Vier minus drei - Barbara Pachl-Eberhart - E-Book

Vier minus drei E-Book

Barbara Pachl-Eberhart

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  • Herausgeber: Integral
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Ein Schicksal, das erschüttert – und dennoch Mut macht, zu leben

Wie schafft es eine Frau, die ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder durch einen Verkehrsunfall verliert, überhaupt weiterzuleben? Fünf Tage nach dem schrecklichen Ereignis schreibt Barbara Pachl-Eberhart einen offenen Brief an ihre Verwandten und Freunde, der in beeindruckender Intensität ihre Gefühle darlegt. Rasch findet das erschütternde Dokument durch Internet, Zeitungen und Zeitschriften eine große Verbreitung. Die Tragödie dieser Familie bewegt Tausende Menschen.

Zwei Jahre nach dem tragischen Ereignis schildert Barbara Pachl-Eberhart nun ihren Weg in ein neues Leben. Die Offenheit, mit der sie sich ihrem Schicksal stellt, und der Mut, mit dem sie Schritt für Schritt in eine unbekannte Zukunft geht, zeugen auf ergreifende Weise von menschlicher Größe und einem unerschütterlichen Glauben an den Sinn des Lebens.

Die Autorin wurde 2009 mit dem wichtigsten österreichischen Frauenpreis, dem "Leading Ladies Award", ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 352

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
vier
Noch einmal beginnen
Betreff: Der Tod und seine Überschreitung
zeitlose Tage
Übergang
Hommage
Leben? Bitte warten!
Ausgesperrt
Klopfzeichen
Lebenspost
Schwellenangst
Perspektivenwechsel
Wiederkehr nicht ausgeschlossen
Ausblick
Nestbaubetrieb
Wendepunkt
Eins und eins
Ein großer Schritt
Boxenstopp
Neues ziel: vorwärts
Weitergehen
Danksagung
Copyright
Für meine Familie. Hier undauf der anderen Seite.
vier
Womit soll ich beginnen?
Mit dem Tag, an dem plötzlich alles anders war?
Mit dem Moment, an dem plötzlich, so schien es mir, nichts mehr war? Anfangen mit dem Unfall, der meinen Mann in eine andere Welt, meine Kinder schwerverletzt ins Krankenhaus und mich in ein neues Leben katapultierte.
Oder im Hier und Jetzt, in meiner neuen Zeit?
An meinem neuen Schreibtisch, der mir im letzten Jahr so sehr vertraut geworden ist, der jedoch die drei Menschen, deren Fotos ihn zieren, nie kennenlernte.
Soll ich irgendwo dazwischen beginnen?
Zum Beispiel mit dem Moment, als mir der Gedanke kam, meine Geschichte aufzuschreiben – mit dem einzigen Ziel, sie aus meinem Kopf herauszubringen, um sie nicht mehr abhängig zu machen von meiner Fähigkeit, mich zu erinnern.
Meine Geschichte. Meine Vergangenheit. Es war einmal.
Wo will ich beginnen?
Am liebsten dort, wo es nicht mehr von Bedeutung ist, womit man beginnt. Beim ausgebeulten, abgegriffenen, wohlig duftenden Koffer meiner Erinnerung. Seinen Inhalt hat das Leben in seinem schnellen Lauf kräftig durcheinandergewürfelt. Vorsichtig klappe ich den Deckel auf und bemerke, dass alles, was ich einmal als Vorher und Nachher, als Heute, Morgen und Irgendwann erlebte, nun vermischt nebeneinanderliegt.
Die Vergangenheit schwingt ihren Zauberstab und stellt die Zeit auf den Kopf.
Ein neugeborenes Kind. Zwei Geschwister beim Spiel. Eine Schneeballschlacht. Ein Liebespaar. Ein Ehepaar. Ein Streit. Ein Lachen. Ein Theatervorhang. Ein Urlaubstag am Meer. Ein dicker Bauch.
Wo soll die Betrachtung beginnen? Meine Laune nimmt mich an der Hand. Gemeinsam wollen wir eintauchen, in die vielfarbige Welt der Erinnerung. Als Pforte wählen wir das Foto eines lachenden Mannes in einer grünen Regentonne. Aufgenommen an einem Sommertag. In einer Zeit, von der ich glaubte, sie sei mein ganzes Leben.
Mein Mund hat gelernt, diese Zeit Vergangenheit zu nennen. Auch wenn mein Herz das vielleicht niemals begreifen wird.
Szenen aus unserem gemeinsamen Leben schweben durch meinen Geist wie Seifenblasen. Schillernd in tausend Farben, fröhlich vor meinen Augen tanzend. In ihrem flüchtigen Glanz zeigen sie mir mein eigenes, vergangenes Spiegelbild.
Sie entziehen sich der Berührung.
Lassen sich nicht fangen. Nicht greifen. Nicht halten.
Nicht mehr.
Ich liebte sie schon als Kind, die Seifenblasen. Und ich liebe sie noch heute, als Clown, bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Ich habe noch kein Kind getroffen, das nicht angezogen wurde von den schimmernden Bällen und ihrem leisen Flug durch die Luft. Kein Kind, das nicht nach kurzem Staunen die Ärmchen ausgestreckt hätte, sie zu fangen. Und dann: minutenlang dasselbe Spiel. Der Versuch, den Ball zu greifen, die Verwunderung über sein plötzliches Verschwinden. Ein neuer Versuch, wieder und wieder. Lachen. Staunen.
Sind die Seifenblasen vielleicht die ersten Boten, auserkoren, die Nachricht von der Vergänglichkeit der Dinge in das Leben eines Kindes zu tragen? Wo auf unserem Weg geht uns das kindliche Lachen verloren, darüber, dass alles irgendwann verschwindet und zerplatzt?
Zerplatzt.
Was eigentlich geschieht mit einer Seifenblase, die zerplatzt? Verschwindet sie? Löst sie sich in Luft auf?
Ja. In der Luft aufgelöst finden wir sie wieder. Winzige Seifentröpfchen schweben, beinahe unsichtbar, durch den Raum. Sinken langsam zu Boden, auf unsere Kleidung, in unser Haar. Eine Zeit lang tragen wir sie noch mit uns herum. Das ist das eine, was bleibt.
Doch noch etwas anderes hat Bestand: das Bild der Seifenblase in unserem Kopf. Die Freude, die sie uns brachte. Der Nachhall des sanften Tons in dem Moment, da sie ihre Form aufgab.
Es sind nur Seifenblasenbilder, die ich mit meinen Worten malen kann. Das Leben meiner Familie ist vor geraumer Zeit zerplatzt. Übrig bleiben Eindrücke. Fröhliche Geschichten von jenem unschätzbaren Wert, den nur das Unwiederbringliche uns zu offenbaren vermag.
