Verschwiegene Not - Karl Müller - E-Book

Verschwiegene Not E-Book

Karl Müller

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Inkontinenz – wieder mobil und ohne Angst! Rund 12 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einer Blasen- und Darmschwäche oder einem Reiz- darmsyndrom. Die Probleme der Betroffenen, ihre Angst und ihre Scham, werden weitgehend tabuisiert. Die meisten Betroffenen verschweigen ihre Not. Sie befürchten ein Malheur und leiden qualvoll, wenn es passiert. Die Folgen: Scham, sozialer Rückzug und Depressionen. Der diplomierte Psychologe und Verhaltenstherapeut Karl Müller bricht mit diesem Buch das Tabu und die Sprachlosigkeit. Er liefert viele praktische Hilfen, wie ein Malheur verhindert und bewältigt werden kann. Er gibt außerdem konkrete Vorschläge, wie sowohl präventiv als auch in und nach schwierigen Situationen kommunikativ mit einem Malheur umgegangen werden kann. Zudem thematisiert der Autor die gravierenden Folgen von Angstreaktionen. Er zeigt hilfreiche Strategien, wie offen mit Inkontinenz umgegangen werden kann und Mobilität und Würde zurückgewonnen werden können. Sonderteil: Wussten Sie, dass die meisten Entschei-dungen, die Sie treffen, schon feststehen, bevor Ihnen das bewusst wird? Dass Ihre Reaktionen auf Anpassung und Überleben gerichtet sind? Der Autor beschreibt dieses Verhaltens- und Therapiemodell mit Beispielen zur Inkontinenz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 172

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Karl Müller

Verschwiegene Not

Tabu Inkontinenz – praktische Tipps und Hilfen aus der Psychologie

Verschwiegene Not

Karl Müller

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor*innen bzw. den Herausgeber*innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor*innen bzw. Herausgeber*innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright-Hinweis:

Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Bearbeitung: Tobias Gaudin, Gießen

Herstellung: René Tschirren

Illustrationen: Petra Kaster, Mannheim

Umschlaggestaltung: Hogrefe AG, Bern

Umschlagabbildung: Petra Kaster, Mannheim

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2025

© 2025 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96233-7)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76233-3)

ISBN 978-3-456-86233-0

https://doi.org/10.1024/86233-000

Nutzungsbedingungen:

Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.

Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.

Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.

Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden. Davon ausgenommen sind Materialien, die eindeutig als Vervielfältigungsvorlage vorgesehen sind (z. B. Fragebögen, Arbeitsmaterialien).

Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.

Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

Geleitwort

Einführung

Teil I Tropfende Nase oder tropfende Blase: Bewertungen

1 Inkontinenz: Lieber einsam als ausgestoßen

2 Ausscheidungen und Scham: Mal so, mal so

3 Statistik: Millionen, aber keinen Gewinn

Teil II Alles über Blasen- und Darmschwäche

4 Blasenschwäche: Formen und Ursachen

5 Darmschwäche: Formen und Ursachen

6 Umsonst geschämt: Ungenutzte Möglichkeiten

Teil III Die Angst: Belastend und unterschätzt

7 Ängste: Nicht alles ist Beckenboden

8 Vermeidung und Rückzug: Anleitung zur Inkontinenz

9 Angst: Was können Sie tun?

10 Oben offen, unten (eher) dicht

Teil IV Kleine und große Hilfen für Notfälle

11 Vorsorge und Hilfen: Was tun, wenn’s passiert?

12 Reizblase: Hilfen, nicht nur für Notfälle

13 Hilfen bei Darmschwäche: Prävention und Notfall

Teil V Praktische Umsetzung und weitere Lösungen

14 Ausflüge, Einkäufe, Ärzte, soziale Kontakte, öffentliche Verkehrsmittel

15 Lebenskrisen, Stress, schmerzhafte Belastungen. Wunderheilungen. Neues Leben, neues Glück

16 Akzeptanz

Teil VI Pflege, Angehörige, Medizin, Politik und Medien

17 Pflege durch Angehörige und Pflegepersonal

18 Pflegeheime, ambulante Pflege, Kliniken, Pflegeheime

19 Ärzte und Psychotherapeuten

20 Vorschläge und Forderungen für den Medizin- und Pflegebereich und für Psychotherapeuten

21 Medien, Politik, Öffentlichkeit

Teil VII Ein neues Therapiemodell

22 Verborgene Muster

Teil VIII Anhang

Literaturverzeichnis

Adressen und Links

Dank

Über den Autor

|7|Vorbemerkungen

Der besseren Lesbarkeit wegen wurde die übliche grammatikalische Schreibform gewählt. Selbstverständlich sind jeweils alle Geschlechter gemeint.

