Vertraute Welt - Hwang Sok-yong - E-Book

Vertraute Welt E-Book

Sok-yong Hwang

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Beschreibung

Am Rand der südkoreanischen Metropole Seoul liegt die "Blumeninsel", eine gigantische Müllhalde, Lebensgrundlage und Wohnstätte einer Kolonie von Ausgestoßenen. Hier landet der Held des Romans, der 14-jährige "Glupschaug", zusammen mit seiner Mutter, für die sich ein in der Hackordnung weit oben stehender Müllhaldenbewohner interessiert. Dieser "Baron" ist für den Helden eine verhasste Stiefvaterfigur. Mit "Glatzfleck", dem Sohn des Barons, freundet sich "Glupschaug" jedoch an und lernt von ihm alles, was man zum Überleben wissen muss. "Vertraute Welt" ist eine Kritik an der modernen Wegwerfgesellschaft. Der Roman zeigt, was hinter dem raschen wirtschaftlichen Aufstieg eines Landes steckt, das Menschen ebenso aussondert wie Müll. Unverhofftes Opfer des zweifelhaften Fortschritts ist auch eine Bande altkoreanischer Kobolde, mit denen sich "Glupschaug" und "Glatzfleck" anfreunden. Für die beiden Jugendlichen wendet sich damit das Blatt, zumindest vorerst …

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EUROPA VERLAG

HWANG SOK-YONG

VERTRAUTEWELT

ROMAN

Aus dem Koreanischen übersetzt von Andreas Schirmer

Die koreanische Originalausgabe ist unter dem Titel Natigeun Sesang erschienen.

© Hwang Sok-yong 2011

Der Druck dieses Buches wurde durch die finanzielle Unterstützung des Literature Translation Institute of Korea ermöglicht.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2021© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Europa Verlagin der Europa Verlage GmbH MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von © mauritius images / Junoh Sung / AlamyÜbersetzung: Andreas SchirmerRedaktion: Franz LeipoldLayout & Satz: Danai AfratiKonvertierung: BookwireISBN 978-3-95890-304-3eISBN 978-3-95890-304-3Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

INHALT

KAPITEL 1

Blaue Lichter

KAPITEL 2

Schrumpels Haus

KAPITEL 3

Buchweizen-Gelee

KAPITEL 4

Märzsonne und Augustsonne

KAPITEL 5

Super Mario

KAPITEL 6

Saison der Sicherheit

KAPITEL 1

Blaue Lichter

Am anderen Ufer lagen Felder, und dahinter war die Sonne schon am Untergehen. Einmal kurz nicht hingeschaut, und die monströs große Feuerkugel war scheinbar in ein Loch gefallen. Der Lastwagen hatte die Vorstädte hinter sich gelassen und brauste auf der Flussufer-Autobahn dahin; doch mit der Brücke in Sichtweite kam der Verkehr auf einmal zum Stehen. Irgendwann ging es wieder etwas vorwärts, aber weiter vorn musste ein Stau sein.

Der Junge stand gleich hinter dem Fahrersitz und hielt sich am Eisengestänge fest, das die Ladefläche umrahmte. In Fahrtrichtung hatte er alles im Blick, den Fluss wie auch die Straße. Im Osten der Stadt hatte er zusammen mit seiner Mutter diesen Laster bestiegen, der sich nun inmitten einer ganzen Wagenkarawane langsam vorwärtswälzte, zwischendurch jedoch immer wieder völlig zum Stillstand kam. Im Schneckentempo verließen sie die Autobahn. Der unasphaltierte Weg, auf den sie einbogen, folgte einem hier abzweigenden schmalen Seitenarm des Flusses. Am westlichen Himmel schimmerte noch das Abendrot, aber in ihrer unmittelbaren Umgebung breitete sich zusehends die Finsternis aus. Im Norden, am anderen Ufer des Seitenarms, schmiegte sich ein kleines Dorf an einen bewaldeten Hügel: alle Fenster erleuchtet, heimelige Lichter. Der Junge war sich sicher, dass irgendwo in einem solchen Dorf das Haus stand, das für ihn und seine Mutter bestimmt war.

Im Dämmerlicht zeigte sich hohes Schilfrohr, das entlang des Seitenarms wucherte. Der Wind ließ es tanzen; und auf einmal stellte sich das Gefühl ein, in einem fernen, fremden Land zu sein. Die Laster blendeten ihre Scheinwerfer auf, aber sie mussten sich nun durch dichte Staubwolken kämpfen. Plötzlich vollführte der Weg eine scharfe Kehre, weg von den heimelig erleuchteten Fenstern des Dorfes, und es ging sehr steil bergan. Etwas wie Getreidekörner spritzte jetzt aus der Finsternis immer wieder ins Gesicht der Passagiere. Neben dem Jungen und seiner Mutter waren das drei Männer und zwei Frauen. In der Müllsammelstelle im Osten der Stadt hatten sie diesen ohnehin schon übervoll beladenen Laster erklommen und sich ihre Plätze erstritten. Mit passenden Plastikteilen als Sitzkissen unter dem Hintern, Plastikplanen zum Schutz um Unterleib und Beine gewickelt, hatten sie sich ans Gestänge geklammert, das die Fracht zusammenhielt. Vom Antritt der Fahrt an waren sie von Abfall umgeben, sodass sie den stechenden Dunst, der nun näher kam, zunächst gar nicht wahrnahmen. Nachdem der Laster es aber bis nach oben geschafft und auf einer geräumigen freien Fläche angehalten hatte, raubte ihnen der Gestank schier den Atem. War es Dung, war es Jauche, war es irgendein fauliger Fraß, war es übergorene Bohnenpaste mit verbrannter Sojasauce – egal, lauter üble Gerüche dieser Art hatten sich zu einem unerträglichen Pesthauch vermengt. Und was sich in der Dunkelheit an ihre Gesichter, ihre Hände, ihre Kleider heftete, was um sie herumschwirrte, was frech ihre Mundwinkel und Augenlider besetzte, um die Gegend mit kalten, klebrigen Rüsseln zu erkunden, das waren Schmeißfliegen.

