Warum gerade du? - Barbara Pachl-Eberhart - E-Book
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Warum gerade du? E-Book

Barbara Pachl-Eberhart

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  • Herausgeber: Ansata
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Einfühlsame Hilfe für die schwerste Zeit des Lebens

Warum musstest du sterben? Warum hört der Schmerz nicht auf? Werde ich jemals wieder glücklich sein? … Die großen existenziellen Fragen der Trauer – Barbara Pachl-Eberhart musste sie sich allesamt stellen und ihre eigenen Antworten darauf finden. Nachdem sie ihren Mann und ihre beiden Kinder bei einem Unfall verloren hatte, stand auch ihr Leben plötzlich still.

Heute, sechs Jahre später, ist sie eine Frau, die aufgrund ihrer erschütternden Grenzerfahrung große Weisheit und eine heilsame Gefühlskraft weitergeben kann. Ihr neues Buch ist ein Schatz für alle Trauernden und ihre Begleiter. Geschrieben aus einer unermesslichen Tiefe des Erlebens, vermag es Trost und neue Zuversicht zu spenden.

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Seitenzahl: 327

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Barbara Pachl-Eberhart

Warum gerade du?

Persönliche Antworten

auf die großen Fragen der Trauer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Integral ist ein Verlag der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.
Copyright © 2014 by Integral Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. Alle Rechte sind vorbehalten. Redaktion: Dr. Diane ZilligesCovergestaltung: Guter Punkt, München – Andrea BarthCoverfoto: © iStock / mysondanubeSatz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, GermeringISBN 978-3-641-13985-8V004
www.integral-verlag.de www.penguinrandomhouse.de

Für den Tod,

der mich lehrte, was es heißt,

ohne Angst zu leben.

»Ich bin nicht nur überzeugt, dass das, was ich sage, falsch ist,

sondern auch das, was man dagegen sagen wird.

Trotzdem muss man anfangen, davon zu reden.«

Robert Musil

Inhalt

Einleitung

Wo bist du?

Warum?

Warum gerade du?

Werde ich alles vergessen?

Wie geht es mir?

Dir geht es doch gut. Warum nicht auch mir?

Wie soll ich das aushalten?

Wer kann mich nur verstehen?

Was brauche ich?

Bin das jetzt ich?

Kann ich jemals wieder glücklich sein?

Zum Abschluss

Einleitung

»Warum tut das so weh? Warum tut das nur so wahnsinnig weh!?«

Das war die erste große Frage. Die ersten Worte, mit denen meine Trauer ihre Sprachlosigkeit endlich durchbrach. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem sie, ohne sich vorher anzukündigen, aus mir herausplatzten: der siebzehnte Tag nach dem Unfall – mein Mann, mein Sohn und meine kleine Tochter waren am Gründonnerstag 2008 von einem Zug überfahren worden. Seit mehr als zwei Wochen waren sie nun schon tot. Und ich? Eben noch Mama von zwei kleinen Kindern. Clown von Beruf, Botschafterin der Lebensfreude. Eine junge Frau in der besten Zeit ihres Lebens. Und jetzt, auf einmal: Witwe. Verwaiste Mutter. Allein.

Was ich erleben musste, klingt brutal. Wenn ich heute Menschen davon berichte, was mir im Jahr 2008 geschehen ist, treten vielen von ihnen die Tränen in die Augen, sie beginnen, schwer zu schlucken, und schauen drein, als wäre ihnen ein Ziegelstein in den Bauch gefallen. Ich versuche dann zu erklären, dass ich diese Zeit direkt nach dem Tod meiner Familie ganz und gar nicht als brutal empfand. Im Gegenteil: Ich schwebte in einer Blase, irgendwo zwischen Himmel und Erde, ich fühlte mich geborgen, lebte in einer Traumwelt, in der ich mich eingerichtet hatte, um zu überleben. Meine tote Familie und ich, wir waren einander nah, und alles schien mir gut – zumindest solange ich nicht vor die Tür gehen musste.

Irgendwie gelang es mir, die Beerdigung zu organisieren, sofort danach aber verkroch ich mich wieder in mein Bett. Ich wollte nicht reden, nichts gefragt werden und schon gar nichts antworten. Mein Kopf sollte leer und frei sein, damit ich mich jederzeit in den Himmel träumen konnte. »Es geht mir gut«, antwortete ich auf die SMS meiner Freundinnen – und glaubte mir selbst. Ich wollte, dass alles so blieb, wie es war. Sicher, geborgen hinter verschlossener Tür. Am besten ganz ohne Worte, still und stumm. Einsam fühlte ich mich nicht. Doch die, die außen standen, ahnten bald die drohende Gefahr meiner Isolation. Heute bin ich froh, dass sie die Initiative ergriffen.

Es war meine Clownkollegin Sophie, die mich als Erste aus meiner Höhle lockte. Sie rief an, um zu fragen, ob sie mich zu einem Waldspaziergang abholen dürfe. Ich sagte Ja. Nicht, weil ich Lust darauf hatte – mir fiel bloß so schnell kein Grund dagegen ein. Eine halbe Stunde später waren wir bereits unterwegs. Wir stapften eine Zeit lang querfeldein durchs Unterholz, Sophie voran, ich hinterher, wie in Trance. Kein äußerer Betrachter hätte erkannt, dass wir beide nicht allein waren. Doch der Tod war mit uns gekommen, und alles, was wir miteinander sprachen, musste vor seinem unsichtbaren Antlitz bestehen. Unsere Schritte waren bestimmt, der Weg durch den Wald vertraut. Die Worte, die wir suchten, tanzten hingegen wie auf Eierschalen.