Beispiele wurden anonymisiert und so verändert, dass die Identität der Betroffenen geschützt bleibt.

Die aufgeführten Tipps wurden fachlich überprüft. Beachten Sie Hinweise, dass gegebenenfalls eine ärztliche Beratung erforderlich ist.

|9|Geleitwort

Unsere Ausscheidungen, so lernen wir es in der frühen Kindheit, gehören zu den intimen Verrichtungen des Menschen. Wenn wir einen Drang verspüren und diesen nicht aufschieben können, gehen wir zur Toilette. Bis wir dort sind, halten wir dank der Körperkontrolle die Ausscheidungen ein. Was nun hinter der verschlossenen Tür passiert, gehört keinesfalls in die Öffentlichkeit. Es ist tabu. Die gesellschaftlichen Regeln wurden gelernt und werden beherzigt. So weit, so normal.

Doch was passiert, wenn die Kontrolle über Blase und Darm aufgrund einer chronischen oder akuten Erkrankung verloren geht, die Betroffenen zeitweise oder dauerhaft inkontinent sind?

Durch die nicht mehr kontrollierbare Inkontinenz fühlen Sie sich schutzlos, Scham- und Angstgefühle sind die Folge. Soziales, berufliches und öffentliches Leben werden gemieden oder auf das Notwendigste reduziert, nicht selten leiden Partnerschaft und Sexualität.

Weil es tabu ist darüber zu sprechen, werden mühevoll eigene Wege im Umgang mit der Inkontinenz entwickelt. Diese helfen meist wenig, verstärken die Not.

An dieser Stelle setzt das Buch „Verschwiegene Not“ an. Es zeigt, dass Sie als betroffene Person nicht allein sind mit dem Problem. Karl Müller, ein erfahrener Verhaltenstherapeut, beschreibt viele effektive, praktische und psychologische Hilfen, wie Sie die Kontrolle zurückgewinnen können. Es wird Ihnen helfen, sich wieder besser zu fühlen und am sozialen Leben teilzunehmen.

Als Pflegewissenschaftlerin setze ich mich mit dem Erleben der Betroffenen auseinander, untersuche in wissenschaftlichen Studien Möglichkeiten, gezielt und wirkungsvoll zu helfen, und engagiere mich für ein Gesundheitswesen, in dem die professionellen Helfer*innen in Medizin, Pflege und Therapie respekt- und wirkungsvoll tätig werden. Da|10|her freue mich über das Buch, das so viele hilfreiche Strategien im Umgang mit der Inkontinenz aufzeigt, und möchte es sehr empfehlen.

Es macht Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, hoffentlich den Mut, Ihr Leben über die Inkontinenz zu stellen!

Prof. Dr. Daniela Hayder-Beichel

Pflegewissenschaftlerin, Dozentin im Gesundheitswesen und Expertin auf dem Gebiet Harninkontinenz

August 2024

|11|Einführung

Ein grauer Novembertag, früh morgens. Es klingelt an der Tür unserer Gemeinschaftspraxis in Berlin. Davor steht Frau G., etwa 45 Jahre alt, die Frau eines Anwalts. Sie wirkt etwas vornehm, konventionell. Im Sprechzimmer erkundigt sie sich, sehr verlegen, nach der Lage der Toilette. Über ihr Problem befragt, berichtet sie, zeitweise unter Tränen, sie verlasse seit fünf Jahren kaum noch ihr Haus, außer zu dringenden Arztbesuchen. Sie befürchte, sich in die Hose zu machen. Die Arbeit im Büro ihres Mannes habe sie aufgegeben. Er habe sie jetzt gedrängt, sich Hilfe zu suchen. Ursache für ihr Problem sei ein schrecklicher Vorfall während eines Urlaubs in den Bergen.

