregung bzw. Angst auf die Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistung spielt eine große Rolle bei der Beurteilung von Zeug:innenaussagen, da in diesem Zusammenhang erlebte oder beobachtete Ereignisse (z. B. durch massive Bedrohung oder Gewalteinwirkung) ebensolche auslösen können.

Stress kann definiert werden als Erregung durch aversive Situationen oder Ereignisse (Kim & Diamond, 2002), die sich wiederum dadurch auszeichnen, dass sie entweder neuartig/unbekannt, unvorhersehbar, unkontrollierbar oder aber bedrohlich sind (Dickerson & Kemeny, 2004; Marin et al., 2019). Das Erleben von Stress führt zu einer Reihe physiologischer Reaktionen, u. a. im Rahmen einer unmittelbaren, schnellen ersten Stressantwort (Aktivierung des sympathischen Nervensystems) zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin sowie im Rahmen einer langsameren, zweiten Stressantwort (Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse) zu der des in den Nebennieren produzierten „Stresshormons“ Cortisol. Die Wirkung von Stress auf die Gedächtnisleistung muss auf Basis entsprechender Befunde[4] differenziert betrachtet werden und ist – analog der Wirkweise des Noradrenalins und Cortisols im Gehirn – abhängig vom Zeitpunkt der Stresswirkung und der Art der Gedächtnisleistung (Encodierung und Konsolidierung oder Abruf) (Gagnon & Wagner, 2016; Sommer & Gamer, 2018). Dadurch können sie für die Gedächtnisfunktionen entweder zu- oder abträglich sein. Vereinfacht dargestellt führt Stress im Rahmen einer ersten, unmittelbaren Stressantwort (innerhalb der ersten Sekunden und Minuten nach Konfrontation mit dem Stress auslösenden Ereignis) zu einer schnellen automatisierten Reaktion der Amygdala (Teil des limbischen Systems im Gehirn). Die Auswirkung von Stress beginnt bereits auf Wahrnehmungsebene, indem dieser durch die frühe Amygdala-Aktivität und das verstärkt ausgeschüttete Noradrenalin zu einer genaueren Wahrnehmung und besonderen Fokussierung auf den bedrohlichen Reiz führt: Die Aufmerksamkeit erfolgt nicht mehr bewusst zielgerichtet, sondern automatisiert auf die Stress-auslösenden Reize bezogen, was zu einer Einengung der Wahrnehmung, gleichzeitig aber auch zu einer tieferen Verarbeitung dieser Reize führt (Kim et al., 2013; Sommer & Gamer, 2018). Besonders zentrale Aspekte der Situation werden also besonders stark wahrgenommen (und später auch erinnert) – allerdings auf Kosten peripherer bzw. weniger (emotional) bedeutsamer Aspekte. Auf Ebene der Encodierung führen die aktivierte Amygdala und das Noradrenalin zu einer erhöhten Aktivität des Hippocampus, einem zentral an der Bildung von Erinnerungen beteiligten Gehirnareal (Bildung von Engrammen bzw. Gedächtnisspuren). Die Encodierung der relevanten, fokussierten Information wird befördert, die der peripheren Informationen dagegen erschwert (Gagnon & Wagner, 2016; Sommer & Gamer, 2018; vgl. auch Marin et al., 2019).

Beispiel

Auswirkungen fokussierter bzw. eingeengter Aufmerksamkeit: Der „Waffeneffekt“

Ein ggf. vernehmungspsychologisch relevantes Phänomen ist der sogenannte „Waffenfokus“ oder „Waffeneffekt“ (s. dazu Carlson et al., 2016; Fawcett et al., 2013; 2016; Kocab & Sporer, 2016; Steblay, 1992). Dieser beschreibt den Umstand, dass Zeug:innen, die mit einer Waffe (Messer, Pistole etc.) bedroht wurden, später selten eine genaue Täterbeschreibung abgeben können, die Waffe jedoch gut beschreiben können. Dies wird auf die Aufmerksamkeitsverteilung in Kombination mit dem erhöhten Stress zum Ereigniszeitpunkt zurückgeführt, denn die Aufmerksamkeit ist auf das unmittelbare Objekt der Bedrohung gerichtet und weniger auf das Gesicht und das Erscheinungsbild der Person (Sporer et al., 2014), wobei der Effekt deutlicher beim freien Erinnern bzw. dem Abgeben einer Täterbeschreibung und weniger im Gegenüberstellungsverfahren zutage tritt (Milne & Bull, 2003a; Fawcett et al., 2016; vgl. auch Kocab & Sporer, 2016 für eine Metaanalyse). Auch hängt das Auftreten und die Größe des Effekts u. a. von Charakteristiken der Zeug:innen und des Szenarios, in dem die Waffenbedrohung stattfindet (Täter:in, Umgebungsbedingungen) ab (vgl. Fawcett et al., 2016 für ein Review). So variiert die Größe des Effekts bspw. aufgrund von Erwartungseffekten (z. B. fällt er kleiner aus, wenn die Umgebung oder die Täter:innen eher eine Waffe „erwarten lassen“, wohingegen er größer ist, wenn er atypisch für kulturelle Stereotype ist und die Waffe etwa von einer Frau gehalten wird; im Ganzen Fawcett et al., 2016).