Wir erreichten eine Lichtung und setzten uns ins Gras. Die Sonne schien, ein Schmetterling flatterte neben uns und ließ sich in aller Ruhe auf einen Löwenzahn nieder. Ich schaute empfindungslos durch ihn hindurch. Sophie versuchte mich aufzumuntern. »Ich glaube, im Himmel haben die immer solche Tage wie heute. Hör mal, wie schön die Vögel singen. Ich kann mir gut vorstellen, wie Heli da drüben auf seiner Wolke mitträllert, was meinst du? Vermutlich spielt er sogar auf seiner Ukulele.«

Ich lächelte, dankbar für das, was meine Freundin da sagte. Ja, genauso stellte auch ich mir den Himmel vor. Glücklich, lebendig, frei. Ich hielt mein Gesicht in die warme Sonne und lauschte den Vögeln. Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete ich bis in meinen Bauch hinein. Und da, von einem Moment auf den anderen, schlug meine Stimmung um. Das Glück des Himmels war verschwunden. In mir tobte eine Feuersbrunst. Da war sie: die erste Begegnung mit dem Urschmerz der Trauer.

»Warum tut das nur so weh?«

Die einfache Antwort war mir klar, schon damals, im Wald. Natürlich: Wir weinen um unsere Toten, weil wir sie vermissen. Wir lieben sie, aber sie sind nicht mehr da. Die Sehnsucht brennt wie Feuer. Klar tut das weh.

Sophie hat diese naheliegenden Gedanken nicht ausgesprochen. Sie wusste: Es war nicht wichtig. Viel wichtiger war es, zu schweigen und einfach auszuhalten, was geschah. Meine Freundin hielt still, sie blieb bei mir, bis ich meine Frage hundertmal wiederholt hatte, in allen Tonarten, jammernd, vorwurfsvoll, gepresst, gequält, voll Selbstmitleid. Sophie hielt durch, so lange, bis mein Schmerzanfall verklungen war und ich keine gesabberten Worte mehr brauchte, um mich zu entladen.

Bis heute ist Sophie als Freundin bei mir geblieben. Sie begleitet mich auf der Achterbahn meiner Gefühle, sie lacht mit mir, wenn ich mich mit waghalsigen Plänen am Leben versuche, sie erträgt die Stille und auch die immer wiederkehrende, unendlich tiefe Frage nach dem Sinn. Immer wieder hat mir Sophie ihr Ohr geschenkt, und sie hörte nicht nur das, was ich sagte, sondern auch das, was ich zu sagen versuchte. Sie versteht es gut, so lange zu warten, bis mein Herz seine eigenen Antworten findet und mein Mund in der Lage ist, sie zu formulieren.

Dieses Buch schreibe ich als Dank an Sophie – und all die anderen Frauen und Männer, die mir dabei geholfen haben, über den Tod und mein Leben nach, nein, mein Leben mit dem Tod nachzudenken. Ich schreibe es für alle, die selbst Fragen stellen, die weinen und manches Mal verzweifelt sind. Ich schreibe dieses Buch für Sie, wenn Sie einen geliebten Menschen verloren haben. Und für die Menschen, die Sie begleiten, in Gesprächen, aber auch in der Stille der Sprachlosigkeit.

Trauer macht stumm. Um das Schweigen zu durchbrechen, brauchen Sie und auch Ihre Begleiter großen Mut, Fettnäpfchen und Missverständnisse gehören dazu. Vielleicht kann dieses Buch Ihnen Worte schenken für das, was Sie fühlen und erleben. Vielleicht kann es Ihren Begleitern ein Bild davon vermitteln, wie es Ihnen geht, und den Menschen in Ihrer Umgebung erklären, warum Trauernde sich nicht immer so verhalten, wie man es von ihnen erwartet.

Natürlich maße ich mir nicht an, zu wissen, wie es in Ihrem Inneren aussieht. Möglicherweise möchten Sie mir an der einen oder anderen Stelle sogar heftig widersprechen, weil Sie ganz anders denken und fühlen als ich. Oft ist es gerade der Widerspruch, der uns als Trampolin dient, von dem wir uns abstoßen und in Bewegung kommen. Da, wo wir widersprechen, sprechen wir immerhin.

Dieses Buch enthält meine persönlichen Antworten auf die großen Fragen der Trauer. Ich erzähle Ihnen, was ich meiner Trauer heute sage, wenn sie mich wieder einmal fragt, warum meine Kinder sterben mussten, wo ihr Leben doch gerade erst begonnen hatte. Was ich meiner Angst antworte, wenn sie mir weismachen will, dass die Erinnerung an meine Familie langsam verblasst. Ich will Sie in die Gedanken einweihen, die mir helfen, den Schmerz meiner Trauer besser zu ertragen. Und ich lade Sie ein, mit mir gemeinsam zu fragen: Können wir auch nach schmerzhaften, existenziellen Verlusten eines Tages wieder glücklich sein?

Wo bist du? Wie soll ich den Schmerz ertragen? Warum musstest du sterben? Kann ich jemals wieder glücklich sein? So lauten einige der Fragen, die ich in diesem Buch behandle. Ich habe jene Fragen ausgewählt, die mich immer wieder besuchten, die nachts in meinem Kopf herumspukten und sich jedem Versuch, sie mit einfachen Mitteln abzuspeisen, widersetzten. Gerade deshalb wurden mir diese Fragen im Lauf der Zeit zu einer Quelle vielfältiger Inspiration.

Natürlich gibt es auf jede dieser Fragen schnelle, einfache Antworten. Sie rutschen leicht über die Lippen – aber kaum jemals kommen sie da an, wo wir sie wirklich brauchen: im Herzen, im Bauch und in unserer verletzten Seele, die um Hilfe ruft. Wenn wir trauern, dürfen wir lernen, geduldig zu sein, mit uns und mit dem Leben, das uns Antwort gibt. Wir müssen, ja, wir sollen die großen Rätsel nicht sofort auflösen. Sie sind zu wertvoll, um allzu schnell abgehakt zu werden. Die Fragen der Trauer sind ein Schatz, eine wichtige Wegzehrung. Wir brauchen sie dringend als Begleiter auf dem Weg zu uns selbst.

