Verschlusssache Karlsruhe - Thomas Darnstädt - E-Book

Verschlusssache Karlsruhe E-Book

Thomas Darnstädt

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Beschreibung

Die Archive des Bundesverfassungsgerichts waren so verschlossen wie die des Vatikans. Nun endlich sind die alten Akten der großen Prozesse um die junge Demokratie des Grundgesetzes zugänglich. Die Karlsruher Papiere illustrieren, wie hinter den Kulissen um die Grundwerte der neuen Verfassung gerungen wurde - und wie auf den Trümmern eines Staates, der von Rassenhass und Kriegsgeschrei geprägt war, eine freiheitliche Gesellschaft entstehen konnte, die sich der Menschenwürde und dem Frieden verschrieben hat. Nach Sichtung hunderter Akten zeigt Thomas Darnstädt anhand der Debatten um Parteiverbote, Schwangerschaftsabbruch oder Gleichberechtigung und um Polit-Intrigen wie der Spiegel-Affäre oder dem Adenauer-Fernsehen, wie die Richter in Karlsruhe die Weichen in die Zukunft Deutschlands stellten.  

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Meinen Eltern –

die mich von Beginn an lehrten, welch Glück es ist,

in der Demokratie des Grundgesetzes zu leben

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Uli Deck/dpa

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

?bersichtstafel

Einleitung

Die Karlsruhe-Papiere. Wie 24 Richter die Demokratie in Deutschland neu erfanden

1 KPD-Verbot

Der Krieg der Welten. Parteienstaat oder liberale Demokratie?

2 Gleichberechtigung

F?nf W?rter. Ist das Patriarchat gottgegeben?

3 Elfes-Urteil

Die Erfindung der Freiheit. Soll alles erlaubt sein, was nicht verboten ist?

4 Homosexuellen-Verfolgung

Schande. Wie das Sittengesetz nach Karlsruhe kam

5 L?th-Urteil

Wir sind die Guten. Welchen Wert hat die Freiheit?

6 Fernseh-Streit

Der Fall Adenauer. Souver?n ist, wer ?ber die ?ffentliche Meinungsbildung verf?gt

7 ?Spiegel?-Aff?re

Der Abgrund. Was d?rfen B?rger wissen?

8 ? 218-Streit

Die Gretchenfrage. Ein Fall, f?r den es keine L?sung gibt

Verzeichnis wichtiger im Text verwendeter Monografien und Urteilssammlungen

Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Fall Nummer eins ? Die ?lteste Akte des Bundesverfassungsgerichts ?ber einen Streit zwischen der Badischen Landesregierung und der Bundesregierung um die geplante Volksabstimmung ?ber einen ?S?dweststaat?. [4]

Einleitung

Die Karlsruhe-Papiere. Wie 24 Richter die Demokratie in Deutschland neu erfanden

Kleine graue K?sten

Mit der Geschichte der deutschen Demokratie muss man sehr sorgf?ltig umgehen. 18 Grad Celsius, 50 Prozent Luftfeuchtigkeit, das ist das Schonklima in jenem neonbeleuchteten Bunker, wo sie untergebracht ist. Kein Staub kann sich hier ?ber die Vergangenheit legen. Da ruhen sie, in den deckenhohen Rollregalen des Koblenzer Bundesarchivs, sortiert in gestapelten kleinen grauen K?sten: die Karlsruhe-Papiere.

Die K?sten haben an der Seite eine schwarze Schlaufe. Zieht man daran, ?ffnet sich die Klappe aus grauer Pappe und gibt den Inhalt frei: flaschengr?ne Aktenordner, abgegriffen, eingerissen, voller Stempel und amtlicher Vermerke. ?Bundesverfassungsgericht? steht vorn drauf, drunter ?Verfahren?. Die ?lteste Akte, knapp zusammengehalten mit schwarzem Klebeband, tr?gt das in Sch?nschrift hingemalte Aktenzeichen 2 BvG 1/51. Das sind die Dokumente eines Prozesses zwischen der Badischen Landesregierung und der Bundesregierung um die geplante Volksabstimmung ?ber einen ?S?dweststaat?.

So beginnt die Geschichte der Demokratie des Grundgesetzes. Wie sich aus den Tr?mmern einer historischen Katastrophe, am Tatort eines Jahrtausendverbrechens, im Zentrum eines soeben untergegangenen Terrorregimes, in Deutschland also, ein bl?hendes, freiheitliches Gemeinwesen entwickeln konnte, das sich einer Politik des Friedens und der Menschenrechte verschrieb: Das findet sich in den kleinen grauen K?sten. Dass das Grundgesetz, jenes als Provisorium einer Verfassung gedachte schmale B?ndchen, siebzig Jahre nach seinem Inkrafttreten von Politikern ?berall auf der Welt als Gl?cksfall der deutschen Geschichte betrachtet wird, als Garantie f?r gute Nachbarschaft mit dieser unheimlichen Gro?macht in Europas Mitte, dass die Deutschen im zweiten Anlauf eine Demokratie zum Funktionieren brachten, die sich auch in Krisenzeiten als sturmfest und vertrauensw?rdig erweisen w?rde ? das alles ist ohne das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht denkbar.

Die M?nner und Frauen in ihren roten Roben haben ? Fall f?r Fall ? das Grundgesetz zum Betriebssystem eines freiheitlichen Staates gemacht, das mittlerweile in viele L?nder der Welt exportiert wurde. Und die Einsicht, dass die beste Verfassung nichts taugt, wenn nicht ein m?chtiges Verfassungsgericht sie durchsetzt und mit Leben erf?llt, hat sich von Deutschland aus in nahezu alle jungen Demokratien verbreitet. So zwingend erscheint andererseits der in Deutschland demonstrierte Zusammenhang zwischen B?rgerfreiheit und Verfassungsgerichtsbarkeit, dass Regenten mit autorit?ren Ambitionen ? etwa in Polen oder der T?rkei ? als Erstes beginnen, ihr Verfassungsgericht zu demontieren. ?Karlsruhe? ist in siebzig Jahren Grundgesetz zur Formel f?r das Gelingen von Demokratie geworden. ?Die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes l?sst sich nicht von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trennen?, bilanziert der ehemalige Verfassungsrichter und Staatsrechtsprofessor Dieter Grimm. Und wenn es einmal klemmte mit der bundesdeutschen Demokratie, bew?hrte sich das Karlsruher Gericht als schnelle Eingreiftruppe: ?Die Defizite des parteienstaatlichen Parlamentarismus mit seinen Repr?sentationsl?cken und strukturellen Entscheidungsschw?chen? seien von den Karlsruhern immer wieder durch ?kompensatorische Handlungsanteile? am politischen Prozess ausgeglichen worden, schreibt Horst Dreier, der Herausgeber des f?hrenden deutschen Grundgesetz-Kommentars.[1]

Das Geheimnis von Karlsruhe: Wie haben die das gemacht? Was ist das Rezept f?r die Alchemie, mit der in den F?nfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts aus dem braunen Sumpf Deutschlands das Gold der Freiheit, der Gleichheit, der Menschenw?rde gewonnen wurde? Wie sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zustande gekommen, die heute das Verfassungsleben der Bundesrepublik pr?gen?[2]

Die Sch?pfungsgeschichte der deutschen Demokratie tr?gt die Archivnummer B 237. Historiker, Verfassungsrechtler, Politikwissenschaftler graben unter dieser Nummer nach Antworten in den Rollregalen des Bundesarchivs. B 237 ist der Code, unter dem die Karlsruher Akten verwaltet werden. Eine vierk?pfige Projektgruppe sitzt auch 2019, am 70. Geburtstag des Grundgesetzes, am hundertsten Gr?ndungstag der verungl?ckten ersten, der Weimarer Demokratie, im Achtzigerjahre-Zweckbau auf der Koblenzer Kartause, klebt und pflegt und restauriert die flaschengr?nen Mappen aus Karlsruhe. Gut drei Kilometer Karlsruhe-Papiere haben sie mittlerweile zusammen: Getipptes auf d?nnem Durchschlagpapier, Hektografiertes von Wachsmatrizen, handschriftliche Notizen der Richter, geschm?ckt mit gemalten Mustern als Produkt langweiliger Sitzungen. Bissige Randbemerkungen an den Ausarbeitungen der Kollegen. B?se Briefe aus dem Bundeskanzleramt. Einladungen zur Weihnachtsfeier mit Julklapp. Aus dem N?hk?stchen der Demokratie. Alles muss in die kleinen grauen K?stchen mit der schwarzen Lasche. Alles f?r immer. Bei 18 Grad und 50 Prozent Luftfeuchte.

Das Orakel im Rechtsstaat

Kaum d?mpft der graue Teppich das Volksgemurmel im Saal. Doch dann wird es ganz still. Ein Herold in der blauen Kluft der Justizbediensteten tritt neben den St?nder mit der deutschen Fahne und verk?ndet: ?Das Bundesverfassungsgericht!? Alles erhebt sich, die T?r in der hellen Holzwand hinter dem Richtertisch geht auf. Feierlich betreten die Richter in ihren roten Roben mit den wei?en Beffchen in genau festgelegter Reihenfolge den Sitzungssaal, nehmen ihre runden H?te ab und legen sie neben sich. Keine Orgelmusik, kein Weihrauch. Das braucht es auch nicht. Das Kollegium, das hier ?im Namen des Volkes? auftritt, bezieht seine Erhabenheit aus seiner Autorit?t ? und seine Autorit?t aus dem Recht des letzten Wortes. Niemand darf dem Bundesverfassungsgericht widersprechen ? weil das so in der Verfassung steht. Und kaum jemand will ihm widersprechen ? weil das Gericht im Volke, in dessen Namen es urteilt, nahezu unbegrenztes Vertrauen genie?t.

