Verwaltung verstehen - Wolfgang Seibel - E-Book

Verwaltung verstehen E-Book

Wolfgang Seibel

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die öffentliche Verwaltung gehört zu den wichtigsten und zugleich am wenigsten verstandenen Institutionen der Gegenwart. Warum handelt Verwaltung einerseits pedantisch und übergenau, eben bürokratisch, andererseits aber auch bemerkenswert flexibel und pragmatisch? Warum arbeitet sie meistens reibungslos und effektiv, bringt jedoch mitunter auch dramatische Fehlleistungen hervor? Wolfgang Seibel führt in Verwaltung verstehen in grundlegende Probleme öffentlicher Verwaltung ein und zeigt, wie sie in Theorie und Praxis bearbeitet werden. Sein flüssig geschriebenes und informatives Buch richtet sich nicht nur an Fachwissenschaftler, sondern an alle, die sich für das »Innenleben« dieser so wichtigen Institution interessieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 294

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



2Die öffentliche Verwaltung gehört zu den wichtigsten und zugleich am wenigsten verstandenen Institutionen der Gegenwart. Warum handelt Verwaltung einerseits pedantisch und übergenau, eben bürokratisch, andererseits aber auch bemerkenswert flexibel und pragmatisch? Warum arbeitet sie meistens reibungslos und effektiv, bringt jedoch mitunter auch dramatische Fehlleistungen hervor? Wolfgang Seibel führt in Verwaltung verstehen in grundlegende Probleme öffentlicher Verwaltung ein und zeigt, wie sie in Theorie und Praxis bearbeitet werden. Sein flüssig geschriebenes und informatives Buch richtet sich nicht nur an Fachwissenschaftler, sondern an alle, die sich für das »Innenleben« dieser so wichtigen Institution interessieren.

Wolfgang Seibel ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und Adjunct Professor of Public Administration an der Hertie School of Governance, Berlin.

3Wolfgang Seibel

Verwaltung verstehen

Eine theoriegeschichtliche Einführung

Suhrkamp

4eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2200.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Wolfgang Seibel

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-518-74874-9

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

Einleitung: Verwaltung in der Demokratie. Effektivität und Verantwortung, Institutionalisierung und Partizipation

1. Verwaltung als Institution

2. Verwaltung als Werkzeug

3. Verwaltung als Integrationsinstanz

4. Verwaltungsautonomie und Verwaltungsverantwortung

5. Verwaltung und Ethik

6. Verwaltung als Arena

7. Verwaltung als lernende und verlernende Organisation

8. Politik und Verwaltung

9. Bürokratie, Bürokratisierung und Bürokraten

10. Komplexität und Pragmatismus in der Verwaltung

11. Alternativen zur Bürokratie? Jüngere Diskussionen in der Verwaltungswissenschaft

12. Grenzen des Pragmatismus oder: Aus Verwaltungsdesastern lernen

13. Ein Sonderweg? Zum Verständnis der deutschen Verwaltung

Literaturverzeichnis

Namenregister

7Für Christiane, ohne die ich nichts verstanden hätte.

9Vorwort

Es fehlt in der Verwaltungswissenschaft an ethnographischen Studien nach dem Vorbild »dichter Beschreibungen«.[1] Gäbe es sie, würden sie vielleicht ähnlich wie die folgende Vignette beginnen.

In der Sprechstunde eines Amtsarztes im Gesundheitsamt einer kreisfreien Stadt erscheint eine krebskranke Zollinspektorin. Sie ist seit einem Dreivierteljahr krankgeschrieben, nun geht es nach Maßgabe der einschlägigen beamtenrechtlichen Regelungen um die Frage, ob sie ihren Beruf überhaupt noch ausüben kann, und das hängt von den Genesungsaussichten ab. Diese zu beurteilen, ist Aufgabe des Amtsarztes. Die Beamtin ist 36 Jahre alt, verheiratet und hat zwei grundschulpflichtige Kinder. Der Amtsarzt weiß, dass von Genesung keine Rede sein kann und die der Zollinspektorin verbleibende Lebenszeit nur noch wenige Monate beträgt. Die Attestierung der objektiv vorliegenden Berufsunfähigkeit allerdings wäre nicht nur eine weitere schwere psychische Belastung für die Frau, sie hätte auch zur Folge, dass die Dienstbezüge und nach ihrem Tod auch die Versorgungsleistungen für die Familienangehörigen gekürzt werden würden. Mehrfach bereits wurde der Amtsarzt von der Oberfinanzdirektion (OFD) als personalbewirtschaftender Stelle gemahnt, nun endlich sein Gutachten zu liefern. Nach der letzten Mahnung dieser Art greift der Arzt zum Telefon und schildert der zuständigen Referatsleiterin der OFD den tatsächlichen gesundheitlichen Zustand der Zollinspektorin, die sich daraus ergebende Konsequenz der Berufsunfähigkeit, vor allem aber seine Entscheidungsnot angesichts der Folgen einer amtlichen Berufsunfähigkeitserklärung. Die Referatsleiterin bittet sich Bedenkzeit aus und kündigt an, ihren Abteilungsleiter um Rat zu fragen. Dieser ruft noch am selben Tag zurück und macht folgenden Lösungsvorschlag: Der Amtsarzt möge der Oberfinanzdirektion schriftlich mitteilen, dass er zur Erstellung des Dienstfähigkeitsgutachtens über die erkrankte Zollinspektorin wegen Überlastung des Gesundheitsamts und speziell seines Sachgebiets derzeit nicht in der 10Lage und daher mit der Übersendung des Gutachtens erst in etwa vier Monaten zu rechnen sei. Sowohl dem Amtsarzt als auch dem Abteilungsleiter in der OFD ist klar, dass sich der Vorgang innerhalb dieser Zeit aus den erörterten medizinischen Gründen erledigen wird, und genau so kommt es auch.

Nicht nur jede Verwaltungspraktikerin und jeder Verwaltungspraktiker, sondern jede und jeder, der oder dem der gesunde Menschenverstand nicht abhandengekommen ist, versteht diese Geschichte. Nicht nur die Abläufe und das Entscheidungskalkül der Beteiligten, sondern auch den Pragmatismus und die Verwaltungsklugheit, die darin zum Ausdruck kommen. Man kann sich in die Gewissensnöte des Amtsarztes hineinversetzen, und man darf auch die souveräne Entscheidung des Abteilungsleiters bewundern, der aus humanitären Gründen veranlasst, dass die beiden beteiligten Behörden es mit den Buchstaben des Dienstrechts und mit den Verfahrensgrundsätzen einer effektiven Verwaltung nicht so genau nehmen.

