Vivekananda - Swami Nikhilananda - E-Book

Vivekananda E-Book

Swami Nikhilananda

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Beschreibung

Vivekananda ist der berühmteste Schüler des großen Mystikers und Weisen Ramakrishna. Es gelang ihm, eine Brücke von Ost nach West, zwischen den Religionen und Völkern zu schlagen. Sein messerscharfer Verstand, seine außergewöhnliche Denk- und Konzentrationskraft, seine geniale mystische Schau, seine unermüdliche Tatkraft und Menschenliebe und sein gerechter Zorn angesichts der versklavten Massen setzten den heutigen sozialen Strukturwandel in Indien in Bewegung und brachten dem westlichen Menschen neue Impulse zur eigenen geistigen Höherentwicklung. Auf der spirituellen Grundlage des Advaita-Vedanta, der Einheit allen Seins legt er uns als besonders wichtige Form der Gottesverehrung den Dienst am Menschen ans Herz: „Mag ich wieder und wieder geboren werden und tausendfaches Elend erleiden, wenn ich nur den einzigen Gott verehren darf, der existiert, den einzigen Gott, an den ich glaube: die Gesamtsumme aller Seelen.“ Vivekananda zeigt uns unsere eigene Göttlichkeit und die Methoden, wie wir sie in jedem Augenblick unseres Lebens zum Ausdruck bringen können. Seine Worte lassen die Poesie des göttlichen Einen erklingen und sind, wie Romain Rolland schrieb, „Melodien im Stil Beethovens, erregende Rhythmen in Händels Musik“.

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Swami Nikhilananda

VIVEKANANDA

Eine Biografie

HEINRICH SCHWAB VERLAG ARGENBÜHL-EGLOFSTAL

Titel der Originalausgabe:

„Vivekananda: A Biography“

© 1953 by Swami Nikhilananda,

Ramakrishna-Vivekananda Center of New York

Deutsche Übersetzung: Dietlind Kloppmann

Unser besonderer Dank gilt dem Präsidenten des Ramakrishna-Vivekananda Centers von New York für seine freundliche Erlaubnis, dieses Buch ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen sowie die Fotografien zu verwenden. Für weitere Fotografien danken wir den Vedanta Societies von Northern und Southern California.

All rights reserved / Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Ramakrishna-Vivekananda Centers, New York, ist es nicht gestattet, das Werk oder einzelne Teile daraus nachzudrucken, zu vervielfältigen oder auf Datenträger zu speichern.

ISBN 3-7964-0538-9

2. Auflage 2004

Alle Rechte für die deutsche Ausgabe vorbehalten

© 2004 by Heinrich Schwab Verlag KG

D-88260 Argenbühl-Eglofstal

Tel. 0049-7566-941957

http://www.heinrichschwabverlag.de

Vivekananda, Alameda 1900

In Dankbarkeit und Verehrung Swami Ritajananda gewidmet

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

VIVEKANANDA, LEBEN UND WIRKEN

An der Schwelle der Jugend

An der Universität

Der Brāhmo Samāj

Ramakrishna

Ramakrishna und Narendranath

Meister und Schüler

Heranbildung des Schülers

Narendras Kampf

Trauerfall

In der Gesellschaft des Meisters

Ramakrishnas Krankheit und Tod

Das Kloster in Baranagore

Im nördlichen Indien

Wanderungen im Himalaya

Wanderungen in Rajputana

Südindien

Die große Vision

Die Neue Welt

Das Parlament der Religionen

Nach dem Parlament

Amerika zur Zeit Vivekanandas

Vedanta in Amerika

Erfahrungen als Lehrer

Swami Vivekananda in Thousand Island Park

Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten

Erster Besuch Europas

Festigung des Werks in Amerika

Begegnung mit Max Müller

Reisen in Europa

Die Rückkehr nach Indien

Die Rückkehr nach Bengalen

Im nördlichen Indien

Die Ausbildung der Schüler

Vivekanandas zweite Reise nach Amerika

Einblicke in Swamis Gemüt

Der Kongress in Paris

Dem Ende entgegen

Mahāsamādhi

Verzeichnis der Abbildungen

ANHANG: Ausgewählte Texte von Vivekananda

Religion

Gott

Göttliche Inkarnation

Ātman oder Seele

Der Guru

Selbstvertrauen

Karma-Yoga

Bhakti oder die Liebe zu Gott

Meditation

Denkorgan und Gedanke

Einssein

Pflicht

Selbstloses Dienen

Nicht-Verletzen

Karma und Wiedergeburt

Erziehung und Bildung

Glück

Buddha

Christus und Christentum

Mohammed und der Islam

Die Hindus und der Hinduismus

Die Bhagavad-Gita

Die Upanishaden

Indien

Die Ursachen für Indiens Niedergang

Der Weg zur Erneuerung Indiens

Verschiedenes

Glossar

Aussprache der Sanskrit-Buchstaben in Transliteration

Weitere Informationen

Anmerkungen

Vorwort

Vivekanandas inspirierende Persönlichkeit war im letzten Jahrzehnt des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Indien wie auch im Westen weithin bekannt. Der bis dahin unbeachtete indische Mönch gelangte im Jahre 1893 auf dem Parlament der Weltreligionen in Chicago, wo er den Hinduismus vertrat, plötzlich zu höchstem Ruhm. Seine umfangreiche Kenntnis der östlichen und westlichen Kulturen, sein tief spiritueller Weitblick, seine mitreißende Redekraft und glänzende Gabe der Unterhaltung, sein alle Menschen umfangendes Mitgefühl, seine auffallende Persönlichkeit und stattliche Gestalt zogen alle, die mit ihm in Berührung kamen, unwiderstehlich an. Selbst jene, die ihn nur einmal gesehen oder gehört hatten, erinnern sich nach mehr als einem halben Jahrhundert noch lebhaft an ihn.

Vivekananda wollte Amerika Indiens spirituelle Kultur, im Besonderen den Vedanta, nahebringen. Er versuchte auch das religiöse Bewusstsein der Amerikaner durch die rationalen und humanistischen Lehren der Vedanta-Philosophie zu bereichern. So wurde er in den Vereinigten Staaten von Amerika Indiens spiritueller Botschafter. Mit eindringlichen Worten trat er für ein besseres Verständnis zwischen Indien und der Neuen Welt ein, um zwischen Ost und West eine gesunde Synthese von Religion und Wissenschaft herbeizuführen.

In seinem eigenen Vaterland gilt Vivekananda als der patriotische Heilige des modernen Indiens, der sein schlummerndes Nationalbewusstsein weckte. Seinen Landsleuten predigte er das Ideal einer kraftspendenden, mannhaften Religion. Dem Menschen als der sichtbaren Manifestation Gottes zu dienen, war die Form der Gottesverehrung, die er den Indern ans Herz legte, die so sehr an den Riten und Mythen ihres uralten Glaubens hingen. Viele politische Führer, wie z.B. Jawaharlal Nehru, haben öffentlich bekannt, wie tief sie Vivekananda zu Dank verpflichtet sind.

So hatte Vivekananda eine nationale und eine internationale Mission zu erfüllen.

Er liebte die Menschheit und suchte auf der spirituellen Grundlage der Vedanta-Lehre von der Einheit allen Seins Frieden und brüderliches Verstehen zu fördern. Als Mystiker höchsten Ranges besaß Vivekananda eine unmittelbare, intuitive Kenntnis der absoluten Wirklichkeit. Aus dieser nie versiegenden Quelle der Weisheit schöpfte er seine Ideen und gab sie oft in ergreifenden Gedichten wieder.

Wie sein Meister Ramakrishna neigte er von Natur aus dazu, sich über die Welt zu erheben und sich in der Kontemplation des Absoluten zu vergessen. Doch ein anderer Teil seiner Persönlichkeit litt zutiefst beim Anblick des menschlichen Leids in Ost und West. Es scheint, als habe er selten Ruhe und Rast gefunden in seinem Pendeln zwischen der Kontemplation Gottes und dem Dienst an der Menschheit. Wie auch immer – einem höheren Rufe folgend wählte er den Dienst am Menschen als seine Mission auf Erden; und durch diese Wahl ist er den Menschen im Westen, besonders in Amerika, so lieb geworden.