Einzelne Bilder drängen hervor, halten sich für wichtiger als die anderen, leuchten intensiver. Haben es eilig, festgehalten zu werden, bevor sie zu Boden fallen und der Erinnerung entgleiten. Ich picke mir das erstbeste Bild heraus. Nicht zufällig ist es der Anfang der Geschichte zweier Liebender, die Mann und Frau werden sollten.
Unser Leben. Es währte acht Jahre.
»Ein Leben lang«, so hatten mein Mann und ich versprochen, würden wir einander lieben, ehren, achten. Ein Leben lang wollten wir einander treu sein und gemeinsam durch dick und dünn gehen. Wir wussten nicht, wie kurz unser gemeinsames Leben dauern sollte.
Mein Mann Heli. Ich ehre, achte, liebe ihn heute genauso wie am ersten Tag. Und er? Er geht mit mir durch dick und dünn, wo immer ich bin. Wie versprochen, ja, mehr als das: ein Leben lang und über den Tod hinaus.
Ein heißer Julitag. Ich stehe am Bahnhof, bin gerade heimgekommen von einem sehr bewegenden Theaterkurs.
»Finde deinen inneren Clown.«
Oh, ja! Ich habe ihn tatsächlich gefunden.
Ich, die angehende Volksschullehrerin, die schon mit siebzehn in der Lateinstunde ihrer Sitznachbarin eine plötzliche Eingebung zugeflüstert hat:
»Ich will Clown werden!«
Lange wusste ich nicht, wie dieser spontan geäußerte Wunsch Realität werden könnte. Immer wieder habe ich auf Kursen in die Welt der roten Nase hineingeschnuppert. Jetzt, endlich, ist es so weit. Die Gewissheit ist da, hat mich irgendwo auf der Zugfahrt erfasst und sich in jeder Zelle meines Körpers mit wohligem Kribbeln ausgebreitet.
Ich bin Clown.
Ein Stück will ich machen, damit auftreten. Ich muss dazu nur noch einen Partner finden. Zu zweit geht alles leichter.
Ich packe meinen alten Flohmarktkoffer aufs Rad und mache mich, in Träumereien versunken, auf den Heimweg. Zehn Minuten später finde ich mich in einer Menschenmenge in der Grazer Innenstadt wieder. Stadtfest.
Wie bin ich hierhergekommen? Die Fußgängerzone liegt doch gar nicht auf meiner Strecke.
Ich steige ab, zwänge mich im Schneckentempo an all den Leuten vorbei, die mir im Weg stehen. Ich frage mich, warum ich nicht einfach umdrehe. Ich weiß es nicht.
Da sehe ich ihn. Auf einer kleinen Bühne steht ein Clown. Er macht sich gerade daran, über einen Besen zu balancieren. Die Zuschauer lachen, klatschen. Ich höre sie kaum. Sehe nichts anderes mehr als nur das Gesicht des feinen, zarten Mannes mit der roten Nase. Ich dränge mich in die erste Reihe und unsere Blicke treffen sich. Ja, es ist kitschig, es ist romantisch. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Der Clown braucht eine Freiwillige, holt mich auf die Bühne. Später noch einmal. Und ein drittes Mal. Ich kenne mich aus im Straßentheater – drei Mal denselben Freiwilligen, so etwas tut man doch nicht!
Außer …
Nach der Vorstellung laufe ich mit meinem Koffer, der gut auf seine Bühne passen würde, zu ihm, und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus.
»Ich bin auch Clown! Ich will ein Stück machen! Ich habe da so eine Idee für eine Geschichte.«
Heli hat seine rote Nase abgenommen. Er grinst.
»Ich … ich brauche nur noch einen Partner.«
»Ja, das merkt man!«
Oh Gott!
Ich versinke nicht im Erdboden. Weil sich der Erdboden ja nie auftut, wenn man es gerade dringend braucht. Stattdessen nehme ich stumm Helis Flyer entgegen.
»Da steht meine Nummer. Ruf mich ruhig einmal an.«
Ich schaffe gerade noch ein Nicken, ehe ich mich mit rotem Kopf verdrücke. Zu Hause angekommen lege ich vor mir selbst und meinen vier Wänden einen feierlichen Eid ab:
Ich werde nicht anrufen. Oder wenn, dann frühestens in drei Tagen.
Mein Herz lächelt milde. Es weiß bereits, dass der Mann auf dem farbenfrohen Prospekt nicht nur auf der Bühne mein Partner werden soll.
Wie oft haben wir später gelacht, bei der Erinnerung an unser erstes Zusammentreffen! Heli erzählte die Geschichte so:
»Das merkt man.«
Nach seiner Bemerkung hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Drei Tage lang war er daraufhin um sein Telefon herumgeschlichen. Hatte kaum gewagt, das Haus zu verlassen. So lange, bis ich endlich, endlich anrief.
Drei Monate später. Wir sitzen nach einem gemeinsamen Clownauftritt in Helis Wohnung und stärken uns mit Spaghetti al Pesto.
»À la Geheimrezept.«
Heli spricht diese Worte verschwörerisch aus und fixiert mich dabei mit seinen meerblauen Augen. Ich meine, in diesem Blau zu versinken, und höre mir selbst beim Denken zu.
Wow! Er kann sogar kochen!
Wir füttern einander mit Nudeln. Lachen, wenn eine hinunterfällt. Wutzl, Helis dicker Kater, kümmert sich um die Abfälle. Ich schnurre mit ihm um die Wette. Ausgelassen unterhalten wir uns darüber, ob wir eigentlich Kinder wollen. Oh ja, und ob wir das wollen!
»Wie viele?«
Die Preisfrage. Ich will es genau wissen.
Er liebt mich, er liebt mich nicht … Wenn er drei Kinder von mir will, liebt er mich wirklich sehr.
»Fünf.«
Das kam wie aus der Pistole geschossen.
»Und du?«
Ich auch. Schon immer. Seit ich vier Jahre alt war und im Supermarkt eine Frau mit fünf Kindern angestarrt habe, bis mich meine Mutter zum Ausgang zog. Aber woher weiß Heli das nur?
»Ja, das ist gut. Fünf Kinder.«
Nun stellt Heli seine Preisfrage.
»Wann fangen wir denn an?«
Sofort, möchte ich schreien.
Aber ich kenne ihn ja noch kaum, diesen Mann. Ich muss mich schnell von seinen blauen Augen losreißen, sonst bekommen wir noch Fünflinge, und zwar in der nächsten Minute.
Der Himmel vor dem Fenster sieht auch nicht anders aus als Helis Augen. Ich kneife trotzdem. Sicher ist sicher.
»Ähm, jetzt noch nicht. Aber bald. Sagen wir … in drei Jahren?«
»Fein, in drei Jahren. Schlag ein.«
Abgemacht.
Am nächsten Morgen bleiben wir länger im Bett und machen, was Frischverliebte eben so machen. Mit einem Mal fühle ich, wie in meinem Bauch etwas »explodiert« – ein warmes, helles Licht breitet sich dort aus, nach allen Richtungen hin, wie eine Supernova. Was ist passiert?
