Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden – Das Arbeitsbuch - Lori Gottlieb - E-Book

Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden – Das Arbeitsbuch E-Book

Lori Gottlieb

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Beschreibung

In ihrem Bestseller „Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden“ hat Lori Gottlieb Geschichten aus ihrer therapeutischen Praxis erzählt. Millionen Menschen weltweit haben darin Wahrheiten über sich und ihre Verletzungen gefunden – und Zeile um Zeile unterstrichen. Aus dem Wunsch nach einer praktischen Anleitung für das eigene Leben hat Lori Gottlieb das Arbeitsbuch entwickelt. In klar nachvollziehbaren Schritten leitet sie uns durch den Reflexionsprozess, damit wir lernen, Blockaden hinter uns zu lassen und unsere eigene Geschichte zu schreiben.

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Seitenzahl: 160

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Lori Gottlieb

VIELLEICHT SOLLTEST DU MAL MIT JEMANDEM DRÜBER REDEN:

Das Arbeitsbuch

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Elisabeth Liebl

hanserblau

Inhalt

EIN PAAR WORTE VON LORI VORWEG

1 KOMMT EIN UNZUVERLÄSSIGER ERZÄHLER IN EINE BAR

Wie Sie sich mutig Ihrer Geschichte stellen

2 ZWISCHEN DEN ZEILEN LESEN

Ihre Narrative flexibel gestalten

3 DER BLICK HINTER DIE KULISSEN

Wie Sie in Ihrer Geschichte wiederkehrende Themen und Muster offenlegen

4 DIE BERÜHRUNGSPUNKTE VERBINDEN

Wie wir uns selbst näherkommen, indem wir auf andere zugehen

5 DIE TIEFSTEN ÄNGSTE, DIE HÖCHSTEN HOFFNUNGEN

Existenzielle Grundtatsachen

6 NEHMEN SIE DIE HÄNDE VOM GITTER

Einsicht in Aktivität umwandeln

Danksagung

Traum-Tagebuch

Ein paar Worte von Lori vorweg

Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, haben Sie vermutlich Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden gelesen. Daher wird es Sie nicht überraschen, wenn dieses Buch mit einem Geständnis beginnt: Ein Arbeitsbuch war nie geplant.

Denn die Geschichten von Julie, Rita, John, Charlotte und mir selbst sollten ja vor allem zeigen, welches Maß an Klarheit und Veränderung möglich wird, wenn wir anderen erlauben, unsere Geschichte zu hören. Ich hatte zwar immer gehofft, dass das Buch anderen Menschen Erkenntnisse liefen würde, aber als Selbsthilfebuch habe ich es nie betrachtet. Es sollte zeigen, wie wichtig Erfahrung ist, aber keine Blaupause für die eigene Entwicklung liefern. Daher enthält es keine Anleitungen oder Hilfestellungen. Mein einziges Ziel war, diese subtilen, aber wirkmächtigen Einsichten zu wecken, die aufkeimen, wenn uns andere unser Menschsein spiegeln.

Aber nachdem das Buch erschienen war, meldeten sich bei mir viele Leserinnen und Leser, die sich mehr wünschten. Sie erzählten mir, dass sie Sätze unterstrichen und Eselsohren hineingemacht hatten und nun hofften, dass ein zusätzliches Buch ihnen helfen würde, aus ihren Anmerkungen auch praktischen Nutzen zu ziehen. Ich war begeistert, dass meine Leser mithilfe des Buches so tief gehende Erfahrungen gemacht hatten. Wie allerdings ein solches Nachfolgebuch aussehen sollte, das den Leserinnen und Lesern bot, was sie sich wünschten – Werkzeuge zur Veränderung, und nicht nur Erkenntnisgewinn wie im ersten Buch –, das war mir nicht klar. Also legte ich dieses Projekt erst mal ab unter »Dinge, über die ich irgendwann mal nachdenken muss« und ging zur Tagesordnung über.

