Villa Mare - Michael Opielka - E-Book

Villa Mare E-Book

Michael Opielka

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Beschreibung

Ein Mann fährt zurück in seine Vergangenheit. Etwas ist geschehen, was genau es ist, muss unscharf bleiben, deshalb reist er in den Süden, nach Elba, will in die Villa Mare, in der er damals, vor vierzig Jahren, glaubte, erwachsen geworden zu sein. Aber es gibt die Vergangenheit nicht ohne die Gegenwart und die Jahre, die dazwischen waren.

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Für M.

INHALT

Gen Italien

Parma

Villa Mare

Trennung

Liebe

Mare

Erkennen

1

GEN ITALIEN

Er fuhr in den Süden. Es war das vierzigste Jahr nach jener Reise, an die er sich, um den Sommer zu retten, erinnert hatte. Auch damals war er allein unterwegs. Am Morgen der Abreise durchsuchte er den Stapel der alten Tagebücher. Seit Jahren liegt das letzte Buch der feinen Reihe, die er sich einst binden ließ, Lederrücken, marmorierter Umschlag, gold geprägte Nummer, neben dem Bett. Was er suchte, stammte aus der Zeit davor, seine Schrift war fast kindlich, Alltägliches hatte er unbeholfen auf den Titel gesetzt, was davor zu lesen war, hatte er abgerissen, studentische Sparsamkeit. Er wird das Buch aufschlagen und darin in der Zeit vor vierzig Jahren lesen. Ob er noch derselbe ist, wird er sich dabei fragen. Wie er damals dachte und empfand. Wie er aus Beobachtungen Erinnerungen machte und welche er behielt.

Es muss ein Renault 4 gewesen sein, die französische Antwort auf den Käfer, mit dem er schon in Griechenland war, zwei Jahre zuvor, nur er hatte einen Führerschein, der Freund nicht, den er aus den Augen verloren hatte, schon lange. Jetzt war es ebenfalls ein Renault, das fiel ihm beim Schreiben auf, wenn du die Wahrnehmung konzentrierst, dann fällt dir so vieles auf, ein einfacher Gedanke, aber mit Folgen für dieses Buch, dachte er wieder. Diesmal ein Vel Satis. Er fand ihn unförmig, anfangs, bevor er sich für ihn entschied. Dass der französische Präsident ihn fuhr, löste in ihm ambivalente Empfindungen aus. Er ärgerte sich über den kleinen Stolz, ein Präsidentenautofahrer zu sein, auch wenn er es erst sah, als er ihn selbst fuhr, zudem mochte er den kleinen Angeber nicht, weder politisch noch ästhetisch, auch wenn ihm die Musik seiner neuen Frau gut gefiel. Aber er war ihm recht, diese Großzügigkeit, das weit zu öffnende Dach, die beigen Lederpolster und das wärmende Holz. Fast alles war gut. Nicht gut war, dass die Kupplung ausfiel, drei Stunden vor Piombino, nach einer langen Samstagsfahrt. Drei Stunden wartete er am Rande der Autobahn.

Noch ist er nicht in Parma angelangt, nur am Stadtrand, es wird ein Abschleppfahrzeug kommen und er wird in den Auspuff eines kleinen Wagens mit vier fröhlichen Urlaubern vor ihm auf der Ladefläche blicken, das Schleppgeschirr wird dumpf gegen sein Auto klopfen, und dann werden sie ihm sagen, zwischen englisch und italienisch, dass er erst nach dem Wochenende mit einer Reparatur rechnen könne. So wird er sich die Frage immer wieder stellen können, was er hier in Italien will.

Er wird für die Antwort zurückschauen. Darum fuhr er nach Italien, es war nicht Goethes Spur, die er suchte, nur seine eigene. Damals vor fast vierzig Jahren, war ihm Goethe schülerfremd, ein großer ferner Dichter. Sein schwankendes Idol war Don Juan, von dem Carlos Castaneda schrieb. Er sollte dort, am Ende auf Elba, in seinem Exil vor sich selbst, so viele Sätze auf rotes Papier übertragen, kaum ein Kommentar, die unmittelbare Überwältigung. In der Gegenwart, die immer wieder einziehen wird, schaute er nach und stellte seinen Tod fest. Jene Verbindung aus ethnologischer Wahrheitsliebe und spirituellem Risiko hatte ihn berührt, viele Jahre später sollte er noch einige Semester Ethnologie belegen, auch deshalb. Doch der Anfang war nicht Wissenschaft und Geist, der Anfang damals war er selbst. So ging es nicht weiter.