Ich habe im Lauf der letzten Jahre gelernt, die Fragen auszuhalten. Mit ihnen zu leben, als wären sie Gäste in meinem Haus. Dabei bin ich immer wieder auf neue, überraschende Antworten gestoßen. Kleine, zerbrechliche, durchsichtig poetische – aber auch tragfähige Antworten, die das Fundament meines Lebens stabiler werden ließen als je zuvor. Ich fand sie nicht, indem ich grübelte. Ich musste vor die Tür gehen und mich dem Leben anvertrauen. Erst in der Begegnung mit der Welt entdeckte ich Metaphern, Geschichten und Parabeln, durch die ich Einsicht gewann. In der Auseinandersetzung mit meiner Gegenwart erkannte ich den Sinn dessen, was in der Vergangenheit geschehen war. Ich lebte, und ich ließ mir Zeit.

Viele Knoten in Kopf und Bauch lösten sich erst, als ich mir erlaubte, durchs Leben zu schlendern, Umwege zu machen und weite Kreise zu ziehen. Nach und nach befreite ich mich von vielen Ansprüchen, die ich an mich selbst und an das Leben gestellt hatte. Wer ungeduldig zieht und zerrt, kann die leisen, zart schwingenden Antworten nicht hören. Doch wenn wir dem Leben auf milde, wohlwollende Weise die Hand reichen, können wir uns letztlich sogar mit dem Tod versöhnen.

Oft treffe ich bei meinen Vorträgen und Lesereisen Menschen, die verunsichert sind, wenn es um die Begegnung mit Trauernden geht. »Was kann ich bloß sagen? Wie kann ich trösten?«, fragen sie. Sie sehnen sich insgeheim nach Rezepten, nach Zauberworten, mit denen sie die Tränen und die ratlose Erstarrung verscheuchen können. Solche Zauberformeln kann ich nicht anbieten – und es erschiene mir auch gar nicht sinnvoll. Trauer ist keine Krankheit, die es zu heilen gilt, und auch kein seltsamer Spuk, den man bekämpfen muss. Es ist nicht nötig, sie wegzutrösten oder wegzuschnäuzen. Trauer ist mehr, Trauer kann mehr. Trauer ist eine wunderbare Fähigkeit, die uns Menschen angeboren ist. Leider nutzen wir sie viel zu selten, da, wo sie uns im Kleinen gern zu Hilfe kommen würde. Wir neigen dazu, sie zu verdrängen, wir lenken uns ab, schützen uns, wo es nur geht, vor dem Gefühl der Vergänglichkeit, das beim ersten Kosten ziemlich bitter schmeckt.

Meist ist es der Tod eines geliebten Menschen, der unsere Fähigkeit zu trauern schließlich wiedererweckt. Anfangs tut es schrecklich weh, nicht zuletzt, weil wir merken, wie viel wir verlernt haben, während wir verdrängten. Ungeduldig und enttäuscht von uns selbst würden wir das Trauern – wenn es schon sein muss – am liebsten möglichst effizient hinter uns bringen. Erst wenn das nicht klappt, wenn wir hängen bleiben und nicht so weiterkommen, wie wir es uns wünschen, beginnen wir, unsere Muster zu überdenken. Und genau hier liegt die Chance, den wahren Wert der Trauer zu erkennen. Unsere Seele zeigt sich dankbar, sie nimmt unsere Tränen entgegen und saugt sie auf wie eine Pflanze den Regen nach langer Dürre. Mit etwas Mut lernen wir überraschend schnell. Wir werden wieder berührbar und beginnen uns an das zu erinnern, was im Grunde schon immer in uns steckt: ein tiefes Wissen, ein uraltes Vertrauen, viele ungeweinte Tränen – aber auch eine ganz besondere Art von Lebendigkeit, in der es Platz gibt für vieles, sogar für den Schmerz. Ich habe dieses Buch geschrieben, um Sie bei der Erinnerung an diese Lebendigkeit zu unterstützen.

Das einzige Mittel, das mir dabei zur Verfügung steht, sind die Worte. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, lebendige Worte zu finden – Worte, die Sie nicht nur im Denken ansprechen, sondern auch in der Art, wie Sie Ihrem Leben aktiv und handelnd begegnen können. So wünsche ich mir, dass dieses Buch immer wieder auf Ihrem Nachtkästchen liegen bleibt, weil Sie gerade keine Zeit zum Lesen haben. Ich hoffe, dass meine Geschichten vor allem Lust aufs Leben machen – auf Bewegung, Ausdruck und auf die Begegnung mit anderen Menschen, vielleicht sogar mit Menschen, die schon einmal Ähnliches erlebt haben wie Sie. Dieses Buch ist ein Begleiter, aber nur einer von vielen. Und es ist möglich, dass es Sie auch dann noch begleitet, wenn Sie sich nicht mehr als trauernd bezeichnen. Im besten Fall weckt es in Ihnen eine Ahnung, die ungefähr so lauten könnte: Die großen Fragen der Trauer unterscheiden sich gar nicht so sehr von den großen Fragen, die uns das Leben allgemein stellt.

Worin besteht eigentlich der Sinn des Lebens? Auch diese Frage beantworte ich – auf meine Weise – in diesem Buch. An dieser Stelle möchte ich allerdings mein großes Vorbild Viktor Frankl zitieren: »Der Sinn des Lebens, haben wir gesagt, sei nicht zu erfragen, sondern zu beantworten, indem wir das Leben verantworten. Daraus ergibt sich aber, dass die Antwort jeweils nicht in Worten, sondern in der Tat, durch ein Tun zu geben ist. Auch das Leben fragt uns nicht in Worten, sondern in Form von Tatsachen, vor die wir gestellt werden, und wir antworten ihm auch nicht in Worten, sondern in Form von Taten, die wir setzen.«