Dann hielt ich einen TED-Talk über Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden. Wie das Buch beruhte auch der Vortrag auf der Idee, dass wir alle Geschichtenerzähler sind. Wenn unsere Geschichten den Zweck haben, unserem Leben einen Sinn zu verleihen, was passiert dann, wenn die Geschichte, die wir uns erzählen, nicht ganz stimmt? Wenn diese falschen Narrative, die wir im Kopf und im Herzen tragen, uns einschränken, statt uns wachsen zu lassen? Und wenn wir unser Leben ändern könnten, indem wir diese Geschichten verändern – sie updaten, überarbeiten und fehlende Blickwinkel ergänzen? Der TED-Talk ging online, und dank des Feedbacks meiner Leser, die mir E-Mails schickten, mich über die sozialen Medien kontaktierten oder nach Vorträgen ansprachen, bekam ich eine Vorstellung davon, wie ein sinnvolles Arbeitsbuch zu Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden aussehen könnte.

Die Zielsetzung ist bei beiden Bücher die gleiche, nur dass wir hier nicht mit einem Gegenüber sprechen, sondern mit uns selbst. Dieses Arbeitsbuch versteht sich als Wegweiser: Es führt Sie von den Einsichten, die Sie bei der Lektüre von Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden über sich selbst gewonnen haben, hin zu Möglichkeiten, wie Sie diese Einsichten praktisch anwenden können. Wenn Sie sich bohrende Fragen stellen, sich andere Perspektiven erarbeiten, sich auf unangenehme Gefühle einlassen und Verbindungen herstellen zwischen Ihren blinden Flecken und Ihren Verhaltensweisen, so werden Sie schließlich ein Protokoll Ihrer Entwicklung in Händen halten. Einen Augenzeugen, wie es ein Therapeut ist. Nur hat dieser Zeuge bequem auf Ihrem Nachttisch Platz.

Alle großen Geschichten brauchen einen mutigen Lektor. Das gilt auch für Ihr Leben. Dieses Arbeitsbuch wird Ihnen helfen, wie eine Lektorin zu denken. Es vermittelt Ihnen jene Werkzeuge, mit deren Hilfe Sie die gewünschten Veränderungen in Ihrem Leben anstoßen können. Ich hoffe sehr, dass Sie auf diesen Seiten die Schönheit und den Sinn entdecken, der in der Freiheit liegt, sich etwas zu erkämpfen. Dass Sie lernen, gegen Ihre Eierschale zu klopfen, bis sie aufbricht. Und dass Sie in eine Geschichte hineinwachsen, die von Ihrer Resilienz, Ihrer Hoffnung und Ihrer Wahrheit handelt.

Ich finde es so aufregend, dass Sie jetzt mit dem Schreiben anfangen!

Ihre Lori

1

KOMMT EIN UNZUVERLÄSSIGER ERZÄHLER IN EINE BAR

Wie Sie sich mutig Ihrer Geschichte stellen

»Wovor aber haben wir solche Angst? Es ist ja nicht so, als würden wir in diese dunkleren Ecken gucken, das Licht anknipsen und dort eine Kolonie Kakerlaken entdecken. Auch Glühwürmchen lieben das Dunkel, was bedeutet, dass sich auch an solchen Orten Schönheit verbirgt. Doch wir müssen uns erlauben hinzuschauen, um sie zu sehen.«

Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden

Geschichten in Geschichten in Geschichten. Dieser Satz beschreibt in kurzen Worten unser Leben. Jede Mikro-Story fügt sich zu etwas Größerem zusammen, zu etwas, was dem Leitmotiv gleicht, das in unserem Leben den Ton angibt. Was aber, wenn die Geschichte nicht ganz stimmt? Die meisten Leute denken ja, der Lauf ihres Lebens werde durch das bestimmt, was ihnen passiert. Tatsächlich war das anfänglich die Überzeugung aller, die in Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden vorgestellt werden. John kam in meine Praxis, weil die Welt ihn wahnsinnig machte: Seine Familie, die sich dauernd beschwerte. Die Tatsache, dass er nur von »Idioten« umgeben war, die sein Leben komplizierter machten, als es sein müsste. Und dass er nicht schlafen konnte. Das war es, was seiner Ansicht nach seine Lebensgeschichte prägte. Wenn etwas schiefläuft, halten wir uns meistens für ein Opfer der Umstände. Weil wir die Erzählung der laufenden Ereignisse aus einem begrenzten Blickwinkel wahrnehmen, der wichtige Wahrheiten ausblendet und so die Geschichte wesentlicher Elemente beraubt. (Eine bessere, weil tiefergehende Frage ist: Wie ist das, was passiert ist, eigentlich geschehen? Aber dazu später.)

Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich ist es wichtig, was in unserem Leben passiert – äußere Umstände beeinflussen eindeutig unser Leben. Und es gibt Lebensumstände, die wirklich belastend sind. Aber zwei Dinge dürfen Sie dabei nicht außer Acht lassen. Erstens: Wenn wir mit schwierigen Umständen konfrontiert werden, haben wir diese in gewisser Weise auch selbst geschaffen. Ich denke da an meine Patientin Charlotte und ihre Neigung zu unzuverlässigen Lebenspartnern wie dem Typen, mit dem sie im Wartezimmer flirtete. Die Umstände, in denen sie sich häufig wiederfand – voller Sehnsucht und Enttäuschung –, ergaben sich ja aus ihrem Verhalten. Sie wiederholte eine Geschichte aus ihrer Kindheit, indem sie Liebe bei einem Menschen suchte, auf den sie sich nicht verlassen kann, der sie zwar unglücklich macht, mit dem sie sich aber seltsamerweise auch sicher fühlt. Anfangs sah Charlotte nicht, welchen Part sie in dem ganzen Drama spielte – sie sah nur das Bühnenbild und die anderen Charaktere.

Der zweite Punkt, den wir nicht vergessen sollten, ist: Selbst wenn wir uns in schwierigen Umständen befinden, die wir uns nicht ausgesucht haben, können wir doch immer noch selbst bestimmen, wie wir darauf reagieren. Der tragische Tod von Johns Sohn musste sein Leben beeinflussen. Diesem Schmerz zu entkommen war schlicht unmöglich. Trotzdem versuchte er, sich vor Verlusterfahrungen zu schützen. Statt seine Verletzlichkeit zu zeigen, versteckte er seine wahren Gefühle hinter Frustration oder Wut. Oder er lenkte davon ab mit einer seiner »blödsinnigen Bemerkungen«. »Nichts kann mich berühren« – bei dieser Erzählung wollte er bleiben. So verhinderte er, dass sein Leben auseinanderbrach, nachdem das Undenkbare geschehen war. Schließlich aber merkte John, dass dieses Leitmotiv ihm nicht mehr zuträglich war. Dass er den Schmerz tief in sich vergrub, sich jede Freude und Nähe verbot – all das vertiefte seine Verzweiflung nur. Letztendlich erkannte er, welche Lücken seine Geschichte aufwies, und fing an, sich eine andere, gesündere Story zu erzählen.

Dazu aber musste John genau dort anfangen, wo er sich damals befand. Verstrickt in den Fehlschluss, dass Verletzlichkeit Schwäche sei. Verstrickt in ein Narrativ, das eine gründlichere Lektüre verlangte. Und genau an diesem Punkt fangen auch Sie jetzt an: mit dieser Arbeit und diesem Arbeitsbuch. Mit den Erzählungen von sich, die Sie mit sich herumtragen. Ihre Geschichten sind vermutlich ein Potpourri aus äußeren Umständen, ererbten Wahrheiten und lange bewahrten Mustern. Doch bevor Sie ans Lektorieren Ihrer Geschichte gehen können, müssen Sie diese erst einmal zu Papier bringen. Oder wie ich in Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden geschrieben habe: Wenn Sie sich selbst kennenlernen wollen, müssen Sie auch vergessen, wer Sie sind. Sie müssen die Geschichten über sich selbst, die Sie limitieren, umschreiben, damit Sie nicht mehr darin gefangen sind. Damit Sie Ihr Leben leben und nicht die Geschichte, die Sie sich über Ihr Leben erzählen. Sie glauben vielleicht, Ihre eigene Erzählung zu kennen. Aber das Ziel hier im ersten Kapitel ist, alle Bewertungen sein zu lassen und einfach draufloszuschreiben. Mit dem Ziel, sich selbst besser erkennen zu können, sodass Sie ein möglichst klares Bild von sich bekommen. Wenn Sie sich durch die einzelnen Übungen arbeiten, wird Ihr Blick auf Sie selbst facettenreicher. Und Ihr Bild von sich schärfer.