Seinen Namen verriet der Junge nie. Schon gar nicht seinen Familiennamen. Die Wichte, die brav in die Schule gingen, liebten es, einander laut mit vollem Namen zu rufen, aber derlei war nur peinliches Grundschülergehabe. Er war jetzt dreizehn, doch auf der Straße rundete er sein Alter auf fünfzehn auf. In einem kritischen Moment, als ein paar ältere Burschen mal seine Schambehaarung in Augenschein nehmen wollten, hatte er einen von ihnen mit einem Kopfstoß so heftig gerammt, dass diesem ein Schneidezahn abbrach. Klar, er wurde verprügelt, blutete aus beiden Nasenlöchern, und wahrscheinlich hatte man ihm auch eine Rippe gebrochen, denn einen Monat lang spürte er bei jedem Atemzug ein Stechen und Kribbeln im Brustkorb. Aber immerhin hatte er sein Gesicht nicht verloren. Die anderen Straßenkinder hatten diverse Spitznamen für ihn. Hüpfer, Storch oder auch Glupschaug. Zum Hüpfer war er gekommen, weil er als talentierter Weitspringer von seinem Lehrer in der vierten Klasse einmal »Grashüpfer« genannt worden war; das Gras blieb dann irgendwann liegen, der Hüpfer aber hängen. Was den Storch anbelangte, so war damit nichts Vornehmes wie ein Kranich oder Reiher gemeint; nein, im Sinn hatte man dabei nur einen komischen Vogel mit langem Hals, langen Beinen und großer Flügelspannweite. Hüpfer und Storch sagten ihm überhaupt nicht zu, aber mit Glupschaug konnte er etwas anfangen. Auf diesen Namen hatte ihn seinerzeit im Viertel, aus dem er herkam, einmal ein Polizist getauft. Sie hatten sich damals einen Spaß daraus gemacht, die Fenster der Dienststelle mit Steinwürfen in Scherben zu schmeißen und dann schnell wegzurennen, aber leider wurden ein paar von ihnen geschnappt, darunter auch er. Man ließ sie auf den Knien schmoren. Unzählige Male hieb der vernehmende Wachtmeister mit einem dicken Aktenbündel auf ihre Köpfe ein, und wer ihn komplett zur Raserei brachte, das war der mit den langen Beinen: »So ein glupschäugiger Teufel, was glotzt du mich an? Ich reiß sie dir gleich aus, deine Glupscher. Bring deinen Vater her, du Satan.« Seither verpasste der Junge jedem aus seiner Bande, der es wagte, ihn anders anzusprechen, eine gnadenlose Tracht Prügel; und auch sonst bestand er fortan unter Gleichaltrigen darauf, nur noch Glupschaug tituliert zu werden. So hob er sich von den verwöhnten Pinkeln aus den Apartmenthäusern ab, aber nicht nur das. Er hatte sich diesen Spitznamen verdient wie eine Marke am Kerbholz und konnte damit prahlen wie die Erwachsenen mit ihren Knast-Tattoos.

Im fünften Grundschuljahr stellte Glupschaug nach dem ersten Semester den Schulbesuch ein. Seine Mutter hatte in einer Marktzone einen Fleck am Gehsteig ergattert, auf dem sie ihre Waren auslegen konnte; damit verdiente sie gerade mal so viel, dass es für die Fixkosten reichte: die Miete eines Zimmers (oder eigentlich nur eines Bereichs in einem mehrfach abgeteilten Raum) oben am Berghangslum sowie drei Mahlzeiten am Tag. Glupschaug strolchte mit seinesgleichen in den Gassen am Berg herum, aber irgendwann begleitete er seine Mutter zum Markt und heuerte bei den Textilien als Laufbursche an. Die Kleiderläden waren an der Hauptstraße in ansehnlichen Gebäuden untergebracht, die Werkstätten jedoch in den finsteren Gassen dahinter. Die Ladenbesitzer hatten dort Räume angemietet; pro Laden schneiderten und nähten rund um ein paar Nähmaschinen jeweils gut ein halbes Dutzend Leute. Glupschaugs Job war es, zwischen den Werkstätten und Verkaufsläden hin und her zu rennen, den Läden Nachschub zu liefern oder für die Werkstätten Material, Stoffe, Zwirn, Knöpfe zu holen. Botendienste dieser Art. Eines Tages, es war schon recht finster, kam er nach Feierabend zum Standplatz seiner Mutter. Alle Marktfrauen waren am Zusammenpacken, aber seine Mutter war nicht zu sehen.