Die Verwaltungswissenschaft aber hat viel größere Probleme mit der Interpretation eines solchen Vorgangs. Was soll man aus so einer einzelnen Fallgeschichte schon lernen können? Für empirisch arbeitende Verwaltungswissenschaftler, die an verallgemeinerungsfähigen Aussagen über die Verwaltung interessiert sind, hat ein Einzelfall bestenfalls illustrativen Charakter. Die mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit ist der Standardvorbehalt nicht nur gegenüber Einzelfallstudien, sondern auch gegenüber der ethnographischen Methode, die zudem auf exakte Beobachtung setzt und so keine beliebig große Zahl von Fällen in gleicher Genauigkeit untersuchen, daher aber auch nur bedingt, wenn überhaupt, verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse zutage fördern kann. Entweder man entwickelt ein Tiefenverständnis von Strukturen und Situationen oder Handlungsabläufen, so die gängige Annahme, oder man strebt nach Erklärungen von möglichst hohem Abstraktionsgrad auf der Grundlage möglichst vieler Beobachtungen, die dann notwendigerweise nicht tiefschürfend sind.

Der Soziologe Hartmut Esser hat bereits vor einem Vierteljahrhundert verdeutlicht, wie unzureichend diese Standardannahmen sozialwissenschaftlicher Methodologie sind.[2] Verstehende und er11klärende Sozialwissenschaft schließen sich nicht nur nicht aus, sie können in eine komplementäre und somit fruchtbare Beziehung zueinander gesetzt werden. Voraussetzung ist, dass die verstehende Sozialwissenschaft nicht mit Theorieferne kokettiert und dass die Bemühungen um verallgemeinerungsfähige Erklärungen das Potenzial verstehender Beobachtung nicht ungenutzt lassen. In dieser eigentlich anzustrebenden, in der Forschungspraxis jedoch selten anzutreffenden Überlappung der jeweiligen Vorzüge von verstehender und erklärender Methode liegt die Herausforderung auch der Verwaltungswissenschaft.

Eine angemessene methodologische Problemlösungsstrategie ist auf einen angemessen kalibrierten Theoriezugriff angewiesen. Hierzu soll der vorliegende Band einen Beitrag leisten. Aus der oben wiedergegebenen »Geschichte« eines komplexen, aber alltäglichen Verwaltungsvorgangs lassen sich verallgemeinerungsfähige Schlüsse ziehen unter der Voraussetzung, dass man das spontane Verständnis, wie es die Verwaltungspraktikerin mitbringt, mit dem theoretischen Wissen des Verwaltungswissenschaftlers in Beziehung setzt. Davon haben dann im günstigen Fall beide etwas, Praxis und Wissenschaft.

So erkennt das theoretisch geschulte Auge im Verhalten des Amtsarztes und des Abteilungsleiters in der Oberfinanzdirektion ohne weiteres jene »brauchbare Illegalität«, von der bereits Niklas Luhmann in seiner unter den damaligen deutschen verwaltungswissenschaftlichen Verhältnissen bahnbrechenden Studie über Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964) geschrieben hat.[3] Man sieht den latenten Schatten der Bürokratie, wie Max Weber sie in seinem posthum zusammengestellten Werk Wirtschaft und Gesellschaft (1922) idealtypisch charakterisiert hat.[4] Man sieht die Zone der Unsicherheit, die sich vor dem Abteilungsleiter auftut und deren Kontrolle Michel Crozier in seinem Klassiker Le phénomène bureaucratique (1963) als eigentliche Machtquelle in der Verwaltung beschrieben hat.[5] Man erkennt den Sinn für 12Verantwortung, der das Handeln und Unterlassen des Amtsarztes prägte, wenn man sich Carl J. Friedrichs Abhandlung »Public Policy and the Nature of Administrative Responsibility« von 1940 in Erinnerung ruft.[6] Beide, der Amtsarzt im Gesundheitsamt und der Abteilungsleiter in der Oberfinanzdirektion, lassen sich ferner in Anlehnung an Anthony Downs (Inside Bureaucracy, 1967) als hybride Rollenträger im Spannungsfeld aus Rechtsbindung, Amtsinteresse und Humanität interpretieren, die bereit waren, für Regelverletzungen geradezustehen,[7] weil sie sich, wie Philip Selznick es beschrieben hat (Leadership in Administration, 1957) nicht nur Zweckmäßigkeiten und Dienstvorschriften verpflichtet fühlten, sondern auch professionellen und institutionellen Grundwerten.[8]

Und schließlich hilft uns ein angemessenes theoretisches Verständnis dieses Vorgangs aus dem Alltag der Verwaltung auch, darüber nachzudenken, wo die Grenzen brauchbaren, aber nicht immer regelkonformen Entscheidens in der Verwaltung liegen, wo doch dessen Vorzüge von einer ganzen Denkschule der Verwaltungswissenschaft seit Jahrzehnten gepriesen werden. Gemeint ist das Theorem der begrenzten Rationalität (bounded rationality) auf der Grundlage und in der Nachfolge von Herbert A. Simon.[9] Nicht immer haben wir es in der Verwaltung mit erfahrenen, wohlwollenden und verantwortungsbewussten Menschen zu tun, sondern, wie auch sonst im Leben, mitunter mit bequemen, sich durchwurstelnden und im Regelfall opportunistischen Individuen.

Der vorliegende Band ist aus meiner langjährigen Lehre am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz entstanden, das ihm zugrundeliegende Konzept aber kam letztlich zustande durch umfangreiche Beobachtungen in und von öffentlichen Verwaltungen und zahllose Gespräche mit Verwaltungspraktikerinnen im Rahmen der von mir in unterschiedlichen 13Zusammenhängen durchgeführten Fallstudien. Ich danke daher an dieser Stelle meinen Studenten, insbesondere denjenigen meiner »Einführung in die Verwaltungswissenschaft«, auf deren Substanz der vorliegende Band zurückgeht, und meiner Fallstudienseminare. Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an der Entstehung des Bandes beteiligt waren, allen voran Angelika Dörr, die das gesamte Manuskript betreut hat, Simon Fechti, der das Literaturverzeichnis und das Register bearbeitete, sowie Annette Flowe, die immer wieder zur Stelle war, wenn es um Literaturbeschaffung und die Nachbearbeitung einzelner Manuskriptstellen ging. Ich danke sehr herzlich Jan-Erik Strasser, der das Buch durch ein ebenso fürsorgliches wie strenges Lektorat vor etlichen stilistischen und logischen Schwächen bewahrt hat.