»Du bist schwanger. Du leuchtest wie ein Stern!«
Heli und seine Vorahnungen! Mein Mund klappt weit auf und bringt doch nur ein leises »Ja« hervor. Sekunden später tanzen wir jubelnd durchs Zimmer. Wir hüpfen, bis wir nicht mehr können, dann fallen wir wieder aufs Bett.
»Du musst dich jetzt schonen«, flüstert er lächelnd.
Er, Heli, der Vater des Kindes in meinem Bauch.
Er sollte Paul heißen. Das Armband mit diesem Namen findet sich noch im Babyalbum, sorgfältig eingeklebt und mit Datum versehen.
13.6.2001
In der ersten Nacht nach seiner Geburt konnte ich die Augen nicht von dem winzigen Wesen lassen, das gerade erst geschlüpft und bereits so einmalig, so unverwechselbar war. Bei meiner Betrachtung schoss mir ein Gedanke durch den Kopf:
Das ist kein Paul. Das ist ein Thimo!
Dieser Name hatte auf keiner unserer langen Listen gestanden. Aufgeregt weckte ich Heli und weihte ihn ein.
»Thimo.«
Wie schön klang das aus Helis Mund. Wir waren uns einig. Der Name war richtig. Es störte uns nicht, dass sich Thimo in dieser Schreibweise in keinem unserer Namensbücher fand.
Regeln interessierten uns beide nur, solange sie sich mit unserer Intuition vereinbaren ließen. Ein neues Wesen war durch uns in die Welt gekommen, warum dann nicht auch gleich ein neuer Name?
Das stattliche Th war uns jedenfalls wichtig. Vielleicht würde unser Sohn ja später einmal Rechtsanwalt werden. Oder Arzt. Oder … egal.
Ein Gespräch mit Thimo. Er war fünf Jahre alt.
Damals. Vor Kurzem. Vor einer Ewigkeit.
Es war eines jener Gespräche, die mit einem leisen, zögernden »Duhu, Mamaaa …« begannen und für die man sich Zeit nehmen musste, weil sie wichtig waren.
»Duhu, Mamaaa, ich muss dir etwas sagen. Weißt du, ich finde meinen Namen ja schon schön. Aber, weißt du, irgendwie ist Thimo nur ein Name für Kinder. Wenn ich groß bin, würde ich gern anders heißen, da hätte ich gern einen Erwachsenennamen.«
Aha.
Was denn ein Erwachsenenname sei, wollte ich wissen.
»Hmmm.«
Thimo nahm sich etwas Zeit und ließ sich seine Worte dann wie eine wohlschmeckende Speise auf der Zunge zergehen.
»Helmut, ja, das wäre schön!«
Momentaufnahmen. Gesprächsfetzen. Wie Miniaturen erscheinen sie vor meinem inneren Auge, wenn ich an die sieben Jahre mit meinem Sohn denke. Die Erinnerung gleicht einem Kaleidoskop, das jedes Mal, wenn man hineinsieht, ein neues Bild serviert. In seinem Rohr findet sich eine Unzahl farbiger Glassteine. Bei jedem Schütteln werden andere Bilder, andere Kombinationen sichtbar. Niemals kann man alle Steine gleichzeitig betrachten. Man muss sich zufriedengeben mit dem Teil, den man gerade sieht.
Ebenso ist es mit der Erinnerung. Aus ihrem unerschöpflichen Reichtum gibt sie stets nur einige wenige Bilder preis.
Immer wieder fühle ich mich von dem Wunsch getrieben, mich an alles, alles zu erinnern und nur ja kein Detail, keinen geteilten Augenblick, kein liebes Wort meiner Kinder zu vergessen.
Mein Wunsch hat mich mitunter dazu gebracht, fieberhaft Stichworte niederzuschreiben, so lange, bis ich nicht mehr konnte und nur noch schwarze Leere in meinem Kopf verspürte. Er trieb mich zum Weinen, zum Schreien, zur Verzweiflung.
An meiner Seite stand drohend die Angst.
Meine Erinnerungen sind alles, was ich habe. Was, wenn ich sie verliere?
Die Angst spricht. Die Gedanken stehen still. Drehen sich um sich selbst. Sie ducken sich, haben keine Zeit zum Spielen. Sie werfen das Kaleidoskop in die Ecke. Die Angst malt ihre eigenen Bilder. Sehr kreativ ist sie dabei nicht: Ein Kind, schwer verletzt in einem Krankenbett. Blut, Schläuche, Maschinen. Mehr fällt meiner Angst nicht ein.
Ich will mich damit nicht zufriedengeben. Es wird nicht dieses Bild sein, das alle anderen verdrängt. Wenn nötig, werde ich mich auch noch mit letzter Kraft aufraffen und das Kaleidoskop aus der Ecke holen. Es schütteln. Immer wieder aufs Neue.
Es gibt, das hat mir die Erfahrung gezeigt, einen Weg, die Erinnerung lebendig zu erhalten. Dieser Weg heißt Leben. Die Erinnerung braucht Anknüpfungspunkte. Ich muss sie suchen und kann sie finden.
Hier. Jetzt. In der Gegenwart.
Die Bilder der Vergangenheit werden umso deutlicher und schärfer, je vitaler ich gerade bin. Wenn ich mich meinem gegenwärtigen Lebensgefühl voll und ganz anvertraue, kann es sein, dass längst vergessen geglaubte Erlebnisse an die Oberfläche kommen, plötzlich, ohne Anstrengung. Leben und Erinnern schließen einander nicht aus. Ganz im Gegenteil. Erinnern heißt leben. Zurückschauen fällt dem leichter, der in Liebe weitergeht.
So gehe ich also hinaus in den warmen Frühlingstag und kaufe mir ein Schokoladeneis, um danach – ganz vorsichtig – das Mosaik nach Hause zu tragen, das mir der Sonnenschein beim Gedanken an einen kleinen blonden Buben namens Thimo schenken wird.
Thimo.
Thimo Paul Eberhart.
Mein Thimps. Mein Wurschtl. Mein Spatzerle.
Shingu Haia.
Das ist der Gruß, mit dem wir uns stets voreinander verbeugten, bevor wir miteinander kämpften. Gekämpft hast du immer schon gern. Seit du die Shaolin-Mönche im Fernsehen gesehen hattest, waren dabei Rituale ganz wichtig.
Der Gruß. Die Verbeugung. Die Pause.
Einmal kämpften wir vor dem Schlafengehen auf dem Bett im Elternschlafzimmer. Du warst nackt und hattest dich für eine Verschnaufpause auf der weißen Daunendecke ausgestreckt. Das Bild rührte mich. Wie schön du warst, wie zerbrechlich! Nicht von dieser Welt, so wollte es mir scheinen.