»Ist meine Mutter wo hingegangen?«

Eine der Marktfrauen wollte ihn aufziehen. »Mir scheint gar, deine Mama geht fremd«, scherzte sie mit heiserem Lachen, aber die daneben sagte: »Wie’s ausschaut, ist dein Papa wieder da.«

»Mein Papa?«

Die Frau erklärte ihm den Weg, und so rannte er dorthin, wo die Gaststuben waren. Dort erfüllte der Duft von Blutwurstsuppe und gebratenem Fisch die engen Gassen. Glupschaug spähte in die verschiedenen Kaschemmen links und rechts, bis er seine Mutter entdeckte, die einem Mann gegenübersaß. Er sah nur den Rücken, nicht das Gesicht. Die Person trug eine Militärjacke und hatte eine blaue Baseballkappe auf. Unschlüssig betrat Glupschaug die Gaststube. Seine Mutter bemerkte ihn und winkte ihn zu sich. Zögernd trat er näher und wollte sich überzeugen, dass da wirklich sein Vater saß, da wandte sich der Mann um, mit ausgestrecktem Arm, um Glupschaugs Kopf zu tätscheln. Glupschaug wich aus und trat einen Schritt zurück. Das war nicht sein Vater!

Kurz aus dem Konzept gebracht, zog der Mann seine Hand wieder zurück: »Da schau dir einer an, wie groß der geworden ist. Der Krabbler in der Strampelhose – mir ist, als wär’s erst gestern gewesen …«

»Tu schön grüßen. Das ist ein Freund von deinem Vater.«

Mit kaum der Andeutung eines Nickens nahm Glupschaug neben seiner Mutter Platz, um den Mann gründlich zu mustern. Große leuchtende Augen, eine große wohlgeformte Nase – soweit eigentlich ein guter Eindruck, aber unter dem linken Auge begann ein muttermalähnlicher bläulicher Fleck, der sich fast über die ganze Wange zog. Irgendwo hatte Glupschaug diese Visage schon einmal gesehen. Ja, richtig! Der Mantel halb blau, halb violett, das Gesicht auf der einen Seite blass, auf der anderen dunkel, ein langes, spitzes Kinn: Das war doch der Baron Ashura. Dem Höllenfürsten Dr. Hell seine rechte Hand, immer wieder besiegt vom Hüter der Gerechtigkeit, Mazinger Z, aber trotzdem stets neues Unheil anzettelnd. Unwillkürlich packte Glupschaug eine wilde Streitlust; er ballte die Fäuste und durchbohrte den Baron mit seinen Blicken.

»Es ist nur eine Baracke, weil sie nur dir gehört und sonst niemandem. Und du verdienst an einem Tag dreimal so viel wie hier. Wo findest du heutzutage was Besseres?« Der Mann wiederholte immer wieder das Gleiche, und Glupschaugs Mutter nickte dazu fortwährend, völlig in seinem Bann. Am Ende meinte sie: »Wann und ob sein Vater jemals wieder rauskommt, das kann ja niemand sagen … Wenn du mir die Konzession verschaffst und die Registrierung durchbekommst, gibt’s kein echtes Hindernis mehr.«

Die geballten Fäuste am Tisch fixierte Glupschaug den Mann die ganze Zeit aus funkelnden Augen. Der aber wandte sich ihm nur zwischendurch einmal kurz zu und fragte ihn: »Wie alt bist du denn?«

In Anwesenheit seiner Mutter konnte Glupschaug nun nicht gut behaupten, er sei schon fünfzehn, und darum sagte er lieber gar nichts. Seine Mutter sprang ein:

»Dreizehn ist er.«

Der Mann spielte übertrieben lang den bass Erstaunten, die Klappe weit offen. »Nanu, so groß und stark und erst dreizehn?«, meinte er schließlich. »Wenn jemand fragt, sagst du einfach, du bist fünfzehn.«

Glupschaug fühlte sich entwaffnet und stammelte verlegen: »Meine Freunde sind alle schon fünfzehn.«

»Sehr gut, dann sagen wir Mittelschulabsolvent. Jedenfalls registriere ich dich, meine Liebe, für die erste Reihe, und wenn er dahinter das Sortieren erledigt, verdient ihr zusammen das Doppelte von dem, was die anderen schaffen.«

Zu Hause schwebte Glupschaugs Mutter immer noch auf allen Wolken, sodass sie keinen Schlaf fand.

»Ich hatte mir gerade noch solche Sorgen gemacht, weil uns der Vermieter gekündigt hat, aber jetzt ist es Glück im Unglück. Ein Arbeitsplatz und eine Bleibe, die nichts kostet. Endlich einmal durchatmen!«

Glupschaugs Eltern waren zusammen in einem Waisenheim aufgewachsen. Sein Vater riss früh aus, zog kreuz und quer durch die Stadt und schloss sich irgendwann einem der Trupps an, die sich damals bildeten, um im Auftrag der Bezirksmagistrate Wertstoffe zu sammeln. Er hätte es gern zum unabhängigen Schrotthändler gebracht, aber irgendwann wurde ihm immerhin die Verantwortung für einen kleinen Rayon übertragen. Zu diesem Zeitpunkt holte er dann auch die spätere Mutter von Glupschaug aus dem Waisenheim, die dort – quasi damals schon eine alte Jungfer – die Verantwortung für die Betreuung der Kinder im Vorschulalter übernommen hatte.