Diese zeitlich begrenzte fokussierte Aufmerksamkeitsausrichtung auf persönlich bedeutsame, Angst oder Stress auslösende Aspekte eines Ereignisses und das resultierende spezifische „Erinnerungsprofil“ (gute Erinnerungsfähigkeit an zentrale, schlechte an periphere Details) wird auch „Tunnelgedächtnis“ genannt (z. B. Berntsen, 2002; Safer et al., 1998).

Im weiteren Verlauf erfolgt im Rahmen einer zweiten Stressantwort (ca. innerhalb 40 Minuten nach Konfrontation mit dem Stressor) insbesondere die Ausschüttung von Cortisol, das u. a. die Konsolidierung encodierter Informationen verstärkt und im Rahmen der dritten Stressantwort (Beginn ca. eine Stunde nach Konfrontation mit dem Stress auslösenden Ereignis) durch seine Wirkung dazu beiträgt, dass das Gehirn vom Gedächtnisbildungs- in einen Gedächtnisspeichermodus übergeht (Gagnon & Wagner, 2016; Sommer & Gamer, 2018). Dadurch wird die Encodierung neuer (nachfolgender) Informationen erschwert und die Störung der Konsolidierung der „relevanten“ Information des Stress auslösenden Ereignisses durch Interferenz vermieden. Dieser Abschottungsprozess des Gehirns zur Sicherung der Konsolidierung und langfristigen Speicherung der Stress auslösenden bzw. priorisierten Informationen führt dazu, dass Ereignisse, die während dieses Zeitraums (Beginn etwa eine Stunde nach dem Stressauslöser für mehrere Stunden) encodiert werden, später schlechter erinnert werden können (de Quervain et al., 2017; Gagnon & Wagner, 2016; Sommer & Gamer, 2018). Es findet also eine Priorisierung der emotional bedeutsamen, Stress auslösenden Informationen sowohl bei der Wahrnehmung als auch der Encodierung und Konsolidierung statt.

Vereinfacht könnte man also sagen, dass das Stress auslösende Ereignis in seinen relevanten Aspekten besonders gut und langfristig erinnert wird, die Encodierung und Erinnerung nachfolgender Ereignisse bzw. deren Details jedoch behindert. So kann es beispielsweise sein, dass ein Opfer eines schweren (sexuellen) Übergriffs den Tathergang gut erinnert und beschreiben kann, jedoch nicht mehr weiß, was es danach gemacht hat, wie es nach Hause gekommen ist, mit wem es gesprochen hat etc.

Ein erneutes Auftreten von hohem Stress während der Konsolidierung der Information des ursprünglichen stressreichen Ereignisses kann wiederum dazu führen, dass diese behindert wird (Sommer & Gamer, 2018), sodass das Ereignis selbst dann weniger gut oder weniger detailreich erinnert wird.

Auf der anderen Seite wird allerdings davon ausgegangen, dass sich die stressbedingte Cortisolausschüttung dosisabhängig auch negativ auf den Konsolidierungsprozess und die Erinnerungsfähigkeit auswirken kann, indem eine massive Ausschüttung aufgrund akuten unkontrollierbaren Stresses (z. B. im Rahmen eines traumatischen Ereignisses) die Konsolidierung stören und den normalerweise stattfindenden neuronalen Informationsfluss behindern kann (Fast & Markowich, 2004; Gagnon & Wagner, 2016; Heubrock, 2010), insbesondere in Hirnstrukturen mit hoher Dichte an Glucocorticoid-Rezeptoren (wie dem Hippocampus), an die das Cortisol (= Glucocorticoid) bindet (Gagnon & Wagner, 2016; Heubrock, 2010; Kim & Diamond, 2002).