Frau G. berichtet: „Früher bin oft allein verreist, es hat mir große Freude gemacht. Damals war ich mit einer Gruppe von etwa 15 Leuten auf einer geführten Bergwanderung. Als wir auf dem Gipfelplateau ankamen, bekam ich plötzlich Bauchschmerzen und Durchfall. Der Bergführer bat die ganze Gruppe, sich umzudrehen, während ich am Boden saß und mich erleichtern musste, verbunden mit hässlichen Geräuschen. Ich habe mich zu Tode geschämt und bin nach diesem Vorfall sofort abgereist. Ab da habe ich mich kaum noch aus dem Haus getraut. Bei dem Gedanken, so etwas könnte wieder passieren, gerate ich in Panik. Aber so, wie ich jetzt lebe, ist das Leben nicht lebenswert.“

Die Therapie mit Frau G. war nicht einfach, da sie sich mit zahlreichen Situationen konfrontieren musste, die sie auch früher vermieden hatte. Zum Beispiel traute sie sich auch früher nicht, fremde Menschen nach einer Toilette zu fragen. Schließlich konnte ihr die Therapie helfen. Sie arbeitet wieder, trifft Menschen, kann sich in einer weiten Umgebung bewegen, geht zum Einkaufen. Weite Reisen allein vermeidet sie nach wie vor.

|12|Frau G. entwickelte aufgrund des Vorfalls auf der Bergwanderung eine sogenannte Inkontinenzphobie: die krankhafte Angst, sich in die Hose zu machen beziehungsweise in der Öffentlichkeit die Kontrolle über ihre Ausscheidungen zu verlieren. Die Ursachen bei den meisten Menschen, die sich wegen ihrer Inkontinenz ängstigen und schämen, sind meist andere: Blasenschwäche nach einer Entbindung, Reizdarmsyndrom, entzündliche Darmerkrankungen, Beckenboden- und Schließmuskelschwäche im Alter, Prostataerkrankungen – die Liste ließe sich fortsetzen

Etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland sind von einer Inkontinenz betroffen, es wird aber eine viel größere Dunkelziffer vermutet (Patientenbeauftragter, 2023). Die meisten von ihnen leiden unter der Angst und der Scham, wenn ihnen ein Malheur passiert, oder sie befürchten es. Die meisten verschweigen und verstecken ihre Inkontinenz. Fast allen gemeinsam ist die große seelische Not, die sie genauso verbergen wie die körperliche Einschränkung. Auch für ihr soziales Umfeld und für die Gesellschaft ist das Thema tabu. Es ist eine doppelte Sprachlosigkeit und Tabuisierung, die die seelische Not verfestigt und bestärkt.

Was vergessen wird: Wir alle haben, von der Wiege bis zur Bahre, zeitweise keine Kontrolle über unsere Ausscheidungen. Die Bewertungen darüber sind jeweils unterschiedlich. Bei Babys und kleinen Kindern erscheint es als normal, wenn die Windeln voll sind. Bei Erwachsenen, die keine Kontrolle mehr haben, wird das anders bewertet. Es ist der gleiche Vorgang, aber ein anderes Erleben und eine andere Bewertung. Auch im Erwachsenenalter trifft eine gelegentliche Inkontinenz vermutlich alle Menschen, sei es wegen einer Infektion, einer Erkrankung, Volltrunkenheit oder weil keine Toilette zur Verfügung steht. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dieses Problem träfe nur alte und kranke Menschen.

Dieses Buch soll all denen helfen, die sich ungewollt in die Hose machen oder es befürchten. Ich beschreibe zahlreiche sichere Möglichkeiten, Inkontinenz zu verhindern und nicht vermeidbare Notfälle zu bewältigen. Das Tabu und die Sprachlosigkeit bei allen Beteiligten muss ein Ende haben. Ich will dazu beitragen, den von Inkontinenz Betroffenen ihre Würde zurückzugeben. Es sollte keinen Unterschied zwischen einer Herz- oder einer Blasenschwäche geben, Mensch bleibt Mensch!

|13|Wichtiges Ziel ist es, den zahlreichen Menschen, die unter einer Blasen- oder Darminkontinenz leiden, zu helfen und (befürchtete) Notfälle zu vermeiden. Wenn es dann doch passiert, gibt es effektive Möglichkeiten, damit umzugehen. Meine Hoffnung ist, möglichst vielen wieder zu Freiheit und Mobilität zu verhelfen. Dazu gibt es in diesem Buch zahlreiche Tipps beziehungsweise Vorschläge, die überwiegend einfach und praktisch umzusetzen sind.

Eine offene und tabulose Debatte ist nicht nur gesellschaftlich dringend notwendig. Ein wichtiges Anliegen ist es mir aufzuzeigen, wie ein offener Umgang mit dem Problem Inkontinenz zu einer Minderung der Ängste und damit auch der Beschwerden beitragen kann. Die Sprachlosigkeit, das Verschweigen ist doppelt und muss auf beiden Seiten geändert werden.