Von Haus aus kam bei Schrottsammlungen immer auch vieles zusammen, das noch völlig intakt war. Und auch Diebesgut wurde den Schrottsammlern oft in Kommission gegeben. Das hatte nicht selten zur Folge, dass man letzten Endes Leute aus den Sammeltrupps des Diebstahls bezichtigte. Häuften sich nun in einem bestimmten Rayon einmal die Diebstähle, dann wurde ganz routinemäßig der zuständige oberste Schrottsammler in die Wachstube bestellt und aufgefordert, einen Sündenbock zu bestimmen. Wer schon ein, zwei Mal gesessen hatte, opferte sich dann unter Umständen, um die Auslieferung eines noch Unbescholtenen zu verhindern. Hatte man den Knast hinter sich gebracht, kannte man weniger Hemmungen und ließ öfter mal ein bisschen Material mitgehen, das wirklich etwas einbrachte, wie eiserne Eingangstore, Kupferdrähte, Aluminiumverkleidungen und dergleichen. Außerdem kam man als Schrottsammler ja viel herum; bei einem leer stehenden Haus war die Versuchung, Wertstoffe zu plündern, oft unwiderstehlich.

In dem Jahr, als Glupschaug die Schule schmiss, ging sein Vater verschollen. Oder eigentlich war es ja umgekehrt so, dass zuerst sein Vater verschwand und damit die echten finanziellen Schwierigkeiten begannen, weshalb er schließlich aufhörte, in die Schule zu gehen. Es war schon früher vorgekommen, dass sein Vater wochenlang nicht nach Hause zurückkehrte. Dann warteten sie eben geduldig in der Annahme, dass man ihn wohl wieder eingebuchtet hatte. Tatsächlich wurden sie letzten Endes immer zur Bezirkspolizei oder auch nur ins nächste Wachzimmer bestellt, wo man ihnen mitteilte, ein gewisser Jemand befinde sich gerade in Haft, und zwar dort und dort; aber diesmal hielt die Funkstille an. Irgendwann kam allerdings ein jüngerer Arbeitskollege von Glupschaugs Vater mit der Kunde, man habe den Pechvogel in ein Umerziehungslager gesteckt. Der neue General hatte bei seiner Machtergreifung ja eine Reinigung der Gesellschaft versprochen. Gangster, Gewohnheitsverbrecher, Kleinkriminelle waren nun sowieso dran, aber beispielsweise auch die furchteinflößenden Tätowierten, überhaupt alle, die ihren Mitmenschen ein Dorn im Auge waren und die allgemeine Harmonie störten. Solche Leute wurden ohne Ansehen des Alters aufgegriffen, für eine bestimmte Zeit umerzogen und geläutert wieder entlassen – so jedenfalls ging das Gerücht. Unzählige Leute verschwanden und bekamen nun wohl in den Umerziehungslagern, die in allen Provinzen aus dem Boden gestampft wurden, eine Ausbildung zu neuen Menschen.

Auch schon davor waren sie nicht im Überfluss geschwommen, aber Hunger hatten sie nie gelitten; nun aber beschäftigten sich Glupschaug und seine Mutter ausschließlich damit, genug für gerade mal drei Mahlzeiten am Tag zusammenzukratzen. Als er sich noch zum Schulbesuch herabließ, wurde er von denen aus den ordentlichen Wohnsiedlungen manchmal als Aasfresser oder Bettelmann verspottet, und jedes Mal schwang er dann seine langen Glieder, um auf die Lästermäuler einzuprügeln, bis sie sich winselnd am Boden wanden.

Der Fahrer hatte sein Fenster nach unten gekurbelt und trieb sie zur Eile an: »Zeit ist Geld. Alle absteigen.« Die Passagiere kletterten vorsichtig von der Ladung herunter und halfen einander, ihre Habseligkeiten und Umzugsbündel herunterzulassen. Um ihnen Beine zu machen, stieg der Fahrer im Leerlauf scharf aufs Gas, sodass der Auspuff giftigen Ruß ausspie. Alsbald tauchten aus der Dunkelheit Astronauten auf. Hohe Gummistiefel, neben Mützen aller Art oft auch Baustellenhelme, eine Stirnlampe umgeschnallt, wie Kumpel in der Mine, an beiden Händen reißfeste Gummihandschuhe, vorm Gesicht Masken aus mehreren Lagen Stoff. Einer der Astronauten kam auf sie zu und legte sein Gesicht frei, aber auch ohne Maske erkannten sie ihn nicht sofort.

»Ich bin’s, ich. Hier entlang.«

Als sie diese Stimme hörte, packte Glupschaugs Mutter ihren Sohn an der Hand und zog ihn zu sich heran. Der Baron warf sich das zusammengerollte und fest verschnürte Bettzeug auf die Schulter, als wäre es federleicht, nahm die Tragetasche in die andere Hand und stapfte voraus. Glupschaug und seine Mutter ergriffen jeweils einen Henkel des Bottichs, der ihren Hausrat enthielt, und stolperten hinterher. Mit jaulenden Motoren, gewaltige Staubwolken aufwirbelnd, erklommen die Lastwagen weiter die Anhöhen der Deponie, aber wieder etwas haldenabwärts flackerten Lichter. Beim Näherkommen stellte sich heraus, dass die Objekte, die diese Lichter bargen, die mannigfaltigsten Hütten und Baracken waren. Es gab zeltartige Behausungen ganz aus Planen und solche, bei denen man schlecht und recht ein Grundgerüst aus Latten und Brettern aufgestellt hatte, um es mit einem Flickwerk aus Plastikhäuten zu bespannen, aber auch solche, die aus allen möglichen Ladenschildern und Pappdeckeln zusammengeschustert waren. Der Abstand zwischen den einzelnen Bauwerken reichte meist gerade einmal aus, dass sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Schier endlos erstreckten sie sich in die Dunkelheit hinein. Die Fronten waren alle auf einen Lehmweg ausgerichtet, der in etwa so breit wie eine einzige Fahrspur auf einer Autostraße war. Da aus all diesen niedrigen Hütten durch wenigstens ein Plastikfolien-Fenster ein Lichtschein drang, musste man davon ausgehen, dass dies tatsächlich alles menschliche Behausungen waren. Zwischendurch hatte man aber doch ab und zu einen Flecken unbebaut gelassen. Auf einem brannte nun ein offenes Feuer, Männer standen darum herum, es wurde gekocht oder gegrillt, und dabei trank man Makgeolli oder Soju. Der Baron ging geradewegs auf die Männer zu und stellte allen Glupschaugs Mutter vor.