Im Lauf seines kurzen Lebens von 39 Jahren (1863-1902), von denen er nur zehn Jahre in der Öffentlichkeit tätig war – und dies bei heftigen körperlichen Beschwerden –, hinterließ er der Nachwelt seine vier klassischen Werke: Jñāna-Yoga, Bhakti-Yoga, Karma-Yoga und Rāja-Yoga, alle hervorragende Abhandlungen der indischen Philosophie. Dazu hielt er unzählige Vorträge, schrieb mit eigener Hand inspirierende Briefe an seine vielen Freunde und Schüler, verfasste zahlreiche Gedichte und wirkte als spiritueller Führer für die Vielen, die bei ihm Rat und Belehrung suchten. Schließlich organisierte er den Ramakrishna-Orden, die hervorragendste religiöse Organisation des modernen Indiens. Dieser Orden widmet sich der Verbreitung der spirituellen Kultur Indiens, nicht nur im Heimatland Vivekanandas, sondern auch in westlichen Ländern und anderen Teilen der Erde.

Swami Vivekananda sprach einmal von sich selbst als einem „verdichteten Indien“. Sein Leben und seine Lehren sind von unschätzbarem Wert für den Westen, denn sie helfen ihm, die Seele Asiens zu verstehen. William James, Philosoph und Professor an der Harvard-University, nannte Vivekananda das „Muster eines Vedantins“. Max Müller und Paul Deussen, die berühmten Indologen des 19. Jahrhunderts, empfanden aufrichtige Hochachtung und Freundschaft für ihn.

„Seine Worte“, schreibt Romain Rolland, „sind erhabene Musik, Melodien im Stil Beethovens, erregende Rhythmen wie ein Marsch aus Händels Musik. Sind auch dreißig Jahre seitdem verstrichen, so kann ich doch seine über die Seiten der Bücher verstreuten Aussprüche nicht lesen, ohne dass ein Schauer wie ein elektrischer Strom durch meinen Körper geht. Und welche Erschütterungen, welche Freudentaumel müssen diese Worte hervorgerufen haben, als sie aus dem Mund des Helden selbst kamen!“

Nikhilananda

Ramakrishna-Vivekananda Center

New York

5. Januar 1953

VIVEKANANDALEBEN UNDWIRKEN

Swami Vivekananda, der große Mensch, gleich geliebt in Ost und West, verehrt als Erneuerer des Hinduismus in Indien und als Verkünder seiner ewigen Wahrheiten im Ausland, wurde am Montag, dem 12. Januar 1863 um 6.49 Uhr, einige Minuten nach Sonnenaufgang geboren. Es war der Tag des großen hinduistischen Festes Makarasamkranti, an dem Millionen Gläubige dem heiligen Gangesfluss besondere Verehrung darbringen. Der künftige Vivekananda tat also seinen ersten Atemzug, als nicht weit vom Haus die Luft über dem heiligen Fluss von Gebeten, Feiern und religiöser Musik Tausender von Männern und Frauen widerhallte.

Als Vivekananda noch im Mutterleib war, hatte seine Mutter – wie viele andere fromme Hindumütter – religiöse Gelübde getan, gefastet und darum gebetet, mit einem Sohn gesegnet zu sein, auf den die Familie stolz sein könne. Sie bat eine in Benares lebende Verwandte, dem Gott jenes heiligen Platzes, Vireswara Shiva, ein besonderes Opfer darzubringen und seinen Segen zu erflehen, denn ihre Gedanken waren von Shiva, dem großen Gott der Asketen und der Entsagung, erfüllt. Eines Nachts träumte ihr, dass diese höchste Gottheit sich aus ihrer Meditation erhob und zustimmte, als ihr Sohn geboren zu werden, und sie war voller Freude, als sie erwachte. Die Mutter, Bhuvaneswari Devi, betrachtete ihr Kind als ein Geschenk Vireswara Shivas und nannte es Vireswara. Die Familie gab ihm aber den Namen Narendranath Datta, abgekürzt Narendra, oder sie riefen ihn mit dem Kosenamen Naren.

Die Familie Datta von Kalkutta, in die Narendranath geboren wurde, war bekannt durch ihren Wohlstand, ihre Menschenliebe, ihre Gelehrsamkeit und unabhängige Geistigkeit. Der Großvater, Durgacharan, hatte nach der Geburt seines ersten Sohnes der Welt entsagt, um Gott zu suchen. Der Vater, Viswanath, war bevollmächtigter Anwalt am obersten Gericht von Kalkutta; er war in der englischen und persischen Literatur zuhause und unterhielt sich und seine Freunde oft, indem er aus der Bibel und der Dichtung des Hafis rezitierte, weil er glaubte, dass beide Werke Wahrheiten enthielten, an die keine anderen Zeugnisse des menschlichen Geistes heranreichten. Von der Kultur des Islam fühlte er sich besonders angezogen, er war durch seine enge Beziehung zu gebildeten Moslems des nordwestlichen Indiens mit dieser Kultur besonders vertraut.

Aus seiner Anwaltspraxis bezog er ein hohes Einkommen und genoss im Gegensatz zu seinem Vater in vollen Zügen das weltliche Leben. Als Experte der Kochkunst bereitete er auserlesene Gerichte und teilte sie gerne mit seinen Freunden. Reisen war sein weiteres Hobby. Obwohl er ein Agnostiker war und sich über gesellschaftliche Konventionen lustig machte, besaß er doch ein offenes Herz und tat alles, um untätige Verwandte zu unterstützen, von denen einige dem Trunk verfallen waren. Als Narendra einmal gegen dieses fehlende gesunde Urteilsvermögen protestierte, sagte sein Vater: „Wie kannst du das Elend des menschlichen Lebens begreifen? Wenn du die Tiefe des menschlichen Leidens erfasst hast, wirst du Mitleid mit diesen unglücklichen Geschöpfen haben, die ihre Sorgen – wenn auch nur für kurze Zeit – im Alkohol ertränken wollen.“

Seine Kinder bewachte Narens Vater jedoch mit Argusaugen und ließ ihnen nicht den geringsten Verstoß gegen gute Sitten durchgehen. Die Mutter, Bhuvaneswari Devi, war von anderer Art. Von königlicher Erscheinung, voller Güte im Umgang mit anderen, verkörperte sie die alte Tradition der hinduistischen Frauen. Obwohl sie die Herrin eines großen Haushalts war, widmete sie ihre freie Zeit der Näharbeit und dem Singen; besonders liebte sie die großen indischen Epen, das Rāmāyaṇa und das Mahābhārata, von denen sie große Partien auswendig kannte. Sie war eine Zuflucht der Armen und fand allgemeine Hochachtung durch ihre stille Ergebenheit in Gott, ihre innere Ruhe und ihre würdevolle Gelassenheit inmitten ihrer vielen anstrengenden Pflichten. Außer Narendranath gebar sie zwei Söhne und vier Töchter, von denen zwei in früher Jugend starben.

Narendra wuchs zu einem lieben, stets heiteren, aber rastlosen Knaben heran. Zwei Ammen waren nötig, um sein überschäumendes Temperament zu bändigen; seine Schwestern pflegte er ständig zu necken. Um ihn zu beruhigen, hielt seine Mutter seinen Kopf oft unter einen Kaltwasserhahn, wobei sie den Namen Shivas wiederholte; und das half jedes Mal.

Naren fühlte eine kindliche Zuneigung zu Vögeln und anderen Tieren. Dieser Charakterzug zeigte sich wieder während der letzten Tage seines Lebens. Zu den Lieblingstieren seiner Kindheit gehörten eine Kuh, ein Affe, eine Geiß, ein Pfau und einige Tauben und Meerschweinchen. Der Kutscher der Familie, mit seinem Turban und seiner hellfarbigen Livree, die Peitsche in der Hand, war für den Knaben das Ideal einer großartigen Person, und er äußerte oft den Wunsch, wie er zu sein, wenn er erwachsen wäre.

Narendra hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit seinem Großvater, der der Welt entsagt hatte, um ein klösterliches Leben zu führen, und viele glaubten, er sei im Enkel wiedergeboren. Der Knabe hatte eine besondere Vorliebe für wandernde Mönche, und wenn er sie nur erblickte, war er schon aufgeregt. Als eines Tages ein Mönch an der Pforte um Almosen bat, gab Narendra ihm seinen einzigen Besitz, einen winzigen neuen Stoffstreifen, der um seine Hüften gewickelt war. Daraufhin wurde er stets in ein Zimmer eingeschlossen, sobald ein Mönch in der Nachbarschaft gesehen wurde. Doch selbst dann warf er dem heiligen Mann alles, was er finden konnte, als Opfergabe aus dem Fenster zu. In dieser Zeit erhielt er seine erste Erziehung von seiner Mutter, die ihm das bengalische Alphabet und seine ersten englischen Worte beibrachte und ihm Geschichten aus dem Rāmāyaṇa und dem Mahābhārata erzählte.