Wir, die wir trauern, wissen nur zu gut, wie eng die großen Fragen der Trauer mit dem zusammenhängen, was wir im Leben tun. Zu Beginn wird uns das vor allem auf schmerzhafte Weise bewusst. Denn oft ist es gerade der scheinbar banale Alltag, der uns die größten schmerzhaftesten Fragen stellt. Bin das jetzt ich? Was brauche ich? Ist mir überhaupt zu helfen? Mitten im Leben versuchen wir, Schritt zu halten mit den anderen, die keinen K.-o.-Schlag verdauen müssen wie wir. Tapfer kämpfen wir uns durch den Dschungel der Behördengänge, Formulare und profanen Agenden des Hinterbliebenseins. Wir stammeln und ringen um Worte, wenn man uns fragt, wie es uns geht. Wir stehen bei IKEA und merken plötzlich, dass diese Pakete ganz leicht waren, als wir noch vier Hände hatten, und dass die gleichen Pakete jetzt auf einmal schwer sind wie Blei. Wir holen einen halben Laib verschimmeltes Brot aus der Dose und weinen – nicht um die verdorbene Krume, sondern um ein ganzes Leben, in dem niemals ein Laib Brot schlecht wurde und in dem das Essen grundsätzlich viel besser schmeckte. »Was hast du?«, fragt man uns. Wir können es nicht sagen, es wäre zu viel, zu tief, zu kompliziert.

Wir haben von sehr vielem, was zu unserem neuen Leben gehört, keine Ahnung. Wir leben trotzdem und hoffen, dass wir jemanden finden, der uns nicht nur Taschentücher reicht, sondern die tiefe Tragödie hinter den scheinbar kleinen Ereignissen versteht. Wir beten darum, dass jemand kommt und uns einen Teller Suppe vor die Nase stellt, die Glühbirne einschraubt und das Auto zum Service bringt. Dieser Jemand … vielleicht versteht er sogar, dass wir es manchmal selbst sehr komisch finden, wenn uns etwas auf geniale Weise misslingt, und auch, dass wir mitten im Lachen auf einmal wieder zu weinen beginnen, ohne genau zu wissen, warum.

Weinen und lachen. Zurückschauen und vorwärtsgehen. Sich verstecken und Neues wagen. Trauern … und glücklich sein. Ist das wirklich möglich? Die Antworten, die ich in diesem Buch gebe, bekennen sich zum Leben und zur Hoffnung auf das Glück. Sie entwickeln sich langsam. Sie stammen aus meiner Erfahrung mit hilflosen, strengen oder gutmütigen Freunden, mit klugen Begleitern und Helfern. Und nicht zuletzt aus der Erfahrung mit mir selbst, in allen möglichen Lebenslagen. Sie schöpfen aus meiner Vergangenheit als Mutter und Ehefrau ebenso wie aus der Zeit meiner tiefsten Trauer und auch aus meinem aktuellen Leben in neuem Beruf und in neuer Beziehung.

Sie sind immer wieder lebendig, praktisch, aufs Leben bezogen. Andererseits greife ich immer wieder zu Metaphern, Gedichten und Geschichten, vor allem, wenn es darum geht, Unsagbares zu umkreisen. Die Sprache der Bilder hilft uns, behutsam zu bleiben und uns auf Zehenspitzen an jene Themen heranzutasten, die uns am meisten betreffen – als Trauernde, aber vor allem als fühlende Menschen, die erlebt und erfahren haben, wie wertvoll und zerbrechlich das ist, was wir Leben nennen.

Ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann, Ihnen den Tanz durch die Grenzgebiete am Rande unserer Existenz ein wenig zu erleichtern. Ich glaube an die transformierende Kraft der Trauer. Zugleich glaube ich auch daran, dass eine Zeit der Trauer irgendwann zu Ende gehen darf. Es darf wieder gut werden in einem Leben, das anders ist als vorher – nicht nur, weil jemand fehlt, sondern vor allem, weil wir uns verändert haben, weil wir durch die Begegnung mit dem Tod gewachsen sind. Dieses Buch lädt Sie ein zu erkennen, was Sie durch die Trauer um Ihren geliebten Menschen gewinnen können.

Lassen Sie uns mit dem Ausflug beginnen, einem Ausflug in die Welt meiner persönlichen Geschichten, Gedanken und Bilder. Erkunden wir, was die Trauer uns fragt, und machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach Antworten. Die letzte, größte, für immer wahre Antwort, die werden Sie in diesem Buch nicht finden. Nicht, weil es sie nicht gibt. Sondern weil die tröstende, letztgültige Wahrheit schon längst am besten Ort der Welt bereitliegt: mitten in Ihrem Herzen – an einem Platz, zu dem Worte einfach keinen Zugang haben. Möge mein Buch ein kleiner Schlüssel sein, der Ihnen die Tür zum geheimen Raum Ihrer eigenen Antworten öffnet. Vielleicht ist es der erste – vielleicht aber auch der letzte, der noch nötig ist, um einzutreten.

Das Erste

Ich glaube, das Erste,

was ich nach deinem Tod getan habe,

war völlig banal.

Wenn ich mich richtig erinnere,

habe ich mir den Zopfgummi

aus den Haaren gezogen

und mir einen neuen Pferdeschwanz gebunden.

Als hätte ich es oft geübt,

bin ich vom Krankenhaus

nach Hause gefahren.

Nicht einmal das Geräusch des Blinkers

war anders als sonst.

Daheim

habe ich die Türe aufgesperrt,

die Schuhe ausgezogen

und sie nebeneinandergestellt.

Das hatte keine Bedeutung.

Zwei Schuhe gehören eben

nebeneinandergestellt.

Ich warte noch heute

auf den Moment,

der nicht so banal ist

wie die rotztriefenden Tränen der Schuld

über unsere banalen Streitigkeiten.

Nicht so banal

wie der Schmerz

der Sehnsucht

nach ganz banalen Momenten mit dir.

Ich frage mich, ob mein eigener Tod

die letzte Banalität sein wird,

die ich hinter mich bringen muss.

Oder ob es drüben, bei dir,

genauso banal weitergeht.

Leichter, vermutlich.

Wo bist du?