»Das hier ist quasi meine Schwester. Sie ist ganz offiziell registriert, deshalb betrachtet sie als Familienmitglied.«

»Also verkleinert sich mein Stück vom Kuchen, so ist es doch.«

Glupschaug, der sich im Hintergrund hielt, wurde von den Männern überhaupt nicht beachtet. Einer platzierte eine als Kochtopf dienende Konservendose über dem Feuer, in das er hineinpustete, um es weiter anzufachen. Dabei schnitt er Grimassen und ließ sich seinen Ärger anmerken, darum hielt der Baron dann doch mit Autorität fest, seine Schwester habe die entsprechenden Rechte ganz ordnungsgemäß erworben. Damit hatte er ein Machtwort gesprochen, fast wie eine amtliche Verlautbarung, Stempel drauf.

»Von mir aus«, maulte einer trotzdem weiter, »in unserer Zone, da kommen wir bei den offiziell Angemeldeten jetzt schon auf die stolze Zahl von 45 Personen.«

»Kommandant«, jammerte ein anderer, »in letzter Zeit war immer weniger Spitzenware dabei, das macht mir schon Sorgen.«

»Einmal Wolken, einmal Sonnenschein, das ist nun mal ein Lebensgesetz. Jetzt passt mal auf, ich bräuchte ein paar helfende Hände. Dafür gebe ich nachher einen aus.«

»Dort, wo der alte Anstreicher gelebt hat, ist die Bude gerade frei geworden …«

»Wie lang ist das schon wieder her? Mindestens drei, vier Tage. Habe vorher mal geschaut, da war alles Brauchbare schon weg.«

Glupschaug und seine Mutter folgten den drei Männern. Von der sozusagen frei gewordenen Hütte war nur mehr der Boden übrig. Auch am Linoleum hatte sich schon jemand bedient, aber zumindest die Lagen aus Wellpappe, gewonnen aus zerlegten Schachteln, waren, wenn auch nass und feucht, immer noch da. Einer der zwei Freiwilligen hob einen Karton an und stellte fest: »Das Styropor haben sie nicht angetastet.«

»Das nehmen wir mit«, sagte der Baron. »Wir bauen einfach an meine Baracke an.«

Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen und kicherten.

»Eben, eben, unser einsamer Kommandant möchte seine Schwester in der Nähe wissen.«

Der Baron tat, als habe er nichts gehört. Während die Männer die Styroporplatten einsammelten, entdeckte er doch noch ein paar verwertbare Kleinigkeiten.

»Passt. In weniger als einer Stunde haben wir die Pappe für den Untergrund und das Linoleum verlegt.«

Glupschaug und seine Mutter folgten den anderen nun leicht abwärts bis ans Ende der Gasse. Eine Ecklage, unter den gegebenen Umständen ein guter Platz. Mit einigem Abstand zur Nachbarschaft, am Rand dieser Hüttenzeile, und nicht zuletzt weit genug weg von der Rampe, auf der die Laster den Müllberg erklommen. Während die drei Männer gleich ausschwärmten, um die sonst noch benötigten Baustoffe und -utensilien zusammenzukratzen, stellten Glupschaug und seine Mutter ihr Gepäck bei der Hütte des Barons ab und kauerten sich zum Warten daneben hin.

»So ein Beschiss. Und ich hab geglaubt, wir ziehen aufs Land«, maulte Glupschaug.

Seine Mutter seufzte nur und meinte: »Auch hier leben Leute.«

»Leute, dass ich nicht lache! Das ist ein einziger Scheißhaufen voller Fliegen und Mist!« Glupschaug stieß das brutal hervor, aber seine Mutter ließ es mit gespielter Positivität an sich abtropfen:

»Alle diese Sachen bringen Geld ein.«

In der Dunkelheit sah Glupschaug nichts als finster aufragende Hügel und wusste freilich noch nicht, was es mit ihnen für eine Bewandtnis hatte. Unter Knattern und Rattern tauchte plötzlich ein schwer und turmhoch mit allerlei Gerümpel beladener Karren auf, gezogen und geschoben von insgesamt drei Männern, deren Rollen dabei wechselten. Alles Sachen aus der Müllhalde: Kanthölzer, unterschiedlich lang und stark, Lattenkisten vom Fischmarkt, Plastikfetzen aller Art, Zeltplanen von Straßenbuden, schwarzes Vlies aus Gewächshäusern, allerlei Linoleum und gemusterter Bodenbelag. Mit einem Schlag verwandelte sich der Platz vor der Baracke des Barons in eine geschäftige Baustelle. Aus den benachbarten Hütten eilten Leute herbei, die ihnen zusätzlich zur Hand gingen. Der Baron dirigierte das Werk. Zuerst wurden die Kanthölzer, die als Stützsäulen dienen sollten, auf die gleiche Länge gesägt, oder es wurde etwas angestückelt. Die Säulen wurden aufgerichtet, miteinander verbunden und gegenseitig verstrebt. Mit einem Klauenhammer wurden die Lattenkisten auseinandergenommen; die so gewonnenen Brettelemente ergaben die Wände zwischen den Säulen. Beim Annageln strebte niemand nach einem Schönheitspreis. Innen verkleidete man diese Beplankung zuerst mit Plastikfetzen, darauf heftete man Styropor, und als Deckschicht gab es eine fugendichte Tapezierung aus Pappkarton. Auf den nackten Boden kam zuerst PVC, dann Styropor, darüber auseinandergenommene Pappkartons und ganz obenauf Linoleum. Beim Dach wurden Lattenkisten-Elemente auf die Träger genagelt, darüber brachte man eine Schicht Styropor an, dann folgte Wellpappe, darüber schwarzes Vlies, dann Linoleum, und zuletzt, damit nicht alles wegflog, nagelte man auf das Ganze noch ein paar Kanthölzer zur sicheren Befestigung darauf. Den richtigen Abschluss bildete schließlich eine alte Wagenplane, die über all das gespannt wurde – und damit war nun dieses neue Quartier, dreizehn Quadratmeter groß, richtig vollendet. Da dieser Neubau direkt an die Baracke des Barons angefügt war, stellten die beiden Hütten ein Ensemble dar, eine zusammengehörige Anlage, mordsmächtig groß im Vergleich zu den sonstigen Baracken. Der Baron pflanzte eine Kerze auf einen flachen Stein und leuchtete damit den Innenraum aus. Glupschaugs Mutter kramte aus ihrem Gepäck einen Stofflumpen hervor und begann emsig, den Boden damit zu wischen, bis sich im flackernden Licht der Kerze ein buntes Blumenmuster abzeichnete. Dabei blickte sie sich andauernd um, voller Bewunderung:

»Also, das grenzt ja an Zauberei. Jetzt noch ein Kerosinöfchen, und man kann hier sogar richtig kochen.«

Der Baron nickte beruhigend mit dem Kopf auf und ab. Im Kerzenschein wirkte das große blaue Muttermal auf seiner Wange noch viel auffälliger.

»Keine Bange, haben wir alles. Jetzt aber auf. Allen knurrt doch der Magen, und Lust auf einen Schluck haben wir auch. Also los.«

Sie gingen zurück zu jener unbebauten Fläche, auf der schon ein Lagerfeuer brannte. Der Baron stattete einen der zwei Männer, die ihm beim Hausbau von Anfang bis Ende beigestanden hatten, mit ein paar Scheinen aus:

»Hol Ramen und ein paar Flaschen Soju.«

Auf dem improvisierten Herd, der aus einer halbierten Öltonne bestand, stand Kochkessel, in dem es brodelte und sprudelte. Ein würziger Duft breitete sich aus.

»Was gibt’s denn heute als Begleitmusik zum Alkohol?«, fragte der Baron. Der Angesprochene trug einen Baustellenhelm, neckisch schief aufgesetzt. Seine Auskunft war erschöpfend:

»Was wird’s geben? Schweinetrog-Universaleintopf, original nach Blumeninselart. Mit feuerscharfem Pfefferonipulver ohne Ende.«

Unterdessen war der junge Kerl, den der Baron zum Einkaufen losgeschickt hatte, schon wieder zurück und schwenkte eine Plastiktüte. Der Baron riss eine Verpackung auf und leerte zunächst einmal das getrocknete Suppenpulver in den Kessel. Als er die Nudeln folgen lassen wollte, fiel ihm der Helmträger in den Arm:

»Stopp, stopp, Kommandant! Ramen später … Fischen wir erst mal raus, was für die Beißerchen drin ist.«

»Wir haben heute einen Glückstag – mir scheint, das ist echter Schinken. Kommt wohl von der Kooperative?«

»Kleiner Deal, eine Hand wäscht die andere. Wie wär’s, Herr Kommandant, wollen Sie sich nicht auch selbstständig machen und bei der Kooperative einsteigen?«

»Weißt du, wie viel sie einem bei den Privaten für die Konzession abknöpfen?«, gab der Helmträger zu bedenken.

Der Baron machte eine saure Miene und grummelte: »Unsereinem fehlt ja auch das notwendige Vitamin B.«

»Die Sammelzonen vom Magistrat bieten doch nichts. Das Gelbe vom Ei geht immer nur an die Privaten.«

Der Helmträger zog einen verbogenen Löffel aus seiner Brusttasche und rieb ihn zwei, drei Mal am Hemdsärmel ab, um aus dem Kessel eine Kostprobe zu schöpfen:

»Leck mich, ist das gut!«

Daraufhin schöpfte der Baron zuerst Wurst- und Schinkenstücke aus dem Kessel in einen verbeulten, ziemlich verrußten Hafen, goss reichlich Suppe darauf und setzte das randvolle Gefäß schließlich Glupschaug und seiner Mutter vor:

»Also, die neuen Familienmitglieder stehen heute im Mittelpunkt. Lasst es euch schmecken und langt tüchtig zu.«

Glupschaugs Mutter kostete vorsichtig davon, dann flüsterte sie ihrem Sohn zu:

»Das schmeckt wie aus den amerikanischen Gulaschkanonen.«

Glupschaug fischte ein kleines Stückchen Wurst aus dem Topf, um zu kosten, aber dann gab es kein Halten mehr, und er löffelte mit seiner Mutter um die Wette. Die Männer schenkten einander Soju ein. Sie hatten ein paar Yakult-Fläschchen aus dem Müll gerettet. Der Halskegel wurde abgeschnitten, dann schüttelte man schnell mal Erde und Schmutz heraus – und der Trinkbecher war perfekt. Die Duftschwaden der heißen Brühe hatten schon längst Schwärme von Fliegen angezogen. Diese besetzten nun unerbittlich sofort jeden Bissen, den man mit den Stäbchen aus der Suppe angelte, ließen sich in der Folge auch kaum mehr davon vertreiben, sondern blieben meist stur hocken und schwirrten erst ab, wenn der Bissen tatsächlich in den Mund wanderte. Ja, manche Biester hielten die Stellung selbst dann noch weiter; nur die menschliche Zunge konnte sie letztendlich verjagen.

»Die Viecher wollen es immer noch wissen.«

»In der Nacht werden sie träger, aber mir scheint, das Feuer hat ihnen wieder Leben eingehaucht.«

»Scheiße, ich dachte, wenn der Sommer vorbei ist, sind wir die Biester los. Aber wenn das so weitergeht, haben wir sie zu Erntedank immer noch.«

»Alles zusammengerechnet, hat diesen Sommer sicher jeder von uns eine ganze Kürbisschale voller Fliegen gefressen.«

»Das steigert wenigstens die Potenz.«

Glupschaug hörte nicht auf, die Fliegen zu verscheuchen, aber irgendwann passierte es trotzdem: Er verschluckte versehentlich eine Fliege, die wohl zuvor in der Suppe ertrunken war. Mit großer Mühe hustete er sie wieder hoch. Der Baron portionierte die unterdessen im großen Kessel gekochten Ramen und meinte zu Glupschaugs Mutter:

»Man muss sich zuerst mal dran gewöhnen, wie wir essen und leben. Nur so ist man hier zu gebrauchen.«

Während sich die Erwachsenen gegenseitig ein Glas nach dem anderen einschenkten, machte sich Glupschaug aus dem Staub und nahm von der gerade errichteten Hütte Besitz. Seine Mutter wollte ja noch mehr über die hiesigen Verhältnisse erfahren, weshalb sie bei den Männern am Lagerfeuer blieb. Mit einem Streichholz zündete Glupschaug die Kerze an und streckte sich auf dem sauber gewischten Linoleum aus. Dieses Zimmer kam ihm eigentlich viel geräumiger und gemütlicher vor als ihr voriges Quartier. Auf einmal war ihm, als strecke jemand halb den Kopf zur Tür herein, um einen Blick auf ihn zu erhaschen; sobald er jedoch geschwind hinschaute, war der Kopf verschwunden. Glupschaug rappelte sich hoch, um die Tür im Auge zu behalten, und wie erwartet hielt die andere Seite das Spiel nicht lange durch. Wieder schob sich ein Kopf halb zur Tür herein.

»Wer ist da?«

Auf diese Frage kam keine Antwort, dafür wackelte der halbe Kopf, weil sich sein Besitzer vor Lachen schüttelte. Glupschaug rutschte auf den Knien zur Tür – ein Lattenrahmen, mit Kunststoff-Folien bespannt –, und da präsentierte sich der Spaßvogel endlich zur Gänze, triumphierend wie beim Guck-guck-Spiel. Es war ein Knabe, scheinbar viel jünger als Glupschaug. Eine zerfetzte Baseballkappe auf dem Kopf, mit dem Schirm auf die Seite gedreht. Oben ein Achselshirt, unten eine Schlotterhose aus Jeansstoff, viel zu weit, aber in der Länge zumindest grob passend gemacht.

»Wer bist du denn?«

»Sag du zuerst. Hihi.«

Glupschaug wurde ärgerlich und schnappte dem Kleinen die Kappe vom Kopf weg. Mit einem flüchtigen Blick las er etwas wie »Mittelschule« und »Baseballgruppe«, in kleinen Lettern vorn draufgestickt; und weil diese Kopfbedeckung dem Komiker eigentlich viel zu groß war, hatte jemand hinten nachträglich eine Falte eingenäht.

»Gib mir meine Kappe zurück! Gib sie sofort wieder her!«

Glupschaug dachte nicht daran; er hielt die Kappe mit der einen Hand hinter sich und wollte gerade mit der anderen dem Quälgeist eins auf Dach geben, als er bemerkte, dass seine linke Kopfhälfte komplett unbehaart war. Und die weiße Kopfhaut dort sah ganz runzelig aus. Weil der Kleine nun aber gar in Schuhen ins Zimmer eindringen wollte, warf Glupschaug die Kappe über ihn hinweg nach draußen. Dementsprechend drehte der Kleine sofort um, und Glupschaug folgte ihm. Nachdem der Knabe seine Kappe eingefangen und hastig wieder aufgesetzt hatte, spuckte er neben sich aus und zischte:

»So ein Arschloch.«

»He, es tut mir leid. Wo wohnst du denn?«

»Hie-ier!«

Mit einer Schnute deutete der Kleine zur Hütte, an die soeben Glupschaugs neue Bleibe angebaut worden war.