Relativ unzweifelhaft scheinen die negativen Auswirkungen von Stress auf den Abruf von Erinnerungen zu sein (Gagnon & Wagner, 2016; Marin et al., 2019; Schwabe et al., 2012; Sommer & Gamer, 2018). So können Wahrnehmungen, die unter massivem Stress oder hoher Erregung gemacht werden, z. T. auch zeitnah zum Ereignis, nicht zuverlässig reproduziert werden, da die damit verbundene hohe Cortisolausschüttung den Abruf von Gedächtnisinhalten blockieren kann (Saimeh, 2014; Tollenaar et al., 2008). Dies betrifft sowohl Wissensinhalte aus dem deklarativen Gedächtnis (z. B. Abruf-Blockade in der Prüfungssituation bei hohem Stress aufgrund von Prüfungsangst), als auch das autobiografische Gedächtnis, also Erinnerungen an eigene Erlebnisse (Saimeh, 2014). Aber auch das Berichten über ein traumatisches Ereignis, wie z. B. im Rahmen einer Vernehmung, kann enormen Stress auslösen, da die mit der Erinnerung assoziierten Emotionen ebenfalls reaktiviert werden (Sommer & Gamer, 2018), sodass der Abruf erschwert werden kann und Zeug:innen ggf. angeben, nur wenig zu erinnern. Stress, der durch die Vernehmung selbst induziert wird, kann ebenfalls den Abruf der gesuchten Erinnerungen erschweren, sich also kontraproduktiv auf das Vernehmungsziel auswirken.

Ein Problem ist, dass der Stress nicht nur dazu führt, dass weniger erinnert bzw. abgerufen werden kann, sondern auch dazu, Erinnerungslücken schematypisch aufzufüllen (d. h. gemäß den allgemeinen Schemata, die wir zu solchen Ereignissen im Kopf haben; Sommer & Gamer, 2018). Es entstehen also auch mehr Erinnerungsfehler. Wodurch und in welchem Ausmaß Stress in einer Ereignissituation letztlich ausgelöst wird, ist individuell sehr verschiedenen. Dies korreliert nicht notwendigerweise einfach nur mit der Schwere des Delikts bzw. Ereignisses oder dem Ausmaß der eigenen Involviertheit (z. B. ob man nur Beobachter:in oder selbst von dem Ereignis betroffen ist). Vielmehr kann das individuelle Erleben der Schwere eines Delikts sehr unterschiedlich ausfallen und ist auch abhängig von Vorerfahrungen (z. B. kann das Beobachten eines Übergriffs, der einem selbst erlebten Ereignis ähnelt, einen Trigger darstellen, der zu einem vergleichbaren Stressniveau führt, wie bei eigenem Erleben, sodass die Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung ähnlich sein kann) (vgl. Heubrock, 2010). Entscheidend scheint zu sein, ob durch das potenziell Stress auslösende Ereignis hinreichende Mengen an Cortisol ausgeschüttet werden, welches dann den Abruf der Erinnerung blockiert (Gagnon & Wagner, 2016).

Für das Erleben von Stress oder das Ausmaß, wie stressvoll etwas erlebt wird, spielt insbesondere auch die subjektive Wahrnehmung der eigenen Kontrollmöglichkeit, die man über ein aversives Ereignis hat, eine bedeutsame Rolle (Fox & Dwyer, 2000), was wiederum auch die individuelle Ausprägung stress-induzierter physiologischer Reaktionen mitbestimmt (Kim & Diamond, 2002).

2.4.3Der Einfluss von Alkohol auf die Gedächtnisleistung

Da Straftaten oftmals unter Alkoholeinfluss geschehen und Opferzeug:innen nicht selten zum Ereigniszeitpunkt alkoholisiert sind (Crossland et al., 2016; Flowe et al., 2018), aber auch Augenzeug:innen zum Zeitpunkt der Wahrnehmung eines Ereignisses alkoholisiert sein können, ist die Wirkung einer akuten Alkoholintoxikation bezüglich der Erinnerungsleistung eine wichtige Frage bei der Einschätzung derartiger Zeug:innenaussagen (und auch der Angaben der Beschuldigten). Generell weisen Studien darauf hin, dass schon moderate Mengen Alkohol die Gedächtnisleistung beeinträchtigen (z. B. Saults et al., 2007; Wetherill & Fromme, 2011). Eine aktuelle Metaanalyse über zehn Studien konnte zeigen, dass eine akute Alkoholintoxikation zum Zeitpunkt der Encodierung die Anzahl richtig erinnerter Details reduziert, jedoch nicht die Anzahl falsch erinnerter Details verändert (Jores et al., 2019), sodass Aussagen, die sich auf das Ereignis beziehen, ggf. im Umfang und Detailreichtum reduziert ausfallen (und weniger vollständig sind als die nüchterner Zeug:innen), nicht jedoch befürchtet werden muss, dass Alkoholintoxikierte mehr falsche Angaben machen und ihre Aussage deshalb weniger zuverlässig ist (Jores et al., 2019). Die Blutalkoholkonzentration (BAK) moderierte das Ausmaß, indem bereits eine mittlere BAK (0.03–0.09 %) die Erinnerungsleistung an richtige Informationen signifikant verringerte, die Verringerung der Leistung jedoch noch höher bei hoher BAK (≥ 0.1 %) ausfiel. Die Beeinträchtigung der Erinnerungsleistung nimmt also mit steigender Dosis zu (Jores et al., 2019).