So nehmen die Karlsruher Richter an jenem Nimbus teil, auf dem schon die Seher der Antike ihre Macht gr?ndeten: dem Nimbus der Unfehlbarkeit. Das Gremium, das inmitten des idyllischen Karlsruher Schlossparks in einem zugleich schicken und schlichten Neubau residiert, ist ein Orakel im Rechtsstaat. Jeder B?rger, jeder Politiker, jedes Verfassungsorgan kann sich mit seinem Anliegen an die M?nner und Frauen in ihren roten Roben wenden. Und niemand, ob Kanzler, Abgeordneter oder B?rger, kann sicher sein, was er zur Antwort bekommt.

Was Wunder, dass sich die Leute im Schlosspark nicht in ihre Karten schauen lassen wollen. Und jahrzehntelang ist es dem Gericht auch gelungen, sein Geheimnis zu bewahren. Das Geheimnis der Herstellung von Verfassungsgerichtsentscheidungen offenbart sich nicht in den mittlerweile mehr als 140 B?nden der amtlichen Urteilssammlung des Gerichts. Darin finden sich die Ergebnisse der Arbeit am Grundgesetz, die Begr?ndungen der Urteile und neuerdings manchmal auch ?abweichende Meinungen? der Richter, die sich der Mehrheit im Senat nicht anschlie?en wollten. Das ist die Darstellung von Verfassungsrecht, das Schaufenster der Demokratie. Doch wie es entstanden ist, woher die Richter ihre Erkenntnisse und Einsichten ?ber das Richtige und das Falsche wirklich bezogen, das ist in den Akten verborgen. Und da sollte es bleiben. Die Geschichte der Karlsruhe-Akten ist gepr?gt von z?hem Ringen der Aktensammler des Bundesarchivs mit dem Gericht. Seit den Sechzigerjahren reisten die Koblenzer Archivare immer wieder in die Residenz des Rechts, um die Papiere zu verlangen ? mit m??igem Erfolg. Zwar lieferten die Karlsruher bereitwillig tonnenweise Alt-Akten in Koblenz ab, doch das war nur der Platznot im Gericht geschuldet. Die Archivare durften die Prozessakten stapeln, aber nicht zu ?Archivgut? machen ? das hei?t, registrieren und f?r die Allgemeinheit ?ffnen. Die interessanten Sachen blieben ohnehin unter Karlsruher Kontrolle: Akten mit den unterschiedlichen Urteilsentw?rfen, die oft einander widersprechenden Voten der Richter, die mit einem Fall befasst waren.

Doch gerade diese Pr?liminarien, so war den Koblenzer Archivaren klar, sind von unsch?tzbarem zeitgeschichtlichem Wert. ?In den Nebenakten und Handakten muss ein erheblicher Teil gerade dessen stecken, worauf es dem Bundesarchiv unter historisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten ankommt?, hei?t es in einem Vermerk des Archivs aus dem Jahr 1965. ?Da die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik erst seit Entstehen des Karlsruher Gerichts ihre Ausbildung gefunden hat, muss erwartet werden, dass in den dissentierenden Voten und Stellungnahmen vor der Urteilsfindung, die eben nicht mehr in die Hauptakte eingehen, das Werden der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Herausarbeitung der verfassungsrechtlich wesentlichen Gesichtspunkte zu erkennen sein m?sste?, schrieben die Archivare schon damals. Aber alle dr?ngenden Briefe aus Koblenz wurden in Karlsruhe stets freundlich hinhaltend beschieden: ?Wir kommen darauf zur?ck.?

?Akten raus!? Die Forderung von B?rgerinitiativen und seit den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend auch von Vertretern der gro?en Parteien in Deutschland an die Staatsgewalten, ihre Arbeit transparenter zu machen, stie? in Karlsruhe auf taube Ohren. Wie sich damals der Gerichtspr?sident Ernst Benda querlegte, haben die Koblenzer nicht vergessen. Der habe, so notierte man ver?rgert beim Bundesarchiv im Januar 1979, bezweifelt, ?ob die Archivare gen?gend Kenntnisse und Fingerspitzengef?hl h?tten, um das rechte Ma? an Aufhebenswertem zu finden?. Benda f?rchtete wohl um die Unbefangenheit unter den Richter-Kollegen, wenn alles, was sie notierten, eines Tages ans Licht k?me: Die ?bisher ge?bte Fl?chtigkeit? in den Voten, so ?u?erte der Pr?sident laut Vermerk der Bundesarchivare, drohe dann ?langatmigen Selbstreflexionen? f?r die Geschichtsb?cher zu weichen.

Dass die Hochburg des Grundgesetzes eine Blackbox sein soll, deren geheimnisvolle innere Funktionalit?ten Geheimnisse bleiben m?ssen, war von Anfang an ausgemachte Sache. Als es 1950 darum ging, f?r das neu erfundene Gericht eine gesetzliche Grundlage zu schaffen ? das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ?, war es den Parlamentariern der Unionsmehrheit wichtig, rechtzeitig einen Vorhang vor der Arbeit des Gerichts herunterzulassen: Die in einem Entwurf schon damals vorgesehene Ver?ffentlichung von Sondervoten einzelner Richter wurde vom zust?ndigen Unterausschuss wieder gestrichen. Begr?ndung: ?Mangelnde Reife des deutschen Volkes?.[3] Wenn deutlich werde, dass auch das letzte Wort im neuen Staate Menschenwerk sei, Ansichtssache, diskutiert, strittig gar, sei das ?Ansehen des Gerichtes? und ?die Autorit?t der Entscheidung? in Gefahr ? so begr?ndete die Regierung damals ihre Haltung.[4] (Erst 1970 wurde die Ver?ffentlichung von abweichenden Voten zugelassen.) Vergeblich hielt damals der Abgeordnete und sp?tere ?Kronjurist? der SPD-Fraktion Adolf Arndt dagegen: Man solle ?nicht immer so viel Angst haben. Das ganze Grundgesetz besteht ja ?berwiegend aus Angst vor der Demokratie?.[5] Hinter dieser historischen Kontroverse um eine scheinbare Nebens?chlichkeit ? sollen Sondervoten ver?ffentlicht werden? ? verbirgt sich ein tief greifender Dissens ?ber die Aufgabe, die das Bundesverfassungsgericht unter dem Grundgesetz haben sollte. W?rde das neue Institut ein Instrument der Demokratie sein ? oder eine Kontrollinstanz? Ein B?rgergericht oder eine Staatsgewalt? Was ist wichtiger: die Entstehung einer Entscheidung ? oder das Urteil? Der politische Diskussionsprozess ? oder sein Ergebnis?

Auf der einen Seite stand das Vorbild des US-amerikanischen Supreme Court, in dem schon stets die Kultur des offenen Ringens um ein Urteil die politische Debatte gepr?gt hat. Dort ist jeder Richter politisch festgelegt, seine Ansichten sind bekannt, sein Beitrag zur Entscheidung ist in jeder Zeitung nachzulesen. Und in Deutschland war es zum Beispiel einer der einflussreichsten Verfassungsrichter sp?terer Jahre, Ernst-Wolfgang B?ckenf?rde, der die Ansicht vertrat, amerikanische Offenheit in eigenen Dingen k?nnte ?das Verst?ndnis und die Akzeptanz? der Karlsruher Spr?che erh?hen.[6] Das Monitum des Konservativen B?ckenf?rde traf sich mit den Ideen des erzliberalen ?sterreichischen Staatsrechtlers Hans Kelsen, der schon eine Generation zuvor in den Zwanzigerjahren die Idee eines Verfassungsgerichts in Deutschland popul?r gemacht hatte.[7] Auf Kelsens Konzept ?ber das Verfassungsgericht als Garanten der offenen, pluralistischen Struktur der Gesellschaft und des politischen Prozesses setzten die Gr?nderv?ter des Grundgesetzes bei ihren ersten Entw?rfen 1948 auf Herrenchiemsee.[8] Nach Kelsen war das Verfassungsgericht eine politische Instanz wie das Parlament, und nicht weniger legitimiert, politisch zu handeln ? wenn auch durch Recht. Wie jeder andere politische Prozess musste darum auch der von Karlsruhe f?r die B?rger kontrollierbar und nachvollziehbar sein. Also: Akten raus!

Schnell wichen solche radikal-liberalen Konzepte der alten deutschen Angst: Im Parlamentarischen Rat des Jahres 1948/49 sah man die Rolle des Gerichts weit zur?ckhaltender. Dieser Kelsen, das war unter den konservativen Staatsrechtlern nahezu Common Sense, hatte mit seinen Ideen, die vom Positivismus geleitet waren, schon die Weimarer Republik zugrunde gerichtet, nun musste es gut sein. Das Verfassungsgericht sollte die neue Ordnung stabilisieren ? als Instanz der Wahrheit und des Rechts. Was hei?t hier B?rgergericht? Nicht einmal die Verfassungsbeschwerde ? heute t?glich Brot der Karlsruher ? mochte der Parlamentarische Rat ins Grundgesetz schreiben. So etwas gef?hrde die ?Souver?nit?t des Staates?, hie? es auch noch aus der konservativen Regierungsmehrheit im Bundestag.[9] Dass die wichtigste Rechtsschutzm?glichkeit der B?rger gegen die Verletzung ihrer Grundrechte dann sp?ter doch eingef?hrt wurde, geschah gegen massive Widerst?nde der Gr?ndergeneration. Und noch 1952 pestete der Vizepr?sident des Gerichts Rudolf Katz ?ffentlich: Vier F?nftel der bis dato eingegangenen 1500 Verfassungsbeschwerden seien Antr?ge ?notorischer Querulanten und Geisteskranker?.[10]

So, schon ist es passiert. Ein bisschen Gerangel um alte Akten, schon stecken wir in den gro?en Schicksalsfragen der Demokratie des Grundgesetzes: Haben es die Verfassungsrichter jemals geschafft, sich vom paternalistischen Gehabe ihrer Gr?nder zu befreien? Wollten sie Ordnungsh?ter oder Demokratiebeschleuniger sein? Oder waren sie so erfolgreich, weil sie sich auch dar?ber nie festgelegt haben? Der amerikanische Weg der Offenheit jedenfalls war in Karlsruhe nie eine Option. Es sollte sechzig weitere Jahre dauern, bis 2010 die auch vom Bundesverfassungsgericht wiederholt statuierte Bedeutung der ?Informationsfreiheit? f?r den demokratischen Diskurs der B?rger Konsequenzen im eigenen Haus zu zeitigen schien: Im Gericht, so wurde bekannt, plane man mit einer ?nderung der Gesch?ftsordnung nun auch die internen Voten und Entw?rfe der Richter zug?nglich zu machen. Nach einer Sperrfrist von 90 Jahren.