Während seiner Kindheit entwickelte Narendra, wie viele andere Hindukinder in seinem Alter, eine Liebe zu den hinduistischen Göttern, von denen ihm seine Mutter erzählt hatte. Da er sich von Rāma, dem Helden des Rāmāyaṇa, und dessen getreuer Gefährtin Sitā besonders angezogen fühlte, verschaffte er sich ihre Bildnisse, schmückte sie mit Blumen und verehrte sie in kindlicher Art. Die Ernüchterung kam, als er hörte, wie jemand die Ehe als eine schreckliche Fessel verurteilte. Als er über die Sache nachgedacht hatte, hörte er auf, Rāma und Sitā zu verehren. Stattdessen stellte er das Bildnis Shivas auf, des Gottes der Entsagung, der das Ideal der Yogis ist. Trotzdem behielt er eine Vorliebe für das Rāmāyaṇa.

In dieser Zeit hatte er täglich eine seltsame Vision, ehe er einschlief. Wenn er die Augen schloss, sah er zwischen seinen Augenbrauen eine Lichtkugel mit wechselnden Farben, die sich langsam ausdehnte und schließlich barst, wobei sie seinen ganzen Körper in einen weißen, strahlenden Glanz einhüllte. Während er dieses strahlende Licht beobachtete, schlief er allmählich ein. Weil sich das täglich ereignete, dachte er, dass alle Menschen das Gleiche erlebten; er war daher überrascht, als ein Freund äußerte, nie etwas Derartiges gesehen zu haben. Aber Jahre später sagte Narendras spiritueller Lehrer, Śrī Ramakrishna, zu ihm; „Naren, mein Junge, siehst du ein Licht, wenn du dich schlafen legst?“ Ramakrishna wusste, dass eine solche Vision eine große spirituelle Vergangenheit und eine angeborene meditative Geistesverfassung anzeigte. Narendra behielt die Vision bis ans Ende seines Lebens, obwohl ihre Regelmäßigkeit und Intensität später nachließen.

Während er noch ein Kind war, meditierte er mit einem Freund vor dem Bildnis Shivas. Er hatte gehört, dass die heiligen Männer im alten Indien so in die Betrachtung Gottes versunken waren, dass ihr wachsendes Haar allmählich in den Boden eindrang wie Wurzeln des Banyan-Baums. Daher öffnete er, während er meditierte, ab und zu die Augen, um zu sehen, ob seine eigenen Haare in den Boden gewachsen waren. Oft vergaß er auch die Außenwelt, während er meditierte. Einmal sah er in einer Vision eine leuchtende Person mit einem heiteren Gesicht, die den Stab und die Wasserschale eines Mönchs trug. Die Erscheinung wollte gerade etwas sagen, als Naren erschrak und das Zimmer verließ. Später dachte er, dass dies vielleicht die Vision Buddhas gewesen sei.

Im Alter von sechs Jahren wurde er auf die Grundschule geschickt. Als er aber zu Hause einige der ordinären Worte wiederholte, die er von seinen Klassenkameraden aufgeschnappt hatte, nahmen ihn seine empörten Eltern von der Schule. Sie stellten einen Privatlehrer an, der ihn und einige Kinder aus der Nachbarschaft in der Halle des Hauses, in der die Andachten abgehalten wurden, unterrichtete. Bald sah man, dass Naren ein frühreifes Kind mit einem hervorragenden Gedächtnis war. Mit Leichtigkeit lernte er die ganze Sanskrit-Grammatik auswendig sowie lange Abschnitte aus dem Mahābhārata und dem Rāmāyaṇa. Einige Freundschaften, die er in diesem Alter schloss, hielten für das ganze Leben. In der Schule war er der unbestrittene Führer. Wenn er sein Lieblingsspiel „Der König und sein Hof“ spielte, übernahm er gewöhnlich die Rolle des Monarchen und verteilte die Rollen der Minister, des Oberbefehlshabers und der anderen Staatsbeamten an seine Freunde.

Er war von Geburt an dazu berufen, ein Menschenführer zu sein, worauf auch sein Name Narendra (Herr der Menschen) hinwies; aber schon in seiner frühen Jugend konnte er Kastendünkel nicht ertragen. Im Büro seines Vaters waren für die Klienten, die den verschiedenen Kasten angehörten, besondere Tabakpfeifen vorgesehen, wie es die orthodoxe Hindusitte erforderte, und die Pfeife, aus der die Moslems rauchten, hatte ihren abgesonderten Platz. Naren rauchte einmal aus allen Pfeifen, auch aus der Pfeife, die für die Moslems bestimmt war; als man ihn tadelte, bemerkte er: „Ich kann keinen Unterschied dabei feststellen.“

Während dieser Jugendjahre wurde Narens künftige Persönlichkeit von seinem begabten Vater und seiner frommen Mutter stark geprägt, die ihn beide aufmerksam bewachten. Der Vater hatte seine eigene Art, ihn zu erziehen. Einmal sagte der hitzige Junge im Lauf einer Auseinandersetzung mit seiner Mutter einige ungehörige Worte. Als der Vater Viswanath von dem Vorfall hörte, tadelte er seinen Sohn nicht direkt, sondern schrieb mit Holzkohle an die Tür von Narens Zimmer: „Narendra sagte heute zu seiner Mutter…“ Und fügte die Worte hinzu, die sein Sohn gebraucht hatte. Narens Freunde sollten erfahren, wie ungezogen er seine Mutter behandelt hatte.

Ein andermal fragte Narendra seinen Vater rund heraus: „Was hast du für mich getan?“ Statt darüber verärgert zu sein, sagte Viswanath: „Geh und schau dich im Spiegel an, dann weißt du’s.“ Wieder ein anderes Mal fragte Narendra seinen Vater: „Wie soll ich mich in der Welt verhalten?“ „Zeige nie Überraschung über etwas“, erwiderte der Vater. Dieser unbezahlbare Rat half Narendranath in seinem späteren, an Wechselfällen so reichen Leben, seine Seelenruhe zu bewahren, ob er nun mit Prinzen in ihrem Palast wohnte oder in Strohhütten mit Bettlern hauste.

Die Mutter Bhuvaneswari trug ihr Teil dazu bei, seine angeborenen Tugenden zu wecken. Als er ihr eines Tages erzählte, dass er in der Schule ungerecht behandelt worden sei, sagte sie tröstend zu ihm: „Mein Kind, was macht das schon, wenn du im Recht bist. Halte dich stets an die Wahrheit, ohne dich um die Folgen zu kümmern. Es wird sehr oft vorkommen, dass du Unrecht oder unangenehme Folgen ertragen musst, weil du an der Wahrheit festgehalten hast. Aber du darfst sie unter keinen Umständen aufgeben.“ Viele Jahre später bekannte Narendra stolz vor seinen Zuhörern: „Mein ganzes Wissen verdanke ich meiner Mutter.“

Als er eines Tages mit seinen Spielkameraden kämpfte, fiel er durch Zufall von der Veranda und schlug mit der Stirn gegen einen Stein. Die Wunde blutete heftig und hinterließ eine bleibende Narbe über seinem rechten Auge. Als Ramakrishna Jahre später von diesem Unfall hörte, bemerkte er: „Einerseits war es gut, denn wenn er nicht auf diese Weise Blut verloren hätte, würde er mit seiner überschäumenden Energie Unheil in der Welt angerichtet haben.“

Im Jahr 1870, als er sieben Jahre alt war, ging Narendra auf die höhere Schule, wo seine außergewöhnliche Intelligenz bald von seinen Lehrern und Klassenkameraden erkannt wurde. Obwohl er sich zuerst gegen das Studium der englischen Sprache sträubte, erlernte er sie bald so gut, dass er sie später wie seine Muttersprache beherrschte. Die Schularbeit nahm nur einen geringen Teil seiner Zeit in Anspruch. Den größten Teil seiner unerschöpflichen Energie benutzte er für Spiele im Freien, verbesserte sie und erfand viele selbst. Bei den Spielen ahmte er den Betrieb eines Gaswerks und einer Fabrik zur Belüftung des Wassers nach; diese neumodischen Fabriken waren gerade in Kalkutta errichtet worden. Er organisierte ein Amateurtheater und einen Sportklub, nahm Stunden im Fechten, Ringen, Rudern und in anderen männlichen Sportarten. Er versuchte sich auch in der Kunst des Kochens. In seiner Rastlosigkeit hatte er den einen Zeitvertreib bald satt und suchte sich einen neuen. Mit seinen Freunden besuchte er Museen und den Zoologischen Garten. Bei den Streitgesprächen seiner Spielkameraden wirkte er als Schiedsrichter und war beliebt bei den Leuten seiner Nachbarschaft. Jeder bewunderte seine Unerschrockenheit, seine Aufrichtigkeit und sein einfaches Wesen.

