Vienna Falling - Fabian Navarro - E-Book

Vienna Falling E-Book

Fabian Navarro

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Beschreibung

Vienna Noir – aber richtig deep Ein Spalt reißt auf vor dem Stephansdom, ein deutscher Tourist verschwindet. Die Suche nach ihm ist ein packender Trip in die Wiener Unterwelt Bei einem Kurzurlaub wollte das deutsche Touristenpaar Renate und Jürgen eigentlich nur etwas Wien anschauen. Doch dann öffnet sich vor dem Stephansdom plötzlich die Erde und Jürgen verschwindet spurlos. Was ist da passiert? Hat Jürgen den Sturz in den Spalt überlebt? Und warum scheint das niemanden zu kümmern? Schnell merkt Renate, dass ihr die Wiener Polizei keine große Hilfe ist. Also begibt sie sich selbst auf die Suche nach ihrem verschollenen Mann. Gemeinsam mit der Hilfe von Reinhold, einem semi-seriösen Geisterjäger, taucht sie ab in die Wiener Unterwelt. Dabei entdecken die beiden einen jahrhundertealten Komplott, der Zeit und Raum völlig durcheinanderbringt! Ein Roman, so spannend wie ein Krimi, so unterhaltsam wie eine Netflixserie und so deep wie die Katakomben unter dem Stephansdom.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fabian Navarro

VIENNA FALLING

Roman

EINS

Der Tag, an dem die Erde im ersten Wiener Gemeindebezirk bebte, sodass in den Souvenirshops am Stephansplatz die Schneekugeln aus den Regalen fielen und zerschellten, die Postkartenständer ineinanderkrachten und die Sisi-Kugelschreiber, die Sisi-Teller, die Sisi-Regenschirme, die Sisi-iPhone-Hüllen und die Sisi-Quietscheentchen zu Boden rissen, an dem die Schüler*innen der HTL Kapfenberg schreiend in alle Himmelsrichtungen davonrannten, dabei einen als Mozart verkleideten Studenten umstießen, und an dem schließlich unter einem mächtigen Knacken die Steinplatten aufbrachen, sich ein riesiger Spalt von einem Handyshop bis zum Eingangsportal des Stephansdoms auftat und einen einzigen Touristen – einen Deutschen – verschluckte, war ein Dienstag.

Renate Weber richtete sich auf. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Eine Taube schoss an ihrem linken Ohr vorbei. Geistesabwesend sah sie ihr nach. Als der Vogel in einer Seitengasse verschwunden war, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen vor dem Dom. Überall war Staub. Auf dem Boden lagen Zettel, Sonnenbrillen und Getränkebecher, die in Panik fallen gelassen worden waren. Dann erblickte sie ihren Mann Jürgen. Wie immer, wenn sie gemeinsam verreisten, war er auf eigene Faust vorausgegangen. Er stand verloren vor dem Riesentor, hinter ihm ragten die Heidentürme in den wolkenlosen Himmel. Er drehte sich um, suchte Renates Blick und fixierte sie. In dem Moment, als sie einen Schritt in seine Richtung tat, folgte das Nachbeben. Renate geriet erneut ins Schwanken, stürzte aber nicht. Das Nächste, was sie beobachtete, war, wie Jürgen auf dem menschenleeren Platz kopfüber in den Abgrund stürzte. In der Ferne: Hufgetrappel und Alarmanlagen. Sie rief nach Jürgen wie nach einem Kind, das sie dabei erwischt hatte, wie es etwas Verbotenes tat. Dann rannte sie los, wand sich aus dem Rucksack, den sie auf Anraten des Reiseführers vor den Bauch geschnallt hatte. An der Kante des Abgrunds vor dem Dom bot sich ihr ein Anblick, wie sie ihn aus Filmen wie The Day After Tomorrow oder den Katastrophenmeldungen aus Chile oder Japan oder sonst woher kannte. Unwirklich. So sah das aus. Ja, es wirkte geradezu ausgedacht, wie da die Stahlstreben und zerrissenen Strom- und Glasfaserkabel hingen, wie das brackige Abwasser aus den zerstörten Rohren in die Tiefe rann. Der Spalt war etwa vier Meter breit. Vorsichtig beugte sich Renate vornüber, um zu erkennen, wie tief es dort hinabging. Der Boden war nicht auszumachen, von Jürgen keine Spur. In ein paar Metern Entfernung konnte sie sogar die Katakomben entdecken, von denen sie gelesen hatte. Sie sah Grabkammern im Querschnitt, Totenschädel und Gebeine. Darunter jedoch klaffte die Schwärze. Sie kniete sich hin, nahm ein herausgebrochenes Stück Stein, warf es in die Tiefe, doch vergaß zu zählen.

„ Jürgen?“, rief sie zaghaft. Ihre Stimme hallte wider. Aber auch nach dem fünften Mal Rufen war die einzige Antwort, die sie bekam, der Ton einer Sirene, die sich in das Heulen der Alarmanlagen mischte. Der Name „ Jürgen“ wurde zu einem Mantra, das sie so oft wiederholte, bis es lediglich eine bedeutungslose Verkettung von Lauten war und Renate von zwei kräftigen Burschen des Roten Kreuzes gepackt und fortgebracht wurde.

Als man sie fragte, wie viele Finger man zeige, nannte sie die Zahl vier statt fünf. Jemand leuchtete ihr mit einer Taschenlampe ins Auge. Sie schüttelte die goldene Rettungsdecke ab, dafür war es doch viel zu warm. Ob sie Schmerzen habe. Nein. Von wo aus in Deutschland sie denn sei, man höre das ja. Hannover. Ob sie Kontakte in Wien habe, ob sie wo unterkomme. Jürgen hat die Zimmerkarten.

ZWEI

Liebe Community,

ich weiß, ich habe schon länger nichts mehr gepostet #shameonme, aber nachdem die Kleine gerade auf Klassenfahrt ist und der Mann arbeiten, habe ich endlich wieder Zeit. Natürlich wurde immer fleißig mitgelesen und nachgemacht Nicht, dass der GermGustl mich wieder auf inaktiv setzt

Doch bevor wir zum Eingemachten (nicht wirklich haha) kommen, muss ich was fragen. Weil hier doch auch einige Leute aus Wien in der Gruppe sind, habt ihr das Erdbeben heute Morgen mitbekommen? Also im Ersten muss es ganz schön gewackelt haben, das habe ich sogar bei uns (Alsergrund) gespürt. Ein Bild ist vom Kamin gefallen und ich kann jetzt den schönen Rahmen ersetzen. Na toll. Gab aber vorher keine Warnung, oder? Na ja, mal warten, was die ZiB sagt.