Die Emp?rung, die daraufhin vor allem von Zeitgeschichtlern ausging,[11] f?hrte schlie?lich zu einer Gesetzesinitiative im Bundestag. Ins Bundesverfassungsgerichtsgesetz wurde eine Bestimmung aufgenommen, die den Umgang mit den Karlsruher Akten verbindlich vorschrieb. Ein Kompromiss: Alle Akten m?ssen nach Koblenz, Sperrfrist f?r Prozessakten: drei?ig Jahre, Sperrfrist f?r die Handakten der Richter mit Voten und Entw?rfen: sechzig Jahre. So machten sich die Koblenzer bereit f?r die Mammutaufgabe, die Entstehungsgeschichte der Demokratie des Grundgesetzes in kleine graue K?sten zu sortieren. Kein einfaches Unternehmen: Schnell stellte sich heraus, dass in den fr?hen Akten des hohen Hauses gro?es Chaos herrschte. Die besonders spannenden Teile fehlten. Vermutlich waren die Unterlagen und Entw?rfe irgendwann bei den Richtern verschwunden ? jedenfalls in den F?nfzigerjahren war es ganz normal, dass die Juristen, die damals im engen Prinz-Max-Palais residierten, die Arbeit mit nach Hause nahmen. Manche Voten tauchten schlie?lich in privaten Nachl?ssen wieder auf, die ebenfalls ans Bundesarchiv gelangt waren. Offenheit war f?r das Karlsruher Verfassungsorgan nach wie vor ein qu?lender Prozess. Da waren diese r?tselhaften Aktenkartons der Firma Kracher&Wiendl, verschlossen und zugeklebt mit braunem Paketband, dr?ber das Siegel des Bundesverfassungsgerichts. Was sollten die Koblenzer damit machen?

Winter 2016:

Koblenz an Karlsruhe: Was ist da drin?

Sagen wir nicht.

Darf man?s denn wenigstens aufmachen?

Auf keinen Fall!

Steckte es da drin, das Geheimnis von Karlsruhe? Der Stein der Weisen? Die braunen Kartons wurden zur Chefsache. Michael Hollmann, der Pr?sident des Bundesarchivs, hat die Befugnis, notfalls Regierungsakten mit Staatsgeheimnissen einzusehen. Doch H?nde weg von Karlsruhe: ?Ich werde mich h?ten, diese Siegel aufzubrechen?, erkl?rte er.

Herbst 2017:

Karlsruhe an Koblenz: Ihr d?rft die Kartons jetzt ?ffnen.

?Pharaonengrab? nennen die Historiker so etwas: Lang gesuchte Richter-Handakten zu den wichtigsten Urteilen der F?nfzigerjahre kamen zum Vorschein. Was f?r eine Entdeckung. Der Inhalt der Kartons wurde zur wichtigsten Grundlage der folgenden Kapitel: Acht Geschichten ?ber die allm?hliche Entstehung der Demokratie des Grundgesetzes.

Die Chance des Anfangs

Was erwartet ein Verfassungsrichter von einer guten Verfassung? ?Sie muss kurz und dunkel sein?, sagte einmal in Anlehnung an einen ber?hmten Bismarck-Spruch Winfried Hassemer, der Karlsruher Vizepr?sident in den Jahren der Jahrtausendwende. Kurz und dunkel: Ein Blick in die Akten zeigt schnell, warum das Grundgesetz, jenes im Nachkriegschaos eilig zusammengehauene Provisorium, so ein Welterfolg werden konnte. Vom ersten Tag der neuen Demokratie an diente es den Juristen in ihrem Karlsruher Geh?use als Rechtfertigung, das zu tun, was sie, nach bestem Wissen und Gewissen, f?r das Richtige hielten.

Wie sollte es weitergehen, nachdem alle Werte und Gewissheiten zusammengebrochen waren, keinem Wegweiser mehr zu trauen war? So viel Anfang war nie in Deutschland. Niemand, auch nicht die Autoren des Grundgesetzes, konnte sagen, zu welchem Ende das gro?e k?hne Experiment einer auf Tr?mmern gebauten Demokratie f?hren w?rde. Vorsichtig tastend haben sich die Richter zu Beginn in der neuen Freiheit des Grundgesetzes bewegt, wie Scouts, die unbekanntes, vermintes Gel?nde erschlie?en m?ssen. Da konnte man nicht an Landkarten kleben, selbst gut gemeinte Gesetze brachten keine Sicherheit. Welches ist der n?chste richtige Schritt? In den Karlsruher Aktenkartons finden sich die Notizen und Dossiers, oft nur handschriftlich hingeschmierte Stichworte der ersten Verst?ndigung jener Pioniere der neuen Freiheit. Wo geht es lang? Was passiert, wenn wir den n?chsten Schritt gehen?

Das Verfassungsgericht war so erfolgreich, gerade weil es keine Agenda hatte, die es abzuarbeiten galt. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert war einer der Ersten, die in der Fr?hgeschichte des Karlsruher Gerichts geforscht haben. Sein Befund: ?Die hatten keinen Plan, in Karlsruhe.? Die haben rumprobiert, wie alle anderen Institutionen des neuen Staates auch: ?Statt einer Agenda f?r den neuen Staat war da nur ein wei?es Blatt Papier.? Da gab es keinen organisierten Aufbau der deutschen Nachkriegsdemokratie: Es habe sich, sagt der F?nfzigerjahre-Forscher, ?etwas zurechtgeruckelt? in der vom Krieg ?vollst?ndig durchger?ttelten Gesellschaftsstruktur?.

Die Karlsruher nutzten die Chance des Anfangs: ?Es konnte sich vorerst niemand vorstellen, wie das in der Praxis funktionieren w?rde, was der Parlamentarische Rat da beschlossen hatte?, sagt Herbert. Und gerade das Vorl?ufige dieser neuen Republik und ihrer vorl?ufigen Verfassung war das Geheimnis ihres Erfolges. Herbert: ?Die Bundesrepublik war ja nur als fragiles Zwischengebilde gedacht, nichts f?r die Ewigkeit, nur bis zur schon bald vermuteten Wiedervereinigung.? Das Provisorium sch?tzte vor voreiligen Festlegungen. Kein Plan, Planlosigkeit war das Geheimnis. Die Autorit?ten des alten Denkens, die nach wie vor den Staat als letzte Instanz aller Politik betrachteten, wurden von so viel Chaosmanagement geradezu ?berrollt. ?Niemand, der bei der Gr?ndung des Verfassungsgerichts dabei war, konnte sich damals vorstellen, was kommen w?rde?, konstatiert Justin Collings, der US-Verfassungsrechtler, der die Geschichte des von den Amerikanern einst initiierten ?German Federal Constitutional Court? in allen Details erforscht und beschrieben hat.[12] ?Als Konrad Adenauer feststellen musste, wie schnell das Bundesverfassungsgericht Macht und Autorit?t gewonnen hatte, war es schon zu sp?t?, konstatiert Herbert. Der Alte hatte sich die Karlsruher als Justiziare eines starken Staates gedacht, eigentlich w?re ihm ein Staatspr?sident namens Adenauer mit machtvollen Letztentscheidungsbefugnissen lieber gewesen. Nun waren es auf einmal die Richter, an denen man nicht mehr vorbeikam. Sie beanspruchten das letzte Wort im Staate. Die ber?hmte Reaktion des Kanzlers: ?Dat ham wir uns so nich vorjestellt.?

Die Berufung auf das Grundgesetz diente den Richtern als Schutz. Denn von Beginn an mussten sie sich gegen Bedrohungen von allen Seiten wehren. Da waren die Geister von gestern, die im Staat des Grundgesetzes spukten und versuchten, eine Nische f?r ihre totalit?ren Ideen zu finden. Da waren die Kollegen, die furchtbaren Juristen der NS-Zeit, die nun versuchten, ihre Karriere m?glichst bruchlos gleich nebenan, beim Bundesgerichtshof, fortzusetzen. Und da waren die neuen Paternalisten der Adenauer-CDU, die versuchten, den politischen Katholizismus zum Geist des Grundgesetzes zu erkl?ren.