Der Blick zurück ist trübe. Noch immer schwärmen Freunde von Castaneda, wird er nach der Rückkehr erfahren, wird vom Nagualismus lesen, den Jüngern des toltekischen Wissens. Viel Kontroverses wurde später über Castaneda verfasst, seit damals hat er die Bücher nur noch bei Umzügen zur Hand genommen, jetzt liest er von den Vorwürfen, nichts sei erlebt, alles erdichtet, kompiliert aus Quellen und Phantasie. Er erinnert sich an Helmut Zander, der dasselbe über Rudolf Steiner sagte. Es gebe keine spirituelle Erkenntnis, nur Tradition und Lügen. Basierte sein Leben auf Lügen, wird er sich nun fragen oder kann er doch dem Gelesenen vertrauen und welchem, was war wirklich und bleibt es. Was war er selbst, was war sein Denken, was war es wert. Er vergaß nicht, dass am Anfang nicht das Denken stand, sondern das Leiden. Er hatte keine Frau. Er war einundzwanzig Jahre alt. Keine Frau hatte ihn, denkt er heute auch, keine wollte ihn, er war allein. So fuhr er nach Italien.

Sich selbst in der Welt finden, das sollte das Ergebnis werden seiner ersten Italienreise. Das schrieben Castaneda, für ihn später auch Steiner, Freud und alle, die etwas vom Leben verstehen. Wir leben in Beziehungen, ohne Objektbesetzung ist unser Leben bedeutungslos. Aber schon damals war es nicht seine erste Reise in das Land, wo die Zitronen blühn, wie Goethe in Mignon so feierlichleicht lobte. Als großes Kind war er schon einmal über die Alpen gereist, Venedig, San Marino, Cesenatico, der deutsche Nachkriegstraum. Doch damals hatte er noch nicht gedacht, schien ihm später. Erst als Denkender lebt man frei, scheint ihm heute. Aber was dachte er wirklich.

Über das werde ich mit ihm sprechen auf den Seiten, die folgen. Ich werde ihm zuhören, aber auch nachfragen. Es wird kein großes Buch werden, kein Roman, nennen wir es Essay, oder vielleicht Romanessay, weil eben auch erzählt wird. Nicht so anschaulich wie es seine Schreibgötter können, ein Paul Auster zum Beispiel oder einst Saul Bellow. Am Ende wird es eine Novelle sein, die Form, die ihn schon als Schüler beeindruckte, aber das weiß er am Anfang noch nicht. Er wird mir sein Tagebuch zeigen, wir werden darin lesen wie Ethnologen und mit ihm vier Jahrzehnte zurückgehen. Aber ich werde seine Seele schützen, nicht alles muss öffentlich sein. Robert Bellah hat ihm einst beigebracht, dass wir Texte nicht wirklich verstehen, wenn wir ihren Autor nicht kennen, wenn wir seine Biographie nicht wahrnehmen. Er hat das später mit leichter Skepsis vertreten und von seinen Studierenden verlangt, dass sie wissen, wer schrieb, was sie lesen. Als er sich mehr mit Kunst als Kunst beschäftigte, hörte er von der Wesenhaftigkeit des Kunstwerks, das sich vom Künstler ablöst und auch ohne ihn gilt. Das leuchtete ihm ein. Und doch, was wäre ein Goethe ohne sein konkretes Leben. Rüdiger Safranski, der sich später etwas ins Dunkle verirrte, hat das wunderbar beschrieben, das Familienaufwachsen, das Weltwahrnehmen, die Lebenskrisen, mit diesem Wissen wurde das Verstehen des großen Mannes aus Frankfurt leichter. Der Soziologe Talcott Parsons hat das mit sich selbst versucht, Ein Bericht zur Person, seine Psychoanalyse tauchte darin auf, er blieb vage, ob er sich ihr aus Leiden oder aus Neugier unterzog, das gefiel ihm, so offen sein und doch ein Rätsel lassen. Nun interessiert ihn sein eigenes Denken, er will wissen, ob es sich lohnt weiter darin zu leben und zu investieren.