Jedenfalls musste ich daran denken, wie ich 2001 mit der ganzen Bande in Südtirol war. K1 war gerade eingeschult worden. Wir hatten ein Haus in der Nähe von Bozen. Mitten in den Weinbergen, sehr herzig! Und ich weiß noch genau: Wir sitzen gemütlich draußen bei Prosciutto und Oliven, als es plötzlich die Weingläser vom Tisch fegt. Der Junge muss weinen und der Gatte tritt zu allem Überfluss in die Scherben. Sogar in der Fassade hat man das gesehen, die Risse meine ich. Es war ur schnell vorbei, aber ich muss sagen, dass ich noch Tage später gemerkt habe, dass ich so zittrig war. Das bringt einem ja auch keiner bei?! Klar: Man soll unter die Tische oder sich schützen, aber das ist doch wie im Flugzeug, wenn das abstürzt, glaubst, irgendwer hält sich an diese Regeln, die sie da vorher mit diesem Theater erklären? Also ich würde mein Hab und Gut sicher nicht in dem Wrack lassen, wenn sie das evakuieren. Wie ihr euch denken könnt, waren wir alle ganz schön durch den Wind. Irgendwann kam dann auch unser lieber Vermieter Sergiound der hat sich natürlich erkundigt, wie es uns geht, und sich den Schaden angesehen wegen der Versicherung. „Mezzo selvaggio“ (heißt so was wie halb so wild) hat er nur gesagt und das ist bei uns mittlerweile so ein Insider in der Familie, wenn jemand unnötig Panik schiebt haha. Dann ist er in die Küche und wir dachten, der prüft noch mal die Therme, denn da muss man ja höllisch aufpassen bei einem Erdbeben, doch nach so zwanzig Minuten, als ich mir schon wieder Sorgen gemacht habe, hat der uns eine riesige Platte Bruschetta als Nervennahrung serviert.

Und weil mich das heute so daran erinnert hat, wollte ich das Rezept mit euch teilen. Also ihr braucht:

Ciabatta / Fladenbrot

10 EL Olivenöl (am besten vom Importhandel)

ordentlich Knobi (3–4 Zehen)

400 g Cherrytomaten

1 Bund Basilikum

1 große Zwiebel

Salz

Pfeffer

Brot mit Knoblauch einreiben, in 4 EL Öl rösten, bis die Scheiben knusprig sind. Tomaten halbieren und den Glibber rausnehmen (kann man übrigens einpflanzen!). Die Tomaten, den restlichen Knoblauch und die Zwiebel würfeln, Basilikum grob hacken. In einer Schale mit dem restlichen Öl vermengen und auf die Scheiben geben! Mezzo selvaggio, buon appetito! (Senfhexe)

GermGustl: Schön, dass du wieder da bist! Ich muss nur manchmal die Karteileichen hier verschwinden lassen, sonst weiß man ja gar nicht mehr, wer hier mitliest.

Heididei75: Willkommen zurück! Daumen nach oben, wird gleich heute probiert.

Nordlicht: Und wie ich das gemerkt habe! Machen gerade Wienurlaub und waren direkt am Stephansplatz, wo mein Mann in diesen Spalt gefallen ist. Die Knalltüten vom Roten Kreuz konnten mir nicht helfen, ich soll zur Polizei gehen, aber weiß auch nicht, was die machen wollen. Kann wer helfen?

Schnitzel_Fan: Dreist wie ich bin, habe ich noch eine Zehe Knoblauch mehr genommen … aber ich habe auch Urlaub und küssen will mich niemand.

DREI

Bevor sich die Wohnungstür in der Liliengasse öffnete, verdunkelte sich der Türspion und es blieb für einen Moment still. Dann schnappten die beiden Schließmechanismen der Sicherheitsriegel aus dem Schloss und vor Reinhold Gruber erschien Gabriele Wiesinger. Sie trug ein lachsfarbenes Sakko und eine weiße Hose. Über die Schultern hatte sie einen zarten weißen Pullover gelegt und von den Ohren hingen schwere goldene Ohrringe. Die Möbel der Wohnung mussten noch aus der Kaiserzeit stammen. Zu ihren Füßen saß zitternd ein kleiner Malteser, der Reinhold Gruber wütend anknurrte.

„Da sind Sie ja“, begrüßte sie ihn. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das mache, aber ich weiß einfach nicht weiter.“

„Keine Sorge“, sagte Reinhold. „Für die meisten ist es das erste Mal. Wir schauen uns das Phänomen in Ruhe an und sehen dann, was wir tun können.“

„Phänomen“, wiederholte Gabriele Wiesinger und lächelte nervös. Dann streckte sie den Kopf aus der Tür, sah an Reinhold Gruber vorbei ins Stiegenhaus und bat ihn eilig herein. Er wuchtete seinen Etagenkoffer aus Aluminium über die Türschwelle.

„Das alles brauchen Sie?“, fragte sie ungläubig, während die Talismane, Phiolen voller Weihwasser, Tinkturen und Kräuter in Tupperdosen sowie Edelsteine und Schutzsymbole in ihren Fächern klapperten und klirrten.

„Ich bin gerne vorbereitet. Man weiß am Anfang nie, womit man es zu tun hat“, sagte Reinhold. Am Anfang, das wusste er, musste man möglichst vage bleiben.

„Bevor ich Ihnen das Wohnzimmer zeige, darf ich Ihnen ein Wasser oder einen Kaffee anbieten?“

„Also ich möchte Ihnen davon abraten, in den nächsten Stunden elektrische Geräte zu verwenden.“

„Aha?“ Gabriele zog die Augenbrauen zusammen.

„Wegen den Schwingungen“, sagte Reinhold. Er wusste, was Eindruck machte. „Meine Geräte sind sehr empfindlich und wenn wir genau messen wollen, müssen wir alle Interferenzen so weit wie möglich reduzieren.“

„Na, wenn Sie das sagen. Was soll ich in der Zwischenzeit mit Coco machen? Nicht, dass sie die Geräte stört. Sie ist nämlich ganz aufgedreht, seit diese Geräusche da sind.“

Sorge mischte sich in ihr Gesicht. Gut so.