»Du bist so ein wilder Kämpfer und schaust doch aus wie ein Engel.«
Kurzes Nachdenken. Dann ein schelmischer Blick. Ein Grinsen, ein Schulterzucken.
»Tja, ich bin eben eine optische Täuschung!«
Diese Runde ging an dich, keine Frage.
Andere kindliche Aussprüche kommen mir in den Sinn.
»Schau, Mama, lauter Flohschnecken!«
Ein Zweijähriger sieht den ersten Schnee des Jahres.
»Ich bin so saftig!«
Ein kleiner Bub ist durstig und will kein Wasser trinken.
»Ich hab dich reingelogen«, und: »Ich hab dich auf den Arm gelegt.«
Ein Lausbub entdeckt das Schwindeln.
Kindergeschichten.
Du warst zwei Jahre alt und brauchtest Sandalen. Im Schuhgeschäft ließ ich dich aussuchen. Du hattest dich schnell entschieden. Nur ein Paar kam infrage: rote Lacksandalen, geschmückt mit auffälligen weißen Stoffgänseblümchen.
Minutenlang liefst du im Schuhgeschäft herum. Deine Wangen waren ganz rot vor Stolz.
»Schau, was ich für schöne Schuhe hab!«
Verkäuferinnen, Kunden, sie alle pflichteten dir lachend bei.
Ich ließ dich gewähren. Wie hätte ich dir auch erklären sollen, dass die glänzend roten Schuhe zwar wunderschön, aber leider nur für Mädchen gedacht waren? Ich konnte dich so gut verstehen und fühlte mich gar nicht wohl in meiner Rolle der Mutter, die dir nach und nach die harte Realität des Lebens würde nahebringen müssen.
Hättest du darauf bestanden, ich hätte dir die Blümchensandalen gekauft, an jenem Sommertag. Vor allem mir zuliebe. Gern wollte ich mir noch eine Schonfrist gewähren bis zu dem Tag, an dem ich dir gewisse Dinge zu erklären haben würde, bevor du sie durch Spott erfahren müsstest.
Warum wir den Laden schließlich doch mit einem Paar braun-grüner Sandalen verließen, weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube, du fandest sie genauso schön. Gott sei Dank.
Etwas später, an einem heißen Badetag im August, lackierte ich mir gerade aus einer Laune heraus die Zehennägel. Kirschrot. Das gefiel dir, das wolltest du ebenfalls haben, und ich spielte mit bei dem Spaß. Das Lachen verging mir erst, als du voller Begeisterung riefst:
»So, jetzt gehen wir ins Schwimmbad und ich zeige dem Bademeister meine schönen Zehennägel! Der wird sich aber freuen, weil ich so schöne Nägel hab’!«
Unsere Spiele. Rollenspiele, noch und noch.
»Mama, spielst du mit mir?«
Bei dieser Frage habe ich nicht selten geseufzt. Es war anstrengend, mit dir zu spielen, brauchte immer vollen Einsatz. Du warst die mutige Pippi Langstrumpf und ich die kleine Annika, die sich ständig vor allem fürchten musste. Du warst der tapfere Ritter Eisenbitter und ich war König, Drache, Angreifer, Prinzessin, ja sogar der Sturm. Deine Fantasie führte dich als Dinosaurierkind durchs Weltall und ließ dich auf Gespenster treffen. Auf Autos. Elefanten. Bob den Baumeister. Allesamt natürlich von mir verkörpert.
Mitunter lief ich erschöpft und flehend aus dem Kinderzimmer.
»Heli! Bitte, geh du jetzt rein. Ich kann nicht mehr!«
Heute, da ich dies schreibe, sind es die Spiele mit dir, die mir am lebhaftesten in Erinnerung sind. Mit dir zu spielen hieß, dich in deinem Wesen, in deiner Kraft zu spüren. Ich kann mich an jedes unserer Spiele erinnern, könnte jede Szene nachspielen.
Nur macht es einfach keinen Spaß mehr, ohne dich.
Vor mir liegt eine Urkunde, ausgestellt im Kindergarten. Fabriziert von allen Beteiligten als Versuch, einem kleinen Menschen seine Unverwechselbarkeit zu attestieren. Ihm mitzuteilen, was ihn ausmacht. Gerade ihn.
Thimo kann gut …
Experimentieren und Müll sammeln. Ohne Matschhose in den Wald gehen. Weintrauben essen und Dinge verstecken. (Bekundeten seine Freunde).
Dinge verstecken. Forschen und Abenteuer erleben. Gaudi machen und lachen. (Fanden seine Betreuerinnen).
Spiele ausdenken. Fragen stellen. Sich versöhnen. (Meinten wir, seine Eltern).
Der Versuch, hinter all diesen Geschichten und Beschreibungen das zu entdecken, was dich tatsächlich ausmacht, gleicht dem Betrachten eines jener 3-D-Bilder, die vor einigen Jahren in Mode waren. Zu Beginn ist man abgelenkt von den vielen Kleinigkeiten, und erst nach einiger Zeit, erst wenn man den richtigen Abstand gefunden hat, sieht man, dann allerdings gestochen scharf und unverwechselbar, das eigentliche Bild.
Vielleicht hat ja erst der Abstand, der durch deinen Tod zwischen uns getreten ist, es mir möglich gemacht, dich zu erkennen. Deine Wesenheit. Deine Seele. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie immer noch existiert. Ja, ich glaube sogar, dass sie mitunter ganz in meiner Nähe ist.
An manchen Tagen fühle ich mich so, als wäre ich von deinem Wesen beseelt. Als wärst du in meinem Herzen zu Besuch. Das sind schöne Tage. Ich sehe die Welt dann so, wie du sie gesehen haben magst. Hebe Glasscherben auf und betrachte sie lange, staune über Blätter im Wind, mache verrückte Scherze und lache selbst am meisten darüber.
Wenn ich an anderen Tagen vor Sehnsucht zu zerplatzen glaube und dringend Trost brauche, dann spüre ich oft, wie sich irgendetwas zart um mich legt und mich warm umfängt. Ich denke dann, auch das bist du.
Deine Seele.
Sie werde ich erkennen, wenn ich selbst eines Tages meinen Körper verlasse und zu dir komme. Zu euch. Wenn ich durch das Tor trete, an dem ihr aufgeregt und voller Freude auf mich warten werdet.
Genau so, wie ihr eines Januartages am Flughafen auf mich gewartet hattet, als ich nach drei allzu langen Wochen von einer Indonesienreise heimkehrte. Am Weg vom Gepäckband zum Ausgang machte ich mir fast in die Hosen vor lauter Freude. Ich musste rennen vor Glück.
Wenn ich an das Sterben denke, so möchte ich eines Tages in der gleichen unbändigen Freude von dieser Erde scheiden und rennen, wissend, dass ihr dort hinter dem Tor steht, um mich in Empfang zu nehmen.