Verschweigen macht krank und fördert Inkontinenz. Gehen Sie häufig präventiv auf die Toilette und trinken zu wenig, so ist das eine Garantie für eine Verschlimmerung der Inkontinenz. Sozialer Rückzug führt zu Ängsten, Depressionen und kann damit die Inkontinenz verstärken. Stress und psychische Belastung sind häufig ursächlich für Blasen- oder Darmschwäche. Bei Erwachsenen wird das in der Regel nicht wahrgenommen.

Es gibt im medizinischen Bereich zahlreiche Möglichkeiten (OPs, kleine Eingriffe, Medikamente), um Blasen- oder Darminkontinenz zu beheben oder abzumildern. Diese Möglichkeiten sind den wenigsten bekannt. Sie sollten umfangreiche Verbreitung finden, z. B. in Arztpraxen. Auf diese Weise könnte vielen geholfen werden. Die Betroffenen müssten dann allerdings auch diese Beratungs- und Therapieangebote nutzen.

Im medizinisch-pflegerischen Bereich wird Inkontinenz, wie überall, tabuisiert, die Not und Verzweiflung der Betroffenen ist kein Thema. Mein Ziel ist die Wahrnehmung und Anerkennung der Inkontinenz als einer ernsten Erkrankung. Vergleichen könnte man das mit einer Schmerzerkrankung oder Diabetes: So selbstverständlich, wie Ärzte hier Fragen stellen und ihre Patienten an Fachzentren überweisen, sollte das auch bei einer Inkontinenz geschehen. Dazu bedarf es keiner aufwendigen Anamnese.

Die Beziehung zwischen Angehörigen und Pflegebedürftigen ist oft schwierig (nicht nur wegen einer Inkontinenz). Einseitige Schuldzuwei|14|sungen werden den Betroffenen nicht gerecht. In den Pflegeeinrichtungen gibt es sicher einfühlsame und fachkompetente Pflegekräfte. Doch daneben wurde in meinen Interviews übereinstimmend von Pflegekräften berichtet, die grob und ungeduldig mit inkontinenten Bewohnern umgingen. Sei es wegen Personalmangel, sei es aus Mangel an Empathie und Fachkompetenz. Auch hier herrschen weitgehend Sprachlosigkeit und das übliche Tabu. Ich will mit diesem Buch zu einem offenen und würdevollen Umgang zwischen Pflegekräften, Angehörigen und den Pflegebedürftigen beitragen.

Manche feministische Bücher über Darm- oder Harninkontinenz (Brett, 2021; Spiess, 2023) wenden sich ausschließlich an Frauen. Tenor: Nur Frauen scheinen darunter zu leiden und werden benachteiligt. Aus meiner langjährigen Praxis als Therapeut und zahlreichen Befragungen zu diesem Buch ergibt sich ein anderes Bild: Männer leiden unter Inkontinenz und Angst vor Bloßstellung genauso heftig wie Frauen. Die Abwertung und das Gegeneinander schaffen noch mehr seelische Not. Es ist sinnvoller, vorhandene Unterschiede aufzugreifen und zu beheben.

Mein Ziel ist es, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen, politischen und medialen Tabuisierung des Themas zu beizutragen. Inkontinenz als behandlungstechnisches Thema wird zunehmend in den Medien dargestellt. Das ist eine positive Entwicklung. Dass Millionen Menschen – überwiegend Frauen – in ihren Exkrementen sitzen bleiben und große psychische Not leiden, darüber herrscht jedoch weiterhin umfassendes Schweigen und Ignoranz. Das ist verheerend und muss sich dringend ändern. Die öffentliche Diskussion sollte sich endlich auf ein Problem richten, das für viele Menschen große Not und Ausgrenzung zur Folge hat.

Außerdem finden Sie in diesem Buch einen Überblick über die verschiedenen Formen von Blasen- und Darmschwäche. Wer keine Kenntnis über die Art seiner Erkrankung hat, kann auch nicht gezielt dagegen vorgehen oder behandelt werden. Die Psyche, die Angst und anhaltender Stress spielen eine wichtige Rolle bei der Blasen- oder Darmschwäche und werden deshalb ausführlich dargestellt. Zudem beschreibe ich die geschichtliche und aktuelle Bewertung von Ausscheidungen und Schamgefühlen, die jeweils höchst unterschiedlich sein können.