Es ist ein heißer Sommertag. Ich sitze in einem Liegestuhl und lese ein Buch, neben mir ein Glas Limonade, auf einem Teller liegt ein Käsebrot. Ferien. Ich habe Zeit für mich, es geht mir richtig gut. Da, auf einmal, läutet das Telefon. Noch bevor ich abhebe, weiß ich, dass dieser Anruf nichts Gutes verheißt. Zitternd greife ich zum Hörer. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Frau. Ihre Stimme ist vorwurfsvoll. Es geht um meinen Sohn Thimo – er ist seit drei Wochen im Kinderheim und wartet verzweifelt darauf, dass ich ihn endlich abhole. Kann das sein? Wie bitte, ich habe ihn vergessen?! Ich will Thimo sprechen. »Nein, das geht nicht«, sagt die Dame am Telefon. »Er spricht schon seit Tagen mit niemandem mehr.«

Bevor ich schreien und wild um mich schlagen, bevor ich weinen, bevor ich mich ins Auto setzen kann, um zu meinem Kind zu rasen, bevor ich meinen Sohn trösten und in die Arme schließen kann, damit alles wieder gut ist … wache ich auf. Schweißgebadet, entsetzt. Ich kann es kaum fassen. Welches Monster kommt auf die Idee, mir so schreckliche Träume zu schicken? Was zum Henker fällt meinem Unterbewusstsein ein, mich so grausam zu quälen?

Ich drehe mich auf den Rücken, öffne die Augen, ich lege die Hand auf meinen Bauch und versuche, meinen Atem zu beruhigen. Es dauert eine Weile, bis ich in der Wirklichkeit angekommen bin. Einer Wirklichkeit, in der mein Kind seit über zwei Jahren tot ist. Einer Wirklichkeit, die nicht perfekt, aber wenigstens einigermaßen vertraut ist. So seltsam es klingen mag: Der Status quo, auch wenn er den Tod meines Mannes und meiner Kinder beinhaltet, ist mir deutlich lieber als das, was in manchen Nächten in meiner Traumwelt geschieht.

Diese nächtlichen Schreckensbilder suchten mich Gott sei Dank nicht von Anfang an heim. Die Träume in den Wochen nach dem Tod meiner Familie erzählten kräftige, lebendige Nachtgeschichten von einem gemeinsamen, fröhlichen Alltagsleben. Ab und zu bekam ich nachts auch gut gemeinte Botschaften von einem meiner drei Engel zugeraunt. Ich konnte gar nicht genug von diesen Träumen bekommen, und ich schlief, so viel es ging – nicht nur, weil ich müde war, sondern weil ich mich bei jedem Einschlafen auf den nächsten Besuch meiner Familie freute. Irgendwann wurden diese Träume seltener, bis sie ganz verschwanden. Fast ein Jahr lang träumte ich gar nichts, oder, in seltenen Fällen, von Elfenwäldern, Häusern und vom Fliegen. Heli und die Kinder schauten nicht vorbei. Vermutlich haben sie da drüben anderes zu tun und wissen, dass ich ganz gut ohne sie zurechtkomme, dachte ich. Und dann, eines Tages, gingen die Albträume los.

Ich habe meinen Sohn vergessen. Ich suche verzweifelt nach meinen Kindern. Meine Tochter fällt vor meinen Augen in einen See, ich stürze zu ihr, aber ich kann sie nicht mehr retten, sie versinkt …

Diese Schreckensbilder suchten mich nicht oft heim. Aber oft genug, dass ich mich fragen musste, was sich mein Unterbewusstsein da zusammenreimte. Wieso glaubte es, dass meine Kinder verzweifelt auf mich warteten? Und wie kam es auf die Idee, dass es tatsächlich an mir läge, sie zu retten? Immerhin, in einer Angelegenheit waren wir uns einig: Meine Familie war nicht ausradiert, sie hielt sich bestimmt noch irgendwo auf. Das, woran ich glaube, hatte sich offenbar tatsächlich bis in den hintersten Winkel meiner Psyche herumgesprochen. Doch irgendwie hatte mein Unterbewusstsein da etwas falsch verstanden. Es baute die falsche Geschichte. Es kombinierte Leben und Tod auf völlig unzulässige Weise. Ich konnte nur hoffen, dass auch meinem Traumselbst irgendwann klar werden würde, dass meine Kinder nicht mehr am Leben und daher auch nicht mehr unter meiner Obhut waren. Sie warteten weder im Kinderheim, noch spielten sie am abschüssigen Rand eines Badesees. Ihr physischer Tod war endgültig. Das war nicht einmal durch Schuldgefühle oder mütterliche Traumheldentaten rückgängig zu machen.

Mittlerweile gehe ich regelmäßig zu einer Therapeutin, die nach der Psychologie von C. G. Jung praktiziert. Sie hat mir beigebracht, dass ich meine Träume auch ganz anders verstehen kann. Albträume bergen oft eine überraschende Seite, die nicht so schrecklich ist, wie man glauben mag. Alles, was im Traum vorkommt, könnte in Wirklichkeit einen Teil von uns selbst repräsentieren. Ich selbst … auf der Suche. Ich, der See, die Mutter und auch das versinkende Kind.

Thimo im Kinderheim – vielleicht erschien er mir nur als Stellvertreter für einen Teil meiner selbst. Als Symbol für mein eigenes inneres Kind, verlassen und vernachlässigt von einer Barbara, die sich allzu sehr bemüht, erwachsen zu sein. Diese Interpretation scheint mir plausibel: Die Albträume begannen gerade in einer Zeit, in der ich versuchte, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Vielleicht habe ich den spielerischen Teil in mir zu wenig gepflegt, als ich versuchte, gut zu funktionieren und mich beruflich neu zu etablieren.

Heute deute ich meine Träume gern auf diese Art, es gelingt fast immer. Meine Albträume kamen schon lange nicht mehr zu Besuch. Mittlerweile bin ich in wechselnden Rollen Priesterin, Drache, Braut oder – in Nebenrollen – ein neues Haus, ein Zug oder ein Auto. Sehr oft bin ich unterwegs, vermutlich vor allem zu mir selbst. Was bleibt, ist die ungelöste Frage, die ich mir immer wieder stelle, in schlaflosen Nächten und auch am Tag: Wo ist mein Mann, wo sind meine Kinder? Eines weiß ich gewiss: Sie sind nicht im Kinderheim, und sie liegen auch nicht verloren am Grunde eines Sees. Der Tod hat definitiv auch gute Seiten. Ehrlich.