Die Karlsruher wurden so ganz schnell zu den Hoffnungstr?gern der neuen, fragilen Demokratie. Denn ihre Autorit?t war ?ber jeden Verdacht erhaben: ?Es war die Instanz der sauberen H?nde?, sagt der Frankfurter Verfassungshistoriker Michael Stolleis. Die Neuen in Karlsruhe konnten von vornherein die Legitimation ?berzeugter Demokraten f?r sich in Anspruch nehmen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen ? einige kommen in Kapitel 1 in Zusammenhang mit dem Verbotsverfahren gegen die KPD zur Sprache ? waren die Verfassungsrichter von der dunklen Vergangenheit unbelastet. Einige von ihnen hatten die NS-Zeit im Exil verbringen m?ssen, die meisten hatten mindestens einen Karriereknick unter den Nazis erlebt ? wenn sie nicht sogar aus ihren ?mtern vertrieben worden waren. Dass sie saubere H?nde hatten, dadurch unterschieden sich die Richter des Bundesverfassungsgerichts vertrauenerweckend von der gro?en Mehrheit an den anderen Gerichten: Die Mehrzahl der Juristen in der deutschen Justiz hatte ihre Arbeit nach der Zeitenwende 1945 unbeirrt fortgesetzt. Vor allem die SPD hatte darauf bestanden, dass das neue Gericht mit Autorit?ten besetzt werde, die mit der vom NS-Regime verdorbenen Richterschaft nichts zu tun hatten.[13] Nur sechs der 24 Verfassungsrichter der ersten Generation kamen von anderen Gerichten. Wir sind die Guten: Dies war die Fahne, die bald weithin sichtbar ?ber dem Prinz-Max-Palais, dem ersten Amtssitz des Gerichts, wehte. Die Juristen nutzten das Auslegungsmonopol f?r das Grundgesetz, die junge Republik in eine konsensf?hige, w?rmende ?Werteordnung? zu h?llen. Es ging um den Weg, auf dem die verst?rte Gesellschaft des westlichen Deutschland ohne allzu gro?e Zerw?rfnisse und Kosten in die b?rgerlich liberale Welt des Westens gelotst werden konnte. ?Wie bringt man die Leute aus der Volksgemeinschaft der NS-?ra in die Demokratie des Grundgesetzes?? ? Dies, so sieht es der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, war die gro?e Aufgabe des neuen Anfangs.

Das Zauberwort

?Subsumtion? nennen die Richter ihre Methode, das Leben nach dem Wortlaut des Gesetzes zu beurteilen. Die Methode der Verfassungsrichter war ? zumindest in der Gr?nderzeit der deutschen Demokratie ? nicht Subsumtion, sondern Integration. ?Integration? war das Zauberwort, das die Karlsruher Rechtsprechung in den Zeiten des Aufbaus der deutschen Demokratie pr?gte. Es taucht fast nie in den Akten auf. Aber Rechtstheoretiker bezeichneten schon damals mit dem Begriff den Geist, der ?ber dem Gericht schwebte. Der Begriff stammt von Rudolf Smend, dem b?rgerlich-liberalen Staatsdenker der Weimarer Republik, der nach dem Krieg in G?ttingen wirkte und an der dortigen Universit?t um sich all jene jungen Talente scharte, denen wir sp?ter beim Bundesverfassungsgericht wieder begegnen werden. Von Smend kam Gerhard Leibholz, ein Verfassungsrichter der ersten Stunde, der mit seinen Methoden der Rechtsanwendung das Gericht stark gepr?gt hat. Das Bundesverfassungsgericht sei ein ?Integrationsfaktor?, lehrte der Professor vom Zweiten Senat, die ?Integrationsfunktion? seines Hauses gehe ?ber dessen ?richterliche Funktion? weit hinaus.[14]

?Integration? als ideale Methode, mit einer ideal dunklen und ideal kurzen Verfassung eine neue Gesellschaft zu formen: Dies k?nnte die Arbeit des Gerichts zu Leibholz? Zeiten gut erkl?ren ? wenn wir w?ssten, was mit ?Integration? genau gemeint ist. Eine ?schwebende Ausdrucksweise? bescheinigt der Rechtshistoriker Michael Stolleis in seinem Standardwerk ?ber die Geschichte des ?ffentlichen Rechts[15] dem ber?hmten Ideengeber Smend. So ganz haben selbst die Experten nie verstanden, was der Denker eigentlich gemeint hat. Nach Smend ist die Verfassung ?die Lebensform einer Gesellschaft?[16], sie diene dazu, ?Gegens?tze in rechtsf?rmiger Weise zu ?berwinden?. Das Ziel der Integration ist es, eine ?Einheit von Volk und Staat? herzustellen, ein Ganzes, das mehr ist als seine Teile. Kritiker sehen heute in solchem Denken eine ?mythische Verkl?rung?, ein ?antipluralistisches, obrigkeitsstaatliches Verst?ndnis? von Politik ? ja, eine Art ?politischer Theologie?.[17]

?Integration? in diesem Sinne war also etwa das Gegenteil dessen, wozu das Bundesverfassungsgericht einst erfunden wurde. Die Gr?nderv?ter des Grundgesetzes hatten 1948 bei ihrer ersten Versammlung auf der Chiemseeinsel ja noch den Smend-Gegenspieler Kelsen im Sinn, der seiner Erfindung der Verfassungsgerichte ausschlie?lich die Aufgabe einr?umen wollte, die Fairness und Offenheit der politischen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft zu garantieren, sodass am Ende im freien Kr?ftespiel der Meinungen als Resultante des demokratischen Prozesses so etwas wie das Gemeinwohl herauskommt.[18]

Doch Smends ?Integrationslehre? passte gut zur selbst gew?hlten Rolle des Gerichts als politischer Friedensstifter. Dieses Selbstverst?ndnis des Gerichts hatte etwas Vertrauenerweckendes. Schnell nahm das Volk des Grundgesetzes die Autorit?t an, die doch offenbar abseits politischen Parteiengez?nks Harmonie stiftete.[19] So erreichte das Verfassungsgericht im Rating des Volksvertrauens alsbald Werte, die gleich hinter denen des ADAC lagen. Die ?auf Konsens angelegte Grundstimmung der fr?hen und mittleren Bundesrepublik? ebenso wie der ?subkutane Einfluss kirchlicher Denktraditionen?[20] pr?gten die Arbeit im Prinz-Max-Palais im Sinne Smends. Da habe sich schon fr?h in Karlsruhe eine ?Zivilreligion? breitgemacht, urteilt der Rechtshistoriker Stolleis. Wie sich die fromme Denkart der Integration auf die Anwendung des Grundgesetzes auswirkte, l?sst sich besonders deutlich in den Akten zum ber?hmten ?L?th-Urteil? (Kapitel 5) von 1958 zeigen, in dem es darum ging, wie ein kritischer B?rger sein Grundrecht der Meinungsfreiheit auch gegen die zivilrechtlich gesch?tzten Gewinninteressen eines Filmunternehmens durchsetzen kann. Die ?Werteordnung? des Grundgesetzes zwinge dazu, so entschied das Gericht ganz im Sinne Smends, der Meinungs?u?erung den Vorrang zu geben, jedenfalls, wenn diese im Interesse der Allgemeinheit liege.

Kurz und dunkel sind die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Meinungs- und Pressefreiheit. Und doch ist es immer wieder dieses Grundrecht, an dem sich das Gericht in seinen gro?en Entscheidungen abarbeitete: Ob im Falle L?th, ob im Prozess um die ?Spiegel?-Aff?re (Kapitel 7) oder um Konrad Adenauers Privatfernsehen (Kapitel 6) ? von Fall zu Fall entwickelten die Verfassungsrichter aus dem Freiheitsrecht der B?rger ein vielseitiges Instrument zur Herstellung und Wahrung von Konsens und Frieden in der offenen Gesellschaft, die ?schlechthin konstituierenden? Grundlage der repr?sentativen Demokratie des Grundgesetzes. Wie macht man Verfassungsrecht? Die Akten erlauben erstmals, einen Blick in die Karlsruher Werkstatt zu werfen. Der Verfassungsrichter Theodor Ritterspach, Autor und Ideengeber nicht nur des L?th-Urteils, sondern auch anderer epochaler Spr?che des Gerichts, notierte f?r die Kollegen:

Es ist nicht genug, dass ein Gericht Tatsachen des Lebens unter ?bereits vorgebildete, nicht am empirischen Rechtsmaterial gewonnene? (Kelsen) Begriffe einordnet und sich f?r die Entscheidung mit der Anwendung der Grunds?tze begn?gt, ... Aufgabe des Gerichts ist es vielmehr, die im Einzelfall richtige Entscheidung zu finden ... aus einer unmittelbaren Fallanschauung, aus genauer Betrachtung und Bewertung der konkreten Lebensvorg?nge flie?ende, den Anforderungen der Logik gerecht werdende, aber auch das Rechtsgef?hl befriedigende Entscheidung.[21]

Eine Delikatesse f?r Rechtsmethodiker. Es h?tte nicht der ausdr?cklichen Distanzierung vom damals verhassten Positivisten Kelsen bedurft, um die Ideen des Kelsen-Gegenspielers Smend hinter solchen Anleitungen zu erkennen. Grau ist alles Gesetz, die ?Betrachtung und Bewertung? des ?konkreten? Lebens weist den Weg in die Harmonie des inneren Friedens und befriedigt das Rechtsgef?hl. Rudolf Smend, das gro?e Vorbild aus G?ttingen, bescheinigte dann auch ?ffentlich den Richtern, gute Sch?ler zu sein: Das Gericht ?k?mpft um die Herrschaft des Rechten und Guten, indem es diese h?chsten irdischen Werte ausdr?cklich zur Grundlage seiner Entscheidungen macht?, verk?ndete er in einem Festvortrag zum zehnten Jubil?um des hohen Hauses.[22]

Die Mitte ?