Die Reduzierung der erinnerten Details der Alkoholisierten betraf sowohl den Zeitpunkt während der Intoxikation (d. h. bei Befragung unmittelbar nach dem Ereignis) als auch eine verzögerte Testung, wenn die Personen wieder nüchtern waren. Auch wenn die Vernehmung akut intoxikierter Zeug:innen möglicherweise anspruchsvoller ist als die Nüchterner, erscheint es vor dem Hintergrund natürlicher Erinnerungsverluste bei einer zeitverzögerten Befragung und dem daraus resultierenden Verlust wertvoller Informationen (Karlén et al., 2017) sinnvoll, akut intoxikierte Zeug:innen unmittelbar zu vernehmen und nicht erst ausnüchtern zu lassen. Zu diesem Schluss kommen auch Schreiber Compo et al. (2017), die bezüglich des Einflusses von (moderater) Alkoholintoxikation zum Encodierungszeitpunkt zeigen konnten, dass der Abruf von Erinnerungen zu einem zugehörigen Ereignis bei unmittelbarer Befragung (also noch in intoxikiertem Zustand) sogar besser gelang (d. h. mehr Details erinnert wurden) als nach Ausnüchterung eine Woche später (Schreiber Compo et al., 2017).

Eine unmittelbare Befragung intoxikierter Zeug:innen direkt nach dem Ereignis kann zudem positive Effekte auf die Konsolidierung der Informationen haben (z. B. Karlén et al., 2017), sodass ggf. eine mehrfache Befragung – sowohl zeitnah zum Ereignis (noch intoxikiert) sowie zeitlich verzögert in nüchternem Zustand – die vollständigste Aussage erbringt (Jores at al., 2019). Das gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese nicht suggestiv und nur in Form von freien Berichten und offenen Fragen erfolgt (Jores et al., 2019). Auch wird immer die konkrete Ausprägung der Intoxikation zu berücksichtigen und die Situation bei Volltrunkenheit anders zu bewerten sein, als dies Studien indizieren, die sich aus ethischen Gesichtspunkten in der Regel auf Versuchspersonen mit niedrigeren BAK beziehen, als diese in der Praxis anzutreffen sind (vgl. Flowe et al., 2016; Jores et al., 2019).

Während bezüglich der Art der erinnerten Information in Einzelstudien z. T. keine differenziellen Effekte für zentrale und periphere Details gefunden wurden, sondern sowohl periphere als auch zentrale Details von Personen unter Alkoholeinfluss schlechter erinnert wurden (z. B. van Oorsouw & Merckelbach, 2012), ergab die Metaanalyse keinen Unterschied bezüglich korrekt erinnerter zentraler Details. Personen unter Alkoholeinfluss erinnerten lediglich signifikant weniger periphere Details (Jores et al., 2019). Dies steht im Einklang mit der sogenannten Alcohol Myopia Theorie (Steele & Josephs, 1990, vgl. Jores et al., 2019), nach der die Wirkung des Alkohols bei Intoxikation dazu führt, dass die Person ihre Aufmerksamkeit auf zentrale, hervorstechende Merkmale richtet bzw. verengt. Im Hinblick auf das Befragungsformat zeigte sich eine solche Reduktion erinnerter Details sowohl bei Antworten im freien Bericht als auch im „cued recall“ (d. h. einem durch Hinweisreize oder gezielte Strategien unterstützter Abruf), bei Letzterem fiel der Effekt jedoch größer aus (Jores et al., 2019).

Bei hoher BAK (z. B. 0.1–0.27 %) und insbesondere, wenn diese schnell stark ansteigt, sind darüber hinaus alkoholbedingte „Blackouts“ (anterograde Amnesien) möglich, wo entweder ein ganzes Ereignis oder aber (was die verbreitetere Form ist, White et al., 2004) Teile des Ereignisses, das unter Alkoholeinfluss stattfand, nicht mehr erinnert werden können (zum Ganzen Flowe et al., 2020; Wetherill & Fromme, 2016 für ein Review). Der Alkohol stört die Konsolidierung neuer Informationen in den entsprechenden Gehirnarealen (z. B. Hippocampus) und behindert dadurch deren Übermittlung vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis (Flowe et al., 2020; White, 2003).