Kurz vor der Reise hat er ein Buch verschenkt, Rückkehr nach Reims von Didier Eribon, ein Wunsch der klugen Beschenkten, die die Freunde von unbeliebten Geschenken abhalten will, die Sprache gefiel ihm nicht, die Bitterkeit, es war nicht seine Wahl. Dann fällt ihm auf, dass der Literaturbetrieb noch weitere Angebote einer neuartigen Nabelschau bereit hielt, die vom eigenen Leben abheben will, nicht auf es, die die eigene Erfahrung als Gesellschaftserfahrung analysiert, geradezu soziologische Autobiographien, keine Werkgeschichten, keine Erläuterungen des eigenen Denkens, sondern der Gesellschaft selbst. Aber sie gefallen ihm nicht, sie erreichen viele, sehr viele, aber nicht ihn. Ein Bekannter, kein Freund, das wäre zu viel, hatte ihm, es ist nicht viel länger her, seine Autobiographie geschickt, eine wütende, bittere Abrechnung mit der Mutter, wie bei Eribon der Vater, veröffentliche das nicht, sagte er ihm, lege dich erst auf die Couch oder schreibe Tagebücher voll und wenn du es schon machen willst, dann schreibe gut, nicht so roh, nicht so hingeschrien. Später wird jener ihm zurückgeben, dass der Text schon bei Verlagen liegt, die der Wut einen Platz geben wollen. Noch einmal rät er ihm ab, was unterscheidet deine Hassrede von den Hassreden der Rechten, die du ebenfalls hasst, was ist ihr Ziel, nur seine Fortführung, keine Verwandlung des Hasses in Liebe, zumindest in Toleranz, in Gleichgültigkeit. Der Bekannte im Nachbarland legt auf, wer will schon gerne infrage gestellt werden.

Was meinst du, fragt er mich, soll ich zwischen diesen Wuttexten eher die Autofiktion wählen, den Text bewusst zwischen Wahrheit und Dichtung tänzeln lassen. Er ist unsicher, er will nicht unmittelbar aus der Wut schreiben, aus der Trauer, sie sollen zu spüren sein, doch durch Sprache vermittelt, die Sprache soll zum Gehäuse der Gefühle werden. Dann darfst du den Franzosen nicht einfach folgen, rate ich ihm, sei du selbst, irgendwo zwischen Frankreich und Amerika, Deutschland und Italien, und verachte nicht deine Seele, sie ist wund, gerade jetzt auf dieser Fahrt, sie braucht deine Fürsorge, sie soll nicht auf dem Altar der Gesellschaft seziert werden.

Er wird sein Denken im Spiegel seiner Seele beobachten und diese im Spiegel der Welt. Es ist nicht sicher, dass das gelingen wird, jedenfalls so, dass es auch andere verstehen können, dass ihnen die Dringlichkeit dieses Unternehmens einleuchtet. Er wird damit beginnen und Italien wird ihm helfen.