»Mamaaaa! Nesien! Lieger! Heissss. Mama, Nesien!«
Fini. An jenem Tag auf dem Flughafen warst du gerade anderthalb Jahre alt. Die Worte, die begeistert aus dir heraussprudelten, erzählten in deiner Sprache die Geschichte, die du wieder und wieder von Heli gehört hattest.
»Mama ist in Indonesien. Dort ist es heiß. Sie kommt mit dem Flieger. Bald ist sie wieder da.«
Ich hatte drei wunderschöne Wochen, dort in Indonesien. Eine Freundin aus Studientagen hatte mich überraschend in ihre Wahlheimat eingeladen, Flug und Quartier inklusive. Heli war einverstanden, ermutigte mich sogar dazu, trotz meiner Zweifel. Er stellte nur eine Bedingung:
»Du darfst auf keinen Fall ein schlechtes Gewissen haben.«
Heli. Du lieber, geliebter Mann!
Es war gar nicht leicht für mich, mit gutem Gewissen zu fahren und mir keine Sorgen zu machen. Was mir dort im sommerlichen Paradies am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war die Vorstellung, wie sich meine lange Abwesenheit für dich, kleine Fini, anfühlen musste.
Ein Moment, ein Winken, Mama steigt ins Flugzeug und ist weg. Weg. Du konntest es bestimmt nicht begreifen, konntest nicht wissen, ob und wann ich wiederkommen würde. Konntest dir nicht vorstellen, wo ich war.
Die Gewissheit, dass Heli sich gut um dich kümmern würde, war mein Trost, und ich vertraute darauf, dass die Zeit sicher schnell vergeht für ein kleines Wesen, das vor allem im Hier und Jetzt lebt. Beim Heimkommen aber hatte ich Angst.
Wird sie mich nach so langer Zeit wiedererkennen, braungebrannt wie ich bin? Wird noch dieselbe Vertrautheit zwischen uns bestehen wie vor meiner Reise?
»Mamaaa!«
Du sahst mich schon, bevor ich dich entdeckt hatte. Du strecktest die Ärmchen aus und zerstreutest all meine Zweifel innerhalb einer Sekunde. Typisch Fini. Ich flog auf dich zu, umarmte dich und bestand nur aus Glück. Es gab keine Zeit, keine Angst, keine Entfernung. Es gab nur noch die Liebe.
Zwei Monate später warst du es, die fortflog. Ich habe keinen Begriff davon, wo du bist und wann wir uns wiedersehen. Versuche ebenso tapfer zu sein wie du damals. Halte mich an das Hier und Jetzt und achte darauf, dass sich hilfreiche Menschen um mich kümmern. Wenn wir uns wiedersehen, eines Tages, werde ich dich erkennen. Meine Arme ausstrecken. Und rufen.
»Fini! Himmel! Wolke! Schön. Fini, Himmel!«
Deine Stimme klingt in meinem Ohr. Ich höre deine Worte, gesprochen mit leichtem Lispeln. Viele deiner Worte endeten mit -lein. Du hattest eine Vorliebe für diese Endsilbe und verwendetest sie, wo es nur ging. Für mich war das der pure Ausdruck deines zärtlichen, liebevollen Wesens.
Mamilein. Messalein. Käfalein. Deckalein.
Fini.
Valentina.
Gurke. Weiwilein. Lausi.
Die folgende Geschichte erzählte ich schon gern, als du noch mit Schokoladenlebkuchen Bilder an die Wand maltest. In der Zeit, als man dich dein Deckalein durch jede Dreckpfütze schleifen und jeden Tag dreimal in der Badewanne plantschen sah.
Du hattest einen Engel aus Gips geschenkt bekommen.
»Engalein is«, soviel war klar.
Stundenlang wurde das Engalein durch die Wohnung getragen, wiederholt wurde es zu Bett gebracht, gefüttert, ja, der Engel durfte sogar – »Brrrrm« – mit Thimos Auto fahren. Die Gipsfigur nahm bei diesen Abenteuern schon bald beträchtlichen Schaden. Nach einiger Zeit fehlte ein Flügel, dann ein Arm, ein wenig später auch noch der ganze Unterleib. Zuletzt waren da nur noch die Hälfte des Kopfes und ein Teil des rechten Flügels, die notdürftig aneinanderhingen. Doch du bedachtest das Wenige, was übrig war, mit unverminderter Liebe.
»Engalein is«, daran änderte sich nichts.
Ungefähr zur gleichen Zeit kam die Fotografin in Thimos Kindergarten zu Besuch, und du, Thimos süße kleine Schwester, wurdest gleich mitfotografiert. Deine Worte, als wir den Abzug erhielten und du zum ersten Mal ein Bild von Fini in Großaufnahme in die Hände bekamst?
»Engalein is!«
Kein Wunder.
Ein Engel auf Erden warst du wohl, Fini, Sonnenkind, Glückskäferlein. Ein Engel, der sich fast ausschließlich von Rahmgurkensalat ernährte. Der das Radfahren im Kindersitz liebte, egal, ob bei Regen oder bei Sonnenschein. Ein Engel, der gern zu große Schuhe trug.
Manchmal, wenn ich mir den Fini-Engel auf seiner Wolke vorstelle, ziehe ich ihm zu große Schuhe an. Das Kind in mir erheitert sich gern an dieser Vorstellung.
Donnerstag, 20. März 2008
Ein letztes Bild.
Wir frühstücken in unserem neuen, kleinen Haus, in dem wir seit einigen Wochen wohnen. Es ist schon recht gemütlich, wiewohl hier und da noch übervolle Umzugskartons stehen. Egal, wir fühlen uns pudelwohl. Heute ist Gründonnerstag. Es sind Ferien, daher muss Thimo nicht in den Kindergarten. Die Sonne schaut freundlich zum Küchenfenster herein und lauscht dem Frühstücksgespräch einer glücklichen Familie.
»Papu, kann ich noch eine Palatschinke haben?«, fragt Thimo mit vollem, nutellaverschmiertem Mund, während Fini genüsslich im Marmeladenglas löffelt.
Heli steht am Herd und singt zu der Melodie, die aus dem Kassettenrekorder kommt.
»Hier kommt die Palatschinke, hulla hupp, hulla hey, hulla hoppsassa …«
Der Pfannkuchen landet auf Thimos Teller und beginnt, mit Helis Stimme zu sprechen.
»Ah, guten Tag, ich bin die Palatschinke. Stimmt es, dass ich gleich mit Nutella bestrichen werde? Ich liebe Nutella! Mmmmmh, oh ja, mehr, mehr!«
Wir lachen, wie immer, wenn Heli seine Späße macht. Fini blödelt mit, dabei landet ein Löffel Marmelade auf der Pyjamahose statt im Mund. Was soll’s?
»Will mein Weibserl auch noch eine Palatschinke?«, fragt der singende Meisterkoch in meine Richtung.