„Gar kein Problem“, sagte Reinhold und machte eine beschwichtigende Geste. „Dafür habe ich einen Piezofilterkristall dabei, der unerwünschte Schwingungen abfängt.“ Er griff nach einem beliebigen Quarz aus einem der oberen Kofferfächer und zeigte ihn Gabriele, die erleichterter wirkte. „Ich müsste erst einmal alles aufbauen und dann schauen wir weiter.“

„Soll ich den Strom im Wohnzimmer abstellen, bevor Sie beginnen?“

„Das wäre hilfreich!“, sagte er. „Und verdunkeln Sie die Fenster.“ Er arbeitete immer im Dunkeln, da nur so der Effekt der Nachtsichtkamera voll zur Geltung kam. Während Gabriele die schweren Vorhänge vor die doppelten Altbaufenster zog, baute er seine Gerätschaften auf. Er platzierte eine Kamera auf dem schwarz lackierten Sekretär neben einem Huhn und einer Puppe aus Porzellan. Er verzog das Gesicht. Seine Mutter hatte einst als Kind ebenfalls so eine besessen und sie als Dekoration in die Wohnung in Favoriten gebracht, in der er aufgewachsen war. Später waren weitere dazugekommen. Als kleiner Junge hatte er sich vor den ausdruckslosen Figuren gefürchtet, die auf dem Rand der Wohnzimmercouch saßen und ihn unentwegt anstarrten. Er wandte sich ab und verteilte die Messgeräte im Raum. Einige von ihnen waren einfach Elektroschrott, den er aufwendig zusammengelötet hatte, sodass es auch nach etwas aussah. Die Leute sollten schließlich etwas bekommen für ihr Geld.

„Wahnsinn, was man alles braucht“, sagte Gabriele, die nun mitten auf dem Perserteppich stand und Reinhold dabei zusah, wie er sich am Bücherregal zu schaffen machte und ein Richtmikrofon neben der Grillparzer-Gesamtausgabe und einem Ernst-Jandl-Band platzierte.

„Wenn sich das Phänomen so einfach zeigen würde, bräuchten Sie mich schließlich nicht zu rufen.“

Beide lachten, Gabriele angespannt, Reinhold gönnerhaft. Als er den Aufbau beendet hatte, kontrollierte er noch einmal die Aufzeichnungsgeräte. Die Frau war eine Skeptikerin, da musste man besonders gründlich sein. Er drückte ein paar funktionslose Knöpfe und sah prüfend auf die Digitalanzeige eines umfunktionierten Multimeters.

„Die Geräusche kamen nur aus diesem Raum?“

„Genau.“ Gabriele nickte eifrig. „Aber ich bin ganz sicher, es war ein Flüstern. Erst dachte ich, jemand hat den Fernseher laufen oder es ist das Radio auf der Baustelle unten, aber nein, ich bin ganz sicher.“

Reinhold gab sich verständnisvoll.

„Ich komme mir albern vor“, fuhr sie fort. „Ich bin wirklich keine, die an so etwas glaubt. Aber dann habe ich Sie bei Guten Morgen Österreich gesehen! Und so wie Sie das erklärt haben, klang es ja zumindest seriös. Ich wäre sonst nie auf die Idee gekommen einen Gei–, ach nein, entschuldigen Sie, wie war der Ausdruck?“

„Paraspektograf “, sagte Reinhold.

„Genau, ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen Paraspektografen zu rufen.“

In der Tat war dieser Auftritt im Frühstücksfernsehen das Beste, was ihm hätte passieren können. Seither hatte er ein bis zwei Aufträge in der Woche, die ihm seine magere Pension erheblich aufbesserten.

„Was brauchen Sie denn, um das … Wesen – sagt man das so? – loszuwerden?“

„Immer mit der Ruhe. Zunächst werde ich ein paar Messungen durchführen. Wir schauen uns die Ergebnisse gemeinsam an und Sie entscheiden, was die nächsten Schritte sind. Wir beobachten zuerst und urteilen dann, ganz rational.“ Etwas Anspannung schien von Gabriele abzufallen. „Und das Phänomen ist aufgetreten, wenn Sie gerade nicht im Raum waren?“

„Genau, meistens war ich im Flur oder in der Küche.“

„Dann würde ich vorschlagen, wir gehen jetzt hinüber und warten ein wenig.“

Sie setzten sich in die hochmoderne Küche, die so gar nicht zur übrigen antiquierten Einrichtung passen wollte. Reiche Leute hatten selten ein Gespür für Schönheit. Hier war es so sauber, dass sich Reinhold nicht vorstellen konnte, dass Gabriele hier auch nur ein einziges Mal selbst gekocht hatte.

„Darf ich Sie mal etwas fragen?“ Gabriele sah ihn an. „Wie kommt man zu so einem Beruf? Eine Ausbildung wird es da ja nicht geben, oder?“

Also begann Reinhold zu erzählen. Vor zwei Jahren hatte er mit seinem Service begonnen. Zuvor war er dreißig Jahre lang Kammerjäger in einem Schädlingsbekämpfungsbetrieb im 12. Bezirk gewesen. Die Idee hatte ihm ein Bekannter aus Niederösterreich geliefert. Dieser arbeitete als Programmdirektor der Burg Kreuzenstein. Eines Tages bekam er ein E-Mail von einem britischen Ehepaar, das in der Burg nach Geistern suchen wollte. Zuerst, so Reinholds Bekannter, habe er nichts davon wissen wollen. Die Burg Kreuzenstein hatte sich seit jeher um eine historisch akkurate Darstellung des Mittelalters bemüht. Von der Gründung im 12. Jahrhundert über die Zerstörung im späten Dreißigjährigen Krieg bis zum Wiederaufbau durch Nepomuk Graf Wilczek im Jahr 1874 war ein Großteil der Geschichtsschreibung bereits abgeschlossen. Naturgemäß ergaben sich einige historische Lücken, die sich jedoch nicht ohne Weiteres mit Hokuspokus oder Geisterschmarrn füllen ließen. Andererseits gestand Reinholds Bekannter, kämpfe die Burg Kreuzenstein mit rückläufigen Besuchszahlen. Die Instandhaltung der Anlage sei kostspielig gewesen. Trotz der Kulturförderung des Landes Niederösterreich fehle es an internationalem Tourismus. Wirtschaftliches Arbeiten sei fast nicht möglich gewesen. Reinholds Bekannter konnte es sich nicht leisten, unhöflich zu den wenigen auswärtigen Gästen zu sein. Entgegen allen Erwartungen erwies sich dies als ein absoluter Glücksgriff. Das Ehepaar stellte ein paar seltsame Apparaturen auf und filmte die Anlage bei Nacht. Auf den verwackelten und schlecht aufgelösten Aufnahmen gab es an einer Stelle des Videos einen Schatten, den das Paar als Engelbrecht von Wasserburg identifizierte.