Können (Opfer-)zeug:innen, die zum Tatzeitpunkt alkoholisiert waren, (zuverlässige) Angaben über das Ereignis machen?

Experimentelle Befunde zu dieser Frage deuten darauf hin, dass zumindest in Bezug auf die untersuchten Alkoholkonzentrationen (BAK bis 0.08) zwar mit einer Verringerung berichteter Details (und einer höheren Rate an „Ich weiß nicht“-Antworten) zu rechnen ist, die Aussage also weniger detailreich ausfällt, die Angaben aber ebenso zuverlässig sind wie die unalkoholisierter Personen. Je mehr die Dosis ansteigt, desto weniger Details erinnern Personen. Zudem fiel die Zuverlässigkeit der Angaben sowohl bei alkoholisierten als auch nicht alkoholisierten Personen für die peripheren Details geringer aus als für die zentralen (z. B. Flowe et al., 2016). Bei höheren BAKs sind alkoholinduzierte Blackouts möglich, die dazu führen, dass eine ganze Zeitspanne oder aber Teile eines Ereignisses nicht mehr erinnert werden können (z. B. White et al., 2004).

Das Wichtigste in Kürze

Implikationen für die Vernehmung:

–Eine (moderate) Alkoholintoxikation zum Tatzeitpunkt bedeutet nicht, dass eine Person keine zuverlässige Aussage machen kann: Zwar erinnern die Personen dann weniger Details, sodass die Aussage unvollständiger ausfallen wird (insbesondere hinsichtlich nebensächlicher Aspekte), die Anzahl falsch erinnerter Details verändert sich jedoch nicht. Alkohol scheint also nicht dazu zu führen, dass sie die „fehlenden“ Informationen hinzufabulieren.–Bei (moderater) Intoxikation ist eine unmittelbare Vernehmung einem zeitlichen Aufschub, bis die Person ausgenüchtert ist, vorzuziehen.–Wahrnehmungen, die unter Stress gemacht wurden bzw. emotional hoch bedeutsam sind, können in der Regel in ihren zentralen Aspekten besonders detailreich und langfristig erinnert werden, wohingegen nebensächliche oder neutrale Aspekte des Ereignisses schlechter erinnert werden.–Stress behindert den Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis, d. h. im Rahmen einer Vernehmung kann sich sowohl die Reaktivierung der mit dem Tatereignis assoziierten Emotionen als auch durch die Vernehmung selbst ausgelöster Stress (z. B. Angst vor dem unbekannten Ereignis oder davor etwas Falsches zu sagen) negativ auf die Erinnerungsfähigkeit auswirken.

2.4.4Gedächtnisverfälschungen und Abruf

Die Erinnerungsgüte autobiografischer Erinnerungen folgt dem Polyanna-Prinzip, nach dem – insbesondere länger zurückliegende – positive Ereignisse besser erinnert werden als negative. Dies wird insbesondere mit dem Erleben von Angst und der dadurch resultierenden Interferenz erklärt sowie damit, dass an positive Ereignisse häufiger gedacht und die Erinnerung an sie häufiger wiederholt, während das Denken an negative eher vermieden wird (Greuel et al., 1998).

Eine bedeutsame Quelle von Gedächtnisverfälschungen, die unbewusst verläuft, ist der Umstand, dass unser Gedächtnis konstruktiv arbeitet und aus den wahrgenommenen und gespeicherten Informationen Schlussfolgerungen zieht (Milne & Bull, 2003a). Dies kann dazu führen, dass wir meinen, etwas gesehen zu haben, wovon wir allerdings nur Teile oder Ausschnitte registriert haben, woraufhin „der Rest“ von unserem Gedächtnis z. B. auf Basis von Vorerfahrungen oder kognitiven Skripts[5] zu einem Gesamtereignis ergänzt wurde[6]. So kann es beispielsweise passieren, dass Zeug:innen, die den Zusammenstoß zweier Autos hören, sich daraufhin umdrehen und die ineinander gekrachten zerbeulten Autos sehen, im Nachhinein dazu vernommen angeben, den Zusammenstoß beobachtet zu haben. Möglicherweise hat ihr Gehirn das, was vor dem Zusammenstoß passiert ist, auf Basis von Wissen, vorherigen Bildern aus Filmen, logischen Schlussfolgerungen etc. ergänzt und die „Lücken“ geschlossen, was bei den Zeug:innen zu einer hohen subjektiven Sicherheit führen kann, dies auch tatsächlich gesehen zu haben. Aus Vorerfahrungen gebildete kognitive Skripts wiederum dienen der effizienten Informationsverarbeitung, indem z. B. nur neue, über das vorhandene Skript für bestimmte Alltagssituationen hinausgehende Details abgespeichert werden. Wenn das Skript aber nicht zum Ereignis passt, können die Erinnerungen daran verfälscht werden, wenn Lücken der Erinnerungen auf der Grundlage des Skripts ergänzt oder aber ein Skript benutzt wird, das gar nicht auf eigener Erfahrung beruht, sondern beispielsweise auf Fernsehinhalten (Milne & Bull, 2003a), etwa darüber, wie eine Vergewaltigung oder ein Drogengeschäft der organisierten Kriminalität abläuft. Wenn mit zunehmendem Zeitintervall die Erinnerung an ein Ereignis nachlässt, werden insbesondere schema-inkonsistente Details vergessen und verstärkt auf kognitive Schemata (Skripte) zurückgegriffen, sodass stereotype Erinnerungsfehler zunehmen (Kleider et al., 2008).