Der Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz hat mir unschätzbare infrastrukturelle und intellektuelle Unterstützung zuteilwerden lassen. Das gilt insbesondere für die Förderung der verwaltungswissenschaftlichen Diskussionsrunde mit Arthur Benz, Christian Rosser und Fritz Sager und die Gewährung einer Heimstatt in der Kreuzlinger Seeburg. Ich danke diesen Freunden und Kollegen sehr herzlich für die vielen Anregungen und den kräftigen Motivationsschub. Danken möchte ich schließlich auch Markus Freitag, der meinte, ich solle doch einmal ein verwaltungswissenschaftliches Buch schreiben, mit dem auch Nicht-Verwaltungswissenschaftler etwas anfangen könnten. Eine wirkliche Verwaltungslehre ist es nun nicht geworden, aber ohne diesen Impuls und das durch ihn erzeugte und mit der zeitlichen Verzögerung der Manuskripterstellung zunehmende schlechte Gewissen wäre der nun vorliegende strukturierte Theorieüberblick vielleicht nie entstanden.

Gewidmet ist dieses Buch der einflussreichsten Verwaltungspraktikerin meines Lebens, meiner Frau Christiane.

Konstanz, im April 2016

Wolfgang Seibel

15Einleitung: Verwaltung in der Demokratie. Effektivität und Verantwortung, Institutionalisierung und Partizipation

Öffentliche Verwaltung ist nach einer klassischen Definition[1] die Tätigkeit des Staates außerhalb von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierung. In Reinform der »vollziehenden Gewalt« treffen wir die Verwaltung überall dort an, wo es um den Vollzug von Gesetzen außerhalb der Justiz geht. Typische Beispiele sind Einwohnermeldeämter, Regierungspräsidien, Finanzämter, Kraftfahrzeugzulassungsstellen oder die Dienststellen einer Gemeindeverwaltung beziehungsweise eines Landratsamtes. Aber es gibt auch Betriebe oder Einrichtungen im öffentlichen (und auch im privatwirtschaftlichen Sektor), die nach dem Verständnis ihrer Angehörigen nicht »Verwaltung« sind, aber eine Verwaltung haben. Das gilt bereits für die Regierung, die Justiz und die Parlamente mit den unterstützenden Einheiten der Ministerialverwaltung, der Justizverwaltung und der Parlamentsverwaltung. Ähnlich ist es bei Einrichtungen, bei denen der Dienstleistungscharakter im Vordergrund steht, bei Krankenhäusern, Schulen und Universitäten etwa oder bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben. Im Hintergrund arbeitet dort eine Organisation, deren Zweck nicht die Dienstleistung selbst, sondern die Aufrechterhaltung des Betriebes ist. Auch sie wird normalerweise »Verwaltung« genannt, oft mit einem konkretisierenden Zusatz wie »Personalverwaltung«, »Haushaltsverwaltung« oder »Gebäudeverwaltung«. Verwaltungen sind ganz allgemein gesagt formale Organisationen, die nach Regeln arbeiten und mit eigens geschultem Personal öffentliche Aufgaben oder Assistenzfunktionen erfüllen.

Das Eigentümliche der Verwaltung ist, dass sie ebenso allgegenwärtig wie unentbehrlich und doch, was ihre eigentliche Natur betrifft, weitgehend unbekannt und nicht einmal besonders hoch angesehen ist. Verwaltung gilt bestenfalls als uninteressant, jedenfalls als Expertenangelegenheit. Das ist paradox, schon deshalb, weil die 16öffentliche Verwaltung im demokratischen Staat Angelegenheit der Bürger sein sollte, und das kann sie nur sein, wenn diese die Möglichkeit haben, sich über ihre Eigenheiten zu unterrichten und sie wenigstens ihren Grundzügen nach zu verstehen. Verwaltung verstehen bedeutet nicht nur zu wissen, wie sie funktioniert, sondern auch beurteilen zu können, ob sie gut und angemessen funktioniert. Es geht also sowohl um deskriptive als auch um normative Gesichtspunkte.

Modelle, Mechanismen, Theorien

Verwaltung zu verstehen, bedeutet, in groben Zügen das System von Verwaltung zu begreifen, so wie man dies bei natürlichen, also nicht von Menschen geschaffenen Systemen, ebenfalls tut, wenn man sich dafür interessiert. Das »Systematische« jeder einzelnen Verwaltung hat wiederum zwei Gesichtspunkte. Zum einen geht es um den konkreten Funktionszusammenhang, in dem zum Beispiel eine Behörde steht, zum anderen um die abstrakte Eigenschaft, einem Systemtypus anzugehören, den wir »Verwaltung« nennen. So wie etwa, wenn das Beispiel erlaubt ist, der Motor eines Autos in einem konkreten Funktionszusammenhang mit dem Fahrzeug steht, zugleich aber auch dem abstrakten Systemtypus »Antriebsaggregat« zuzurechnen ist.

Ein sinnvolles Verständnis des Systems, seiner Komponenten und der aus dem Zusammenwirken der Komponenten sich ergebenden Systemeigenschaften erreichen wir aber bei allen komplexeren Betrachtungsgegenständen nur mit Hilfe von Theorien. Theorien lassen uns ebenjene Strukturen und Mechanismen erkennen, die sowohl die abstrakten Systemeigenschaften als auch die konkreten Funktionszusammenhänge verständlich machen, und zwar mit Hilfe von Modellen. Ein Modell ist eine beschreibende oder erklärende Abstraktion der Wirklichkeit, wie zum Beispiel ein Stadtplan, eine Konstruktionszeichnung oder eine Algebrafunktion – abstrakte Darstellungen der Wirklichkeit, die uns jedoch gerade durch die Abstraktion Dinge und Zusammenhänge erkennen lassen, die wir ohne sie gar nicht oder nur durch aufwendiges Erkunden und das dadurch gewonnene Erfahrungswissen verstehen würden. Und weil Modelle der Wirklichkeit abstrakt sind, sind sie 17zugleich verallgemeinerungsfähig. Wenn wir einmal gelernt haben, uns nicht mehr anhand von Häuserecken und Schaufensterinhalten in einer Stadt zu orientieren, sondern mit Hilfe eines Stadtplans aus Papier oder auf unserem Smartphone, haben wir gleichzeitig gelernt, wie man sich generell die zweidimensionale Darstellung des dreidimensionalen Phänomens »Stadt« zunutze macht. Das Wissen, wie man einen Stadtplan liest, also das Modell versteht und benutzt, kommt uns dann auch in anderen Städten zugute.