„Ich muss sagen“, sagte Reinhold und beugte sich verschwörerisch zu Gabriele, „ich konnte da ehrlich gesagt nicht viel erkennen außer ein paar dunkler Flecken auf einer Mauer im Wehrgang.“

Aber die Community der Paranormal Spectographers hatte offenbar bessere Augen als Reinhold. Die YouTube-Videos und Blogposts des Ehepaares gingen in ihrer Szene viral und lockten, nachdem auch der Guardian darüber berichtet hatte, ein breites Publikum nach Leobendorf und die Gasthöfe waren Monate im Voraus ausgebucht. Reinhold war augenblicklich fasziniert. Er besaß seit jeher eine große Leidenschaft für Stephen-King-Romane und John-Sinclair-Hefte und er hatte sich in seiner berufstätigen Zeit häufiger vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn das Kratzen in den Wänden nicht von Ratten, sondern etwas anderem herrühren würde. Natürlich glaubte er nicht an Geister – was er vor Gabriele nicht erwähnte –, aber ihm war auch klar, dass die Naturwissenschaften viele Dinge nicht erklären konnten. Dass sein Stundenlohn als Paraspektograf deutlich höher war als in seinem vorherigen Beruf und er sich seine Wohnung nur auf diese Weise leisten konnte, verschwieg er.

„Ich habe mir also angesehen, wie die Kollegen in England arbeiten. Mir ist es wichtig, dass Sie klare Ergebnisse erhalten. Oft ist es wirklich nur die Fantasie, die mit einem durchgeht, aber manchmal –“

In diesem Moment klirrte der Luster im Flur und die Erde begann zu beben. Kästen flogen auf. Töpfe und Pfannen verteilten sich scheppernd auf den Steinfliesen. Etliche Gewürzgläser zerbrachen, bis der Boden bedeckt war mit Scherben, Thymian und Pyramidensalz. Die Erschütterung dauerte nur wenige Augenblicke. Reinhold und Gabriele, die beide unter dem Küchentisch saßen, sahen sich an.

„Das war jetzt aber nicht etwa eines Ihrer Geräte, oder?“, fragte Gabriele, die sich mit einer Hand an einem Tischbein festhielt und mit der anderen Coco davon abhielt, durch die mit Scherben übersäte Küche zu rennen.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das hier war ein Erdbeben.“

Plötzlich winselte der Hund in Gabrieles Griff.

„Was ist den los, Wuzzi?“, fragte Gabriele und wie zur Antwort rief eine Stimme: „Hallo? Hallo, bin ich hier richtig?“

VIER

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Es hat sich ausgetanzt!

Hey Waltzys,

ich schulde euch ein dickes SORRY. Viele von euch haben versucht mich zu erreichen. Wie ihr wisst, ist mir Mental Health sehr wichtig, sonst hätte ich niemals dieses Projekt angefangen. Deshalb war ich auch die letzten Wochen bei meinen Eltern in Salzburg, um mal den Kopf freizumachen und Bergluft zu atmen. Gras anfassen, sich wieder spüren – ihr versteht.

Ich will auch gar nicht groß herumreden. Die harte Wahrheit ist: Es ist vorbei! EternalWaltz ist Geschichte. Finito. Ich kann mir vorstellen, dass das für manche jetzt etwas überraschend kommt. Der Grund dafür ist, dass ich vor meiner finalen Entscheidung sichergehen wollte, alles gegeben zu haben. Und ich habe alles gegeben. Es sind in der Vergangenheit einige Fehler gemacht worden und dafür musste ich als CEO die Verantwortung übernehmen. Das habe ich auch immer gemacht, ohne mit der Wimper zu zucken. Allerdings sind mit der Bestattung Wien nun auch die letzten potenziellen Finanziers abgesprungen, und selbst das war ein Strohhalm, nach dem wir in unserer Not gegriffen haben. Laura und ich haben wirklich ALLES getan, was in unserer Macht stand, aber egal wie man es dreht und wendet – es geht nicht. Ich hänge hier jetzt mit meinem Privatvermögen drin und das war von Anfang an für mich der Pull-out.

Lange Zeit waren wir im Bereich Grieftech ein ernstzunehmender Player. Ich bin sicher, mit längerem Atem hätten wir die Szene auch noch heftig aufmischen können, aber es führt kein Weg dran vorbei: Wir müssen den Stecker ziehen.

Es war awesome mit euch auf dieser Reise zu sein und bitte glaubt mir, dass das nichts mit euren Skills oder euch als Menschen zu tun hat. Ich würde jederzeit wieder mit euch zusammenarbeiten, wenn sich neues Kapital auftreiben ließe. Es ist eine reine Businessentscheidung. Scheiße, aber wahr.

Für das Büro muss ich jetzt eine Lösung finden, es wäre aber gut, wenn ihr euren persönlichen Stuff bis Ende der Woche abholen könntet, dann kann ich einen Makler drauf ansetzen.

Wenn ihr was von mir braucht: Empfehlungsschreiben, Kontakte in die Start-up-Szene oder Fragen habt, schreibt einfach der Laura, die kümmert sich!

Danke für das gemeinsame Träumen!

Euer Mike

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Re: Es hat sich ausgetanzt!

Hallo Mike, das ist ein Schock. Vor zwei Wochen hast du noch gesagt, wie gut alles läuft. Auch Lauras Aussagen und deine Präsentation im Februar haben ein völlig anderes Bild vermittelt. Da sollten wir noch die verbesserte Stimmsynthese für die Verstorbenen und die handschriftlichen Briefe umsetzen. Das kann ich mir jetzt wohl schenken …

Für meine Situation ist das unfassbar schlecht und mein letztes Gehalt ist auch noch nicht eingegangen, kannst du das bitte langsam mal überweisen?

Liebe Grüße

Magda

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Re: Es hat sich ausgetanzt!

Servus Mike,

okay … das kam unerwartet. Was machen wir denn mit den Accounts? Also derzeit haben wir auf unseren Servern über 5000 KI-Modelle von Verstorbenen – sollen wir die irgendwie exportieren und an die Kunden schicken? Was ist mit den ganzen Trainingsdaten? Die wollen bestimmt selbst entscheiden, was mit denen geschieht. Ist am Ende auch eine Datenschutzfrage. Du weißt, als Freelancer könnte mir herzlich egal sein, was du mit der Firma anstellst, ich habe genug zu tun, aber bitte schau auf Magda und Jelena, die sollten das nicht ausbaden müssen.

lg

Anton

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Re: Es hat sich ausgetanzt!