Auch können in der Abrufsituation selbst (z.B. der Vernehmung) Fehlerquellen wirksam werden (z.B. in Form von Suggestionseffekten, vgl. folgendes Kap. 2.4.5). Darüber hinaus finden sogenannte Rekonsolidierungsprozesse statt (z. B. Hardt et al., 2010), d. h. Erinnerungen werden bei jedem Abruf leicht modifiziert und erneut (vom Original abweichend) abgespeichert – ein Umstand, der für die Vernehmung eine hohe Relevanz besitzt, da Zeug:innen meist ihre Geschichte schon im Vorfeld anderen berichtet haben. Auch dabei können sich bereits vor der ersten polizeilichen Vernehmung Gedächtnisverfälschungen eingeschlichen haben, die den Zeug:innen selbst aber nicht bewusst sind.

2.4.5Suggestionseffekte

2.4.5.1Die Wirkung nachträglicher Falschinformationen: Der Falschinformationseffekt

Ein weiteres in der rechtspsychologischen Forschung gut erforschtes Phänomen[7], das weitreichende Konsequenzen für eine Vernehmung hat, ist der sogenannte „Falschinformationseffekt“. Dieser beschreibt die verzerrende Wirkung nachträglicher (d. h. zwischen dem Encodieren und dem Abruf) (falscher) Informationen auf die Erinnerung an ein (tatsächlich erlebtes) Ereignis (Volbert, 2020). Beim Falschinformationseffekt handelt es sich um einen Suggestionseffekt, der zu Veränderungen der Aussage führen kann (Volbert, 2008b). Exemplarisch sei an einen Augenzeugen gedacht, der einen Übergriff beobachtet hat, bei dem die Täterin eine braune Lederjacke getragen hat. Wird er nun in der Vernehmung beiläufig mit der Aussage einer anderen Zeugin konfrontiert, z. B. durch den Fragevorhalt, wie groß die Täterin mit der schwarzen Lederjacke gewesen sei, könnte der Falschinformationseffekt in der Form auftreten, dass er, wenn er im weiteren Vernehmungsverlauf nach einer Personenbeschreibung gefragt wird, von einer schwarzen Jacke berichtet. Da der Falschinformationseffekt unbewusst abläuft (Myers, 2014), kann er dies nicht mehr von seiner ursprünglichen Wahrnehmung separieren – vielmehr können Zeug:innen vollkommen überzeugt von der Richtigkeit ihrer eigenen Angaben über falsche Details berichten, die sie nicht gesehen haben oder nicht einmal gesehen haben können (Loftus, 2019). Volbert und Pieters (1996) konnten (in Bezug auf Kinder) zeigen, dass der Falschinformationseffekt nicht nur nebensächliche Details, sondern auch zentrale Aspekte einer Aussage betreffen kann.

Beispiele

Beispiele klassicher Experimente zum Falschinformationseffekt

Die Pionierin auf dem Gebiet der Konstruktion und Rekonstruktion von Erinnerungen sowie der Wirkung von Falschinformationen und der Entstehung von Pseudoerinnerungen, die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus, hat seit den 70er-Jahren in vielen Experimenten erforscht, wie Zeug:innen ihre Erinnerungen konstruieren und rekonstruieren. Die Wirkung des Falschinformationseffekts wurde auf verschiedenen Ebenen untersucht, insbesondere der Einfluss bestimmter Merkmale der Befragung und konkreter Formulierungen auf eine Zeugenaussage. Es konnte gezeigt werden, dass bereits geringe Veränderungen der Wortwahl zu unterschiedlichen „Erinnerungen“ (Antworten) führen können.