Helfen wird ihm auch das Schreiben selbst, kein Reisetagebuch, keine Wiederholung, das ist ihm von Anfang an gewiss. Er nimmt nur ein Lesebuch mit auf die Reise nach Italien, 4321 von Paul Auster, 1259 Seiten, die Hälfte hatte er schon vor Wochen gelesen. Später, wenn er wie ein Maler die Farbaufträge den Text schichtet, zurück aus dem Süden, scheint ihm Auster nah, realistischerweise eher er ihm. Was für eine wunderbare Idee, dachte er schon zu Beginn, dieselbe Kindheit in vier Biographien auszuformen, andere Wirklichkeiten, andere Wirkungen, das große Was wäre wenn, über das so gern gelästert wird von den Klugen, ihn hatte es immer gereizt. Peter Fonagy hat die Fähigkeit zum Als-Ob als Voraussetzung des Mentalisierens analysiert, als ob wir ein anderer geworden wären, als ob wir der sind, dem wir zürnen, den wir lieben und doch nicht verstehen. Erst hat er es gar nicht bemerkt, der Preis des Lesens mit Wein und Pfeife bis in die müden Morgenstunden, dass es derselbe Archie Ferguson war, der sich nun in verschiedene Leben aufmachte, vielleicht war er auch nur müde geschrieben von Austers Spielerlisten und Baseball-Beschreibungen, die er nicht verstand, wie kann man nur dieses Herumsteher-Spiel verstehen, um wieviel klarer ist doch der Fußball, den er liebt. Wie kann man sich nur ein Leben ausdenken, Romane schreiben, die Menschen sprechen lassen, immer bewundert er die das können, vor seinem Damals, er war noch Schüler, begeisterte ihn Mich wundert, dass ich so fröhlich bin von Johannes Mario Simmel, warum hat er nur die wirklichen Autoren nicht gefunden oder sie nicht ihn. Vielleicht wäre er ein anderer geworden, realistisch, differenziert, belesen und nicht der, der er war, über den er sich auch so schämte, so unsicher, so uninteressant für die Frauen, die er interessant fand. So lag Auster im Koffer, wird im Regal der Hotels stehen und ihn, was ihn erstaunt, nicht mahnen. Er wird sich fragen, was Schreiben heißt, kein Maßstabseifer und doch wird er immer vergleichen und seine Worte suchen, sich freuen, wenn sie ihn finden, die Bewunderung für die Großen wird ihn bis an das Ende begleiten, das Staunen über die Erfindung von Welten, und am Ende wird er gerade bei ihnen entdecken, dass sie von Allem schreiben und dabei immer von sich. Auster lässt sein anderes Ich, den achtzehnjährigen Archie Ferguson über das Schreiben schreiben, das ihm schwer fiel und dennoch fühlte er sich beim Schreiben lebendiger als bei allem, was er je getan hatte, und wenn die Worte in seinen Ohren zu klingen begannen und er sich an den Schreibtisch setzte und seinen Stift nahm oder die Finger auf die Tasten seiner Schreibmaschine legte, kam er sich nackt vor, nackt und der großen Welt ausgesetzt, die auf ihn einstürzte, und nichts war besser als das, nichts kam dem Gefühl gleich, vor sich selbst zu verschwinden, und die große Welt zu betreten, die im Inneren der Worte summte, die in seinem Kopf summten. Nie hätte er Damals so über sich mit achtzehn schreiben können, und auch wenn Auster nahe der siebzig war, als er das schrieb, so schrieb er doch über einen anderen, der er war, der vierte und Überlebende der vier jüdischen Emigrantenkinder, der wie er in Columbia studierte und viel Zeit in Paris verbrachte, Gedichte übersetzte, schrieb und schrieb.

Er hat Angst vor dem großen Schreiben, es ist so schwer, sich wirklich in ihn zurückzudenken, den jungen Studenten an einer Schwelle, ich spreche mit ihm immer wieder, das Tagebuch liefert Stichworte, Orte, am Käsenbach zu Fuß von der Wanne in die Stadt, kein Auto, wie sonst, damals gab es noch Parkplätze in Fülle, der Seelenjubel an der morgendlichen Natur, er war schon ein ganzer Mensch, mit Bart und langen Haaren, Jesus comes! hatten im Jahr davor die Palästinenserkinder in Jerusalem hinter ihm her gerufen, in seinem rot-orange-gelben Kaftan muss er so ausgesehen haben, auch davon keine Fotos mehr, die Erinnerung wird brüchig, vielleicht hat auch Auster übertrieben, einfach nur sich aus heute in damals gedacht, ein Leben erschaffen, das es nicht gab, gleich vier bei ihm, hier ist es nur eines.