Die Abschaffung der Dunkelheit durch 24 Lichtgestalten im Prinz-Max-Palais mit den Methoden Rudolf Smends: Haben wir?s endlich gefunden, das Geheimnis von Karlsruhe? Manchem ist nicht ganz wohl bei solchen Aktenfunden: Die Relativierung der ganzen Rechtsordnung durch ein Ensemble ?objektiver? Werte, die Lossagung der Richter vom toten Wortlaut des Gesetzes, die Hinwendung zum ?konkreten Leben?, aus dem sich die richtige Entscheidung schon anbietet: Hatten wir das nicht gerade erst ?berwunden? ?In frappanter Weise?, sieht sich der Rechtshistoriker und Verfassungsrechtler Stolleis an die ?Wertdurchdringung der Rechtsordnung durch die Nazis? erinnert. Unter dem Vorzeichen der ?Integration? finde sich in den alten Akten, so Stolleis, eine ?methodische Reprise der Umwertungen von 1933?[23], jener rechtlichen Gehirnw?sche, mit der die Weimarer Demokratie in eine Diktatur verwandelt wurde. Ist das der zynische Clou, der uns aus den Papieren ?ber die Gr?nderzeit der deutschen Demokratie anspringt? Wurde die Karlsruher Republik deshalb so erfolgreich, weil sie die allgemeine Orientierungslosigkeit nutzte, die alten Irrlehren in neuer Form zu pr?sentieren, mit denen die deutschen Staatsrechtler die ungl?ckselige Weimarer Republik ?retteten?, indem sie wie der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt den ?Werten? der v?lkischen Diktatur das Wort redeten? Haben die Richter von Karlsruhe, als sie sich von ihrem Erfinder Hans Kelsen abwandten und dem Werte-Theoretiker Rudolf Smend folgten, den Auftrag veruntreut, der ihnen vom Herrenchiemsee mit auf den Weg gegeben war?

Die Sicht von au?en auf die Blackbox Karlsruhe relativiert den Eindruck, der aus den Akten entsteht. Die historische Funktion des Bundesverfassungsgerichts in den F?nfzigerjahren, so sieht es der Geschichtsprofessor Herbert, sei es keineswegs gewesen, der Gesellschaft ein neues Wertekorsett ?berzuziehen. Die Rolle, die das Gericht tats?chlich spielte, sei auch mit dem Begriff ?Integration? ganz schlecht beschrieben: ?Es ging ja nicht darum, irgendetwas Neues in einen bestehenden Rahmen zu integrieren ? es ging um die Unterst?tzung des m?hsamen und schmerzhaften Prozesses der Formation eines neuen Rahmens, der Konsensbildung in der verst?rten Nachkriegsgesellschaft.? Die Leute, sagt Herbert, h?tten etwas gebraucht, worauf man sich verlassen k?nne. Und das sei das Wort aus Karlsruhe gewesen.

Aus der Sicht des Historikers ging es darum, aus dem Prinz-Max-Palais heraus die Mitte zu markieren, eine neue Mitte, um die sich die widerstreitenden Interessen, Bed?rfnisse und Glaubensrichtungen in der neuen Demokratie scharen konnten. Die Mitte in der Demokratie sollte nicht einfach der Mainstream der Mehrheit sein, sondern nach Herbert eine ?normative Mitte?: Die Gebote des Grundgesetzes dienten als Korrektur f?r ?bertreibungen im Volke. Nicht als Hohepriester einer Zivilreligion, als Moderatoren bei der allm?hlichen Verfestigung einer politischen Kultur im Lande haben nach dieser Deutung die 24 von Karlsruhe gewirkt. Wenn im 21. Jahrhundert der Verfassungsgerichtspr?sident Andreas Vo?kuhle das Grundgesetz als ?Verfassung der Mitte?[24] charakterisiert und die Aufgabe seines Gerichts darin sieht, die ?Balance? in der politischen Auseinandersetzung zu bewahren, so l?sst sich das als Versuch deuten, die Erfolgsgeschichte der fr?hen Jahre in postmodernen Zeiten zu wiederholen.

Wer die alten Akten studiert, merkt schnell: Die Balance zu wahren, allzu heftige Bewegungen im Volke mit dem Gegengewicht der Ma?gaben des Grundgesetzes zu d?mpfen, war offenbar schon damals die Maxime, die einzelne Richter bei der t?glichen Arbeit am Fall leitete. Was da in Karlsruhe agierte, war kein Sturmgesch?tz der Demokratie, das war eine wohlmeinende Gouvernante, die mit dem Beharren aufs letzte Wort zugleich stets auch um ihre eigene Stellung k?mpfte. Noch so ein Hinweis aus Richter Ritterspachs Notizen:

Eine elastische, das Bed?rfnis nach Realisierung der Grundrechte wie auch das Ansehen der Gerichte und ihrer Urteile gleicherma?en ber?cksichtigende Handhabung ... wird das Richtige treffen. Nach dieser ?Faustregel? ist wohl bisher auch verfahren worden.[25]

So viel R?cksicht h?tte die zarte Pflanze des Aufbruchs in eine neue Freiheit schnell verk?mmern lassen k?nnen. Wenn die Karlsruher Gouvernante damals auf die bew?hrten Werte der Volkserziehung zur?ckgegriffen h?tte, auf die ?h?heren? Werte des Naturrechts etwa, die altbekannten Ideen von der ?Homogenit?t? des Volkes, das ?dem Staat? Gehorsam schulde: Dann w?re es ? wieder ? nichts geworden mit der deutschen Demokratie. Es war der Gl?cksfall der Geschichte, dass das Grundgesetz in die H?nde von Juristen geriet, die von Beginn an in den 146 Artikeln der neuen Verfassung die Werte der Aufkl?rung entdeckten, wie sie sich ?ber die Franz?sische Revolution von 1789 schlie?lich in ganz Europa ausgebreitet hatten. Die Hinweise auf jene Revolution, den Urfunken der demokratischen Freiheit in Europa, finden sich in den Voten der Richter immer wieder. Es ist die alte Geschichte von 1789, mit der Richter im Streit ?ber die Reisefreiheit des aufm?pfigen CDU-Politikers Wilhelm Elfes (Kapitel 3) argumentieren, um dem Staat einen neuen, bislang unbekannten Freiheitsbegriff der B?rger entgegenzusetzen. Es ist der Geist der Aufkl?rung, der aus den alten Akten spricht. Die Werte, die ma?geblich f?r die deutsche Demokratie sein sollten, sind menschengemacht. Im Staat des Grundgesetzes ist nicht Gott, sondern der Mensch das Ma? aller Dinge. Seiner Vernunft ist zu trauen, seine W?rde ist zu besch?tzen, seine Freiheit ist der Ausfluss seiner W?rde und liegt im Gebrauch seiner Vernunft.

? und ihre Abgr?nde

Schluss mit den gro?en Worten. Es gibt gen?gend Beispiele in diesem Buch, die der Idee der Aufkl?rung offenkundig ins Gesicht schlagen. Das KPD-Verbot von 1956 (Kapitel 1): ein dumpfer Ausbruch von Kommunistenfurcht, von dem sich das Gericht sp?ter distanzieren musste. Das Homosexuellen-Urteil von 1957 (Kapitel 4): eine schwerwiegende Verletzung der Menschenw?rde, die wiedergutzumachen sich Politiker heute noch immer m?hen. Das Abtreibungs-Urteil von 1975 (Kapitel 8): die Wiederkehr der katholischen Naturrechtslehre. Wie konnte es dazu kommen?

An solchen Entscheidungen zeigt sich, dass jeder Versuch, jenseits normativer Bindungen die ?Mitte? zwischen dem als gut Erkannten und dem im Volk Konsensf?higen zu finden, auf Abwege, an Abgr?nde f?hren kann. Die Akten zum KPD-Prozess dokumentieren eindrucksvoll, ja mitleiderregend das jahrelange z?he Ringen von freiem Geist und panischer Kommunistenfurcht ? auch unter den Richtern. Das Grundgesetz war da ohnehin keine Hilfe: Allzu widerspr?chlich, kurz und dunkel waren die Vorgaben f?r die Richter. Wer sich die Entw?rfe und Gegenentw?rfe und argumentativen Verirrungen in der internen Diskussion um die Verfassungsm??igkeit des Homosexuellen-Paragrafen 175 anschaut, verliert jeden Glauben daran, dass sich die Entscheidungen des Gerichts planvoll aus einem allgemeinen Prinzip ableiten. Hier regierte die Resignation vor der ?bereinstimmend im Volke und im eigenen Kopf dominierenden Gewissheit, dass M?nnerliebe Schweinkram sei. ?Das Pfui-Gef?hl der Gesellschaft?, so dr?ckt es Rolf Lamprecht, der langj?hrige Karlsruhe-Korrespondent des ?Spiegel?, aus, habe durch die Richter verfassungsrechtliche Beglaubigung gefunden.[26]

Ein Kapitel f?r sich ist schlie?lich das ber?hmte Urteil zum Strafgesetzbuch-Paragrafen 218, mit dem das Gericht die Liberalisierung des Abtreibungsrechts verbot. Aus den Akten l?sst sich die Reaktion der 1975 bereits alt gewordenen Gouvernante lesen, die einen Schreck bekommen hat, was die Kinder des Grundgesetzes mit der ihnen so m?hsam beigebrachten Freiheit alles anstellen. Wer zweimal mit derselben pennt, geh?rt schon zum Establishment: Solche Libertinage und ihre Folgen musste, von der Position der gutb?rgerlichen liberalen Mitte aus betrachtet, als ?bertreibung erscheinen, wie so vieles in den sozialliberalen Siebzigern, in denen das Gericht als Bremser der Liberalisierung auftrat. Und da die Kraft der Werte der Aufkl?rung sich als ungeeignet erwies, den Prozess der Befreiung zu kanalisieren, griffen die Bewahrer der guten Ordnung zu st?rkeren Drogen: dem Gift des Naturrechts, den ?h?heren, vorgegebenen Werten?, mit denen sich jede rationale Diskussion sofort besiegen lie?. Ein ?volkserzieherisches Element? registriert der Historiker Herbert in der Karlsruher ?ra der Siebziger. Mit dem Grundgesetz konnte man es ja machen. Die Verfassung, die kurz und dunkel war, machte es den Richtern m?glich, im Wechsel der Zeiten stets die Mitte zu halten ? und verbindlich festzulegen, wo die Mitte war.