Hey Mike,

ich hoffe, es geht dir besser. Mir haben gerade Magda und Jelena geschrieben wegen ihrem Geld. Keine Sorge, ich regele das, damit du nicht noch mehr Stress hast. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich gedulden. Bis das beim Insolvenzgericht durch ist, dauert es eh noch ewig. Die Kunden kann ich auch vertrösten. Anton meinte, die Server laufen bis Jahresende, und ganz ehrlich, es stand schließlich so in den Nutzungsbedingungen, dass wir keine Haftung übernehmen, wenn der Service eingestellt ist. Ich mache mich noch mal bei meinen JUS-Leuten schlau, aber da sind wir fein raus.

Du hast richtig entschieden. Wir schaffen das alles schon

Alles Liebe

Laura

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Re: Es hat sich ausgetanzt!

Ich muss auch was loswerden: Fick dich, Mike!

FÜNF

Renate steckte ihre neue Zimmerkarte in den Slot des Energiesparschalters neben der Tür. Mit einem Klicken gingen die Lichter an und auf dem Fernseher erschien die Gloriette im Schlosspark Schönbrunn bei Sonnenaufgang. Über dem Foto lag ein Filter. Der Himmel strahlte unnatürlich blau, während der restliche Teil des Bildes in Sepiafarben getaucht war. Erschöpft ließ sich Renate auf das Kingsize-Bett fallen. Die Gloriette verschwand und an ihre Stelle trat ein Schnappschuss aus dem Café Central, auf dem ein Kellner einem lächelnden Pärchen eine Sachertorte servierte. Renate starrte eine Weile auf den Bildschirm. Das Café mitsamt seinen Bogen und Kronleuchtern verschwand und es erschien der Stephansdom. Es war eine Aufnahme aus einem Winkel, der die Kirche noch gewaltiger und übernatürlicher wirken ließ, bedrohlich. Darüber stand in großen Lettern: Willkommen Jürgen Weber! Das Team des Boutique Hotels Novak wünscht Ihnen einen schönen Aufenthalt.

Renate schaltete den Fernseher aus. Sie schleuderte ihre Halbschuhe in den offenen Kleiderschrank, wo sie gegen das Holzfurnier krachten und anschließend in ihren offenen Koffer fielen. Sie machte sich in Hotels nie die Mühe, ihren Koffer auszupacken. Wozu denn? Antwortete sie Jürgen auf jeder Reise, wenn er sie fragte. Sie blieben nirgends länger als zehn Tage und außerdem gab es für sie nichts Schlimmeres, als etwas in siffigen Hotelschränken zu vergessen. Die Vorstellung, dass das Reinigungspersonal oder gar andere Gäste ihre Kleidung vorfanden und sich ein Urteil über sie bildeten, ließ sie erschaudern. In der anderen Hälfte des Schranks hatte Jürgen seine Hemden auf die Kleiderbügel gehängt. Seine T-Shirts, Pullover sowie die Unterwäsche und Socken lagen gefaltet in den Fächern. So lange wollten sie hierbleiben. Sieben Hemden, sieben Unterhemden, zwei Hosen und acht Unterhosen lang hatten sie ihren Österreich-Trip geplant. Nach Wien wollten sie noch einen Abstecher nach Graz und Salzburg machen. Renate hatte wie immer alles rausgesucht. Sie hatte die Preise der Hotels verglichen, die Wahrzeichen aufgelistet, die man gesehen haben musste, die Preise für diese herausgesucht und Rabattaktionen und Citypässe recherchiert. Im Anschluss hatte sie Jürgen alles gezeigt, der hatte genickt und völlig tonlos „Ich freu mich wie ein Schnitzel!“ gesagt und die Zahlungen getätigt.

Doch jetzt? Jetzt waren sie erst einen Tag hier und hatten weder ein Schnitzel gegessen noch eines der urigen Kaffeehäuser besucht. Stattdessen hatte Renate den gesamten Tag auf der Polizeiwache und in diesem hässlichen Krankenhaus verbracht, wo sie Fragen beantworten musste, aber nie Antworten auf ihre eigenen bekam. Die Wartezeit war eine Unverschämtheit und ständig musste man ihr Dinge zweimal sagen, weil die Menschen hier einfach nicht in der Lage waren, normales Deutsch zu sprechen. Zwischenzeitlich hatte sie sogar das Gefühl, die Beamten machten sich über sie lustig. Sie konnte gar nicht genau festmachen, woran es lag, aber noch nie hatte sie sich in Hannover bei einer Behörde so unwohl gefühlt. Was sie am meisten irritierte, war, wie oft man sie fragte, ob sie Deutsche sei.

Warum zur Hölle war das wichtig, wenn es darum ging, ihren Mann zu retten? Die einzige Antwort, die sie von allen bekam, war, dass man sich bei ihr melden würde, sollte sich etwas Neues ergeben. So eine bescheuerte Nullaussage. Am Ende hatte sie sogar in ihr Rezepteforum geschrieben, weil sie so verzweifelt war. Die Pfannenzauber-Community, in der sie sich seit Jahren aktiv über Koch- und Backrezepte austauschte, war deutlich hilfsbereiter gewesen als die Polizei oder die Rettungskräfte. Natürlich konnten GermGustl und Senfhexe ihr nicht sagen, ob und wann endlich jemand diesen gottverdammten Spalt hinunterklettern würde, um ihren Jürgen zu retten, aber zumindest boten sie ihre Hilfe an. Senfhexe hatte eine Freundin bei der Stadtverwaltung, die sie um Rat fragen wollte, und GermGustl bot ihr seine allgemeine Unterstützung an, obwohl er selbst zugab, dass er nicht wusste, was in so einem Fall zu tun war.

Renate dachte daran, wie hilflos Jürgen sie vor dem Stephansdom angesehen hatte. Es war der gleiche Gesichtsausdruck, den er aufgesetzt hatte, als sie ihn an einem hektischen Tag bat die Waschmaschine einzuschalten. Er stand im Hauswirtschaftsraum und starrte, den Weichspüler in der Hand, regungslos auf die einzelnen Fächer der Einfüllklappe. Es war ein Aussetzer, der ihm, als sie ihn irritiert fragte, was da so lange dauere, deutlich unangenehm war.

Jürgen sah sich selbst als Macher. Er bestand darauf, das Bad selbst neu zu fliesen, die Hecke zu schneiden und die Leitungen für die Terrassenbeleuchtung zu verlegen. Dass es Dinge gab, die seine Kompetenz überstiegen, ignorierte er meisterlich. Und genau das machte Renate Sorgen. Nicht nur die Tatsache, dass Jürgen zig Meter hinab in einen Abgrund gefallen war, sondern der Umstand, dass er diesen Blick aufgesetzt hatte. Wie tief war sein Sturz wohl gewesen? Hatte er ihn überlebt? Sie schüttelte sich. Natürlich hatte er das. An der Abbruchkante des Spalts hatte sie Vorsprünge und herausragende Rohre und Gitter gesehen. An einem davon würde er sich doch festgehalten haben. Gleichzeitig schob sie die Bilder von blutigen Schädeln und zertrümmerten Knochen beiseite. Sie musste klar bleiben.