Aber … wo sind sie dann? Die noch wichtigere Frage, die, die mich eigentlich beschäftigt, lautet: Sind sie überhaupt noch? Irgendwie? Irgendwo?

Die Beileidskarten, die ich nach dem Tod meiner Familie bekam, geben Antwort. »Die Toten, sie leben weiter in unserer Erinnerung.« Nun ja. Dieser Spruch war mir von Anfang an keine große Hilfe. Wann immer ich ihn las, fühlte ich mich unwohl. Wusste der, der diesen Spruch auf die Karte geschrieben hatte, welchen Druck er mir, der Überlebenden, da auferlegte? War ihm klar, dass er mich auf subtile Weise dafür verantwortlich machte, meine Familie durch konstante Erinnerungsarbeit am Leben zu erhalten – in einer Art gedanklicher Mund-zu-Mund-Beatmung, die nur ja nicht aussetzen durfte, weil sonst alles zu spät war?

Diese Vorstellung überforderte mich völlig. Ich hatte doch schon genug Sorgen. Eben noch waren wir eine ganze Familie gewesen. Vier junge, lebendige Menschen, die, jeder für sich, freudig mitten im Leben standen. Jetzt auf einmal gab es nur noch dieses Häuflein Elend, diese Frau, die meinen Namen trug und tapfer versuchte, ihr Überleben einigermaßen ordentlich zu meistern. Heli und die Kinder waren von der Lokomotive eines Reisezuges auf die andere Seite des Vorhangs katapultiert worden. War ihr Weiterbestehen wirklich abhängig von denen, die sich ordentlich an sie erinnerten? Nein. Ich musste davon ausgehen dürfen, dass mein Mann und meine Kinder unabhängig von mir existierten und dass es ihnen da, wo sie waren, auch ohne mein Zutun gut ging. Richtig gut. Besser denn je. Ich brauchte doch jemanden, auf den ich mich verlassen konnte und der stärker war als alle meine Sorgen.

Ich wurde richtig allergisch gegen den oft zitierten Erinnerungs-Trauerspruch. Ich suchte schlagkräftige Argumente, warum er nicht nur dumm, sondern sogar schädlich war. Denn: Würde mich diese Vorstellung nicht daran hindern, meinen Weg frei fortzusetzen, ohne allzu sehr auf die Vergangenheit zu schielen? Und wie würde es später aussehen, wenn ich alt und vergesslich, vielleicht sogar an Alzheimer erkrankt wäre? Müsste ich mir dann, ohne Erinnerung, jede Hoffnung auf ein Wiedersehen aus dem Kopf schlagen? »In der Erinnerung«, nein, das ist nicht der Platz, an dem ich meine Familie ansiedle. Zumindest nicht der einzige.

Ich frage weiter. Wo seid ihr? Wo bist du wirklich?

Im Himmel. Hinter dem Vorhang. Gleich ums Eck. Mitten im Raum, auf meiner Schulter. Ich bin ein Mantel, der sich um dich legt. Auf Wolke sieben, in der ewigen Musik. Die ewigen Jagdgründe, das Paradies, ein Zustand fließender Glückseligkeit …

Den meisten von uns fällt es nicht schwer, uns den Himmel in herrlichen Farben auszumalen. Unseren Toten geht es gut – ja, der passende Ort, die Kulisse für diese Überzeugung zeichnet sich fast wie von selbst. Lichtvoll, in warmen Farben. Alles wäre so wunderbar. Da gibt es nur einen, der stört: den Zweifel. Er mischt sich in unsere Malerei, als wäre er ein grauer Wasserfarbenfleck, der zerrinnt und uns das ganze Bild zerstört. Er durchwirkt unsere Gedanken. Er nimmt uns die Kraft und entmutigt uns, wo es nur geht. Was können wir ihm, dem Spielverderber, nur entgegenhalten? Im Grunde … nichts. So sehr wir uns auch bemühen, Beweise für ein Leben nach dem Tod zu finden, der Zweifel wird uns begleiten, solange wir leben. Es scheint zum Wesen des Lebens zu gehören, dass wir nicht mit Sicherheit wissen können, was nach dem Tod kommt.

Ich habe irgendwann ein Gedankenspiel erfunden, mit dem ich mir selbst bewies, dass meine Hoffnung auf Gewissheit tatsächlich unerfüllbar ist. »Was müsste passieren, damit ich ganz sicher weiß, dass Heli noch lebt?«, fragte ich mich. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn er plötzlich mitten im Raum erscheinen würde – jetzt, hier. Er würde lachen. »Klar bin ich noch da.« Würde ich ihm glauben? Vielleicht ja, im ersten Moment. Doch schon nach wenigen Minuten würde ich mich fragen, ob ich nicht doch bloß einer Halluzination auf den Leim gegangen sei. Einem Wunschtraum, einer Erscheinung, die mein Hirn sich ausgedacht hat, um mich zu trösten.

Streng dich besser an, Heli!

Was könnte mein Mann tun, um mir mehr Sicherheit zu schenken? Erscheinung, die zweite: Heli kommt noch einmal, diesmal entscheidet er sich, an einem Ort zu erscheinen, an dem viele Menschen sind. Im Kaffeehaus vielleicht, wo ich gerade mit ein paar Freundinnen frühstücke. Er setzt sich zu uns, plaudert mit uns, erzählt ein bisschen vom Fliegen und von seinem himmlischen Ukulelenspiel. Nach einer Viertelstunde verabschiedet er sich mit einem Kuss und wird wieder unsichtbar.