Experiment zu Effekten von Frageformulierungen (Loftus & Palmer, 1974)

Ein klassisches Experiment, das die Relevanz der Wortwahl bei der Befragung zur Einschätzung der Geschwindigkeit zweier Fahrzeuge im Rahmen eines Verkehrsunfalls verdeutlicht, stammt von Loftus und Palmer (1974):

In dieser Studie sahen 150 Versuchspersonen zunächst eine Videoaufnahme eines Verkehrsunfalls, bei dem zwei Fahrzeuge zusammenstießen. Anschließend wurden sie zu verschiedenen Details dieses Unfalls befragt. Die Manipulation bestand dabei in der Formulierung einer Frage nach der Geschwindigkeit der Fahrzeuge kurz vor dem Zusammenstoß:

Wie schnell waren die Autos, …

Gruppe 1:

… als sie aufeinander trafen? (Engl.: „hit“)

Gruppe 2:

… als sie ineinander krachten? (Engl.: „smashed into“)

Gruppe 1 schätzte die Geschwindigkeit signifikant niedriger ein als Gruppe 2, was damit erklärt werden kann, dass das Wort „hit“ andere Assoziationen auslöst als „smashed into“, nämlich, dass sich die Autos langsam aufeinander zu bewegten.

Nach einer Woche wurden die Versuchspersonen gefragt, ob sie (im Video nicht vorhandene) Scherben am Unfallort gesehen hätten. Auch hier zeigten sich signifikante Unterschiede in den Untersuchungsbedingungen: 16 % der Versuchspersonen, bei denen das Verb „smashed“ in der Frageformulierung integriert war, gaben an, zerbrochenes Glas gesehen zu haben. Dies war bei der Gruppe 1 („hit“) nur bei 7 % der Befragten der Fall (Kontrollgruppe: 6 %). Der Falschinformationseffekt wirkte sich also nicht nur in der Befragung unmittelbar danach aus, sondern entfaltete seine Wirkung auch noch zeitverzögert, indem die Personen, die mit der Formulierung „ineinander krachen“ befragt worden waren, den Unfall als schwerwiegender erinnerten als die andere Gruppe.

Experiment zu Effekten von Befragungsarten (Loftus, 1975)

In diesem Experiment wurde 150 Proband:innen ein Film gezeigt (Fast-Zusammenstoß eines Kraftfahrzeugs mit einem Kinderwagen, der von einem Mann geschoben wird, aus der Perspektive des Fahrers). Dann wurden sie in drei Gruppen aufgeteilt.

Gruppe 1: Erhielt keine suggestiven Fragen, nur 40 „Füllfragen“ zu im Video dargebotenen Aspekten (keine Beeinflussung)

Gruppe 2: Erhielt 40 Füllfragen und 5 direkte Fragen nach im Film nicht-existenten Objekten (mögliche Beeinflussung), z. B. „Haben Sie den Schulbus gesehen?“ (es war aber kein Schulbus enthalten)

Gruppe 3: Erhielt 40 Füllfragen und 5 Schlüsselfragen nach Einzelheiten, die nicht passiert sind (falsche Voraussetzungen), z. B. „Haben Sie die Kinder in den Schulbus steigen sehen?“ (es gab aber ja keinen Bus im Video, d. h. es wird eine falsche Voraussetzung beiläufig in die Frage, die scheinbar auf etwas anderes abzielt, integriert; größte Beeinflussung).

Eine Woche später wurden die Versuchspersonen (ohne den Film nochmals anzuschauen) mit den 5 direkten Fragen zu den nicht-existenten Objekten gefragt (z. B. „Haben Sie einen Schulbus gesehen?“ „Haben Sie eine Frau gesehen, die den Kinderwagen schob“ – es war aber ein Mann, etc.).

In der Beantwortung der Frage zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen: Gruppe 1 bejahte nur zu 8 % die tatsächlich nicht existenten Objekte gesehen zu haben, Gruppe 2 zu 16 %, Gruppe 3 zu 29 %. Mit zunehmender Beeinflussung in der ersten Befragung direkt nach dem Ansehen des Films nahm also der Anteil falscher Angaben und falsch erinnerter Details zu.

Potenzielle Quellen solcher nachträglich präsentierten falschen Informationen sind vielfältig: Sie können durch Gespräche mit anderen Personen (z. B. wenn sich Zeug:innen desselben Ereignisses austauschen oder Unbeteiligte den Augenzeug:innen im Vorfeld Fragen gestellt haben, die falsche Informationen als Voraussetzung präsentiert haben), durch Medienberichte oder soziale Medien oder aber in der Vernehmung selbst durch ungünstige/suggestive Befragungstechniken entstehen (vgl. Kap. 4).