»Nein, danke.«
Das Weibserl hat es ein bisserl eilig, denn sie hat einen Termin.
»Wann kommst du zurück, Mama?«, fragt Thimo, und noch bevor ich antworten kann, springt er hoch und wirft sich mir an den Hals.
»Ich muss am Nachmittag arbeiten, mein Schatz. Aber Papu macht mit dir einen Ausflug, wahrscheinlich bin ich noch vor euch wieder zu Hause.«
Thimo schlingt seine Arme immer fester um mich.
»Ich lass dich gar nicht mehr los!«
»Mama!«
Nun will auch Fini auf meinen Arm.
»Nein, die Mama gehört jetzt mir!«
Ich lasse Thimo trotz meiner Eile noch eine Weile gewähren. Genieße selbst die innige Umarmung.
In ein paar Monaten ist er sieben, der große Bub. Wer weiß, wie oft er mich noch so drücken wird, bevor es ihm peinlich ist?
Heute jedenfalls will ich ihn halten, bis es wirklich für uns beide genug ist.
»Komm, Fini«, bietet Heli ihr seinen Schoß an.
Ein paar Takte lang wiegen wir uns alle vier zur Musik, dann setze ich Thimo ab. Er ist fröhlich, er ist satt, nicht nur vom Essen. Ich muss jetzt wirklich fahren.
»Baba!«
Fini winkt fröhlich von Helis Arm.
Ein Kuss für Heli, ein Kuss für Fini, ein Kuss für Thimo.
»Viel Spaß beim Ausflug! Viel Spaß bei der Tagesmutter, Fini!«
»Bis gleich, Pachlowitsch!«
Pachlowitsch, das bin ich. Bis gleich, so verabschiedet sich Heli immer, von allen. Es ist sein Gruß.
»Tschüs, Mama, und viel Glück bei der Arbeit!«, ruft mir Thimo nach, als ich das Haus verlasse und in mein Auto steige.
Der Tag ist schön. Die Sonne scheint. Ich gebe Gas.
Noch einmal beginnen
Womit? Noch einmal mit Gründonnerstag, dem 20. März 2008. Mit dem Moment an jenem sonnigen Morgen, als mein Mann Heli mit unserem hübschen gelben Clownbus, der schon so viele Passanten zum Lächeln gebracht hatte, über den unbeschrankten Bahnübergang in unserem Nachbarort fuhr.
Der Zugführer konnte nicht mehr bremsen. Unser Auto wurde von der Fahrbahn geschleudert. Heli war sofort tot, unsere Kinder wurden lebensgefährlich verletzt. So hörten es Freunde und Fremde schon mittags im Radio, so stand es zwanzig Stunden später in der Zeitung.
Dieser Moment hat mein gesamtes Leben verändert. Er hat mir meine Familie genommen, und mit ihm begann ein neuer, unbekannter Lebensweg. Meter für Meter, Tag für Tag, Schritt für Schritt.
Mein Weg.
Wo war ich in jenem Moment, als der Unfall geschah? Ich frage mich das immer wieder. Im Supermarkt, als ich gerade die Schokoladenostereier in den Einkaufswagen legte? Haben Thimo und Fini da noch gelacht, gedacht, geatmet? Und als ich auf dem Parkplatz fröhlich mit meiner Mutter telefonierte? Hatte da Helis Herz bereits aufgehört zu schlagen?
So oft ich auch darüber nachdenke, die Antwort bleibt dieselbe: Ich weiß es nicht. Ich habe den Moment nicht gespürt, ich hatte keinerlei Vorahnung. Als Finis Tagesmutter auf meinem Handy anrief, verspürte ich sogar leisen Ärger.
Typisch. Heli hat bestimmt die Zeit übersehen und Fini nicht rechtzeitig zu Edith gebracht.
Habe ich das Zittern in Ediths Stimme überhaupt bemerkt?
»Eine Freundin ist gerade über den Bahnübergang in Takern gefahren. Sie sagt, dort war ein Unfall mit einem Clownbus.«
Tief in meinem Unterbewussten beginnt ein Orchester zu spielen, eine Symphonie der Angst. Der Dirigent ist unerbittlich. Das Stück wird lauter und lauter, erreicht eine bedrohliche Intensität, die kaum mehr zu ertragen ist. Die in den Ohren schmerzt und den Körper krümmt.
»Wie? Ein Unfall? Was ist passiert?«
Meine Stimme ist leise. Zu leise.
»Ich weiß nicht. Ich war ja nicht dort, nur meine Freundin.«
Ediths Stimme vibriert.
Ich wiederhole meine Frage.
»Was ist passiert!?«
Panik erfasst mich.
»Ich weiß es nicht!«, jammert Edith. Höre ich sie weinen?
»Meine Freundin hat nur gesagt, da war ein Unfall und am Bahnübergang steht ein Clownbus.«
»Ich komme!«
Das Crescendo hört nicht auf, es dröhnt weiter in meinem Kopf. Wo eben noch mein Herz war, spielt irgendjemand Schlagzeug. Zu laut. Zu schnell. Eine gellende Kakophonie durchdringt mich bis in die Zehenspitzen.
Ich komme.
Vor mir liegt eine halbe Stunde Fahrt auf der Autobahn. Ob ich fahren kann, ob ich es schaffe, das frage ich mich erst gar nicht.
Am Bahnübergang steht ein Clownbus.
An diese Worte klammere ich mich wie an einen Strohhalm.
Der Bus steht.
So lange er steht und nicht liegt, kann nichts Schlimmes passiert sein.
Er steht. Er steht! Ich komme.
Mein Fuß zuckt auf dem Gaspedal auf und ab. Ich schaue stur geradeaus. Auf die Straße. Auf den Tachometer.
Langsam fahren. Vorsichtig fahren. Ich muss nach Takern. Ich komme. Heli braucht mich. Die Kinder brauchen mich. Der Bus steht.
»Lieber Gott, lass sie leben! Lass sie leben und fröhlich sein, bitte, bitte, lieber Gott!«, rufe ich laut, immer wieder.
Ich wähle Helis Nummer. Freizeichen. Ich hoffe. Freizeichen. Ich flehe. Freizeichen. Ich bete. Die Sprachbox meldet sich. Ich begreife. Etwas Schreckliches ist geschehen.
Jemand ist tot.
Eine Flut von Bildern bricht über mich herein. Mein Kopf ist ein Fernsehgerät, das sieben Programme gleichzeitig überträgt, und auf jedem Sender läuft ein Katastrophenfilm.
Heli ist tot. Heli hat einen Menschen totgefahren. Heli ist unschuldig getötet. Thimo ist tot und Heli ist schuld. Fini ist tot. Heli ist tot und die Kinder stehen allein auf der Straße. Heli lebt, die Kinder sind tot.
Seltsam. Ich rechne mit allem, nur mit einem nicht.
Alle sind tot.