Wahrscheinlich war er verletzt, aber zum Glück waren sie hier in Österreich. Hier würde man angesichts einer Katastrophe ganz bestimmt kompetent und effizient handeln.

Renate ging ins Bad. Auch hier hatte Jürgen seine Auspackzeremonie vollzogen. Auf dem ausladenden Waschbecken lehnte seine Zahnbürste in einem Becher und die Badutensilien wie Rasierer, Rasierschaum, Rasierwasser und Deo standen nach Größe sortiert vor dem Spiegel. Renates offener Kulturbeutel lag daneben. Sie drehte den Hahn auf und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Zurück im Zimmer sah sie auf ihr Handy. In den ersten Stunden hatte sie versucht Jürgen zu erreichen, doch jeder einzelne Anruf ging direkt auf die Mailbox. Kein Wunder: Wie sollte Jürgen in diesem Loch auch Empfang haben? Sie öffnete ein paar Nachrichten von Verwandten und Freund*innen, die sich nach ihr erkundigten, nachdem sie im Fernsehen die Meldungen aus Wien gesehen hatten. Offenbar war Jürgen dort sogar namentlich genannt worden. Denen, die ihr Beileid aussprachen, antwortete sie nicht. Sie fand es eine Frechheit, dass diese Leute offenbar davon ausgingen, dass Jürgen nicht mehr am Leben war. Zu diesem Zeitpunkt war noch gar nichts klar. Sie hoffte nur, dass die Kinder nichts mitbekommen hatten. Auf dem Bett liegend las sie ein paar Zeitungsberichte, doch auch dort wurde nur über die Ursache der Katastrophe spekuliert. Es war die Rede von schadhaften Gasleitungen, einem Defekt in der U-Bahn und ein Vertreter der FPÖ sprach sogar von Terror. Viel größer schien das Erstaunen darüber zu sein, dass es „beinahe keinen Personenschaden“ gegeben hatte, obwohl der Platz voller Menschen gewesen war. Ein Tourist aus Deutschland gelte noch als vermisst, ansonsten sei die Situation unter Kontrolle. Mit weiteren Beben sei laut Expert*innen derweil nicht zu rechnen. Renate schnaubte und schüttelte verständnislos den Kopf. Sie betrachtete sich im Spiegel. Müde sah sie aus. Aber es wäre unmöglich gewesen, jetzt direkt ins Bett zu gehen. An Schlaf war nicht zu denken. Zitternd griff sie nach dem iPad.

Im Forum gab es ein paar neue Rezepte. Mehrere Stunden verbrachte sie damit, positive Bewertungen und Kommentare zu hinterlassen. Senfhexe hatte ihr Videos mit Tierbabys geschickt. Genau das, was sie brauchte. Als sie nach der dritten Wiederholung eines Videos, in dem ein Waschbär traurig feststellte, dass sich seine Zuckerwatte in einer Pfütze aufgelöst hatte, aufsah, war es draußen längst dunkel geworden. Niemand hatte sie in der Zwischenzeit angerufen. Weder die Polizei noch sonst wer. Sie seufzte, schaltete das iPad aus und ging noch mal ins Bad. Korrigierte ihr Make-up, zog die Zimmerkarte aus dem Slot und das Licht erlosch.

Das Boutique Hotel Novak lag in der Gonzagagasse im ersten Wiener Gemeindebezirk. Zu Fuß waren es nur wenige Gehminuten bis zum Stephansplatz. Obwohl es erst März war, schwitzte Renate unter ihrer Jacke. Menschen waren kaum auf den Straßen und die, die Renate entgegenkamen, sahen ernst und gehetzt aus. Im Hintergrund hörte sie vereinzelte Sirenen. Als sie in die Gasse mit dem seltsamen Namen „Brandstätte“ einbog, sah sie bereits die Absperrung. Zwei Polizeiwagen parkten dort. Die Farben waren andere als in Deutschland: weiße Grundierung und in der Mitte der Motorhaube ein tiefes Blau, gerahmt von roten Streifen. Es wirkte auf eine seltsame Weise altbacken. Einige Beamt*innen saßen in den aufgeschobenen Wagentüren. Auf den Balkonen über den Autos standen mehrere Anwohner*innen und reckte ihren Hals in Richtung des Trubels. Hinter der Absperrung konnte Renate einen Ausschnitt des Stephansplatzes erkennen. Bauleuchten waren aufgestellt worden. Menschen in Warnwesten eilten umher. Stummes Blaulicht und Personen mit Foto- und Filmkameras. Als Renate nähertrat, sah eine Beamtin auf, registrierte sie und lief eilig auf sie zu.

„Der Platz ist gesperrt, bitte gehen Sie außen herum“, sagte sie und deutete auf eine Seitengasse hinter Renate. Die Polizistin war jung und obwohl ihre Gesichtszüge streng waren, lag etwas Sorge in ihrem Blick. Renate ignorierte ihre Geste.

„Gibt es etwas Neues? Mein Mann ist in diesen Spalt gefallen und ich wollte wissen, ob die Bergungsarbeiten endlich angefangen haben.“

Die Beamtin stutzte. „Ach“, sagte sie. „Das tut mir leid zu hören. Haben Sie bei den Kollegen bereits Ihre Kontaktdaten hinterlegt? Die werden Sie informieren.“

„Natürlich, aber das war vor Stunden! Wie lange wollen Sie denn noch warten?! Mein Mann ist da unten und ich verlange, dass endlich was passiert! Es kann doch nicht sein, dass Sie hier alle immer noch herumstehen und Däumchen drehen!“

Renates Stimme wurde immer lauter, während die Beamtin beschwichtigend gestikulierte und mit der anderen Hand zwei Kollegen heranwinkte.

„Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, aber ich versichere Ihnen, wir tun unser Bestes.“

„Wenn das Ihr Bestes ist, dann gute Nacht! Ich werde mich hier nicht wegbewegen, bis Sie mir sagen können, was die nächsten Schritte sind.“

Zwei breitschultrige Polizisten kamen auf Renate zu. Der eine groß und kräftig, der andere nur einen halben Kopf größer als Renate.