»Also du wohnst beim Baron … Ich meine, du wohnst beim Kommandanten?«

Der Kleine nickte und gab ungefragt noch ein wenig mehr preis:

»Der Kommandant ist mein Papa. Ich hab keine Mama, also sind wir nur zu zweit. Der Papa redet aber nichts mit mir.«

»Wieso denn nicht?«

»Er meint, ich bin ihm zu blöd.«

Wie er ja selbst sagte, war dieser Kleine wohl ein wenig unterbelichtet, aber wenn er tatsächlich der Sohn des Kommandanten war, tat man vielleicht trotzdem gut daran, sich mit ihm zu vertragen. Also deutete Glupschaug dem Kleinen an, er solle kurz mal warten, und ging in die Hütte. Dort kramte er in der blechernen Keksdose herum, in der er seit jeher seine größten Schätze verwahrte. Mit dem Großen Mazinger ging er wieder nach draußen.

»Den kannst du haben«, bot er dem Kleinen an. »Das ist ein unbesiegbarer Roboter.«

Dieser Große Mazinger stellte für Glupschaug eigentlich sowieso nur mehr eine Erinnerung an eine vergangene Zeit dar, und bei seinen Kumpanen im Berghangslum hätte er sich mit so einem kindischen Spielzeug nur zum Gespött gemacht; denen hätte er den Roboter auch nie gezeigt. Die Plastikgelenke waren zwar schon ein wenig ausgeleiert, aber die Federn, die aus Armen und Beinen Geschosse abfeuern konnten, hatten immer noch die gleiche Spannung. Es war eins von mehreren Spielzeugen, die sein Vater einmal aus einem Haufen Schrott herausgefischt hatte. Neben der Puppe waren das noch ein Rennwagen und ein Holzbaukasten gewesen. An jenem Glückstag hatte Glupschaug das alles auf einmal geschenkt bekommen, und eine Banane noch obendrein.

»Schau her, wenn man auf diesen Nippel hier drückt …«

Kaum hatte Glupschaug den Mechanismus betätigt, wurde ein Arm, geballte Faust voran, aus der Puppe herauskatapultiert. Vor Vergnügen und Begeisterung kreischte der Kleine auf und hüpfte in die Höhe. Glupschaug las den Arm vom Boden auf und steckte ihn der Puppe wieder in die Schulter.

»Wie heißt du denn?«, fragte er dabei.

»Glatzfleck, hihi.«

»Glatzfleck? Was ist denn das für ein Name?«, wunderte sich Glupschaug, aber irgendwie gefiel ihm der Kleine. Und dass man scheinbar auch hier – genauso wie im Berghangslum – einander mit Spitznamen ansprach, das war eine positive Neuigkeit.

»Wie alt bist du denn?«

Der Kleine hielt ihm beide Hände vor die Nase, alle Finger ausgestreckt. Glupschaug war ein wenig schockiert. Der Kleine war ja nur drei Jahre jünger als er selbst! Nun stieß ihm Glatzfleck mit dem Zeigefinger in die Brust und fragte:

»Und wie heißt du?«

»Ich verrat es dir: Glupschaug.«

»Glupschaug? Hihi! Aug, Aug, Glupschaug.«

Glatzfleck bog sich vor Lachen dermaßen, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Als er sich wieder im Griff hatte, deutete er mit seinem Zeigefinger wiederholt in eine bestimmte Richtung, um anzuzeigen, dass Glupschaug ihm dorthin folgen solle, und stiefelte sogleich los.

Glupschaug zögerte und rief ihm hinterher: »He, wohin willst du denn?«

Da drehte sich der Kleine abrupt um, legte einen Finger auf die Lippen und flüsterte verschwörerisch:

»Pst, großes Geheimnis … Wenn mein Vater oder die anderen Erwachsenen davon erfahren …«

»So spuck’s doch aus.«

»Komm einfach mit.«

Und so lief Glupschaug eben hinterher, diesen Weg entlang, der von Hütten und Baracken gesäumt war, die sich in Farbe und Form alle ein wenig voneinander unterschieden. Angeblich lebten hier an die zweitausend Familien. Nicht nur ebene Flächen waren mit Behausungen überzogen, auch Hänge waren in Terrassen bebaut. Alle Hütten hatten kleine Fenster aus Plastikfolien, und diese Fenster schimmerten nun vom zarten Licht der Kerzen, die den Bewohnern zur Beleuchtung dienten. Hie und da gab es mal eine freie Fläche, dort hielten die Erwachsenen ihre Trinkgelage ab, und die Kinder spielten vielleicht Verstecken, jedenfalls rannten sie wild herum. Glatzfleck ging zielstrebig voraus. Schon bald hatten die beiden die Kammlinie überschritten, die auch das Ortsende der Hüttensiedlung markierte. Kühl streiften nasse Grashalme ihre Fußknöchel. Von dem ganzen Flecken Erde hier hatte Glupschaug früher nichts gewusst. Erst in jenem Altstoffsammelzentrum im Osten der großen Stadt, wo er mit seiner Mutter den Laster bestieg, hörte er zum ersten Mal von der »Blumeninsel«. Und da glaubte er, ihr Ziel sei ein paradiesischer Platz mit Aussicht aufs Meer.