Daran denke ich keine Sekunde.
Jemand ist gestorben.
So lautet der kleinste gemeinsame Nenner in meinem Kopf. Aber es bleibt eine Rechnung mit vielen, zu vielen Unbekannten für ein exaktes und eindeutiges Ergebnis.
Heli soll leben. Bitte! Aber, wer ist dann tot? Thimo? Das würde Heli nicht verkraften, niemals. Fini? Thimo oder Fini? Lieber Gott, lass es jemand anders sein! … Um Gottes Willen, was denke ich da?
Während die Kilometer der Autobahn unscharf vorüberziehen, wird mir etwas klar. Die Geschichte ist längst fertig geschrieben. Das Ende steht fest. Aber es findet sich niemand, der mir die letzte Seite vorliest.
Ich rufe eine Freundin an, die in unmittelbarer Nähe des Bahnübergangs wohnt.
»Ja?«
Annas Stimme klingt fröhlich.
Sie weiß es also noch nicht.
»Bitte, Anna, fahr sofort zum Bahnübergang. Heli hat einen Unfall gehabt, er braucht dringend Hilfe. Bitte, steh ihm bei, bis ich komme. Steh ihm bei und sag ihm, es wird alles gut!«
»Okay.«
Anna legt rasch auf. Keine Zeit für Fragen. Ich bin erleichtert.
Heli ist nicht mehr allein. Anna steht ihm bei. Alles wird gut.
In diesem Moment der Erleichterung geschieht ein Wunder. Wie sonst soll ich das Erlebnis nennen, durch das alles, was ich bisher als meinen Glauben bezeichnete, in einem Augenblick zur Gewissheit wurde? Das Erlebnis, das mir meine Verzweiflung nimmt und meine Angst?
Ich spüre, wie sich von hinten ein warmer Mantel um mich legt. Ein Mantel der Liebe, zärtlich und sanft.
Es ist gut, alles ist gut.
Die Worte kommen nicht aus meinem Kopf, sie klingen in meinem Herzen wie das Echo einer altvertrauten Stimme.
Heli!
Mein Fuß auf dem Gaspedal hört auf zu zittern. Meine Gedanken stehen still. Ich fühle mich geborgen und beschützt.
Heli lebt. Heli ist im Himmel. Heli ist bei mir. Alles ist gut.
Ich werde zur Marionette. Hänge fortan an unsichtbaren Fäden. Ein gütiger Puppenspieler führt mich, er meint es gut mit mir. Vertrauensvoll gebe ich mich ganz in seine Hände.
Noch fünfhundert Meter bis zur Unfallstelle. Mein Handy klingelt.
Anna.
»Barbara, wo bist du?«
»Ich bin gleich da.«
»Komm bitte zu Sabines Haus. Wir treffen uns dort.«
»Gut.«
Folgsam biege ich rechts ab, zum Haus meiner besten Freundin Sabine. Annas Anruf hat mich im letzten Moment von der Unfallstelle weggelotst. Der Puppenspieler hat wohl beschlossen, mich gewisse Dinge nicht sehen zu lassen. Ich gehorche. Ahne, dass es so besser ist.
Immer noch erfüllt mich diese seltsame Ruhe. Nichts in mir rebelliert, nichts lehnt sich auf. Ich fühle, dass hier etwas geschieht, das alle Grenzen sprengt. Es ist zu mächtig, als dass ich es beeinflussen könnte. So gewaltig, dass ich beschließe, die weiße Flagge zu hissen. Mich zu ergeben. Mich hinzugeben, ganz und gar.
Ich läute an Sabines Tür. Niemand da. Ist sie bei Anna? Ich stehe im Garten und zittere. Mein Körper macht sich selbstständig, mein Geist steht still. Ich mache das Einzige, was es noch zu machen gilt. Ich muss meinen Auftritt als Clowndoctor absagen, der eigentlich für den Nachmittag geplant gewesen ist. Meine Stimme klingt gefasster, als ich es selbst erwartet hätte.
»Hallo, Hannes, ich kann heute leider nicht zum Einsatz kommen. Heli hat einen Unfall gehabt und ich glaube, er ist tot.«
Als mein Kollege irgendetwas flüstert wie »Um Gottes Willen«, sehe ich Annas Auto um die Ecke biegen.
Anna und Sabine steigen aus, tränenüberströmt. Die Bilder meiner Fantasie und die Realität beginnen sich wie zwei Folien in Zeitlupe übereinanderzulegen, um ein Ganzes zu ergeben. In meinem Kopf wird es mit einem Mal still. Totenstill.. Sabine starrt mich fassungslos an. Sehe ich etwa aus wie ein Gespenst? Oder wie ein Engel vom Himmel? Kreidebleich, ja, das bin ich vermutlich. Flügel habe ich, glaube ich, keine. Nur meinen unsichtbaren Mantel. Immerhin.
Endlich bringt Anna ein erstes Wort heraus.
»Barbara!«
Sie tritt auf mich zu und umarmt mich fest.
»Ist jemand gestorben?«
»Ja.«
»Heli?«
»Ja.«
»Und die Kinder?«
Stille. Tränen.
»Ist der Thimo auch tot?«
»Er war tot und ist wiederbelebt worden. Ich weiß nicht, was mit ihm ist.«
»Und die Fini?«
»Die ist schwer verletzt. Nicht bei Bewusstsein. Die Kinder werden ins Krankenhaus gebracht. Komm jetzt, wir bringen dich ins Haus.«
Ich lasse es geschehen.
Als Jugendliche war ich einmal in einen Unfall verwickelt. Mein damaliger Freund brachte mich in seine Wohnung und packte mich kurzerhand in eine warme Decke.
»Du hast einen Schock, da ist Wärme das Allerwichtigste«.
Das hatte er gerade im Führerscheinkurs gelernt.
Auch Anna und Sabine ziehen mir die Jacke aus und packen mich ins Bett. Dieser ganz selbstverständliche Ablauf gibt mir vorübergehend Sicherheit.
Ich habe einen Schock.
Ich zittere und bekomme eine Wärmeflasche.
Ich weine und bekomme Taschentücher.
Ich stelle Fragen und bekomme Antworten.
So einfach ist das. So banal. Ich halte mich fest an diesen unkomplizierten Vorgängen. Die Welt ist sogar in dieser Stunde, da mein Leben völlig aus dem Ruder gerät, immer noch ein wenig berechenbar.
Es gibt Dinge, die ich noch steuern kann. Ich kann um Hilfe bitten. Ich kann die Wärmeflasche spüren. Ich kann mich bedanken.
Ich klammere mich an diese Kleinigkeiten, einer Ertrinkenden gleich, die mit letzter Kraft einen Rettungsring ergreift. Der Ozean, der mich zu verschlingen droht, ist unermesslich groß und bedrohlich tief. Instinktiv spüre ich: Ich kann es mir nicht leisten, loszulassen und den Blick abzuwenden von den kleinen Dingen, die gut sind. Auf sie konzentriere ich mich. Mit allen Sinnen, mit jeder Faser meines Körpers.