Die Modelle der Verwaltungswirklichkeit, die uns die dafür einschlägigen Theorien anbieten, leisten Ähnliches, indem sie unterschiedliche Ausschnitte dieser Wirklichkeit abbilden. Wenn man das Phänomen hybrider Rollenmuster des leitenden Personals anhand eines Beispiels aus dem Amtsalltag verstanden hat, wird man es auch in Handlungskonstellationen anderer Behörden erkennen. Begreift man den Zusammenhang zwischen Unsicherheitszonen und Machtmobilisierung erst einmal, hat man generell einen schärferen Blick für die informellen Machtverhältnisse in Verwaltungen.

In diesem Buch geht es um Theorien als Angebote für Modelle von Strukturen und Handlungen, die als »Theorien mittlerer Reichweite« bezeichnet werden.[2] Es geht nicht, wie in Niklas Luhmanns einschlägigem Klassiker Theorie der Verwaltungswissenschaft,[3] um die Verwaltung als Großsystem mit der einen abstrakten Eigenschaft, für das Herstellen bindender Entscheidungen zuständig zu sein. Es geht vielmehr um die Systemkomponenten, die Jon Elster als die »Schrauben und Gewinde« sozialer Strukturen bezeichnet[4] und für die sich inzwischen der Begriff des sozialen Mechanismus etabliert hat:[5] Theorien über diejenigen »Verbindungsstellen«, an denen Strukturen und Handlungen in der Verwaltung aufeinander einwirken und die in der einschlägigen Literatur auf exemplarische Weise beschrieben werden. Die Auswahl dieser Theorien 18und ihrer Gruppierung erfolgt nach solchen Verbindungsstellen oder »Schrauben und Gewinden«, die für das Funktionieren des Systems »Verwaltung« als grundlegend betrachtet werden können. Es geht um die wenigen Grundfunktionen, die jede Verwaltung zu erfüllen hat und die sich aus ihrer systemischen Einbettung in den Staat und seine Verfassungsordnung ergeben. Damit ist in diesem Buch der demokratische Staat und insofern eine rechtsstaatliche Verwaltung gemeint, wenngleich etliche der hier in Anlehnung an die einschlägige theoretische Literatur beschriebenen Verwaltungsmechanismen durchaus auch in nicht-demokratischen Systemen wirken.

Grundfunktionen: Effektivität und Verantwortung

Im demokratischen Verfassungsstaat muss öffentliche Verwaltung zwei Grundfunktionen erfüllen, die mit der demokratischen Staatsform selbst verknüpft sind, nämlich die Gewährleistung von Effektivität und von Verantwortung. Wo »alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht«, müssen die vollziehenden Organe des Staates möglichst genau und möglichst ressourcenschonend das tun, was die Repräsentanten des Volkes in Parlament und Regierung beschlossen haben. Gleichzeitig muss dieses Tun der vollziehenden Gewalt jederzeit transparent und nachvollziehbar und ihr Tun und Unterlassen einzelnen Amtsträgern persönlich zurechenbar sein. Verwaltung in der Demokratie kennt keine verantwortungsfreien Räume. Richtschnur der Verantwortung sind zum einen die formellen Rechenschaftsregeln, wie sie durch Hierarchie, Rechtsordnung und Finanzkontrolle festgelegt sind, zum anderen die Maßstäbe von Berufsethos und Moral. Eine verantwortungsbewusste Beamtin wird zum Beispiel fachlich gebotene Lösungen auch gegen behördeninterne Widerstände anstreben oder Belastungen für Bürgerinnen und Bürger auch dann zu vermeiden suchen, wenn sie dazu nicht gesetzlich verpflichtet ist.

Ein Gegenstand dieses Buches sind die zentralen Herausforderungen, denen eine gleichermaßen effektive wie verantwortlich handelnde Verwaltung gerecht werden muss, die wesentlichen Mechanismen, die dies im Normalfall gewährleisten, und deren exem19plarische Darstellung in der einschlägigen theoretischen Literatur. Die Herausforderungen haben sich erst im Laufe der Zeit ergeben, weil sich der moderne Staat mit seiner Verwaltung ebenfalls erst im Laufe der Zeit herausgebildet hat. Dieser Verwaltungsstaat ist eine relativ junge Erscheinung. Er hat die Systeme der persönlichen Herrschaft abgelöst, für die in Europa die feudalen Herrschaftsordnungen standen, die aber auch heute noch in Form von Clan- oder Stammesherrschaft in vielen anderen Regionen der Welt (und in innereuropäischen Enklaven) anzutreffen sind.

Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Carl J. Friedrich sprach in diesem Zusammenhang von einem doppelten Prozess der Konzentration und der Delegation einerseits von Macht, andererseits von Ressourcen, der in der frühen Neuzeit in Europa zur Herausbildung eines Staatsapparates und damit zur Entstehung einer »Bürokratie« geführt habe.[6] Max Weber hat denselben Prozess als wechselseitige Abhängigkeit der Rationalisierung von Herrschaft und der Rationalisierung der Staatsorganisation zur »legalen Herrschaft mit bureaucratischem Verwaltungsstab« charakterisiert.[7] »Herrschaft«, so Weber, »ist im Alltag primär: Verwaltung.«[8]

Die Konzentration von Macht und Ressourcen im Sinne von Friedrich bedeutete in Kontinentaleuropa die Errichtung und Konsolidierung der Macht der Krone gegen die vormals herrschende Klasse des Feudalsystems, den Adel. Die Delegation von Macht und Ressourcen jedoch bedeutete die Bildung eines neuen Berufsstandes, der Beamten, die Ressourcen im Namen der Krone, also des Staates, nach geschriebenen Regeln und professionellen Standards effektiv zu nutzen hatten.[9] Während die Konzentration von Macht und Ressourcen ein politisches Problem war, weil sie auf die relative Entmachtung des Adels hinauslief, stellte die Delegation in erster Linie ein technisch-organisatorisches Problem dar. Immerhin musste ein Beamtenkörper erst einmal gebildet und mussten Organisationsstrukturen mit unterschiedlichen Delegationsstufen, je nach Fachaufgabe, erst einmal geschaffen werden. All dies geschah nicht im Handumdrehen, sondern im Laufe einer langwierigen 20und konfliktreichen Staatsbildung, deren integraler Bestandteil neben der Durchsetzung der Macht der Zentralgewalt eben insbesondere die Herausbildung eines effektiv arbeitenden Verwaltungsapparates war.