Wir wenden uns nun unserer Geschichte zu mit einer Übung, bei der wir den aktuellen Augenblick zu Papier bringen. Ich nenne das »Momentaufnahme des Innenlebens«. Es geht um Ihre Geschichte, und zwar so, wie sie jetzt in diesem Moment aussieht.

DIE ERSTE MOMENTAUFNAHME    Als eine 69-jährige Patientin vor einigen Jahren zum ersten Mal meine Praxis betrat, bot sich mir folgender Anblick: eine Frau, die sich bewegte, als wäre sie zehn Jahre älter, wie in Zeitlupe, mit hängenden Schultern, den Blick fest auf den Boden geheftet. Ein Jahr später saß mir eine andere Frau gegenüber – lebhaft und voller Energie. Natürlich sind dies zwei Bilder von ein und derselben Frau: Rita, die Frau, die sich mit dem Gedanken getragen hatte, ihrem Dasein an ihrem siebzigsten Geburtstag ein Ende zu setzen, weil sie so einsam war und ihr ganzes Leben bereute. Diese beiden Momentaufnahmen von Rita haben sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt, weil sie diese Frau in unterschiedlichen Momenten ihres Lebens darstellen. Keines der Bilder zeigt eine Gesamtaufnahme von Rita. Nichtsdestotrotz sind sie nützlich. Jedes erzählt uns etwas über die Leitmotive und Möglichkeiten, die Rita nicht sah, als sie zum ersten Mal in meine Praxis kam.

Wenn ich einen Patienten zum ersten Mal vor mir habe, sehe ich nur andeutungsweise, wer dieser Mensch ist. Wenn er oder sie zu mir kommt, ist die Person vielleicht nicht völlig am Ende, aber gut geht es ihr gewiss auch nicht. Sie ist voller Verzweiflung oder Abwehr, völlig verwirrt und steckt mitten im Chaos. Vielleicht ist sie auch ängstlich, weil sie noch nie bei einer Psychotherapeutin war. Möglicherweise hatte die Frau vor mir eine Fehlgeburt und fühlt sich deshalb innerlich wie tot. Manchmal lächeln die Patienten auch ständig und versuchen es mit Ablenkung, um mich auf Distanz zu halten. Ganz egal, wie der erste Schnappschuss aussieht, ich weiß, dass er nur ein unvollständiges Bild der Person liefert. Vielleicht sehe ich sie aus einem falschen Blickwinkel. Oder das Bild ist unscharf, weil die Person schmerzliche Gefühle, die wir später aufdecken werden, erst einmal kaschiert. Keine dieser Perspektiven enthüllt je die ganze Geschichte. So wie Ihr eigenes Narrativ nicht von einem einzigen Augenblick Ihres Lebens bestimmt wird. Deshalb werden Sie in diesem Arbeitsbuch immer wieder Gelegenheiten bekommen, eine Momentaufnahme zu erstellen. Die allererste ist nicht mehr als die Startlinie. Wenn Sie das Buch komplett durchgearbeitet haben, werden Sie eine ganze Reihe solcher Bildausschnitte gesammelt haben. Und diese sagen sehr viel mehr darüber aus, wer Sie wirklich sind.

Also nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und werfen Sie einen Blick in den Spiegel. Achten Sie auf Augenkontakt mit sich. Was sehen Sie? Oder Sie wechseln den Blickwinkel und fragen sich, was ich sehen würde, wenn Sie in diesem Augenblick meine Praxis beträten? Beschreiben Sie das Bild so genau, wie Sie nur können. Fangen Sie mit dem Aussehen an. Sind Ihre Schultern entspannt, oder haben Sie sie ängstlich hochgezogen bis fast zu den Ohren? Wirken Sie ruhig oder besorgt? Dann sehen Sie sich an, wie Ihr Geisteszustand im Moment ist: aufgeregt, peinlich berührt, ängstlich, traurig? Versuchen Sie, sich jeder Bewertung zu enthalten: Bleiben Sie so neutral wie der Spiegel. Wenn Sie je im Lift vor Ihrem Spiegelbild zusammengezuckt sind, weil Sie einen schlecht sitzenden Haarschnitt hatten, dann wissen Sie, dass es nicht immer leicht ist, sich selbst im Spiegel zu begegnen. Sehen Sie sich selbst mit den Augen des Therapeuten: mit Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und dem Bewusstsein, dass dieses Bild nur eine kurze Momentaufnahme auf dem Weg zu tiefgründigeren Entdeckungen ist.