Nur einmal, ziemlich am Anfang, geschah es, dass das Gericht gegen die alles beherrschende Meinung im Volk, gegen den Rat der meisten Juristen, Politiker und aller Kirchenleute eine Position durchsetzte, die damals als reichlich ?bertrieben galt: ?Frauen und M?nner sind gleichberechtigt.? Das Urteil von 1953 und seine Erg?nzung von 1959 (Kapitel 2), formuliert von der einzigen Frau im Gericht gegen den Widerstand der eigenen Kollegen, kann bis heute als der wichtigste Beitrag des Gerichts zur Demokratisierung der Gesellschaft des Grundgesetzes gelten. Was sagen die Akten? Wie hat die Frau das geschafft? Warum sind Frauen und M?nner gleichberechtigt? Ganz einfach: Weil es so, hell und pr?zise, im Grundgesetz steht.

Quellen

Was sagen die Akten? Diese Frage hat mich besch?ftigt, seit ich mich als Student zum ersten Mal mit den gro?en Urteilen der F?nfzigerjahre befasste. Die Chance, zum siebzigsten Geburtstag des Grundgesetzes an die Quellen der Entstehung jener Demokratie vorzusto?en, in der ich aufgewachsen bin und ?ber die ich drei?ig Jahre lang f?r den ?Spiegel? geschrieben habe, verdanke ich der Hartn?ckigkeit meiner Freunde, der Rechtshistoriker und der Verantwortlichen des Bundesarchivs, die sich jahrelang um die ?ffnung der alten flaschengr?nen B?nde aus dem verschlossenen Keller des Bundesverfassungsgerichts bem?ht haben. Rechtshistoriker waren es dann auch, die mich ermutigt haben, in den Aktenstapeln zu graben und mich in die Ideen und Wirrnisse, die darin dokumentiert sind, einzulesen.

Professor Michael Stolleis, dem ehemaligen Direktor des Max-Planck-Institutes f?r europ?ische Rechtsgeschichte, verdanke ich Rat und Wegweisung, ebenso dem Freiburger Professor f?r Zeitgeschichte Ulrich Herbert. Die Staatsrechtsprofessoren Hans-Joachim Koch, Hamburg, R?diger Rubel, Gie?en, und Florian Meinel, W?rzburg, haben mir mit Hinweisen bei einzelnen Kapiteln des Buches geholfen. Mein Dank gilt auch jenen ehemaligen Verfassungsrichtern, die mir als Gespr?chspartner zur Verf?gung standen, ohne dass ich ihren Namen nennen darf. Der Historiker und ?Spiegel?-Dokumentar Heiko Buschke hat die in diesem Buch erw?hnten zeithistorischen Bez?ge und Fakten gecheckt. Die ?Spiegel?-Kollegen Rolf Lamprecht und Dietmar Hipp haben mir mit Informationen und Einsch?tzungen aus ihrer journalistischen Arbeit in Karlsruhe geholfen. In den Archiven des ?Spiegel? durfte ich bislang unbekannte Akten zu jener Aff?re lesen, die ?meinem? Blatt einen Platz in der Verfassungsgeschichte beschert hat (Kapitel 7).

Die Akten aus dem Bundesarchiv waren die wichtigsten Quellen f?r dieses Buch. Die Fundstellen im Koblenzer Bestand B 237 sind in Fu?noten ausgewiesen, ebenso die Literatur, die ich ?ber die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts verwendet habe. Zu manchen Quellen allerdings fehlt die Fu?note: Ich darf ihre Herkunft nicht offenlegen, um Informanten zu sch?tzen. So habe ich es als Journalist immer gemacht ? und mich darauf verlassen, dass meine Leser sich auf mich verlassen. Zu vielen Zitaten fehlt zudem einfach deshalb der Beleg, weil sie Frucht pers?nlicher Gespr?che mit dem namentlich Zitierten sind oder weil ihre Herkunft zum Allgemeinwissen des informierten Lesers geh?ren wird.

Die Auswertung der Akten w?re nicht m?glich gewesen ohne die Archivare des Bundesarchivs in Koblenz, die mit Sachkunde und nie endender Geduld meine unendliche Neugier auf immer mehr und immer entlegenere Unterlagen befriedigt haben. Auch das wegen seiner Geheimniskr?merei so oft kritisierte Bundesverfassungsgericht hat sich offen gezeigt und mich in alten Personalakten der Richter lesen lassen.

Die Lawine alter, schwerer Papiere, die ich losgetreten habe, h?tte mich mit ihrer ganzen verfassungsrechtlichen Stoff-F?lle versch?ttet, w?re ich allein unterwegs gewesen. Doch im Detail, bei der Entzifferung der Alt-M?nner-Handschriften in den Handakten, der in S?tterlin bekritzelten Notizzettel, der eilig in Kurzschrift hingeknallten Verhandlungs-Mitschriften, hatte ich die Hilfe meiner ehemaligen Sekret?rin Margareta H?ttenberger. Und im ganz Gro?en hatte ich den Beistand von Rechtsanw?ltin Susanne Kuhn, die sich um die Aufarbeitung und Analyse des au?erordentlich umfangreichen Materials zum KPD-Urteil und der Akten zum epochalen Thema Gleichberechtigung gek?mmert hat.

So ist es der freundschaftlichen Zusammenarbeit einer gro?en Zahl von Kundigen zu danken, dass dieses Buch zustande kam. Alle Fehler habe ich nat?rlich allein gemacht.

Kommunistenjagd ? Polizisten vertreiben KPD-Mitglieder im September 1950 aus dem Versammlungsraum der beschlagnahmten D?sseldorfer Parteizentrale. [9]

1 KPD-Verbot

Der Krieg der Welten. Parteienstaat oder liberale Demokratie?

Kein sch?ner Anfang

Keine Freiheit den Feinden der Freiheit: Dieser Satz ist mit Blut geschrieben. Er stammt von Louis-Antoine-L?on de Saint-Just, auch genannt der ?Erzengel des Todes?. Der Jakobiner Saint-Just war einer der Anf?hrer der Franz?sischen Revolution von 1789, und er war es, der ihren Ruf als europ?ische Wiege der Menschenrechte und der Demokratie ruiniert hat. Als Wortf?hrer im gef?rchteten Wohlfahrtsausschuss lie? er Zigtausende umbringen, die sich nicht willig dem Diktat der Revolution?re unterwarfen. Sein Motto: ?Die Grundlage der Republik ist die vollst?ndige Vernichtung dessen, was gegen sie ist.?

Keine Freiheit den Feinden der Freiheit: Im dritten Jahr der jungen, aus Tr?mmern erstandenen deutschen Demokratie stand dieser Satz wieder auf der Tagesordnung.

Verfassungsschutz, Abtl. I Tab. Nr. 1190/52,
K?ln, den 8. Februar 1952 ?
An den Herrn Pr?sidenten des Bundesverfassungsgerichtes
in Karlsruhe
Betr.: Aktion gegen KPD und SRP
Das bei der Durchsuchung beschlagnahmte Material ist nunmehr ... beim Bundesamt f?r Verfassungsschutz in K?ln abgeliefert worden und steht zur Verf?gung des Bundesverfassungsgerichtes. Der Umfang des Materials ist bedeutend, sch?tzungsweise 25 Ctr. ?ber den Inhalt und die Eignung zur weiteren Begr?ndung der Klage kann nichts gesagt werden, da das Material verpackt und verschn?rt eingegangen ist.[1]

Kein sch?ner Anfang. Kaum dass die Tr?mmer wegger?umt sind, die ein blutiges Terrorregime in Deutschland hinterlassen hat, kassiert der Staat f?nfundzwanzig Zentner Druckschriften der Opposition ein. Eine Geheimdienstaktion im vierten Jahr des Grundgesetzes, der Magna Charta von Menschenrechten und Demokratie. Zwischen den flaschengr?nen Aktendeckeln des Bundesverfassungsgerichts die erste Erfolgsmeldung ?ber den ersten Versuch des neuen Staates, einen politischen Gegner zu vernichten ? vollst?ndig.

Keine Freiheit den Feinden der Freiheit: Der erste gro?e Fall des ersten deutschen Verfassungsgerichts, der Streit um das Verbot der Kommunistischen Partei, wurde zum schlimmsten in der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie. Nie wieder sollte ein Verfahren so lange dauern, nie wieder sollten die Richter sich so qu?len mit einer Entscheidung, nie wieder w?rde ein so langes, ein so wirres Urteil geschrieben werden ? ?ber das bis heute gestritten wird. Keine Freiheit den Feinden der Freiheit: Was hat der blutige alte Satz in der deutschen Demokratie zu suchen? Bis ins siebzigste Jahr des Grundgesetzes spukt der Spruch, der da gar nicht drinsteht, durch die deutsche Politik. Keine Freiheit den Feinden der Freiheit: Was bedeutet das f?r die Rechtsradikalen von der NPD, ihre biederen Gesinnungsgenossen von der AfD? D?rfen Radikale Beamten werden? Wie links d?rfen die Linken sein, ehe der Satz sie vors Bundesverfassungsgericht bringt? Und was ist mit den b?rtigen Feinden der Freiheit, den Gotteskriegern des Islam? Sollen f?r sie die Garantien des deutschen Rechtsstaates noch gelten? Vor allem aber: Soll die alte, blutige Parole in einer freiheitlichen Demokratie ?berhaupt G?ltigkeit haben? Ist nicht der wahre Feind der Freiheit, der so redet? Kann man Freiheit sch?tzen, indem man sie begrenzt?