Ein effektiv arbeitender Verwaltungsapparat war und ist jedoch an Voraussetzungen geknüpft, die nicht ohne weiteres zu erfüllen sind. Die Delegation von Macht und Ressourcen an eine öffentliche Verwaltung, die getragen wird von einer komplexen Organisationsstruktur und von einer Vielzahl von Verwaltungsangehörigen, erzeugt ein Organisations- und ein Verantwortungsproblem. Die Organisation der Verwaltung muss so gestaltet sein, dass sie die effektive Erledigung der jeweiligen Aufgabe ermöglicht und diese Erledigung kontrollierbar hält. Verantwortlich sind die Angehörigen der öffentlichen Verwaltung gegenüber denjenigen, die ihnen Ressourcen und Macht übertragen haben. Wenn die Verwaltung nicht so effizient funktioniert, wie sie sollte, oder wenn sie die ihr übertragene Macht und die ihr übertragenen Ressourcen missbräuchlich, zum Beispiel willkürlich, verwendet, so ist nicht »die Verwaltung« als abstrakte Organisation, sondern sind die in der Verwaltung an betreffender Stelle arbeitenden Personen zur Verantwortung zu ziehen. Das kann geschehen durch Vorgesetzte oder übergeordnete Instanzen, durch das Parlament, gegebenenfalls durch die Justiz und nicht zuletzt durch die Öffentlichkeit, im Normalfall repräsentiert durch die Medien. Man kann – unter anderem – demokratische und nicht-demokratische politische Systeme und man kann auch die relative Robustheit demokratischer Grundsätze innerhalb demokratischer politischer Systeme recht gut danach unterscheiden, ob oder inwieweit diese Verantwortlichkeit der Verwaltung institutionell gesichert ist und tatsächlich praktiziert wird.

Zur dieser Praxis gehört eine Verantwortungsethik der Verwaltungsangehörigen, also ein Bewusstsein davon, dass man über Macht und Ressourcen lediglich im Namen Dritter, also des »Volkes« im Sinne des Grundgesetzes, verfügt, dass man sich nicht nur gegenüber den verantwortungssichernden Institutionen, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit für das zu rechtfertigen hat, was man im Rahmen seiner Amtstätigkeit tut oder unterlässt. Diese Verantwortungsethik kann nur in demokratischen politischen Systemen existieren und gelebt werden, und sie ist eine wesentliche 21Sicherung sowohl gegen willkürliches als auch gegen dilettantisches Verwaltungshandeln.

Aber Verantwortungsethik allein reicht als Sicherung nicht aus. Verantwortliches und effektives Verwaltungshandeln bedingen einander. Um verantwortlich handeln zu können, muss Verwaltung gut organisiert sein. Eine gut organisierte Verwaltung arbeitet mit professionellem Personal, sie hat verbindliche Zuständigkeitsregeln, sie koordiniert ihre unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche auf wirksame Weise, sie ist reaktionsfreudig gegenüber den Bedürfnissen der Öffentlichkeit, und sie ist nicht zuletzt lernfähig. Nur eine in diesem Sinne gut organisierte Verwaltung kann das Versprechen einlösen, verantwortungsvoll mit den ihr übertragenen Ressourcen und mit der ihr übertragenen Macht umzugehen. Fehlende oder unzureichende Koordination bedeutet, dass in der Verwaltung, wie der Volksmund sagt, die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, dass Doppelarbeit geleistet oder Leistungen erst gar nicht abgerufen werden. Eine reaktionsträge Verwaltung ist für die Bürger eine Zumutung, für die vorgesetzten Personen und Instanzen aber so etwas wie eine tickende Zeitbombe. Wenn Probleme nicht rechtzeitig erkannt oder zwar erkannt, aber nicht »nach oben« weitergegeben werden, läuft eine Verwaltungsleitung Gefahr, irgendwann die sprichwörtlichen bösen Überraschungen zu erleben. Eine Verwaltung schließlich, die lernunfähig ist, wird keine Fehler korrigieren und fortfahren, die ihr anvertrauten Ressourcen zu verschleudern oder die ihr übertragene Macht zu missbrauchen.

Begrenzungen: Institutionalisierung und Partizipation

Effektivität und Verantwortung des Verwaltungshandelns stoßen auf zwei grundlegende Hemmnisse, die ihrerseits das Resultat der Modernisierung und Stabilisierung des Staates sind. Das eine betrifft die Institutionalisierung der Verwaltung, das andere ihre Demokratisierung.

Verwaltungen sind auf Eigenstabilität angewiesen, die jenseits ihrer jeweiligen Zweckmäßigkeit angesiedelt ist und sein muss. Wären Verwaltungen rein zweckmäßige Gebilde, würden sie schnell zur Disposition gestellt, sobald sie den Zweckmäßigkeitsmaßstä22ben nicht gerecht werden. Das kann zwar erforderlich werden, es ergibt sich aus den berechtigten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Effektivität der Verwaltung; aber es gibt auch ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen der Zweckrationalität der Verwaltung und ihrer Eigenschaft als soziales System und damit als Institution.

So sind zum Beispiel viele Zweckmäßigkeitsmaßstäbe in der Verwaltung innengesteuert in dem Sinne, dass sie durch Berufsgruppen in großer Distanz gegenüber den notgedrungen auf Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit gerichteten Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler definiert werden. Ob eine Baubehörde die Statik einer Brücke beanstandet oder nicht, kann ausschließlich nach fachlichen Gesichtspunkten beurteilt, jedenfalls nicht nach Kostengesichtspunkten oder politischen Kriterien entschieden werden. Berufsgruppen in der öffentlichen Verwaltung bilden ihre eigene Identität, sie haben ihre eigenen Wertmaßstäbe und ihren eigenen Gruppenzusammenhalt. All dies und die damit einhergehende relative Robustheit gegenüber von außen herangetragenen Zweckmäßigkeitsansprüchen ist einerseits Voraussetzung der Eigenstabilität der Verwaltung in ihren einzelnen Fachzweigen, andererseits aber auch ein Risiko für die Gewährleistung von Effektivität und Verantwortlichkeit. Berufsgruppen in der öffentlichen Verwaltung können im positiven Fall ein eigenes Ethos und damit einen ausgeprägten Sinn für die mit ihrem öffentlichen Amt verbundene Verantwortung entwickeln, Eigenschaften, die wir uns von einem Bauingenieur, von dessen Urteil die Genehmigung einer Brückenkonstruktion und damit die Sicherheit der Brückennutzer abhängt, genau so wünschen. Im negativen Fall verschanzen sich Berufsgruppen in der Verwaltung dagegen hinter ihrem Expertenwissen, nutzen dieses für ihre Ziele oder für die Wahrung ihrer Privilegien.