Dieses Buch richtet sich ausdrücklich auch an die vielen Menschen, die ihre Scham und Angst nicht überwinden können. Nicht jedem ist es |15|möglich, offen mit diesem Problem umzugehen. Die Gründe können in der individuellen Geschichte und Prägung der Betroffenen liegen. In erster Linie sind es jedoch die kulturell-gesellschaftlichen Normen und die Annahme, vermeintlich von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, wenn man sich in Gegenwart anderer Menschen in die Hose macht. Dann erscheint es verständlicherweise einfacher, sich selbst zu isolieren und zu versuchen, das Ganze zu verstecken. Man ist einsam, hat aber noch das Gefühl, Teil der Gemeinschaft zu sein. Es ist keine „falsche Scham“, die die Betroffenen davon abhält, sich zu öffnen, sondern es sind begründete und nachvollziehbare Ängste.

Ein neues Therapiemodell: Bei der Arbeit zu diesem Buch bin ich auf einen weitgehend unbeachteten Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens gestoßen (Feldman Barrett, 2023b): Über MRT-Aufnahmen wurde nachgewiesen, dass unser Verhalten unbewusst gesteuert wird, Sekunden oder Sekundenbruchteile, bevor uns das bewusst wird – im Sinne einer Überlebens- und Anpassungsreaktion. Unter anderem daraus habe ich ein neues Verhaltensmodell und Therapiekonzept entwickelt. Dieses Modell bezieht die in diesem Buch beschriebenen Probleme ein, erklärt allgemein menschliches Verhalten und psychische Störungen wie Ängste und Zwänge.

Warnung: Dieses Buch ist kein Allheilmittel, es wird nicht allen helfen können. Es gibt viele, oft verborgene Gründe, warum jemand etwas nicht kann oder nicht will. Selbst wenn Sie hoffentlich viele Situationen bewältigen können, wird es immer mal wieder ein Malheur geben. Vielleicht schämen Sie sich dann und sind verzweifelt. Das darf sein und ist völlig normal.

|17|Teil I Tropfende Nase oder tropfende Blase: Bewertungen

Die Überschrift für diesen Teil ist angelehnt an ein Zitat bei Schön und Seltenreich (2017).

|19|1  Inkontinenz: Lieber einsam als ausgestoßen

Der Anlass, dieses Buch zu schreiben, hatte zwei Gründe. Als Psychotherapeut wurde ich immer wieder mit dem Problem der Inkontinenz konfrontiert, überwiegend im Zusammenhang mit Panikattacken. Zudem kamen Menschen mit einer Colitis- oder Morbus-Crohn-Erkrankung, die wegen Depressionen und Ängsten behandelt werden mussten. Im Verlauf der Therapie ging es dann auch um den Umgang mit Inkontinenz und um die schmerzhaften Folgen ihrer Erkrankung.

Zweiter Grund: Ich leide seit vielen Jahren selbst unter einer Colitis und war oft der Situation ausgesetzt, mir beinahe oder tatsächlich in die Hose zu machen. Ich weiß also, wovon ich spreche, wenn die Freunde spazieren gehen, Ausflüge machen oder Veranstaltungen besuchen und ich zu Hause bleibe, weil der Darm rebelliert. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Freunde und Verwandte dich besorgt nach dem Herzinfarkt fragen und in zwanzig Jahren niemand fragt, wie es dir mit deiner Darmerkrankung geht. Um gerecht zu bleiben: Einerseits wünsche ich es mir und andererseits fürchte ich es. Ich würde möglicherweise bei dieser Frage vor anderen in Tränen ausbrechen, und das ist ja auch schon ähnlich peinlich wie Inkontinenz, egal ob jemand manchmal darüber verzweifelt ist oder ob er/sie sich „nur“ schämt.

An den Anfang dieses Kapitels möchte ich die Berichte von zwei jungen Frauen stellen, die in ihren Büchern sehr eindrucksvoll ihr Leiden, ihre Depressionen und ihre Verzweiflung schildern. Karina Spiess, die unter einem Reizdarmsyndrom leidet, schreibt:

Die banalsten Dinge fühlten sich plötzlich gefährlich an: einkaufen, essen und feiern gehen, Busfahren, Spaziergänge, Arztbesuche – jede Situation, in der ich das Haus verlassen musste, war eine große Herausforderung. … Es ist wie eine riesige Welle, die über mir zusammen|20|bricht. … Ich zittere am ganzen Körper, mir ist schwindelig, ich weine … und es fühlt sich so an, als würde ich sterben. … Diese Panikattacken hängen bei mir mit der Angst zusammen, nicht rechtzeitig eine Toilette zu finden, und mit dem Schamgefühl, aufgrund der Darmbeschwerden. (Spiess, 2023, S. 57f.)