Wäre ich überzeugt? Ich weiß es nicht. Ich spüre, wie mein Herz zu klopfen beginnt. Meine Freundinnen und ich, wir würden einander fassungslos anschauen. »Hast du das auch gesehen?« – »Ja, aber … das gibt’s doch nicht. Das kann doch gar nicht sein.« Wir würden die Leute am Nachbartisch fragen, ob sie Heli auch gesehen hätten. Nein, vermutlich nicht, sie hatten ja nicht aufgepasst, wären zu sehr in ihr eigenes Gespräch vertieft gewesen. Ich stelle mir vor, wie wir wieder an unseren Tisch zurückkehren. Wir wissen nichts zu sagen und schütteln die Köpfe. Der Zweifel hat schon wieder einen Punkt geholt. Bald geht er erbarmungslos in Führung, spätestens dann, wenn wir anderen erzählen, was wir erlebt haben. »Spinner«, raunt man hinter unserem Rücken, und bald glauben wir es selbst. Wir versuchen unser Erlebnis einzuordnen, indem wir es rationalisieren. Vermutlich haben wir es uns alle gewünscht. Wir haben fantasiert. Wir haben etwas, irgendetwas gesehen, ja, vielleicht sogar eine Art kosmischer Energie.

Immer noch könnte ich nicht mit Sicherheit behaupten, dass Heli weiter gegenwärtig ist. Was müsste also noch geschehen, welcher Beweis könnte mir meinen Zweifel nehmen? Ich will mein Gedankenspiel noch ein bisschen weitertreiben. Inzwischen weiß ich: Egal, auf welche Weise Heli mir erscheinen würde, ob als Engel, als Mensch, ob er mit mir sprechen oder mich umarmen würde, egal, wie lange er bliebe, das alles wäre kein Beweis. Denn sobald er wieder verschwunden wäre, würde der Zweifel doch aufs Neue beginnen. So bin ich eben, denn ich bin ein Mensch, und ein Teil meines Hirns versteht nur das, was man anfassen und immer wieder sehen kann. Wunder, ja, die mag es geben, irgendwo, irgendwie. Aber wirklich gültig ist doch nur, was sich jederzeit wiederholen lässt.

Heli müsste also konsequenterweise bei mir einziehen und bleiben. Wenn ich immer wieder nachsehen könnte, wenn ich andere Menschen holen könnte, um sie mit ihm reden zu lassen, wenn ich Fotos machen und Videos drehen könnte, ja, dann …

… tja. Dann hätte er mir erst recht nichts bewiesen. Jedenfalls nicht, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Sondern höchstens, dass sein Tod ein Irrtum war und er doch noch auf Erden lebt. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit dem Zweifel anzufreunden. Er gehört eben zu mir, dieser lästige Kerl, der hochbegabt ist, wenn es darum geht, die denkbar schrecklichsten Antworten auf jede meiner Fragen aus dem Ärmel zu ziehen. Wo sie sind? Ha! Weg sind sie. Verschwunden, überhaupt nicht mehr existent. Gut. So also klingt die Stimme des Zweifels. Die Stimme der denkbar schlimmsten Möglichkeit. Ich kann sie nicht zum Schweigen bringen. Aber: Nur weil sie die hässlichsten Bilder malt, hat sie nicht automatisch recht.

Ich habe viele Ideen dazu, wo und wie meine lieben Toten existieren. Eines jedoch kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen: dass sie, da drüben, pessimistisch auf einer Wolke sitzen und vor sich hin jammern. »Wer weiß, wer weiß. Sind wir hier oder nicht? Sind wir auf dem richtigen Weg oder irren wir uns?« Nein, ich glaube, das hat man noch nie von einem Engel gehört. Zweifelnder Pessimismus scheint eine Angewohnheit zu sein, die wir Menschen für uns allein gepachtet haben. Ich versuche also, dem Zweifel nicht mehr Beachtung zu schenken als nötig. Und ich entscheide mich dafür, lieber an die guten Möglichkeiten zu glauben und meine Fantasie mit erfreulichen, guten Bildern vom Jenseits zu nähren.

Im Grunde ist es ja gut, dass wir keine absolute Gewissheit haben. Das Spiel mit Möglichkeiten ist ein wesentlicher Motor unseres Lebens. Hypothesen sind wie Straßen, die wir bauen, um ihnen eine Zeit lang zu folgen. Warum sollen wir ausgerechnet über die größte Frage unseres Lebens keine Hypothesen aufstellen? Gerade sie schenkt uns doch die meisten Möglichkeiten, lebendige, kraftspendende Fantasien zu entwerfen. Manchmal führt uns ein Weg in eine Sackgasse. Wenn es so weit ist, merken wir es meistens sehr deutlich.

Ich habe einmal mit einer Frau telefoniert, die seit zwei Jahren mit ihrer toten Tochter kommunizierte, indem sie sie mit einem Glas befragte, das sie über ein Brett mit aufgemalten Buchstaben wandern ließ. »Glauben Sie mir, dass meine Tochter wirklich mit mir spricht?«, fragte sie mich. »Ich weiß es nicht, aber ich schließe es nicht aus«, antwortete ich. »Ich denke, der Himmel hat mehr Möglichkeiten, als wir uns erträumen können.« Meine Antwort schien die Frau zu erleichtern. Doch unser Telefonat blieb nicht bei der Glaubensfrage stehen. Denn nun erzählte mir die Mutter des verstorbenen Mädchens von ihren Sorgen. Man hielt sie langsam für eine Spinnerin. Ihr Mann und ihr erwachsener Sohn wollten ihr die Séancen verbieten. Ich versuchte, die Hintergründe des Konflikts zu erfragen. Bald erfuhr ich, dass meine Gesprächspartnerin keine größere Entscheidung mehr treffen konnte, ohne zuvor das Glas und das Brett zu befragen. Sie hatte die Verantwortung für ihr Leben »an den Himmel« delegiert.