Paul Auster wird nicht allein bleiben unter den Geistern, die seine Erinnerung bevölkern, die auf ihn einraunen, er solle den Text nicht so lassen, er ist nicht gut genug, behalte ihn für dich, zeige ihn nur den Nahen, aber wozu dann Kapitel, erzähle es doch einfach, so kann man aber nicht sprechen, niemand spricht so, dann schreibe so wie man spricht, wie du verstanden werden willst, da sagt er, ich lese das aber gern so wie es hier steht. Lange Gesichter der Geister. Ab wann sind Erinnerungen Literatur, frage ich ihn, was ist deine Idee, dein Konzept, oder schaust du nur, was andere machen. Er wird ganz unruhig, wenn ich ihn so frage, er hat keine Theorie merke ich, sicher, er ist ein denkender Mann, aber kein Theoretiker des Schreibens, er weiß überhaupt nichts, ich bin enttäuscht, geht das überhaupt, schreiben wollen, ganz aus dem Willen. Die Erinnerung sei doch auch, bemerkt er dann, aber das ist gerade das Problem, wende ich ein, du willst nicht nur vor der Welt erinnern, du willst die Welt mit deinen Texten und jetzt gerade mit diesem, zu einer schöneren machen, wie es deine Kunstgötter schon immer konnten. Jetzt fängt er schon wieder an zu zittern, er will es sich nicht anmerken lassen, noch nie hat er Prosa geschrieben, wie das schon klingt, wer sagt denn noch Prosa, warum ist er nur so altertümlich, manchmal schäme ich mich wirklich für ihn, dafür dass ich ihn so gut kenne und andere das wissen. Ich kenne diesen Menschen nicht, würde ich dann leicht sagen, er soll das kleine Buch schreiben, weil er mir andauernd in den Ohren liegt, es müsse geschrieben werden, es sei doch schon da, dieser alte Michelangelo Satz von der Skulptur, die er nur aus dem Fels enthüllt, Künstlermythos, sage ich ihm, mache einfach versuche es.

Doch die Erinnerungen sind so gefährlich wie gefährdet. Es muss wenige Monate vor dem Tod des Vaters gewesen sein, er stand mit einer Schwester im Zimmer, wer ist diese Frau, hat er ihn sagen gehört und Demenz gedacht, er hat es der Mutter erzählt, ganz ausgeschlossen sei das, bei mir ist das nie so gewesen, über die Jahre hat sie es bekräftigt, dann fragt er die Schwester selbst, hatte er das nicht schon einmal getan, sie sagt nein, sie kann sich daran nicht erinnern. Er wird ganz unsicher, da war noch eine Erinnerung, so viele, wenn er sie kommen lässt, sie waren Kinder, Grundschule, der Sonntagstisch, gemeinsames Essen nach der Heiligen Messe, sechs versammeln sich um den Tisch, drei Kinder, der Vater, die Mutter, ihre Mutter, dann wurde die Stimmung schlecht, der Vater beschuldigte die Mutter der Mutter für irgendetwas, es wurde laut, die Kinder duckten die kleinen Häupter, nur kein Wort, dann nahm Muttermutter ihren Teller und ging in ihr kleines Zimmer, der Lärm ging weiter, dann floh die Mutter in die Küche mit ihrem Teller, der Vater blieb mit drei kleinen Jungen, die Erinnerung setzt aus. Nie sei das so gewesen, sagt sie ihm als er sie befragt, nie seien wir damals vom Tisch geflohen. Hat er schon wieder seine Erinnerung gebaut, er fragt einen der Brüder, natürlich war es so, ich war erst sechs oder sieben, aber es war oft so, so oft so, sie will es nicht erinnern, es ist nicht schön. Zwei gegen einen, eine, aber was ist wirklich, was dürfen wir sagen, wenn wir uns an wirkliche Taten falsch erinnern. Wir sind geflohen, das ist wahr, sagt sie dann, aber erst Jahre später und da lag es auch an euch, ihr habt immer gestritten, ein Wort gab das andere, nur deshalb gingen wir. Nun also zwei gegen einen, der Erinnerungskampf wendet sich gegen ihn, kein Schiedsrichter in Sicht, nur sein Kopf, sein Herz, aber was war wirklich. So viele Erinnerungen, spreche ich ihm zu, lasse sie doch, aber auch deine, sie verliert den Wert nicht, wenn sie gegen die anderen verlor.

Wo ist das Schöne in deinem Text, sagt die Mutter zu ihm, was für eine traurige Familie, wir hatten doch so viel Gutes, aber gewiss dankte ich beiden oft und auch schon in einem Buch, das mir wichtig war, sie erinnert sich, aber dennoch, warum soll hier das Hässliche der alten Zeit geschrieben sein, behalten wir es für uns. Da erinnert er sich an den ersten Satz von Anna Karenina, der große Leo Tolstoj. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Wir schreiben keine Glücksliteratur, selbst die billigen Hefte mit den Arztromanen, die seine Kindheit überdau