Besonders „gefährlich“ ist es, wenn Zeug:innen mit nur wenig Erinnerung an ein Ereignis in die Vernehmung starten und im Zuge wiederholter suggestiver Befragungen zunehmend mehr Details „erinnern“ (Loftus, 2005). Dies kann bis zur Entstehung von Pseudoerinnerungen führen (vgl. Kap. 2.4.5.2). Durch die vielfältigen Möglichkeiten alles in sozialen Medien direkt zu „posten“ und für alle zugänglich hochzuladen, kann für Zeug:innen die Situation entstehen, dass sie nicht mehr trennen können, ob sie etwas tatsächlich selbst zum Ereigniszeitpunkt gesehen haben oder ob sie einen Teil der Informationen irgendwo gelesen, gehört oder in Form von gepostetem Material gesehen haben.

Dies beschreibt einen weiteren Aspekt falscher Erinnerungen, die sogenannte Quellenamnesie, d. h. man ordnet ein Erlebnis, etwas Vorgestelltes, Gehörtes oder Gesehenes, einer falschen Quelle zu (z. B. hält man etwas, das man nur von jemandem gehört oder sich vorgestellt hat, für selbst erlebt). Dies wird auch Quellen-Fehlattribution genannt (Myers, 2014).

Neben jungen Kindern (im Vorschulalter; vgl. Kap. 7.1.6) haben im Zuge von kognitiven Alterungsprozessen auch ältere Erwachsene besondere Schwierigkeiten, die Quelle einer Information korrekt zu erinnern, so dass sie anfälliger für Quellenverwechslungsfehler und resultierende Erinnerungsverfälschungen sind als jüngere Erwachsene (Schacter et al., 1997).

Experiment zu Befragung, Falschinformation und Quellenmonitoring (Crombag et al., 1996)

In einer viel zitierten Studie untersuchten Crombag et al. (1996), ob es gelingt, (überdurchschnittlich gebildete) Personen glaubend zu machen, ein Ereignis selbst gesehen zu haben, über das sie lediglich mediale Berichte gehört oder gelesen haben konnten. Dazu befragten sie per Fragebogen 193 Studierende/Uni-Dozent:innen 10 Monate, nachdem am 4. Oktober 1992 eine Boeing 747 in ein 11-stöckiges Apartmentgebäude in Amsterdam gestürzt war, zu diesem Ereignis. Das Ereignis war medial sehr präsent und es existierten Filmaufnahmen der Stunden nach dem Flugzeugabsturz (z.B. wie die Feuerwehr das entstandene Feuer löschte oder Menschen aus dem eingestürzten Gebäude gerettet wurden). Es gab jedoch keine Filmaufnahmen der Kollision des Flugzeugs mit dem Wohnhaus und nur sehr vereinzelte Personen hatten diesen Moment tatsächlich gesehen (Crombag et al., 1996).

Dennoch bejahten über die Hälfte der Befragten (55 %) die Schlüsselfrage „Did you see the television film of the moment the plane hit the apartment building?“ [Haben Sie im Fernsehen den Film des Moments, in dem das Flugzeug in das Apartmentgebäude eingeschlagen ist, gesehen?; eigene Übersetzung] (durch die Nutzung des bestimmten Artikels „the“ wird impliziert, dass es ein solches Video gibt und dies im Fernsehen ausgestrahlt wurde, so dass man es theoretisch also gesehen haben kann).

Diejenigen, die die Schlüsselfrage bejaht hatten, wurden dann zu weiteren Details befragt, z. B. wie lange es nach dem Zusammenprall gedauert habe, bis das Feuer ausgebrochen ist. Hierzu machten 82 % Angaben (59 % kreuzten an, das Feuer sei sofort ausgebrochen, 23 % es habe ein bisschen gedauert) – nur 18 % gaben an, sie könnten sich nicht erinnern.

Die Autoren folgern, dass es relativ einfach sei, selbst gebildete Menschen davon zu überzeugen, dass sie etwas gesehen haben, was sie gar nicht selbst gesehen haben können und sie sogar Angaben zu Details darüber machen zu lassen. Sie erklären dies mit dem nicht geglückten Quellen-Monitoring, d. h. die Zeug:innen halten durch die Falschinformation („der Film“) ihre „Erinnerungen“ für selbst gesehen. Zudem erklären sich Crombag et al. (1996) den Effekt durch nachträgliche Visualisierungen, die dann für real gehalten werden. Möglich sind auch Quellenverwechslungen mit Kinofilmen (dass man eine Vorstellung darüber hat, wie so ein Zusammenstoß aussehen könnte) und logisches Schlussfolgern („wenn ein Flugzeug in ein Haus stürzt, wird es sicherlich sofort gebrannt haben“). Auch wird durch die platzierte Falschinformation „der“ Film eine Erwartungshaltung transportiert, dass man ihn gesehen haben könnte (und bei einem medial so präsenten Ereignis auch gesehen haben sollte).