Ein weiteres Phänomen, das mit der Institutionalisierung von Verwaltung verbunden ist und mit den Erfordernissen der Effektivität und Verantwortung in latenter Spannung steht, ist die Funktionsverflechtung von Organisationseinheiten. Verwaltungen halten sich auch dadurch stabil, dass ihre Untereinheiten durch eine Vielzahl formeller und informeller Beziehungen untereinander verbunden sind. Diese Abhängigkeiten sind im deutschen Verwaltungssystem besonders ausgeprägt, weil hier die föderativen Strukturen 23ein System der Arbeitsteilung unter drei gebietskörperschaftlichen Ebenen – Bund, Länder und Gemeinden – hervorgebracht haben, das ohne die tagtägliche Abstimmung, zu der auch wechselseitige Aushilfe und Rücksichtnahme gehören, nicht funktionsfähig wäre. Dieses System arbeitet, ähnlich wie das der Berufsgruppen und der professionellen Selbststeuerung der Verwaltung, weitgehend autonom und somit ohne direkte Einwirkung politischer oder anderweitig öffentlicher Instanzen. Darin liegt seine Stärke, zugleich aber auch eine Schwäche, wenn es um Effektivität und Verantwortung geht. Es gehört zur Natur einer institutionalisierten Verwaltung, dass sie sich weitgehend mit sich selbst beschäftigt und gerade deshalb in ihren Untereinheiten gut eingespielt, stabil und verlässlich ist. Aber darin liegt offensichtlich auch das Risiko einer Verselbständigung sowohl gegenüber den Steuerungs- und Kontrollansprüchen der Parlamente und politischen Leitungsinstanzen als auch gegenüber den Transparenzgeboten einer demokratischen Öffentlichkeit.

Eine Begrenzung dessen, was die Maßstäbe von Effektivität und Verantwortung nahelegen oder erfordern, ergibt sich aber auch aus den Systemeigenschaften der Demokratie selbst. Zu diesen Eigenschaften gehört der Anspruch der Öffentlichkeit auf Transparenz und Partizipation. Wo dies möglich ist, sollten Verwaltungsentscheidungen nicht bloß verordnet, sondern von den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern mindestens verstanden oder sogar mit erarbeitet werden. Das wird man sich für die Erstellung eines Wohngeld- oder eines Steuerbescheides weder vorstellen noch wünschen können, weil hier die Sachverhalte entweder banal oder durch nicht verhandelbare Interessengegensätze von Bürger und Staat gekennzeichnet sind. Aber etwa bei Entscheidungen über Infrastrukturmaßnahmen mit nachhaltiger Wirkung sind Transparenz und Partizipation nicht nur wünschenswert, sondern in der Struktur und im Recht der deutschen Verwaltung auch angelegt oder ausdrücklich vorgesehen. Gemeinderäte etwa sind nicht wirklich Gemeinde-»Parlamente«, weil sie nur relativ wenig rechtsetzende, dafür aber umso mehr faktische Verwaltungskompetenzen haben, denn sie treffen Regelungen im Einzelfall. Nicht nur, dass Gemeinderäte aufgrund der lokalen Nähe zu den Bürgerinnen und deren Angelegenheiten besser »geerdet« sind als Landtags- oder Bundestagsabgeordnete, vielfach wird der partizipative Anspruch 24der Bürger auch durch öffentliche Initiativen vorgetragen. Darin kommt die besondere Natur öffentlicher Verwaltung in der Demokratie zum Ausdruck.

Und doch sind auch hier die Risiken für die Effektivität und Verantwortlichkeit des Verwaltungshandelns offensichtlich. Wie weit soll die Offenlegung interner Unterlagen eines Infrastrukturprojekts der öffentlichen Verwaltung gehen, ohne dass die Arbeitsfähigkeit von Behörden und die Rechte Dritter, zum Beispiel privater Projektträger, beeinträchtigt werden? Wer beteiligt sich tatsächlich an Bürgerinitiativen, und welchen Einfluss hat die Struktur der Beteiligung auf die Repräsentativität demokratischer Steuerung der Verwaltung und die Gewährleistung der Gleichheit vor dem Gesetz? Wie gewährleistet man, dass durchsetzungsstarke Partikularinteressen die Verwaltung nicht vereinnahmen und deren vom Gesetzgeber aufgegebene legitime Ziele verfälschen? Wie kann man sicherstellen, dass Bürgerbeteiligung tatsächlich fachlich gute und politisch akzeptable Lösungen hervorbringt und die Verwaltung sie nicht für die sprichwörtliche Flucht aus der Verantwortung missbraucht? Auch dies sind Fragen, die ihren Niederschlag in der verwaltungswissenschaftlichen Theoriebildung gefunden haben.

Organisation des Buches

In den nachfolgenden Kapiteln werden die mit den Herausforderungen der Effektivität und Verantwortung und den Begrenzungen durch Institutionalisierung und Demokratie verbundenen Voraussetzungen und Folgeprobleme ausbuchstabiert. Dabei ist es hilfreich, sich zunächst mit dem grundlegenden Paradox der Institutionenbildung selbst zu befassen. Institutionen sind weder bloße Regeln noch auf Zweckmäßigkeit ausgerichtete Organisationen. Ganz im Gegenteil. Institutionen halten ein Dilemma unter Kontrolle, das sich aus divergierenden Erfordernissen von Zweckmäßigkeit und Stabilisierung ergibt. Wenn Verwaltung nicht zweckmäßig wäre, hätte sie keine Existenzberechtigung. Aber wenn sie nicht robust gegenüber dem ständigen Wandel von Zweckrationalitäten wäre, besäße sie keine Eigenstabilität. Verwaltungen »institutionalisieren« sich dadurch, dass sie bis zu einem gewissen Grad die Aura von Selbstzweck und Selbstverständlichkeit entwickeln. 25Mit allen positiven und weniger positiven Folgen. Das wird in Kapitel 1 erläutert.