„Gute Frau“, sagte die Beamtin. „Ich folge hier nur meinen Anweisungen. Wenn Sie nicht freiwillig umkehren, muss ich Ihnen zu Ihrer eigenen Sicherheit einen Platzverweis aussprechen. Die Lage …“

Der kräftige Kollege, der ebenfalls etwas sagen wollte, wurde durch eine unverständliche Stimme aus seinem Funkgerät unterbrochen. Er entfernte sich ein paar Meter und deutete den beiden anderen weiterzumachen.

„Ich gehe hier nicht weg, nicht, bis ich weiß, ob Sie überhaupt mal einen Gedanken daran verschwendet haben, dass ein Mensch“, sie betonte das Wort Mensch, „da unten ist und Hilfe benötigt!“

Die Beamtin sah zu ihrem anderen Kollegen, der bisher stumm hinter ihr gestanden hatte. Sie nickten sich zu, woraufhin zwei kräftige Hände nach Renate griffen. Doch sie hatte in ihrer Studienzeit an genug Demonstrationen teilgenommen, um zu wissen, was in so einer Situation zu tun war. Sie wich nach unten aus und setzte sich auf den Boden. Sollten sie doch versuchen sie wegzutragen. Doch schon packten die beiden Renate von links und rechts unter den verschränkten Armen und machten Anstalten, sie hochzuheben.

„Fassen Sie mich ja nicht an! Ich will augenblicklich Ihre Dienstnummer sehen und Ihren Vorgesetzten sprechen!“

In dem Moment ließen die beiden von ihr ab. Renate blickte verdutzt hoch. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Worte bei diesen befehlsblinden Ordnungshüter*innen überhaupt etwas ausrichteten. Dann bemerkte sie, dass der große Polizist wieder dazugestoßen war.

„Das war die Rettung. Die kommen gleich hier durch und bringen die Drohne.“ Die Polizistin neigte sich auf Zehenspitzen zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er hörte ihr zu, ohne den Blick dabei von Renate abzuwenden. Schließlich beugte er sich zu ihr hinab und reichte ihr die Hand.

„Sie sind die Angehörige?“, fragte er. Renate nickte. „Sie können hier nicht sitzen bleiben, Sie behindern die Einsatzkräfte. Folgen Sie mir bitte.“

Renate stand auf, klopfte sich die Hose ab und ging zwischen der Beamtin und dem kleineren Polizisten hindurch. Beide taten so, als wäre nichts gewesen. Nachdem sie kaum die Absperrung passiert hatten, versuchte der Polizist die Situation mit etwas Small Talk zu entschärfen.

„Sie sind Deutsche, oder?“

SECHS

Seismische Anomalie in der Inneren Stadt

Ereignisbericht vom 14.03.2023

Sachbearbeiterin: Dr. Elif Aydin – Magistratsabteilung 68 – Feuerwehr und Katastrophenschutz

Aktenzeichen: KSW-23 0313 U+026A

Übersicht: Am gestrigen Vormittag um 11:28 Uhr Lokalzeit kam es in der Inneren Stadt zu einer seismischen Anomalie, die mit einem leichten Erdbeben und erheblichen Schäden an der Bausubstanz des Stephansplatzes und einiger umliegender Gebäudestrukturen sowie der U-Bahn-Haltestelle Stephansplatz einherging.

Verlauf und Auswirkungen: Am stärksten waren die Auswirkungen auf der Vorderseite des Stephansdoms, wo sich ein Spalt von 7,57 Metern Länge, einer maximalen Breite von 4,3 Metern und bisher ungeklärter Tiefe bildete. Während die Stärke der Erschütterung in der Region des Stephansplatzes auf der Momenten-Magnituden-Skala (Mw) einen Wert von 6,3 erreichte, nahm die Stärke bereits in den angrenzenden Gebäuden drastisch ab und erreichte nur einen Wert von 2,3 Mw. Bei Messungen durch die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) wurde festgestellt, dass die Ausbreitung der Raum- und Oberflächenwellen sich ausschließlich auf das Areal des Stephansplatzes und den Dom beschränkte. Im beiliegenden Bericht des ZAMG (A1) wird dies als „hochgradig außergewöhnlich“ beschrieben und bedarf im Folgenden einer ausführlichen Untersuchung. Dennoch sei davon auszugehen, dass zum aktuellen Zeitpunkt keine Notwendigkeit einer Evakuierung des Areals um den Stephansplatz besteht. Laut einer ersten Analyse durch eine Sachverständige der Baupolizei (Gruppe S – Statik) bestehe keine unmittelbare Einsturzgefahr. Es sei jedoch „höchste Vorsicht“ geboten.

Sachschaden: Neben dem oben erwähnten Spalt kam es zu Schäden an zwei Wasserrohren, was zu einem Ausfall der Wasserversorgung in der unmittelbaren Umgebung führte. Ebenfalls betroffen waren drei Gasleitungen. Dank einer raschen Reaktion durch den Zulieferer konnte das unkontrollierte Austreten von Gas rechtzeitig gestoppt werden, bevor es zu einer Entzündung kommen konnte. Betroffen waren außerdem zwei Leitungen des elektrischen Netzes, was für kurzfristige Stromausfälle sorgte. Diese konnten zum jetzigen Zeitpunkt bereits erfolgreich überbrückt werden. Überdies wurden zwei Telekommunikationskabel durchtrennt, was stellenweise zu Einschränkungen in der Festnetzkommunikation und dem Internet führte. Eine detaillierte Auflistung der beschädigten Leitungen befindet sich in der Anlage B2.

Personenschaden: Insgesamt kam es bei mindestens siebzehn Personen zu leichten, bei neun zu mittelschweren Verletzungen. Der deutsche Tourist Jürgen W. gilt derzeit als vermisst.

Eingeleitete Maßnahmen: Nach ersten Erkenntnissen wurde entschieden, die bestehenden Sicherheitsmaßnahmen auf ein Minimum zu beschränken. Es wurde ein Sperrperimeter um den Stephansplatz mit einer Sicherheitszone von 15 Metern angelegt. Der U-Bahn-Verkehr der Linien U1 und U3 wurde zwischen den Stationen Karlsplatz und Schwedenplatz sowie zwischen Stubentor und Herrengasse vorläufig ausgesetzt. Ein Schienenersatzverkehr wurde eingerichtet. In den kommenden Tagen folgt die Bildung einer Sonderkommission, die alle notwendigen Untersuchungen an der Unfallstelle dokumentieren, analysieren und koordinieren soll. Eine Einschätzung der entstandenen Kosten steht zu diesem Zeitpunkt noch aus.