Anna und Sabine zünden mit langsamen, ruhigen Bewegungen Kerzen an, während ich ununterbrochen vor mich hin rede. Ich muss die Tatsachen immer wieder laut aussprechen.
»Heli ist tot und die Kinder werden vielleicht sterben. Heli ist tot. Thimo ist vielleicht auch tot. Fini ist schwer verletzt.«
Ab und zu hänge ich ein Fragezeichen an meine Sätze und warte auf die immer gleiche Antwort.
»Heli ist tot?«
»Ja, Heli ist tot«, bestätigt Anna.
Ich wiederhole die Sätze wie ein Mantra, so lange, bis ich die ganze fürchterliche Wahrheit überhaupt irgendwie zu begreifen vermag. Dann beginne ich mit Heli und den Kindern zu sprechen. Rufe Heli zu, wie sehr ich ihn liebe. Feuere meine Kinder an, durchzuhalten. Ich nehme Finis Lebenskraft wahr und spüre gleichzeitig, dass Thimo nicht mehr bei uns ist.
»Heli ist da, im Raum«, flüstert Sabine und, ja, ich spüre ihn auch. Warm und hell. Ein Lichtball mitten im Zimmer.
»Schau!«
Anna zeigt aufs Fenster. Es schneit in dicken Flocken, obwohl der Himmel blau und wolkenlos ist.
Ein Gruß von Thimo.
Das denken wir alle gleichzeitig.
Inzwischen ist Sabines Lebensgefährte eingetroffen. Er ruft die Kinderklinik an. Nach ein paar Minuten weiß er, auf welche Station meine Kinder gebracht wurden. Ich werde ins Auto gesetzt, auf die Rückbank. Anna und Sabine geben mir von beiden Seiten Halt. Ich kenne den Weg. Hätte ihn ja selbst fahren sollen, heute, an demselben Nachmittag, zur selben Stunde. Ich werde im selben Krankenhaus von denselben Schwestern erwartet wie auch sonst an jedem Donnerstag, seit acht Jahren schon.
Ich komme. Heute allerdings ohne Clownnase und ohne buntes Kostüm. Ohne ein fröhliches Lächeln und ohne einen Scherz auf den Lippen. Und die Kinder, die auf mich warten, sind diesmal meine eigenen.
Will ich es Zufall nennen, dass meine Kinder in genau jenes Krankenhaus eingeliefert wurden, in dem ich jahrelang als Clown Menschen zum Lachen gebracht hatte? Oder darf ich vielmehr glauben, dass der Puppenspieler, der mich führte, sich die Rahmenhandlung für sein Stück gut überlegt hat?
Wer soll mir die Erlaubnis geben, es zu glauben? Wer, wenn nicht ich selbst? Ich richte meinen Blick nach oben, dorthin, wo ich den Puppenspieler vermute, und danke ihm. Dafür, dass mir der Geruch des Krankenhauses vertraut und angenehm war. Dafür, dass in der Portierloge kein Fremder saß, sondern ein Mensch, den ich schon lange kannte. Dafür, dass Hannes, mein Clownkollege und Freund, wartend am Eingang stand und mir einen Becher Kakao vom Automaten entgegenhielt.
Der Becher Kakao vor dem Auftritt, mein ganz persönliches Ritual.
Dankbar nehme ich einen Schluck.
Wie immer. Nein – wie früher.
Zitternd umklammere ich den Becher. Als könnte ich dadurch die Zeit festhalten. Eine Lebenszeit, die gerade dabei ist, mir zu entgleiten.
Der allgegenwärtige Geruch von Desinfektionsmittel. Kakao in meinem Mund. Die Stimme meines Kollegen im Ohr. Ein Verhaltenspsychologe hätte seine Freude an mir gehabt. Wie bei einem Pawlowschen Hund regten sich eingeschliffene, alltägliche Reflexe, Resultate einer intensiven Prägung durch die langjährige Arbeit im Krankenhaus.
Im Spital wird gelacht. Im Spital habe ich gute Laune. Im Spital ist es schön.
Es gab Zellen in meinem Körper, die sich tatsächlich daran erinnerten, während ich vor dem Operationssaal saß und auf die Notärztin wartete.
Mein Gehirn entsann sich der Tausenden Male, da ich von schwer kranken Kindern mit einem Lächeln beschenkt worden war. Der Momente, in denen ich auch den verzweifelten Eltern der Kinder auf der Intensivstation ein Fünkchen Lebensfreude hatte schenken dürfen.
Für den Clown, den ich in diesen Räumen gespielt hatte, war alles Krankenhaustypische ein Anlass zu ansteckender Begeisterung gewesen. Das Weiß des Krankenzimmers: schön wie frisch gefallener Schnee. Das Desinfektionsmittel: ein herrlich duftendes Parfum. Der Aufenthalt: ein Gratisurlaub.
Frische Wäsche, Frühstück ans Bett, freundliches Personal – was will man mehr?
Ein Teil von mir hielt sich an das, was er kannte. Umsichtig setzte mir mein Lebenswille eine unsichtbare rote Nase ins Gesicht. Nahm mich fest bei der Hand. Mit einem aufmunternden Lächeln versprach er mir, dafür zu sorgen, dass ich irgendwann die Freude wiederfinden würde. Irgendwo, am Bett meiner Kinder, beim Einatmen des Desinfektionsmitteldufts, beim leisen Summen eines Liedes. Oder anderswo.
Clownregel Nummer eins: Keine Pläne. Keine Ideen. Lass dich überraschen und mach das Beste aus jeder Situation. Leere deinen Kopf, bevor du die Bühne betrittst. Die Neugierde ist dein Freund.
Mein Kopf war leer. Plan hatte ich keinen. Ich war bereit für den Weg ins Ungewisse.
Die Tür des Operationssaales geht auf. Eine kleine, zarte Frau im grünen Kittel sieht mich an und tritt auf mich zu. Sie wird mir gleich erklären, wie es um meine Kinder steht. Ob Thimo am Leben ist oder nicht. Ob Fini jemals wieder aufwachen wird. Sie wird mich in die Intensivstation bringen und mir zeigen, wo ich unter all den Schläuchen und Maschinen meine Kinder finde. Sie wird mir »viel Glück« wünschen und die Station wieder verlassen.
Ich werde bleiben. Vier Tage lang. Gründonnerstag bis Ostermontag.
Das Fest der Auferstehung.
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eISBN : 978-3-641-04753-5
Erste Auflage 2010
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Alle Rechte sind vorbehalten. Fotografien: © privat, Ricarda Wenko, Marianne Binder, Kai Podhrasky, Ulrich Reinthaller, Agentur face to face
Gesetzt aus der Sabon von EDV-Fotosatz Huber/ Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

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