Aber in gewisser Hinsicht ist die Verwaltung eben auch schlichtes Werkzeug. Sie soll öffentliche Aufgaben effektiv, also zweckmäßig, und effizient, also ressourcensparend, erfüllen. Wir sind nicht glücklich über die Verschwendung von Steuergeldern, die uns die Berichte der Rechnungshöfe regelmäßig vor Augen führen, und wir erwarten als Dienstleistungsnehmer der Verwaltung guten Service. Darum und um die dafür zu erfüllenden Voraussetzungen und die Mechanismen der Erfüllung dieser Voraussetzungen geht es in Kapitel 2.

Dennoch: Als eine möglichst effiziente und effektive Organisation allein wird die öffentliche Verwaltung gegenüber den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger nicht immer hinreichend reaktionsfähig sein. Verwaltung ist nicht nur der verlängerte Arm des Gesetzgebers, sie hat auch Aufgaben der sozialen und politischen Integration, was sich unter anderem in der Zusammensetzung ihres Personalkörpers oder in ihrer Ausstattung mit Selbstverwaltungsrechten niederschlägt. Davon handelt Kapitel 3.

Die Bereitschaft der Verwaltung, ihrer sozialen und politischen Umwelt gerecht zu werden, darf sie allerdings nicht zur Beute von Interessengruppen machen, und sie darf bei aller Flexibilität und Integrationsbereitschaft auch nicht den Willen des Gesetzgebers unterlaufen. Verwaltung muss also ein hinreichendes Maß an Autonomie besitzen, damit sie den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers erfüllen und damit einem demokratischen Grundprinzip Genüge tun kann. Das wiederum darf jedoch nicht zu Lasten ihrer Reaktionsfreudigkeit (Responsivität) gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern gehen, und es stellt sich die Frage, was unter diesen Umständen die Qualität von Verwaltungsverantwortung tatsächlich ausmacht. All dies wird in Kapitel 4 behandelt.

Die Sicherung verantwortungsvollen Verwaltungshandelns kann nicht allein durch entsprechende institutionelle Vorkehrungen erfolgen, so unerlässlich diese in einem demokratischen Verfassungsstaat sind. Verantwortungsvolles Verwaltungshandeln, dies wird in Kapitel 5 erläutert, bedarf einer Verantwortungsethik, einer moralischen Basis, denn das Pflichtethos reiner Hingabe an die Aufgabe, deren Erledigung das Amt abverlangt, stellt keine hinreichende Absicherung gegen unethisches Verwaltungshandeln dar.

26In Kapitel 6 geht es um die Grenzen einer »gut organisierten« Verwaltung und um die Grundsatzfrage, wie gut Verwaltungen faktisch überhaupt organisiert sein können. Verwaltungen sind auch eine Arena für Machtkonflikte und erinnern mitunter an »organisierte Anarchien«. Wer dies versteht und weiß, dass das innerhalb gewisser Grenzen auch normal ist, dem bleiben im Umgang mit und im Leben in Verwaltungen einige Frustrationen erspart.

Einen realistischen Blick sollte man auch auf die Lernfähigkeit von Verwaltungen werfen. Dies wird in Kapitel 7 empfohlen und getan. Wie andere Organisationen auch, sind öffentliche Verwaltungen zunächst nicht als lernfähige Gebilde gedacht, sie sollen vielmehr gegenüber sachfremden äußeren Einflüssen robust und insofern mit einer gewissen Trägheit ausgestattet sein. Das schafft Probleme da, wo Anpassungen auch ohne Gesetzesbefehl oder politische Weisung wünschenswert wären.

Diese Überlegungen wiederum führen zu einer Betrachtung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung unter zwei Gesichtspunkten, die in Kapitel 8 abgehandelt werden: Grundsätzlich müssen Politik und Verwaltung in einem demokratischen Verfassungsstaat getrennte Sphären bleiben, weil nur der Befehl des Gesetzes und nicht die Einzelanweisung einer Politikerin oder eines Politikers bei der Erledigung einer Verwaltungsaufgabe eine Rolle spielen darf. Ebenso verhält es sich mit internen Politisierungserscheinungen. Keine Verwaltung darf ihre eigene Politik machen und dafür das Geld des Steuerzahlers ausgeben oder das Gesetz unterlaufen. Andererseits sind punktuelle Politisierungen, etwa durch Verbände oder auch durch Medien, unvermeidlich, und in einem gewissen Ausmaß wird man Behörden auch die robuste Vertretung ihrer eigenen institutionellen Interessen zubilligen müssen.

Hier sind also Grenzziehungen erforderlich zwischen funktionalen und dysfunktionalen, harmlosen und pathologischen Verwaltungswirklichkeiten. Darum geht es in Kapitel 9, das sich zwei klassischen Verwaltungspathologien widmet, der Bürokratisierung und der Überkomplexität, sowie den darauf ausgerichteten Therapien oder Bewältigungsstrategien.

Im Spannungsverhältnis von Zweckmäßigkeit und Stabilisierung müssen Verwaltungen ihre Standardpathologien unter Kontrolle halten, und sie dürfen bei aller Komplexität nicht nur der Sachverhalte, sondern auch ihrer eigenen Strukturen nicht substan27ziell an Entscheidungsfähigkeit einbüßen. Wie sie das im Großen und Ganzen bewerkstelligen, wird in Kapitel 10 behandelt.

Das vorliegende Buch ist konzipiert als eine theoriegeschichtliche Einführung, die das Verstehen der Verwaltung erleichtern soll. Als solche könnte es seine Funktion auch erfüllen, ohne auf die jüngeren und aktuellen Diskussionen in der verwaltungswissenschaftlichen Forschungsliteratur einzugehen. Gleichwohl ist ein Brückenschlag von den Klassikern der verwaltungswissenschaftlichen Theorie zu diesen Diskussionen hilfreich. Nicht nur, dass einige der in der älteren Literatur diskutierten wesentlichen Mechanismen der Sicherung von Effektivität und Verantwortung unter den begrenzenden Bedingungen von Institutionalisierung und demokratischen Partizipations- und Legitimationserfordernissen auch in der jüngeren Forschung immer wieder eine Rolle gespielt haben und zum Teil auch ausdrücklich aufgegriffen wurden. Vielmehr ist auch die verwaltungswissenschaftliche Forschungslandschaft der letzten zwei oder drei Jahrzehnte mindestens so fragmentiert, wie es die verwaltungswissenschaftliche und organisationstheoretische Literatur schon immer war. Ein zusammenfassender Überblick hierzu erschien mir daher sinnvoll, er erfolgt in Kapitel 11.