Von früher Jugend an kannte dieser ungewöhnliche Junge weder Furcht, noch duldete er Aberglauben. Es war einer seiner Jugendstreiche, auf einen blühenden Baum, der einem Nachbarn gehörte, zu klettern, die Blüten zu pflücken und sich durch andere Streiche hervorzutun. Als der Eigentümer des Baums sah, dass seine Ermahnungen nichts fruchteten, sagte er Narens Freunden mit tiefernster Miene, der Baum werde von einem weiß gekleideten Geist bewacht, der ihnen gewiss die Hälse umdrehen würde, wenn sie seine Ruhe störten. Die Jungen waren erschrocken und blieben weg. Aber Naren überredete sie, ihm wieder zu folgen. Dann kletterte er auf den Baum, hatte wie gewöhnlich seinen Spaß daran und brach aus Übermut auch noch einige Zweige ab.

Sich zu seinen Freunden wendend sagte er dann: „Was seid ihr doch alle für Esel! Seht, mein Nacken ist noch heil. Die Geschichte, die euch der Alte erzählt hat, ist überhaupt nicht wahr. Glaubt nicht, was andere sagen, wenn ihr euch nicht selbst von der Wahrheit überzeugt habt.“

Diese einfachen, aber kühnen Worte kündigten seine künftige Botschaft an die Menschheit an. In späteren Jahren sagte er vor einer größeren Zuhörerschaft oft: „Glauben Sie nicht an etwas, weil ein anderer gesagt hat, es sei wahr. Glauben Sie nicht an Worte, weil sie durch die Tradition geheiligt sind. Finden Sie die Wahrheit selbst heraus. Durchdenken Sie sie bis ans Ende. Das ist Erkenntnis.“

Der folgende Vorfall illustriert seinen Mut und seine Geistesgegenwart. Eines Tages wollte er im Turnsaal ein schweres Trapez aufstellen und bat einige Anwesende, darunter einen englischen Seemann, ihm zu helfen. Das Trapez stürzte und fiel auf den Seemann, der verwundet wurde und das Bewusstsein verlor; die meisten hielten ihn für tot und liefen aus Furcht vor der Polizei davon. Doch Naren riss einen Streifen von seiner Kleidung, verband die Wunde des Seemanns, wusch sein Gesicht mit Wasser und brachte ihn allmählich wieder zum Bewusstsein. Dann trug er den Verletzten in eine nahe gelegene Schule, wo er ihn eine Woche lang pflegte. Als der Seemann wieder bei Kräften war, ließ er ihn gehen und gab ihm etwas Geld mit, das er von seinen Freunden gesammelt hatte.

Während dieser ganzen Zeit jungenhafter Spiele und Streiche bewahrte er seine Bewunderung für das Leben der Wandermönche. Auf eine bestimmte Linie seiner Hand zeigend, sagte er wiederholt zu seinen Freunden: „Ich werde gewiss ein Sannyasin, ein Handwahrsager hat es mir vorausgesagt.“

An der Schwelle der Jugend

Während Narendra zum Jüngling heranwuchs, zeigte sein Charakter eine deutliche Veränderung. Er befasste sich eifrig mit geistigen Fragen, las einschlägige Bücher über Geschichte und Literatur, verschlang Zeitungen und besuchte öffentliche Veranstaltungen. Musik war sein liebster Zeitvertreib; er war der Ansicht, dass sie eine erhabene Idee ausdrücken und die Gefühle des Musizierenden wecken sollte.

Im Alter von 15 Jahren erlebte er seine erste spirituelle Ekstase. Die Familie reiste in die Zentralprovinzen nach Raipur, und ein Teil der Reise musste mit Ochsenkarren zurückgelegt werden. An jenem Tag war die Luft frisch und klar, die Bäume und Schlingpflanzen waren voll grüner Blätter und bunter Blüten, Vögel mit glänzendem Gefieder schwirrten in den Wäldern. Der Karren ratterte durch eine enge Schlucht, wo die Gipfel an beiden Seiten sich fast zu berühren schienen. Narendra erspähte einen riesigen Bienenstock in der Spalte eines gewaltigen Felsens, als er plötzlich von tiefer Verehrung für die göttliche Fürsorge erfüllt wurde. Er wusste nichts mehr von der Außenwelt und lag lange Zeit in diesem Zustand im Wagen. Als er wieder in die Welt der Sinneserfahrungen zurückkehrte, strahlte er vor Freude.

Ein anderes eigenartiges Phänomen soll hier erwähnt werden, denn Narendra erlebte es oft. Von seiner Knabenzeit an hatte er, wenn er bestimmte Leute oder Plätze zum ersten Mal sah, häufig das Gefühl, dass er sie schon von früher her kannte; aber vor wie langer Zeit das war, daran konnte er sich nie erinnern. Eines Tages war er mit einigen Bekannten im Haus eines Freundes in einem Zimmer, wo sie über verschiedene Fragen sprachen. Bei einer bestimmten Erörterung fühlte Narendra sofort, dass er bei einer früheren Gelegenheit über den gleichen Gegenstand mit den gleichen Freunden in dem gleichen Haus gesprochen hatte. Er beschrieb sogar genau jede Ecke und jeden Winkel des Gebäudes, das er zuvor nicht gesehen hatte. Zuerst versuchte er, dieses ungewöhnliche Erlebnis durch die Lehre der Reinkarnation zu erklären, da er dachte, dass er vielleicht in einem früheren Leben in dem Haus gelebt habe; aber dann verwarf er diesen Gedanken als unwahrscheinlich. Er kam schließlich zu dem Schluss, dass er Leute, Plätze und Ereignisse, denen er in dieser Reinkarnation begegnen sollte, schon vor seiner Geburt vorhergesehen haben müsse und sie deshalb, so dachte er, sofort wieder erkennen konnte, sobald sie vor ihm standen.

In Raipur wurde Narendra von seinem Vater ermuntert, angesehene Gelehrte aufzusuchen, um mit ihnen Diskussionen über verschiedene intellektuelle Themen zu führen, die für Knaben seines Alters gewöhnlich als zu schwierig angesehen werden. Bei solchen Gelegenheiten bewies er große Denkkraft. Von seinem Vater hatte Narendra die Kunst gelernt, das Wesentliche der Dinge zu erfassen, die Wahrheit von weitreichendsten und umfassendsten Standpunkten aus zu betrachten und während der Diskussion an dem, worauf es ankommt, festzuhalten.

Im Jahr 1879 kehrte die Familie nach Kalkutta zurück und Narendra absolvierte innerhalb kurzer Zeit die höhere Schule. In der Zwischenzeit hatte er viele maßgebende Bücher der englischen und bengalischen Literatur gelesen; am liebsten befasste er sich mit geschichtlichen Werken. Er eignete sich damals auch eine ungewöhnliche Methode an, ein Buch zu lesen und das Wesentliche seines Inhalts zu erfassen. Lassen wir ihn selbst sprechen: „Ich konnte einen Schriftsteller begreifen, ohne jede Zeile seines Buches zu lesen. Ich pflegte die ersten und letzten Zeilen eines Abschnitts zu lesen und konnte dann seinen Sinn verstehen. Später fand ich heraus, dass ich den wesentlichen Inhalt schon erfassen konnte, wenn ich nur die ersten und letzten Zeilen einer Seite las. Und noch später konnte ich den ganzen Verlauf der Erörterung eines Schriftstellers verstehen, wenn ich nur einige Zeilen las, während der Verfasser selbst versuchte, die Sache auf fünf oder mehr Seiten zu erklären.“

An der Universität

Im Jahr 1879 trat Narendranath in das „Presidency College of Calcutta“ für höhere Studien ein. Nach einem Jahr trat er der „General Assembly’s Institution“ bei, die von der Allgemeinen Schottischen Missionsgesellschaft gegründet worden war und später als das College der Schottischen Kirche bekannt wurde. Von Hastie, dem Leiter des College und Professor für englische Literatur, hörte er zum ersten Mal den Namen Śrī Ramakrishna.

Im College wandte sich Narendra, inzwischen ein stattlicher, kräftiger und agiler, jedoch ein wenig zur Korpulenz neigender Jüngling, ernsthaft den Studien zu. Während der beiden ersten Jahre studierte er westliche Logik, spezialisierte sich dann auf westliche Philosophie und die alte und neue Geschichte der verschiedenen europäischen Nationen. Er besaß ein so hervorragendes Gedächtnis, dass er nur drei Tage brauchte, um sich mit Greens „Geschichte des englischen Volkes“ vertraut zu machen. Oft las er am Vorabend einer Prüfung die ganze Nacht hindurch und hielt sich mit starkem Tee oder Kaffee wach.