Manche beim Bundesverfassungsgericht haben sich diese Frage schon 1951 gestellt, als nach langen politischen Diskussionen in Bonn der Antrag der Bundesregierung im Karlsruher Prinz-Max-Palais eintraf, wo 23 M?nner und eine Frau gerade erst ihre B?ros eingerichtet hatten. Zwei radikale Parteien, die rechtsextreme ?Sozialistische Reichspartei? (SRP) und die ?Kommunistische Partei Deutschlands? (KPD), wollte die Bundesregierung damals durch das Gericht verbieten lassen. Die klaren Sachen zuerst: Mit den Hitler-Verehrern von der SRP wurden die Karlsruher Richter schnell fertig. Doch als man im soeben gegr?ndeten Bundesverfassungsgericht die Kisten mit dem beschlagnahmten Material der KPD ?ffnete, war auf einmal nichts mehr klar. Ist das eigentlich in Ordnung, wenn Verfassungsrichter, als w?ren sie B?ttel des Geheimdienstes, Kisten voller Pamphlete, Kassenb?cher, Geheimprotokolle, Flugbl?tter, Telefonverzeichnisse, Pl?ne f?r den Sturz der Regierung, Abrechnungen von Mitgliedsbeitr?gen filzen? Kann man so etwas machen ? in einem Rechtsstaat?

Morgens um sechs war die Staatsmacht auf Beschluss des Gerichts anger?ckt, hatte Funktion?re aus dem Bett geklingelt, ?Aufmachen, Polizei?, um auch noch die Keller und die Dachb?den der Privatwohnungen zu inspizieren. Wochenlang hatten die Vollzugskr?fte sich im Geheimen auf ihren Einsatz vorbereitet, bis der Befehl aus Karlsruhe zum Zugriff kam: Das war der D-Day f?r die Invasion ins Herz der Finsternis, in die Schreibtischschubladen und die Panzerschr?nke des Feindes ?berall im Lande, des ?Verfassungsfeindes?.

?Verfassungsfeinde?. Schon das Wort passte nicht zu dem Auftrag, der den Richtern im Prinz-Max-Palais mit auf den Weg gegeben war. ?Verfassungsfeinde? ? daran haftete noch der Brandgeruch des Krieges. Auf Feinde schie?t man, das sind nicht Mitb?rger, mit denen man vor Gericht streitet. Die Richter hier waren doch erst vor wenigen Wochen vom Bundespr?sidenten Theodor Heuss vereidigt worden, der Freiheit des deutschen Volkes zu dienen. Da waren genug dabei, die Opfer des soeben erst besiegten Unrechtsregimes geworden waren. Die wussten zu genau, was es bedeuten kann, wenn morgens um sechs jemand an die T?r pocht. Ihr Gericht, das Verfassungsgericht, war eine Weltneuheit, erstmals in der Geschichte war in einem Staat dauerhaft eine Gegenmacht der B?rger errichtet worden, die Institution, die alle anderen Gewalten, die Regierung, die Justiz, sogar das Parlament stoppen konnte, sollte, musste, wenn ?bergriffe auf die Freiheit der B?rger drohten; ein Gericht, dessen Pr?sident Ernst Benda Jahrzehnte sp?ter einmal das Bild vom ?Rettungsflo?? pr?gte, auf dem die B?rger sich in Zeiten autorit?rer Sturmgewalten in Sicherheit bringen k?nnen. Und gleich der erste gro?e Fall war einer, wo die Richter als B?ttel der Staatsgewalt, im Auftrag der Bundesregierung der frisch errungenen Freiheit autorit?r Grenzen zu setzen hatten. ? Kann eine Geschichte h?sslicher beginnen?

Das antikommunistische Manifest

Ein Gericht kann sich seine F?lle nicht aussuchen. In Artikel 21 des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes war von Anfang an klargestellt, dass das Bundesverfassungsgericht, und nur das Bundesverfassungsgericht, dar?ber entscheiden muss, ob eine Partei zu verbieten ist, weil sie ?darauf ausgeht?, die ?freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeintr?chtigen oder zu beseitigen?. Weil der Bann gegen die weitere Teilnahme am demokratischen Prozess eben nicht von irgendeiner Obrigkeit, nicht mal vom Parlament, sondern nur von den Juristen im Prinz-Max-Palais ausgesprochen werden kann, hei?t die Bestimmung unter Staatsrechtlern auch ?Parteienprivileg?, als ob es eine besondere Verg?nstigung w?re, ein Todesurteil nur von h?chster Stelle empfangen zu d?rfen. Jedenfalls war auch das eine Weltneuheit. Parteien von Verfassung wegen verbieten zu lassen, war in den demokratischen Staaten des Westens bislang nicht vorgesehen. Die vom Souver?n, dem Volk gew?hlten Abgeordneten einer Partei als Verfassungsfeinde aus dem Parlament zu kippen, wer sollte so etwas wagen? Ausgerechnet die Deutschen, gerade eben aus einer Diktatur erl?st, besch?ftigten ihre besten Juristen mit der Frage, wie man der Demokratie von hoher Hand Grenzen setzen konnte. Freiheit ist gut, aber Ordnung muss sein: Aus dieser sehr deutschen Tradition war im jungen Artikel 21 die Formulierung von der ?freiheitlichen demokratischen Grundordnung? geronnen. Das war die Formel, die nun erstmals zur Diskussion stand, und die dann sp?ter, in den Siebzigerjahren, als Kampfbegriff auf die Formel FDGO verk?rzt zum Lieblingsinstrument der Innenminister im Kampf gegen Radikale werden sollte.

W?rde es mit der heiklen Bestimmung gelingen, die KPD zu verbieten und ihre Abgeordneten aus den Parlamenten von Bund und L?ndern zu vertreiben? Das Bundesverfassungsgericht, von der Bundesregierung zur Entscheidung aufgerufen, hatte keine andere Wahl, als das Verfahren ins Rollen zu bringen.

Also gut. Zust?ndig war nach einer ersten Verst?ndigung der frisch ernannten Richter der erste der zwei Senate, die jeweils mit zw?lf Richtern besetzt waren. Beim ersten also waren die Kisten aus K?ln gelandet. Und per Beschluss war schnell entschieden, wer von den Kollegen sich nun mit dem Inhalt zu besch?ftigen hatte:

Bundesverfassungsgericht
Erster Senat
24. Januar 1952
Der Richter am BVerfG Dr. Stein wird mit der Durchsicht der beschlagnahmten Gegenst?nde beauftragt. Er kann sich der Hilfe Sachverst?ndiger und sonstiger Hilfspersonen bedienen.[2]

Erwin Stein hatte nichts von einem Jakobiner. Wie politischer Hass Menschen zerst?ren kann, hatte der einstige Staatsanwalt und Richter aus Hessen am eigenen Leibe erleben m?ssen. Als Adolf Hitler 1933 die Macht ?bernahm, wurde er ?aus dem Dienst entfernt?, wie es unter Beamten hei?t. Seine Karriere war zu Ende, nicht etwa, weil er gegen das Naziregime opponiert hatte, sondern weil seine Ehefrau J?din war und er sich gezwungen sah, seine Entlassung zu beantragen. Um der Deportation ins Konzentrationslager zu entgehen, nahm Steins Ehefrau sich 1943 das Leben. Nach dem Krieg schlug sich der Jurist als Rechtsanwalt durch, suchte Anschluss an die CDU, brachte es bis zum hessischen Kultusminister, verfasste zusammen mit dem langj?hrigen hessischen Ministerpr?sidenten Georg-August Zinn den Rechtskommentar zur neuen hessischen Landesverfassung, unter Staatsrechtlern alsbald ber?hmt als ?der Zinn-Stein?.[3]

So war es ja vielen gegangen, die nun in engen Doppelb?ros des Prinz-Max-Palais untergekommen waren (nur der Kollege Franz Wessel sa?, weil Kettenraucher, allein in einer kleinen Kammer unterm Dach). F?r die meisten von ihnen hatte Deutschlands j?ngste Vergangenheit einen Bruch im Leben bedeutet. Wenn nichts Schlimmeres, so doch zumindest einen Karriereknick: Das pr?gte die Menschen und das Denken an der Karlsruher Karlstra?e. Und das unterschied sie ganz grunds?tzlich von den Kollegen des Bundesgerichtshofs, die nicht weit von hier in einem Schloss dick wie ein Schlachtschiff im Park an der Herrenstra?e residierten. Dort, bei der obersten Instanz der ordentlichen Justiz, hatte die Mehrheit der Richter ihre Karrieren aus der NS-Diktatur nahezu unbesch?digt in den neuen Staat gerettet. Es war ja, auf dem Standpunkt stand man im Schloss, schlie?lich noch immer dasselbe Strafgesetzbuch, dasselbe B?rgerliche Recht, mit dem man schon im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik wie in der Nazizeit gerichtet hatte. Also, was soll sein?