Warum rief mich diese Frau an? Ich weiß nicht, ob ihr das Glas dazu geraten oder ob sie es selbst entschieden hatte. Doch es ist offensichtlich, dass sie das Gespräch suchte, weil sie selbst merkte, dass sie sich in ihrem Glauben verirrt hatte. Es war für sie an der Zeit, ein paar Dinge neu zu verorten. Dabei ging es nicht mehr um die Frage, ob die Tochter wirklich antwortet oder nicht, sondern darum, wer die Verantwortung für die Entscheidungen eines Lebens trägt. Sie war aufgefordert, innezuhalten und neue Fragen zu stellen. Fragen, die sich weniger um die Vorstellung vom Jenseits als um die Verantwortung für das eigene Leben drehten.

Anders als die suchende Mutter am Telefon haben viele Menschen die Option, an irgendetwas zu glauben, nach einem persönlichen Schicksalsschlag scheinbar endgültig verworfen. »Ich bewundere Sie für Ihren Glauben, ich kann das leider nicht«, mit diesen Worten sprechen mich immer wieder Menschen an. Ich frage mich: Was meinen sie damit genau? Wer oder was ist es, woran sie nicht glauben können?

Wenn wir von unserem Glauben sprechen, denken wir oft an das Leben im Jenseits oder an eine höhere, allwissende, ewig liebende Macht. Dabei messen wir unsere Glaubensfähigkeit an sehr konkreten Bildern. »Ich glaube nicht«, das heißt meistens: Ich kann nicht mehr an die Bilder und Vorstellungen glauben, die mir einst vermittelt wurden. Engel mit Flügeln und dicken Kinderbäuchen. Ein Mann, der Wasser in Wein verwandeln kann. Ein Gott mit Rauschebart, ein Gott, der dafür sorgt, dass ich niemals leiden oder weinen muss …

Wenn das Schicksal uns herausfordert, wird unser naiver Kinderglaube infrage gestellt, er scheint zu implodieren, er zerfällt zu Staub. Das tut weh. Auch wenn unser Erwachsenenkopf es längst hätte wissen müssen, das Kind in uns glaubte doch fest daran, dass Gott ganz persönlich auf uns aufpassen und uns vor allem Leid bewahren würde. Nun müssen wir erkennen: Es hat nicht geklappt. Wir sind enttäuscht von diesem Gott wie von einem geliebten Vater, dem zum ersten Mal die Hand ausgerutscht ist. Und wir fragen uns: Wo war die Gnade, wo waren die Wunder, als ich sie brauchte? Was ist das für ein Gott, der mich und andere so leiden lässt?

An diesem Punkt haben wir zwei Möglichkeiten. Wir können uns abwenden und uns künftig nur noch auf uns selbst verlassen. Die zweite Option besteht darin, abzuwarten, ob nicht doch noch etwas Gutes, vielleicht sogar ein Wunder aus dem erwächst, was uns jetzt so schrecklich scheint. Ich habe mich für diesen Weg entschieden, nicht bewusst, sondern intuitiv. Es schien mir ganz natürlich, an das Prinzip der positiven Überraschungen zu glauben. In meiner Arbeit als Clown im Krankenhaus hatte ich regelmäßig geübt, ins Ungewisse zu gehen und darauf zu vertrauen, dass sich bald alles zeigen würde, was ich brauchte. Jedes Mal, wenn ich an die Tür eines Krankenzimmers klopfte, hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete. Und, ja, das war immer ein banges Gefühl. Doch ich hatte mir selbst schon Hunderte Male bewiesen, dass der Stoff für meine Clowngeschichte gerade da wartete, wo ich mich unvorbereitet und erwartungslos einließ auf das, was hinter dieser Tür lag. Ich musste mit leeren Händen kommen. Dann geschah das Wunder wie von selbst. Wenn mein Kopf frei und meine Augen offen waren, entdeckte ich die Geschichte, die im Zimmer des Kindes gepflückt werden wollte. Sie wartete in Form eines rosaroten Zahnputzbechers, eines Teddybären, manchmal auch in Form von Tränen. Und ich antwortete ihr, indem ich ins Bechertelefon flüsterte, Bärentatzen schüttelte oder ein leises Regentropfenlied erfand.

Ich glaube, auch Gott wartet auf uns, wenn auch manchmal hinter einer geschlossenen Tür. Er ist geduldig. Er weiß aus Erfahrung: Irgendwann wird unsere Neugier groß genug sein, so groß, dass wir den Mut aufbringen, die Tür zu öffnen.

»Wer bist du, Gott? Wo zeigst du dich? Was willst du mir sagen, mit dem, was du mir abverlangst? Und wie kann ich dazu beitragen, dass du mich gut unterstützen kannst?« So lauten die Fragen, die ich heute stelle. Natürlich finde ich es schade, dass es nicht möglich ist, ab und zu mit Gott zu telefonieren. Es gibt ein paar Angelegenheiten, die ich wirklich gern einmal mit ihm besprechen würde. Stimmt es, dass die Seele sich aus dem Körper erhebt, wenn Schmerzen zu stark werden, um sie zu ertragen? Stimmt es, dass meine Tochter Fini geborgen war, als sie allein im Gras lag, nachdem der Zug sie aus dem Auto katapultiert hatte? Wie erleichtert könnte ich leben, wenn ich die Antworten bekäme, nach denen ich mich sehne! Für den Moment muss ich mich damit abfinden, dass vieles ungewiss ist. Ich nutze diese Ungewissheit und betrachte sie als Chance. Da, wo es keine eindeutige Antwort gibt, habe ich die Freiheit, mir meine Lieblingsantwort zu wählen und mein Leben nach ihr auszurichten. Ja, ich glaube daran, dass der Tod eines Menschen nicht so schmerzhaft ist, wie es von außen wirkt. Ich glaube daran, dass alles Leid sich letztendlich in Güte und glückliche Einsicht verwandelt. Ich glaube daran, dass meine Wünsche und Pläne von höherer Ebene unterstützt werden, sofern sie mir und meiner Umwelt nicht schädlich sind.

Mittlerweile bin ich sogar davon überzeugt, dass man mit Gott kommunizieren kann. Es braucht nur ein bisschen Übung, die Antwort zu erkennen. »Ja«, so lautet Gottes Antwort. Immer und immer wieder: »Ja.«