Um diese Zeit kam er mit Ramakrishna in Berührung, und dieses Ereignis sollte, wie wir gleich sehen werden, der Wendepunkt seines Lebens werden.

Die Begegnung mit Ramakrishna rüttelte sein ihm angeborenes spirituelles Sehnen wach; er begann, die Vergänglichkeit dieser Welt und die Nichtigkeit einer akademischen Bildung zu empfinden. Am Tag vor seiner Universitätsprüfung spürte er plötzlich eine alles verzehrende Liebe zu Gott und vor dem Zimmer eines Kommilitonen stehend sang er mit großer Innigkeit:

Singet, ihr Berge, ihr Wolken, ihr großen Winde,

Singet, singet, singet Seine Glorie!

Singet vor Freude, all ihr Sonnen, Monde und Sterne!

Singet, singet Seine Glorie.

Der Freund, nicht wenig überrascht, erinnerte ihn an die Prüfung des nächsten Tages; aber Narendra war unbesorgt. Das künftige Mönchsleben warf schon seine Schatten auf ihn. Er erschien jedoch zur Prüfung und bestand sie mit Leichtigkeit.

Über Narendras Fähigkeiten äußerte Professor Hastie einmal: „Narendra ist wirklich ein Genie. Ich bin weit und breit gereist, habe aber noch nie einen Jüngling mit solcher Begabung und solchen Aussichten getroffen, selbst nicht unter den Philosophiestudenten an den deutschen Hochschulen. Er wird seinen Weg im Leben machen.“

Narendras vielseitige geniale Begabung zeigte sich auch in der Musik. Er studierte sowohl Instrumentalmusik als auch Gesang bei guten Lehrern; er konnte viele Instrumente spielen, doch sein Gesang übertraf alles an Schönheit. Von einem mohammedanischen Lehrer lernte er Gesänge – meist religiöser Natur – in Hindi, Urdu und Persisch.

Er wurde auch Mitglied des Brāhmo Samāj, einer bedeutenden religiösen Bewegung der damaligen Zeit, die ihn während dieser prägenden Periode seines Lebens stark beeinflusste.

Der Brāhmo Samāj

Die Einführung der englischen Erziehung in Indien, die der Unterwerfung des Landes durch die Engländer folgte, brachte der hinduistischen Gesellschaft die intellektuelle und aggressive europäische Kultur nahe. Die hinduistische Jugend, die in den Bann der neuen, dynamischen Lebensweise geriet, erkannte die vielen Mängel ihrer eigenen Gesellschaft. Noch bevor die Engländer kamen, war unter der mohammedanischen Herrschaft die lebenskräftige Seite der indischen Kultur unterdrückt und das Kastensystem zum Erstarren gebracht worden.

Die Priester beherrschten das religiöse Leben des Volkes und dachten nur an ihre eigenen selbstsüchtigen Interessen. Bedeutungslose Dogmen und leblose Zeremonien ersetzten die belebenden philosophischen Lehren der Upanishaden und der Bhagavad-Gita. Obendrein wurden die Massen von den Landherren ausgebeutet; besonders beklagenswert war das Los der Frauen. Nach dem Zusammenbruch der mohammedanischen Herrschaft herrschte völliges Chaos auf allen Gebieten des indischen Lebens, dem sozialen, dem politischen, dem religiösen und dem wirtschaftlichen. Die neu eingeführte englische Erziehung machte die vielen Mängel der Gesellschaft deutlich; verschiedene Reformbewegungen, liberale wie auch orthodoxe, entstanden, um den nationalen Lebensstrom wieder in gesunde Bahnen zu lenken.

Der Brāhmo Samāj, eine dieser liberalen Bewegungen, zog die gebildete Jugend Bengalens besonders an. Raja Rammohan Roy (1774-1833), der Gründer dieser religiösen Organisation, brach mit den Ritualen, der Bilderverehrung und der Priesterherrschaft des orthodoxen Hinduismus und rief seine Anhänger auf, sich „der Verehrung und Anbetung des Ewigen, Unergründlichen, Unwandelbaren Wesens zu weihen, das der Schöpfer und Erhalter des Weltalls ist“.

Der mit einem gigantischen Intellekt begabte Raja studierte die heiligen Schriften der Hindus, der Moslems, der Christen und der Buddhisten und erkannte als erster Inder, wie wichtig die westliche rationale Methode war, um die verschiedenen Probleme der hinduistischen Gesellschaft lösen zu können. Er spielte eine bedeutende Rolle bei der Einführung der englischen Erziehung in Indien; obwohl diese zunächst eine nachteilige Wirkung auf das neu erwachte indische Selbstbewusstsein hatte, ließ sie einige Inder doch letzten Endes erkennen, welch großartiges Erbe sie in ihrer eigenen Kultur besaßen.

Unter den hervorragenden Führern des Brāhmo Samāj, die Rammohan Roy folgten, befanden sich Devendranath Tagore (1817-1905), ein großer Verehrer der Upanishaden, und Keshab Chandra Sen (1838-1884), der eine Vorliebe für die Riten und Lehren des Christentums besaß. Unter ihrer Leitung gab der Brāhmo Samāj viele hinduistische Gebräuche auf, wie Riten und die Bilderverehrung Gottes. In erster Linie war er eine Reformbewegung und wandte sich mit aller Energie Fragen zu wie der Emanzipation der Frauen, der Wiederverheiratung der hinduistischen Witwen, der Abschaffung von Kinderheirat und der Erziehung der Massen.

Von der westlichen Kultur beeinflusst hielt er sich an die Überlegenheit des Verstands, wandte sich dagegen, dass die Unanfechtbarkeit der Schriften kritiklos hingenommen wurde, und trat für die Schlagworte der Französischen Revolution ein. Die ganze aus der Not der Zeit geborene Bewegung war ihrem Wesen nach intellektuell und hatte sich Ideen aus den verschiedenen religiösen und philosophischen Systemen angeeignet; sie hatte nicht wie der traditionsgebundene Hinduismus ihre Wurzel in den spirituellen Erfahrungen der Heiligen und Seher. Wie viele seiner gleichaltrigen Zeitgenossen fühlte sich Narendra von ihren fortschrittlichen Ideen angezogen und wurde eines ihrer Mitglieder. Doch konnte der Brāhmo Samāj, wie wir bald sehen werden, das tiefe spirituelle Sehnen seiner Seele nicht befriedigen.

Um diese Zeit wurde Narendra von seinem Vater zur Heirat gedrängt, da sich eine günstige Gelegenheit bot. Ein reicher Mann, dessen Tochter Narendra zur Frau nehmen sollte, erbot sich, die Kosten für sein Hochschulstudium in England zu übernehmen, um sich dadurch für die viel begehrte Laufbahn eines Beamten des indischen Verwaltungsdienstes zu qualifizieren. Narendra lehnte ab. Andere Vorschläge ähnlicher Art führten zu keinem anderen Ergebnis. Offensichtlich war es ihm nicht bestimmt, das Leben eines Familienvaters zu führen.

Von Kindheit an hatte Narendra eine besondere Neigung zu innerer Reinheit gezeigt. Immer wenn seine feurige jugendliche Natur ihn drängte, sich in ein fragwürdiges Abenteuer einzulassen, hielt ihn eine unsichtbare Hand zurück. Seine Mutter hatte ihm den Wert der Keuschheit eingeprägt und ihn angehalten, sie aus Achtung vor sich selbst und aus Ehrfurcht vor der Familientradition zu bewahren. Reinheit war aber für Narendra keine negative Tugend, keine bloße Enthaltsamkeit von fleischlichen Vergnügungen. Reinsein bedeutete – das fühlte er –, sich eine gewaltige spirituelle Kraft zu erhalten, die sich später im Leben in allen edlen Bestrebungen manifestieren würde. Er betrachtete sich als einen Brahmacharin, einen enthaltsamen Studenten nach hinduistischer Tradition, der hart arbeitete, asketische Disziplinen schätzte, alles, was heilig ist, verehrte und sich an die Reinheit in Gedanken, Worten und Taten hielt, denn gemäß den hinduistischen heiligen Schriften erwirbt der Mensch durch Reinheit, der größten aller Tugenden, die Kraft für die feinsten spirituellen Wahrnehmungen. Sie ist die Erklärung für die große Kraft der Konzentration, für das außergewöhnliche Gedächtnis und die tiefe Einsicht, für die unüberwindliche geistige Energie und die körperliche Ausdauer, die Naren auszeichneten.