Erwin Stein beschloss, die Sache ganz grunds?tzlich anzugehen. Wer, wenn nicht das Verfassungsgericht, sollte denn die gro?en Fragen der Nachkriegszeit beantworten? Der Kollege Martin Drath, auch er mit dem KPD-Verfahren befasst, hat sogar einmal ge?u?ert, als Verfassungsrichter wachse man gelegentlich ?in die Stellung eines verantwortungsvollen Staatsmannes hinein?[4] ? und Drath war es auch, der Stein mit aufregenden Gedankenspielen provozierte: ?Wir brauchen uns nur vorzustellen?, warf er einmal in die Debatte, ?dass das Parteiverbot nach Artikel 21 GG schon vor 1933 m?glich gewesen w?re und dass etwa im Jahre 1932 von einer Landesregierung der Antrag auf Verbot der NSDAP gestellt worden w?re.?[5] H?tte man Hitler so wirklich stoppen k?nnen? Kann ein Gericht in die Geschichte eingreifen? Vielleicht ja doch. Erwin Stein zog sich monatelang zur?ck, w?hlte sich immer tiefer in das Material aus den KPD-Kisten hinein. Sein Ergebnis legte er in Form eines internen ?Gutachtens? im September den Kollegen vor. Die Verfassungsrichter, so sein Befund, hatten eine historische Mission: den Kommunismus zu stoppen.

Bundesverfassungsgericht
Der Berichterstatter
BVerfRichter Dr. Stein
15. September 1952
An alle Mitglieder des Ersten Senats
Mein Gutachten stellt den I. Teil meiner Stellungnahme dar. Es ist deshalb so umfangreich, weil das Wesen der KPD nur durch eine gleichzeitige Darstellung der geschichtlichen und politischen Entwicklung der SED und der KPdSU verstanden werden kann. Auch ist die Kenntnis der Theorie des Marxismus-Leninismus eine unerl?ssliche Voraussetzung f?r die Beurteilung der Praxis des deutschen Kommunismus und der kommunistischen Weltbewegung.
Ich lege den I. Teil nebst Anlagen schon jetzt vor, damit die Mitglieder rechtzeitig vor dem Verhandlungstermin mit dem Studium der Grundlagen des Marxismus-Leninismus beginnen k?nnen. Da die Schlussfolgerungen im I. Teil schon angelegt sind, rechtfertigt sich auch aus diesem Grunde die gesonderte Vorlage ...
Dr. Erwin Stein[6]

Der erste Teil, der dann folgt, ist eine 349 Seiten lange Ausarbeitung von geschichtswissenschaftlichem Rang: Fast alles, was wir schon immer ?ber den ?Marxismus-Leninismus?, die ?Sowjet-Demokratie?, ?ber ?Strategie und Taktik des Bolschewismus? wissen wollten. Rechtliche Ausf?hrungen fehlen v?llig, und es muss offenbleiben, ob Stein sie in dem angek?ndigten ?II. Teil? nachgeliefert hat ? in den Akten findet sich nichts. Aus Steins Sicht brauchte es auch nicht viel Juristerei, die f?r ihn einzig m?gliche ?Schlussfolgerung? zu ziehen, dass der Kommunismus als solcher bereits eine t?dliche Gefahr nicht nur f?r den Staat des Grundgesetzes, sondern f?r die ganze Welt ist. Schon auf Seite 117 lodert die Argumentation des Richters in einem antikommunistischen Manifest:

Die Wirksamkeit des Marxismus-Leninismus beruht nicht auf seiner Theorie. Die Selbstt?uschung des dialektischen Materialismus, die Widerspr?che in der Entwicklungslehre und die falschen Erwartungen vom vergesellschafteten Eigentum k?nnen durch die jahrzehntelange wissenschaftliche Kritik als widerlegt gelten. Aber der Marxismus-Leninismus lebt trotzdem weiter in den Herzen und im Geist von Millionen von Menschen. Daher hat sein Auftreten nicht allein negative Bedeutung. Der Marxismus-Leninismus ist das notwendige Ergebnis einer Welt, die sich weitgehend s?kularisiert hat und dem Nihilismus verfallen ist. Er ist die qu?lende Frage an Europa, die Vermassung und den Kulturverfall aufzuhalten, den Menschen neu zu ordnen und die soziale Frage in einer eigenen europ?ischen Gestalt der freiheitlichen und sozialen Demokratie zu l?sen.
Solange Europa keine positive Antwort auf die Pl?ne des europ?ischen Widersachers in der Gestalt des Marxismus-Leninismus entgegenzusetzen hat, wird es den zielbewussten und zentralgesteuerten Kommunismus nicht ?berwinden k?nnen. Negative Kr?fte f?rchtet er nicht. Nur vor positiven Erkenntnissen und Handlungen schreckt er zur?ck.
Droht das Wort des irischen Dichters W. B. Yeats Wirklichkeit zu werden? ?Die Dinge fallen auseinander, die Mitte kann sie nicht zusammenhalten. Den Besten mangelt es an ?berzeugung, w?hrend die Schlimmsten voll Leidenschaft und Feuer sind.?[7]

Die Schlimmsten: Das sind die von der KPD. Todesreiter einer extrakulturellen Macht? Manches in dem Aufruf des Richters zur Rettung des Abendlandes erinnert an die Appelle, die 60 Jahre sp?ter zur Rettung der freien Welt vor dem Islam verbreitet werden sollten. Das Gutachten des Richters Stein brachte das Verfahren mit dem Aktenzeichen 1BvB 2/51 auf eine ganz neue Ebene: Das war kein Rechtsfall mehr, hier ging es um einen Krieg der Welten.

Voller Flei? hat der einstige Wiesbadener Kultusminister dann vollst?ndig zusammengetragen, was drau?en in der Welt in diesem Krieg gegen die kommunistische Gefahr bereits alles unternommen wird:

XVI. Die Abwehr des Kommunismus
Die Abwehr mit geistigen und geistlichen MittelnDie Abwehr mit polizeilichen und gesetzgeberischen Mitteln

Und so weiter. Es war ja nicht so, dass hier ein Kulturpolitiker aus der hessischen Provinz pl?tzlich ausgerastet w?re ? Stein lag mit seinem Appell voll auf der H?he des Zeitgeistes im aufbl?henden Deutschland der Adenauer-?ra. Die Fr?hlingsbl?te der jungen Freiheit hatte in den fr?hen F?nfzigern das vom letzten gro?en Krieg zerm?rbte Volk des Grundgesetzes kaum erfrischt, da lag schon wieder Gewitterstimmung ?ber dem Land. Schw?l dr?ckte das Unbehagen der neuen Zeit auf das Gem?t selbst gutwilliger Demokraten. Die alten Werte galten nicht mehr ? und neue? Neue waren noch nicht gefunden. Was war denn das f?r eine Grundordnung, von der da im Grundgesetz die Rede war? In der neuen Un?bersichtlichkeit galt es vom Alten, Bew?hrten, zu retten, was nicht in Tr?mmern lag.

Zeitgeschichtler haben in den letzten Jahren viel geforscht[8] ?ber dieses F?nfzigerjahre-Gemisch aus Angst vor dem Neuen und hoffnungsvoller Hinwendung an die guten alten Zeiten, als es Hitler noch nicht gab ? dem allerdings auch 1959 noch immer 41 Prozent der Westdeutschen zubilligten, vom Krieg mal abgesehen ?einer der gr??ten Staatsm?nner? gewesen zu sein.[9] Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert beschreibt die gro?e Orientierungslosigkeit, die im jungen Staat des Grundgesetzes herrschte: Die Menschen erlebten den ?Verlust von Familie, Vaterland, Nation, Abendland, Autorit?t sowie sozialer und geschlechtlicher Hierarchie?, panikhaft nahmen sie die neue Zeit als ?entfesselte Durchsetzung der modernen Massengesellschaft? wahr.[10] Die Angst vor ?Vermassung? schreckte die ?berlebenden der b?rgerlichen Kuschelkultur des alten Deutschland nachhaltig auf, selbst Intellektuelle wie den Richter Erwin Stein. Der Marxismus-Leninismus wurde da zur qu?lenden ?Frage an Europa, die Vermassung und den Kulturverfall aufzuhalten, den Menschen neu zu ordnen?.[11] Im Weltbild des aufkommenden deutschen B?rgertums war Ordnung ein Wert an sich gewesen ? der Zeitgeschichtler Herbert registriert ?Beschw?rungen traditioneller B?rgerlichkeit, die mit autorit?ren Staatsvorstellungen und Visionen der B?ndigung und Organisation der Massen einhergingen?. Die Ideen vom guten alten Deutschland richteten sich, so Herbert, ?gegen Versuche der Ausweitung der institutionalisierten Demokratie zu einer breiteren gesellschaftlichen Partizipation?.[12] Es war das gute alte Deutschland, das sich vom Kaiserreich nicht trennen konnte und schon die Weimarer Republik so lange sabotierte, bis sie endlich kaputt war. Es war das B?rgertum der Weimarer Republik, das der Publizist und Literat Kurt Tucholsky in seinen ?Glaubenss?tzen der Bourgeoisie? schon 1928 karikierte:

?Wenn man Rhabarber nachzuckert, wird er sauer.??Bei Gewitter muss man den Gashahn zudrehn.??Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird.?

Das B?se liegt so nah

Man konnte es ja in den ersten ?ffentlichen Fernseh?bertragungen im Schaufenster beim Elektroladen um die Ecke sehen: Die Kommunisten fingen wirklich an, alles kurz und klein zu schlagen. Am 25. Juni 1950 hatten kommunistische Truppen aus dem Norden die Demarkationslinie zwischen Nord- und S?dkorea ?berschritten und drangen mit Gewalt an der Sollbruchstelle der neu entstandenen Bl?cke in die freie Welt vor. Sie zu stoppen war die Initialz?ndung zur Gr?ndung der Nato: Die ganze westliche Welt bildete eine Wagenburg gegen das B?se von drau?en. Der Krieg der Welten hatte begonnen.