Luce Brett („Ich bin nicht ganz dicht“) leidet unter einer Harninkontinenz:

Auf einer Weihnachtsfeier passiert es, dass ich plötzlich mitten in einem vollbesetzten Restaurant in einer riesigen Pfütze stehe, meine Beine voll mit warmem Pipi. Ich versuche die Situation zu retten, indem ich mein Weinglas mit so viel Wucht auf den Boden werfe, dass die Scherben und Splitter alle ablenken. Ich verspritze mein Getränk, so dass meine Beine nun voller Prosecco sind, der hoffentlich den Geruch überdeckt. Es ist immer noch besser, als tollpatschig oder stinkbesoffen angesehen zu werden, denn als inkontinent … und helfe dabei, alles aufzuwischen, bevor ich mit meinen durchgeweichten Schuhen davonstöckele. (Brett, 2021, S. 168)

An anderer Stelle beschreibt sie, wie sie an einem Tag, an dem sie besonders verzweifelt war, mit dem Gedanken gespielt habe, vom Balkon zu springen (Brett, 2021).

In beiden Büchern werden zahlreiche Situationen beschrieben, die von Inkontinenz, öffentlicher Bloßstellung, Angst, tiefer Verzweiflung und fehlendem Lebensmut geprägt waren. Beide Autorinnen haben – nach langer Leidensgeschichte – ihre Geschichte öffentlich gemacht. Aber: „Wir mögen das anatomische Tabu gebrochen haben, doch niemand spricht über die seelischen Nöte!“ (Brett, 2021).

Zum Problem der Inkontinenz führt die Autorin eine Studie an, nach der mehr als zwei Drittel (68,9 %) aller ernsthaft erkrankten Patienten Urin- oder Stuhlinkontinenz als genauso schlimm ansahen wie den Tod (Brett, 2021). Ich halte diese Zahl nicht für realistisch. Viele Menschen mit einer Blasenschwäche oder die Bewohner von Pflegeheimen haben sich, trotz Not und Einschränkung, mit ihrer Erkrankung einigermaßen arrangiert. Die Angst, die Scham und die Not bleiben. Meine Erfahrung während langer Therapietätigkeit: Es gab immer wieder Patienten, die Suizidgedanken aufgrund ihrer Blasen- und Darmschwäche äußerten. |21|Gleichzeitig wurden sie, wie viele andere auch, von andauernden Ängsten, schweren Depressionen und Panikzuständen gequält. Auch in der Fachliteratur wird immer wieder auf die folgenschweren psychischen Auswirkungen nach dem Verlust der Blasen- und Darmkontrolle verwiesen (Schön & Seltenreich, 2017).

Es sei an dieser Stelle noch einmal betont: Anders als feministische Autorinnen wie Luce Brett und Karina Spiess meinen, leiden Männer gleichermaßen unter Inkontinenz und psychischer Not. Laut Statistik sind aber mehr Frauen von diesem Leiden betroffen, besonders von der Blasenschwäche. Es gibt jedoch viele Männer – unter anderem mit Prostataproblemen, Darmerkrankungen, altersbedingter Schwäche oder mit einer Panikerkrankung –, die genauso leiden und sich zurückziehen, weil sie sich in die Hose machen oder es befürchten. Sicher gibt es zahlreiche Unterschiede in der Behandlung, im Umgang und in der Bewertung von Frauen und Männern, das sollte berücksichtigt werden.

Männer tun sich nach meiner Erfahrung sowieso schwer mit der Offenbarung seelischer Nöte. Nicht erkannte Depressionen sind folgenschwer, Suizide bei Männern zahlreicher als bei Frauen.

Allgemein offenbart kaum einer der Betroffenen das Problem mit der Inkontinenz, auch nicht Ärzten und Fachärzten gegenüber. In den Pflegeeinrichtungen, in denen das dann offenkundig wird und versorgt werden muss, herrscht beiderseitiges Schweigen über die psychische Not (Kummer, 2011).

Schuldgefühle