In seiner Jugend hatte Narendra jede Nacht zwei sehr verschiedene Visionen, bevor er einschlief. In der einen Vision sah er einen Weltmenschen mit einer vollkommenen Gattin und Kindern, der sich an Reichtum, den Annehmlichkeiten des Lebens, am Ruhm und an einer bedeutenden gesellschaftlichen Stellung erfreute; in der anderen Vision sah er einen Sannyasin, einen Wandermönch, ohne alle irdische Sicherheit, einzig der Kontemplation Gottes geweiht. Narendra fühlte, dass er die Kraft hatte, jedes dieser beiden Ideale zu verwirklichen; wenn er aber über ihre besonderen Vorzüge nachdachte, fühlte er sich unwiderstehlich zu einem Leben der Entsagung hingezogen. Der Glanz dieser Welt würde verblassen und vergehen. Sein inneres Selbst wählte instinktiv den Pfad der Entsagung.

Einige Zeit lang regten die gemeinschaftlichen Gebete und frommen Gesänge Narens Gemüt an, doch fand er bald, dass sie ihm keine wirkliche spirituelle Erfahrung brachten. Er wollte Gott, das Ziel der Religion, erkennen und in sich verwirklichen und spürte, wie dringend nötig es war, von einem Mann belehrt zu werden, der Gott gesehen hatte. In seinem Eifer ging er zu Devendranath, dem verehrungswürdigen Führer des Brāhmo Samāj und fragte ihn rund heraus: „Herr, haben Sie Gott gesehen?“ Devendranath war verlegen und antwortete: „Mein Junge, du hast die Augen eines Yogi. Du solltest Meditation üben.“ Naren war enttäuscht und fühlte, dass dieser Lehrer nicht der Mann war, der ihm bei seinen spirituellen Kämpfen helfen konnte. Aber auch von den Führern anderer religiöser Sekten erhielt er keine bessere Antwort. Dann fiel ihm ein, dass er den Namen Ramakrishna Paramahamsa von Professor Hastie gehört hatte. Als dieser mit seiner Klasse Wordsworths Gedicht „Der Ausflug“ durchnahm, hatte er von Trancezuständen gesprochen und bemerkt, dass solche religiösen Ekstasen nur durch Reinheit und Konzentration zu erreichen seien. Er hatte hinzugefügt, dass transzendente Zustände dieser Art sehr selten seien, besonders in der modernen Zeit. „Ich habe nur einen Menschen kennengelernt“, sagte er, „der diesen gesegneten Zustand verwirklicht hat, nämlich Ramakrishna in Dakshineswar. Ihr werdet wissen, was Ekstasen sind, wenn ihr diesen Heiligen besucht.“ Narendra hatte auch durch einen Verwandten, Ramchandra Datta, von Ramakrishna gehört. Unter den verheirateten Anhängern des Meisters war er einer der besten Schüler. Als er von Narens Abneigung zu heiraten hörte, dachte er an dessen Wunsch, ein spirituelles Leben zu führen. Ramchandra riet Naren deshalb: „Geh nach Dakshineswar und besuche Ramakrishna, wenn du wirklich ein spirituelles Leben führen willst.“

Narendra traf Ramakrishna zum ersten Mal im November 1881 im Haus Surendranath Mitras, eines ergebenen Anhängers des Meisters; der junge Mann war eingeladen worden, die Besucher mit seiner klangvollen Stimme zu unterhalten. Der Paramahamsa war von seiner Aufrichtigkeit und Frömmigkeit stark beeindruckt und bat ihn nach einigen Erkundigungen, ihn in Dakshineswar zu besuchen. Narendra nahm die Einladung an; er wollte wissen, ob Ramakrishna der Mann war, der ihm bei seiner spirituellen Suche helfen könnte.

Ramakrishna

Ramakrishna, der Gottmensch der modernen Zeit, wurde am 18. Februar 1836 in dem kleinen Dorf Kamarpukur im Bezirk Hooghly in Bengalen geboren. Wie verschieden waren seine Erziehung und die Umgebung seiner Kindheit von der des Narendranath, der später der Verkünder und Ausleger seiner Botschaft werden sollte! Ramakrishnas Eltern, die der Brahmanenkaste angehörten, waren arm, fromm und den Traditionen ihrer alten Religion ergeben. Ramakrishna war ein liebliches Kind mit flatterndem Haar, einer schönen klangvollen Stimme, stets zu Heiterkeit und harmlosen Scherzen aufgelegt; er wuchs auf dem Land in der Umgebung von Reisfeldern, Kühen, Banyan- und Mango-Bäumen auf. Der Schulunterricht war ihm völlig gleichgültig und er blieb praktisch sein ganzes Leben lang ein Analphabet; aber seine angeborenen spirituellen Neigungen äußerten sich in religiösen Liedern und seiner Vorliebe für die Gesellschaft von Wandermönchen, die durch die Erzählungen ihrer spirituellen Abenteuer seine kindliche Phantasie anregten. Im Alter von 6 Jahren hatte er seine erste Ekstase, als er den Flug schneeweißer Kraniche beobachtete, die sich gegen einen mit Regenwolken überzogenen schwarzen Himmel abhoben. Er erlebte ekstatische Zustände, während er über die Götter und Göttinnen meditierte. Der Tod seines Vaters, der die Familie in dürftigen Verhältnissen zurückließ, vertiefte seine spirituellen Neigungen. Als er mit 16 Jahren zu seinem Bruder nach Kalkutta ging, weigerte er sich, dort weiter am Unterricht teilzunehmen. Er erklärte, er sei einfach nicht an einer Erziehung interessiert, deren einziges Ziel es sei, Brot und Butter zu verdienen. Er fühlte eine tiefe Sehnsucht, Gott zu erfahren.

Ramakrishnas Gefühle durchbrachen alle Schranken, als er die Pflichten eines Priesters im Kalitempel in Dakshineswar übernahm, wo Gott als die Göttliche Mutter verehrt wird. Ramakrishna, der weder mit den heiligen Schriften noch den verwickelten religiösen Zeremonien vertraut war, gab seine ganze Seele dem Gebet hin, das oft in hingebungsvolle Gesänge überging. Nahrung, Schlaf und andere körperliche Bedürfnisse hatte er in einer verzehrenden Leidenschaft nach der Vision Gottes völlig vergessen. Die Nächte verbrachte er in den umliegenden Hainen in tiefer Kontemplation. Zweifel wechselte zuweilen mit Hoffnung; doch eine innere Gewissheit und das Zeugnis der erleuchteten Heiligen halfen ihm in seinen dunkelsten Stunden der Verzweiflung. Die rituelle Verehrung des Gottesbildes genügte seinem prüfenden Verstand nicht, denn er fühlte, dass eine Steinfigur nicht Frieden und Unsterblichkeit verleihen kann. Hinter dem Bildnis musste der wahre, göttliche Geist sein und er war entschlossen, Ihn zu schauen. Das war keine leichte Aufgabe und lange Zeit spielte der göttliche Geist auf quälende Weise mit ihm Suchen und Verstecken, aber schließlich gab Er der Liebesforderung des jungen Gottverehrers nach. Als Ramakrishna die unmittelbare Gegenwart der Göttlichen Mutter fühlte, stürzte er bewusstlos zu Boden und erfuhr in sich einen unaufhörlichen Strom höchster Seligkeit.

Der Vorgeschmack dessen, was folgen sollte, machte ihn gottestrunken und vertiefte sein Verlangen nach weiteren Erfahrungen. Er wollte Gott ununterbrochen sehen, mit offenen wie mit geschlossenen Augen. Rücksichtslos gab er sich deshalb verschiedenen extremen spirituellen Übungen hin. Um auch noch die letzte Spur von Hochmut über seine Zugehörigkeit zur hohen brahmanischen Kaste auszumerzen, reinigte er die schmutzigen Plätze im Haus eines kastenlosen Parias. Durch einen strengen Unterscheidungsprozess hörte in ihm jedes Gefühl für den Unterschied zwischen Gold und Lehm auf. Reinheit wurde geradezu zu seinem Lebensatem und er konnte nicht einmal im Traum in einer Frau etwas anderes als seine eigene Mutter oder die Mutter des Weltalls sehen. Einige Jahre schlossen sich seine Augenlider nicht im Schlaf. Schließlich dachte man, er sei verrückt geworden.