Was ich sehe:

WAS BRINGT SIE HER?    Jeder Mensch, der sich in Therapie begibt, bringt eine Geschichte mit, warum er oder sie Hilfe sucht. Man nennt das die akute Problematik. Als Therapeuten hören wir hier natürlich zu, aber wir nehmen nicht an, dass diese ursprüngliche Erzählung das ganze Bild zeigt. Während wir gemeinsam Ihre Geschichte lektorieren, werden beherrschende Charaktere ihre Rolle verlieren, wohingegen anfangs unwichtige Figuren ins Rampenlicht rücken. Auch die Rolle des Patienten ändert sich – vom Kleindarsteller zum Protagonisten, vom Opfer zum Helden. Die Geschichte, mit der eine Patientin in die Therapie kommt, ist nur selten die, mit der sie am Ende wieder geht.

Aber jede Erzählung braucht einen Anfang, und in der Therapie fängt nun mal alles mit der akuten Problematik an – dem Problem, das den Patienten dazu veranlasst, sich in Therapie zu begeben. Das kann eine Panikattacke sein, eine Kündigung, ein Todesfall, eine Geburt, ein Beziehungsproblem, die Unfähigkeit, eine wichtige Lebensentscheidung zu treffen, oder eine akute Depression. Manchmal liegt das Problem auch gar nicht so deutlich auf der Hand – vielleicht ist es nur der vage Eindruck, irgendwie »festzustecken«, oder das nagende Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.

Als Julie zum ersten Mal zu mir kam, war ihre akute Problematik relativ klar: Man hatte kürzlich bei ihr Krebs diagnostiziert, und sie wollte Unterstützung in dem Behandlungsprozess, zumal sie gerade erst geheiratet hatte. Da ihre Ärzte zuversichtlich waren, dass es ihr nach einer Operation und anschließender Chemotherapie besser gehen würde, wollte Julie eine Therapeutin, die nicht Teil ihres »Krebsteams« war. Sie wollte Unterstützung als junge, frisch verheiratete Frau, die Krebs hatte. Natürlich war auch hier die Ausgangssituation – lernen, mit der Krebsdiagnose zu leben – ganz und gar nicht gleich dem Ende der Therapie. Aber Julies anfänglicher Wunsch, verletzlich und ehrlich mit ihrer Erfahrung umzugehen und »Teil der Lebenden« zu sein, waren wichtige Leitmotive, die unsere gemeinsame Arbeit durchzogen, auch als ihre Diagnose sich radikal veränderte. Anfangs war Julie klar, dass sie Hilfe brauchte, um in dieser Welt der Onkologie, der rosa Schleifchen und überoptimistischen Yogalehrerinnen zurechtzukommen. Und wir passten uns an ihre Bedürfnisse an, als sich die Dinge mit fortschreitender Zeit veränderten. Das Problem, mit dem der Patient oder die Patientin in Therapie geht, tritt meist deswegen deutlich zutage, weil die Person an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen ist. Biege ich nach rechts oder links ab? Versuche ich, den Status quo aufrechtzuerhalten, oder wage ich mich vorwärts ins Niemandsland? (Eine Warnung vorab: Die Arbeit, die Sie hier leisten, kann Sie – genauso wie in einer Therapie – ins Niemandsland führen. Und das, obwohl Sie eigentlich den Status quo sichern wollten.)

Aber über solche Wendepunkte müssen Sie sich jetzt noch keine Gedanken machen. Erzählen Sie einfach nur Ihre Geschichte, beginnend mit der akuten Problematik.

DIE AKUTE PROBLEMATIK    Was bringt Sie hierher, auf diese Buchseiten? Und noch wichtiger: Was bringt Sie gerade jetzt hierher? In dieser Übung gehen Sie zwei Fragen nach: Warum wollen Sie sich jetzt, in diesem Augenblick Ihrer Geschichte, auf die Suche begeben? Wo hoffen Sie zu stehen, wenn Sie dieses Buch durchgearbeitet haben? Hier einige Fragen, die Ihnen auf die Sprünge helfen sollen:

Was ist aktuell Ihre größte Herausforderung?