Interne Notiz: Hey Conny, BITTE lies das alles noch mal gegen. Ich weiß, dass das ZAMG offiziell jetzt GeoSphere heißt, aber so richtig hat sich das noch nicht durchgesetzt. Der Kolbinger hat mir so weirde Anweisungen gegeben. Ich soll nur das Wichtigste reinschreiben. Kein Schwein hat einen Plan, was da passiert ist. Natürlich versuchen jetzt alle die Panik möglichst kleinzuhalten, aber hast du dir die Scheiße angesehen?? Sieht aus wie nach einem fucking Attentat. Ein Wunder, dass nicht noch mehr passiert ist. Überhaupt, dass sich alles nur um den Dom abspielt, kommt mir SO komisch vor. Ist doch irre, den Typen, der da reingefallen ist, als vermisst zu melden. Kein Mensch überlebt so einen Sturz. Bin mal gespannt, wer jetzt diese Kommission leiten muss.

SIEBEN

„Hallo? Ich bin's! Sag doch was!“ Die Stimme klang gedämpft und unnatürlich. Gabriele Wiesinger und Reinhold Gruber hockten unter dem Tisch und wagten nicht, sich zu bewegen. Ein Grund dafür waren die feinen Splitter, die überall auf den glänzenden Steinfliesen verteilt lagen. Ein zweiter Grund war ihre absolute Verwunderung über das, was sie gerade erlebt hatten. Ein dritter Grund war das gespenstische Flüstern aus dem Wohnzimmer. „Hallooo?“ Die Stimme sprach zum zweiten Mal. Reinhold rührte sich nicht. Coco hingegen lief zur Höchstform auf. Der Hund sprang inzwischen vor der Küchentür hin und her und bellte aus Leibeskräften.

„Das war's!“, sagte Gabriele und wirkte dabei seltsam freudig. Wie ein Kind, das einem anderen eine geheime Stelle am Fluss zeigte. „Das war die Stimme, von der ich Ihnen bereits am Telefon erzählt habe.“

Reinhold wusste nicht, wie er reagieren sollte. Natürlich hatte er noch nie mit Geistern zu tun gehabt. Auch ein Erdbeben hatte er noch nie so hautnah erfahren. Die Kombination aus beidem machte ihn fertig. Seine Tätigkeit war die meiste Zeit über fad gewesen. Das Aufbauen der Gerätschaften, das Anfertigen von Berichten, von haarsträubend unwissenschaftlichen Messdaten und Honorarnoten – all das waren Prozesse, die er so oder ähnlich aus der Schädlingsbekämpfung in Meidling adaptiert hatte. Nur musste er keine wirklichen Fallen aufstellen, Gift sprühen oder Insektenleichen zusammenfegen. Aber die Leute waren interessanter. Statt gammeligen Großküchen und Messiwohnungen traf er auf vereinsamte Menschen, die sich aufgrund eines entfremdeten, zerstrittenen oder verstorbenen Umfelds Dinge einbildeten. Vielleicht sogar herbeisehnten.

Aber das hier war echt. Er hatte das Beben gespürt und das Geschirr fallen sehen. Er hatte das Klirren des Lusters gehört, den spitzen Schrei Gabrieles und auch die verzerrte Stimme aus dem Zimmer nebenan. Er wartete einen Augenblick ab, doch es blieb ruhig. Vorsichtig richtete er sich auf. Gabriele verharrte unter dem Tisch. Er trat durch die Küchentür und sah auf den langen Flur. Zu seiner Rechten lag ein zertrümmerter Wandspiegel auf dem Boden. Reinhold war selbstverständlich nicht abergläubisch, dennoch musste er jedes Mal an die absurden Regeln denken, die ihm seine Mutter von klein auf eingetrichtert hatte. Vorsicht vor schwarzen Katzen! Geh nicht unter Leitern hindurch! Spann auf gar keinen Fall einen Schirm im Haus auf!

Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Hier war es still. Nur von draußen lärmten einige Sirenen. Mit einer Taschenlampe, die an seinem Schlüsselbund hing, leuchtete er sich den Weg durch den Raum und öffnete die Vorhänge. Das Licht des Spätnachmittags offenbarte den Blick auf ein heilloses Durcheinander. Porzellanfiguren oder vielmehr das, was von ihnen übrig geblieben war, lag zu seinen Füßen verstreut nebst einiger Häferl und Bilderrahmen. Die Nachtsichtkamera war mitsamt Stativ in eine Büchervitrine gekracht und auch die Richtmikrofone lagen am Boden. Ausgerechnet die Teile der Ausrüstung, die wirklich teuer gewesen waren. Die Attrappen schienen unbeschädigt zu sein.

„Hallo?“, rief er und hielt inne. Nichts regte sich, natürlich nicht. Kurz darauf kam er sich albern vor. Was hatte er erwartet? Als sich auch in den folgenden Minuten nichts regte, begann er nach und nach seine Gerätschaften einzusammeln. Nach einer Weile tauchte Gabriele im Türrahmen auf.

„Fürchterlich!“, rief sie und wuselte von einem zerstörten Tand zum nächsten, während sie Coco zurück in den Flur scheuchen musste.

„Hören Sie, ich drehe den Strom wieder auf, wenn das in Ordnung ist“, sagte sie und machte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf zum Sicherungskasten. Es klickte und der gewaltige Flachbildfernseher schaltete sich ein. Von der Lautstärke, die auf einmal von dem Gerät ausging, zuckte Reinhold zusammen.

„Verzeihen Sie“, schrie Gabriele gegen den Lärm an und begann hektisch nach der Fernbedienung zu suchen.

„Warten Sie!“ Reinhold reckte einen Arm in die Höhe. Auf dem Bildschirm war die Moderatorin einer ZiB-Sondersendung zu sehen, die mit ernstem Blick verkündete, dass es im ersten Wiener Gemeindebezirk zu einer heftigen Erschütterung gekommen war. Gabriele zog die Fernbedienung unter dem zersprungenen Glascouchtisch hervor und drehte die Lautstärke herunter. Betroffen sei laut Moderatorin insbesondere die Region um den Stephansplatz. Eine Luftaufnahme wurde eingeblendet.

„Bist du deppert!“, murmelte Reinhold. „Da können wir froh sein, dass wir heil davongekommen sind.“

Sie verfolgten die Sendung gemeinsam zu Ende. Danach half Reinhold Gabriele, das Gröbste zu beseitigen. Eine Vase hatte auf wundersamerweise den Sturz vom Fensterbrett überlebt. Gabriele stellte sie zurück und sah eine Weile aus dem Fenster.

„Wussten Sie“, begann sie, „dass sie hier in der Liliengasse die Menschen früher zur Hinrichtung gebracht haben?“