Die außerordentlichen Anstrengungen, denen sich Ramakrishna bei seinen spirituellen Übungen aussetzte, griffen bald seinen zarten Körper an, und er kehrte nach Kamarpukur zurück, um seine Gesundheit wiederzuerlangen. Seine Verwandten und alten Freunde bemerkten bald, dass sich sein Wesen völlig verändert hatte; aus dem fröhlichen Knaben war ein Jüngling geworden, dessen Blick auf etwas an einem fernen Horizont gerichtet schien. Seine Mutter schlug ihm vor, sich zu verheiraten, und Ramakrishna stimmte zu, da er spürte, dass dies der Wille der Göttlichen Mutter war. Er selbst gab an, wo das Mädchen zu finden sei, nämlich in dem nur fünf Kilometer entfernten Dorf Jayrambati. Dort lebte die kleine Saradamani, ein fünf Jahre altes Mädchen, das sich in vielem von den anderen Mädchen ihres Alters unterschied. Das Kind betete zu Gott, Er möge seinen Charakter so duftend wie eine Blume machen und reiner als den Vollmond, der trotz seiner Reinheit einige dunkle Flecken habe. Die Hochzeit wurde gefeiert und Ramakrishna betrachtete die ganze Angelegenheit als Spaß, als einen neuen Reiz.

Kurze Zeit danach kam er nach Dakshineswar zurück und stürzte sich wieder in das stürmische Leben religiösen Experimentierens. Seine Mutter, seine eben Angetraute und seine Verwandten waren vergessen. Seine spirituellen Übungen gingen jetzt jedoch in eine neue Richtung. Er wollte den altehrwürdigen Pfaden der Hindureligion nachgehen, unter der Leitung geeigneter Lehrer, und diese kamen zu ihm, einer nach dem anderen, niemand wusste woher. Zuerst erschien eine Frau, unter deren Leitung er die Übungen des Tantra und des Vaishnavaglaubens praktizierte, und in kürzester Zeit erreichte er das höchste Ziel. Sie diagnostizierte seine körperlichen Beschwerden als Ergebnis seiner tiefen spirituellen Erregung und bezeichnete seine scheinbare Verrücktheit als eine Folge einer verzehrenden Liebe zu Gott. Er fühlte sich daraufhin gleich leichter. Sie war es auch, die als erste erklärte, dass Ramakrishna eine Inkarnation Gottes sei. Sie berief sich auf Stellen aus den heiligen Schriften und bewies ihre Behauptung vor einer Versammlung von Theologen. Unter einem anderen Lehrer, dem Mönch Satadhari, versenkte sich Ramakrishna in die Mysterien der Verehrung Rāmas und erfuhr sichtbar seine Gegenwart. Er verkehrte mit Gott, indem er Ihn als Vater, Mutter, Freund und Geliebten verehrte. Von einem strengen Sannyasin, einem Wandermönch mit Namen Totapuri, wurde er in das mönchische Leben eingeweiht und verwirklichte in drei Tagen sein völliges Einssein mit Brahman, dem unterschiedslosen absoluten Sein; dies ist der Höhepunkt menschlicher spiritueller Bemühungen. Totapuri selbst musste 40 Jahre kämpfen, um diese Einheit zu erfahren.

Ramakrishna wandte sich dann dem Christentum und dem Islam zu, unterwarf sich ihren verschiedenen Übungen und kam zu dem gleichen Ergebnis, zu dem er auch durch den Hinduismus gekommen war. Das überzeugte ihn, dass auch diese beiden Religionen Wege zur Gotteserkenntnis und Verwirklichung der Einheit mit dem Göttlichen sind. Schließlich verehrte er seine eigene Gattin – sie war inzwischen eine junge Frau von 17 Jahren geworden – als die Manifestation der Göttlichen Mutter des Weltalls und legte ihr die Früchte seiner vergangenen spirituellen Übungen zu Füßen. Danach gab er alle seine spirituellen Übungen und Kämpfe auf, denn nach der Hindutradition sieht der Mensch Gott überall im Weltall, wenn er die normale Beziehung zwischen Mann und Frau, welche die stärkste Stütze des weltlichen Lebens ist, transzendiert und in seiner Frau die göttliche Gegenwart wahrnimmt. Dies ist der Gipfel des spirituellen Lebens.

Śrī Ramakrishna in Samādhi, Calcutta 1879

Śrī Ramakrishna, Calcutta 1881

Ramakrishna war nun selbst von seiner göttlichen Mission auf Erden überzeugt und wurde sich darüber klar, dass die Göttliche Mutter durch ihn einen neuen religiösen Orden gründen wollte. Er würde alle umfassen, welche die Lehre der universalen Religion annehmen würden, die er in sich erfahren hatte. Ihm wurde ferner offenbart, dass alle, die auch nur einmal aufrichtig zu Gott gebetet hatten, sowie diejenigen, die zum letzten Mal auf dieser Erde geboren wurden, ihn als ihr spirituelles Ideal verehren und ihr Leben nach seiner universalen Lehre ausrichten würden.

Die Menschen seiner Umgebung waren höchst erstaunt über diese Verwandlung eines Menschen, den sie noch kurz zuvor für geistesgestört gehalten und über den sie sich lustig gemacht hatten. Aus dem jungen Priester war Gottes ergebener Verehrer geworden, aus dem Verehrer ein Asket, aus dem Asketen ein Heiliger, aus dem Heiligen ein Verwirklichender Gottes und aus dem Verwirklichenden Gottes ein neuer Prophet. Wie die voll entfaltete Blüte die Bienen anzieht, so zog Ramakrishna Männer und Frauen verschiedenen Glaubens, verschiedener Intelligenz und verschiedener gesellschaftlicher Stellung an sich. Alle ließ er an dem unerschöpflichen Vorrat göttlicher Weisheit teilhaben und jeder fühlte sich in seiner Gegenwart erhöht.

Aber der Meister selbst war nicht ganz befriedigt. Er sehnte sich nach jungen Menschen, die von der Welt noch unberührt waren und allem entsagen würden, um Gott zu erkennen und den Menschen zu dienen. Er wurde buchstäblich von Sehnsucht verzehrt. Das Gerede weltlicher Leute war schal für ihn. Er verglich solche Menschen oft mit einer Mischung aus Milch und Wasser, bei der das Wasser überwog, und sagte, er sei es leid, aus einer solchen Mischung Dickmilch bereiten zu wollen.

Abends, wenn seine quälende Sehnsucht den Höhepunkt erreichte, kletterte er in der Nähe des Tempels auf ein Hausdach und rief mit lauter Stimme: „Ach kommt doch, meine Jungen! Wo seid ihr denn alle? Ich kann nicht länger ohne euch leben!“ Die Gefühle einer Mutter für ihre geliebten Kinder, eines Freundes für seinen besten Freund, eines Liebenden für seine Geliebte konnten nicht stärker sein.

Kurz darauf trafen nach und nach die jungen Männer ein, die seine mönchischen Schüler werden sollten; und allen voran finden wir Narendranath.

Ramakrishna und Narendranath

Das erste Treffen zwischen dem Meister und Narendranath in Dakshineswar war entscheidend; Ramakrishna erkannte auf den ersten Blick seinen künftigen Boten. Narendra, der sich wenig um seine Kleidung und sein Aussehen kümmerte, war so anders als die anderen jungen Männer, die ihn zum Tempel begleitet hatten. Seine Augen waren ausdrucksvoll, teilweise nach innen gerichtet, und verrieten ein meditatives Gemüt. Er sang einige Lieder und legte wie immer seine ganze Seele in seinen Gesang. Zuerst sang er:

Lass uns wieder zurückkehren, o Seele, zu unserem wahren Heim!

Warum sollen wir ziellos, verkleidet als Fremde,

Umherwandern in diesem fremden Land, der Erde?

All diese lebenden Wesen rundumher

Und die fünf Elemente:

Fremde sind sie dir, allesamt; nicht deinesgleichen.

Wie kannst du dich so vergessen,

In Liebe Fremden anzuhangen, törichte Seele?

Warum verkennst du, wer du bist?

Betritt den Pfad der Wahrheit, o Seele! Ohne Zaudern!

Liebe sei das Licht, dir den Weg zu erhellen.

Als Wegzehrung auf der Wanderung

Dienen dir die Tugenden, sorgsam verborgen;

Denn Gier und Täuschung gleich zwei Straßenräubern

Lauern, dich deines Reichtums zu berauben.

Und als Wächter zum Schutz vor Ungemach

Seien Seelenruhe, Selbstbeherrschung dir zur Seite.

Umgang mit heil’gen Männern sei

Willkommenes Rasthaus an der Straße dir.

Dort gönn den müden Gliedern Ruh und frag des Wegs,

Befällt dich je der Zweifel,

Wer es denn sei, der über allem wacht.