Welche Umstände haben Sie hierher gebracht?

Welche Gefühle kommen in Ihnen hoch, während Sie mit dieser Übung anfangen?

Wie würden Sie diesen Moment in Ihrem Leben beschreiben?

Wo hoffen Sie, am Ende des Buches zu stehen?

DIE GEFÜHLE HINTER IHREN GEFÜHLEN

Wir alle haben etwas in uns, was ich gerne den Ort der Erkenntnis nenne. Das ist jener Teil in uns, der alle Antworten parat hat, auch wenn diese vom »Lärm« der Außenwelt häufig übertönt werden – von Freunden oder Angehörigen oder Liebesbeziehungen oder allgemein von der Gesellschaft. Wir verlieren den Kontakt zu diesem Ort, weil wir uns ständig sorgen, was andere Leute wohl über unsere Gefühle denken mögen. Fast als wäre unsere Angst vor den Gefühlen schlimmer als die Gefühle selbst. Also verdrängen wir unsere Gefühle oder passen sie an – um anderen Menschen zu gefallen oder weil wir uns mit den Emotionen, die in uns brodeln, selbst nicht wohlfühlen. Und das führt häufig dazu, dass wir unsere am tiefsten empfundenen Bedürfnisse und Wünsche missachten. Dabei halten unsere Gefühle wichtige Erkenntnisse für uns bereit. Deshalb sage ich meinen Patienten immer wieder, dass unsere Gefühle wie ein Kompass sind: Sie liefern uns nützliche Informationen, die dazu führen, dass wir unsere Wünsche erkennen. Wie oft versuchen wir, unsere schmerzlichen Gefühle zu unterdrücken oder zu betäuben, dabei enthalten sie die Antwort auf die Frage, was in unserem Leben läuft und was nicht. Sie führen uns zu den Themen, die unsere Aufmerksamkeit verlangen. Ohne sie gehen wir ohne Wegweiser durchs Leben.

Die Übung zur akuten Problematik hat möglicherweise Gefühle in Ihnen wachgerufen – vielleicht verspüren Sie den Wunsch, mehr über etwas zu erfahren, oder Sie haben unangenehme Eindrücke, die mit Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zu tun haben. Jetzt ist es an der Zeit, diese Dinge genauer zu betrachten, um herauszufinden, ob Sie daraus etwas lernen können. Wir tun alles Mögliche, um unsere Gefühle nicht spüren zu müssen. Wir lenken uns mit Essen ab, mit Alkohol, ja sogar mit Chaos. Oder mit dem Internet. Eine meiner Kolleginnen nennt das Internet »das wirksamste rezeptfreie Kurzzeit-Schmerzmittel«. Manchmal, wenn wir unsere Gefühle nicht ertragen, werfen wir sie anderen zu wie eine heiße Kartoffel. John hat, wie Sie im Buch lesen konnten, seine Trauer und seinen Verlustschmerz kaschiert, indem er diese schwierigen Gefühle in andere umwandelte: Frustration und Wut. Diesen Trick beherrschen wir alle erstaunlich gut – ein Gefühl in ein anderes zu transformieren, Trauer in Ärger, Freude in Schuldgefühle, Einsamkeit in Selbsthass.

Herauszufinden, wie wir uns fühlen, und unser emotionales Befinden zu unserem Handeln in Beziehung zu setzen und umgekehrt, ist ein wichtiges Instrument der Selbstwahrnehmung. Es gibt so viele Möglichkeiten, uns unbewusst gegen unsere Gefühle zu wehren, dass es schwierig sein kann, sie aufzuspüren. Ich sehe häufig, wie Patienten sich zurückziehen und abstumpfen, wenn ein unerwünschtes Gefühl hervorkommt. Die Leute halten diese Taubheit für eine Art Vakuum, aber Taubheit ist nicht gleich Abwesenheit von Gefühlen: Sie ist vielmehr eine Gegenreaktion, wenn man sich von seinen Gefühlen überwältigt fühlt. Je mehr Sie Ihre tieferen Emotionen freilegen können, die sich hinter den offensichtlichen Gefühlen (oder der Taubheit) verbergen, desto besser werden Sie verstehen, was Sie empfinden und wie diese Gefühle Ihr Handeln beeinflussen.