Der Überblick über die jüngeren verwaltungswissenschaftlichen Diskussionen führt schließlich zu einer abschließenden Betrachtung über normative Theoriebildung in der Verwaltungswissenschaft. Der Generaltrend der Verwaltungswissenschaft geht, was die Strukturanalysen betrifft, deutlich in Richtung einer Relativierung der staatlichen Verwaltung im engeren Sinne und einer Betonung nicht-staatlicher Verwaltungsformen und nicht-hierarchischer Steuerungsmechanismen. Hierfür steht die Governance-Forschung ebenso wie die Literatur zu hybriden Organisationsformen in der öffentlichen Verwaltung. Damit stellen sich aber auch neue Fragen nach dem Kern von Staatlichkeit und den Grenzen eines (allzu) pragmatischen Umgangs mit den Grundprinzipien einer, im positiven Sinne des Begriffs, bürokratischen Verwaltung. Dies wird in Kapitel 12 angesprochen und anhand drastischer Fälle von Verwaltungsversagen im Zeichen von Hybridität und Pragmatismus illustriert.

Dieses Buch ist keine Verwaltungskunde, gleichwohl widmet sich Kapitel 13 dem Unikat der deutschen Verwaltung. Der deutsche Fall, der den meisten der Leserinnen und Leser aus dem All28tag geläufig ist, bietet gerade in seiner nationalen Eigentümlichkeit reichhaltiges Anschauungsmaterial für die Stärken und Schwächen einer Verwaltung, wenn es um Effektivität und Verantwortung unter den Bedingungen langfristiger Institutionalisierungsprozesse und demokratischer Partizipationsansprüche und Legitimationserfordernisse geht. Erläutert werden Verwaltungsaufbau und Verwaltungsorganisation in Deutschland und die Grundzüge des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Skizziert wird der politische und gesellschaftliche Prozess, in dem sich Konzentration und Delegation von Ressourcen und Macht seit dem 18. Jahrhundert vollzogen haben, und welche Konsequenzen sich daraus für Aufbau und Funktionsweise der öffentlichen Verwaltung in Deutschland ergeben haben. Schließlich wird erläutert, was die Grundzüge des Allgemeinen Verwaltungsrechts in Deutschland ausmacht und inwiefern gerade das Verwaltungsrecht ein hoch entwickeltes System ist, das aufgrund der besonderen deutschen Verwaltungsgeschichte, die ihre Wurzeln in der vor-konstitutionellen Monarchie hat, zugleich ein flexibles und verwaltungsfreundliches, weniger jedoch ein bürgerfreundliches Steuerungsinstrument darstellt.

Zum Umgang mit Theoriegeschichte

Den Schwerpunkt der Darstellung bilden die Klassiker der Verwaltungswissenschaft. Außer dem Zweck der exemplarischen Beschreibung grundlegender Mechanismen des Umgangs der Verwaltung mit den Herausforderungen von Effektivität und Verantwortung dient ihre Darstellung auch durchaus der Archäologie des verwaltungswissenschaftlichen Wissens.[10] Es handelt sich überwiegend um denkschulprägende Definitionen und Analysen, deren Spuren in der nachfolgenden Theorieentwicklung oft bald nur noch für die Experten erkennbar waren. Ironischerweise war dies nicht selten Ausdruck einer Erfolgsgeschichte. Prägende Begrifflichkeiten und Charakterisierungen einer modernen Verwaltung haben den Status von Standardwissen erreicht, das wichtiger wurde als das Wissen um seine Urheber. Das gilt natürlich nicht für die großen Stars 29der Bürokratietheorie und Verwaltungswissenschaft wie Max Weber, Herbert A. Simon oder Michel Crozier. Sie haben, wie Weber, die Bürokratietheorie im eigentlichen Sinne begründet, sie haben deren zentrale Ideen, wie Herbert A. Simon, mit einer Handlungs- und Entscheidungstheorie verknüpft oder, wie Michel Crozier, mit einer Theorie der Macht in formalen Organisationen und einer Theorie der Organisationspathologie.

Doch schon Autoren wie Woodrow Wilson, Henri Fayol oder Luther Gulick – für jeden Kenner der Materie Klassiker der Verwaltungswissenschaft oder der Organisationstheorie – sind einem breiteren interessierten Publikum weitgehend unbekannt. Woodrow Wilson kennt man natürlich als amerikanischen Präsidenten (der mit seinem großen Projekt, die Welt sicher für die Demokratie zu machen, scheiterte), nicht aber als den Theoretiker der Verwaltung im demokratischen Staat, die nur als professionelle Verwaltung, wie Wilson hervorhob, eine den Bürgern gegenüber verantwortliche Verwaltung sein kann. Und nur den Insidern dürfte bekannt sein, dass Henri Fayol als Entdecker des berühmten »kleinen Dienstwegs« gelten kann, also der informellen Verbindung zwischen zwei Verwaltungseinheiten, die eigentlich nur in Aufwärts- und Abwärtsrichtung über die Hierarchieleiter miteinander kommunizieren sollen.

Gleiches gilt für Luther Gulick und die Unterscheidung von Linie und Stab und zwischen divisionaler und funktionaler Gliederung in der formalen Organisationsgestaltung. Wenig bekannt sein dürfte auch, dass Philip Selznick der eigentliche Entdecker des Phänomens der agency capture ist, der »Kaperung« der Verwaltung durch Interessengruppen mit der Folge systematischer Zielabweichungen und, wie nicht betont werden muss, grober Verletzungen des Gleichheitsprinzips, wie es in Deutschland in Artikel 3 des Grundgesetzes niedergelegt ist.

Weitgehend unbekannt dürfte schließlich auch sein, dass der Brite Donald Kingsley bereits 1944 ein Konzept entwickelt hat, das Jahrzehnte später als affirmative action Karriere machen sollte, nämlich das Prinzip einer »repräsentativen Bürokratie«, in der die wichtigen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen anteilig vertreten sind. Und Kingsley ist nicht der einzige verwaltungswissenschaftliche Theoretiker, der heutige Problemlagen von Staat und Verwaltung gedanklich vorwegnehmen konnte, weil er einen klaren 30