Ergreift dich je die Furcht auf deinem Wege,

So rufe laut den Namen „Gott“;

Denn Er ist Herrscher jenes Weges,

Und selbst der Tod muss sich Ihm beugen.

Als das Lied beendet war, ergriff Ramakrishna plötzlich Narendranaths Hand und führte ihn auf die nördlich gelegene Veranda. Zu Narendras äußerster Verwunderung sagte der Meister, während ihm die Tränen an den Wangen herunterliefen: „Ach! Du bist so spät gekommen. Wie herzlos, mich so lange warten zu lassen. Meine Ohren sind fast taub von dem nichts sagenden Geschwätz weltlicher Menschen. Wie sehr hab ich mich nach jemandem gesehnt, dem ich mein Herz ausschütten kann und der meine Gedanken versteht!“ Dann sagte er mit gefalteten Händen: „Herr! Ich weiß, Du bist der alte Weise Nara, die Inkarnation Nārāyanas, wiedergeboren auf dieser Erde, um das Leiden der Menschen zu beenden.“ Der rationale Narendra hielt diese Worte für sinnlose Äußerungen einer geistesgestörten Person. Er war noch bestürzter, als Ramakrishna plötzlich aus seinem Zimmer einige Süßigkeiten holte und ihn mit eigener Hand fütterte. Dem Meister gelang es immerhin, ihm das Versprechen zu entlocken, wieder nach Dakshineswar zu kommen.

Beide kehrten in das Zimmer zurück und Narendranath fragte den Meister: „Herr, habt Ihr Gott gesehen?“ Ohne einen Augenblick zu zögern, gab Ramakrishna die Antwort: „Ja, ich habe Gott gesehen. Ich sehe Ihn, wie ich dich hier sehe, nur noch deutlicher. Man kann Gott sehen; man kann mit Ihm sprechen. Aber wer kümmert sich schon um Gott? Die Menschen vergießen Ströme von Tränen wegen ihrer Frauen und Kinder, wegen Reichtum und Besitz; aber wer weint schon, weil er Gott schauen will? Wenn man wirklich nach Gott ruft, kann man Ihn bestimmt sehen.“

Narendra war erstaunt. Zum ersten Mal stand er von Angesicht zu Angesicht einem Menschen gegenüber, der behauptete, Gott gesehen zu haben. Zum ersten Mal hörte er, dass man Gott sehen kann. Er konnte fühlen, dass die Worte Ramakrishnas aus der Tiefe einer inneren Erfahrung kamen; da gab es keinen Zweifel. Aber er konnte diese Worte nicht mit dem seltsamen Benehmen Ramakrishnas in Einklang bringen, das er erst vor wenigen Minuten erlebt hatte. Er war auch über Ramakrishnas natürliches Benehmen in Gegenwart von anderen erstaunt. Der junge Mann kehrte verwirrt, aber mit einem Gefühl inneren Friedens nach Kalkutta zurück.

Als Narendra den Meister zum zweiten Male besuchte, hatte er ein noch eigenartigeres Erlebnis. Nach ein oder zwei Minuten rückte ihm Ramakrishna in ekstatischer Stimmung näher, murmelte einige Worte, heftete seine Augen auf ihn und berührte ihn mit seinem rechten Fuß. Bei dieser Berührung sah Narendra mit offenen Augen, wie Wände, Zimmer, Tempelgarten – nein, die ganze Welt – verschwanden und sogar er selbst verschwand in eine Leere. Er hatte das sichere Gefühl sterben zu müssen und schrie entsetzt: „Was tut Ihr mit mir? Ich habe meine Eltern, Brüder und Schwestern zu Hause.“ Der Meister lachte, strich über Narendras Brust und holte ihn ins normale Bewusstsein zurück. Er sagte: „Schon gut, alles zu seiner Zeit.“ Völlig verwirrt fühlte Narendra, dass Ramakrishna ihn hypnotisiert hatte. Aber wie konnte das geschehen? Rühmte er sich nicht, einen eisernen Willen zu besitzen? Er ärgerte sich, dass er dem Einfluss eines Geistesgestörten nicht hatte widerstehen können. Und trotzdem spürte er, wie es ihn innerlich zu Ramakrishna zog.

Bei seinem dritten Besuch ging es Narendra nicht besser, obwohl er sehr auf der Hut war. Ramakrishna führte ihn in einen nahen Garten und berührte ihn in einem ekstatischen Zustand. Völlig wehrlos verlor Naren das Bewusstsein. Als Ramakrishna später auf diesen Vorfall zu sprechen kam, sagte er, dass er Naren viele Fragen über seine Vergangenheit, seine Mission in der Welt und die Dauer seines jetzigen Lebens gestellt habe, nachdem er ihn in einen bewusstlosen Zustand versetzt hatte. Die Antworten hätten nur seine eigenen Ansichten bestätigt. Ramakrishna erzählte seinen anderen Schülern, dass Naren schon vor dieser Geburt Vollkommenheit erreicht hatte, dass er ein Meister der Meditation sei und dass er an dem Tag, an dem er sein wahres Selbst erkennen würde, seinen Körper durch einen Willensakt, durch Yoga, aufgeben würde. Oft hörte man ihn sagen, dass Naren ein Saptarṣi, einer der sieben Weisen sei, die im Reich des Absoluten leben. Ramakrishna schilderte ihnen eine Vision, die das spirituelle Erbe des Schülers betraf:

Als Ramakrishna eines Tages in Samādhi versunken war, erlebte er, dass sein Geist hoch empor schwebte, über die physische Welt von Sonne, Mond und Sternen hinaus in das subtile Reich der Ideen. Während er weiter emporstieg, blieben die Gestalten der Götter und Göttinnen zurück und er überschritt die Lichtschranke, die die Erscheinungswelt vom Absoluten trennt, um schließlich in die transzendente Sphäre zu gelangen. Dort schaute Ramakrishna sieben ehrwürdige, in Meditation versunkene Weise. Diese – so dachte er – müssen sogar die Götter und Göttinnen an Weisheit und Heiligkeit übertroffen haben, und als er ihre einzigartige Spiritualität bewunderte, sah er, wie ein Teil des unterschiedslosen Absoluten sozusagen gefror und die Gestalt eines Göttlichen Kindes annahm. Es kletterte einem der Weisen auf den Schoß, umschlang mit seinen zarten Armen sanft seinen Hals und flüsterte ihm etwas ins Ohr; bei dieser magischen Berührung erwachte der Weise aus seiner tiefen Meditation. Er heftete seine halbgeöffneten Augen auf das wunderbare Kind, das voller Freude sagte: „Ich gehe hinab zur Erde. Willst du nicht mit mir kommen?“ Mit einem gütigen Blick drückte der Weise seine Zustimmung aus und versank dann wieder in tiefe spirituelle Ekstase. Ramakrishna bemerkte jedoch mit Erstaunen, dass ein winziger Teil des Weisen die Form eines Lichtstrahls annahm und zur Erde hinabsank, wo er das Haus in Kalkutta traf, in dem Narendras Familie lebte. Als Ramakrishna Narendra zum ersten Mal sah, erkannte er ihn sogleich als Inkarnation des Weisen wieder. Er gab auch zu, dass das Göttliche Kind, das den Rishi zur Herabkunft bewegte, niemand anders war als er selbst.

Meister und Schüler

Das Zusammentreffen von Narendranath und Śrī Ramakrishna war ein bedeutendes Ereignis im Leben beider. Ein Sturm hatte in Narendras Seele getobt, als er zu Ramakrishna kam, der selbst einen ähnlichen Kampf erlebt, jetzt aber durch seine Vereinigung mit der Gottheit und seine Erkenntnis des Brahman als das unwandelbare Wesen aller Dinge zu tiefem Frieden gefunden hatte.

Als echtes Produkt indischer Erde und mit den spirituellen Traditionen Indiens tief vertraut, stand Ramakrishna der modernen Denkweise völlig fremd gegenüber. Narendranath dagegen war der typische Vertreter des modernen Zeitgeistes: Forschend, wachsam und intellektuell gewissenhaft war er aufgeschlossen und forderte logische Beweise, ehe er eine Schlussfolgerung akzeptierte. Als loyales Mitglied des Brāhmo Samāj stand er der Bilderverehrung und den Riten der Hindureligion kritisch gegenüber.

Er glaubte nicht an die Notwendigkeit eines Guru, eines menschlichen Mittlers zwischen Gott und Mensch. Mit Skepsis betrachtete er die Existenz einer solchen Person, von der man sagte, sie sei frei von menschlichen Einschränkungen und ein religiöser Schüler habe sich ihr völlig hinzugeben und ihr göttliche Ehre zu erweisen. Über Ramakrishnas Visionen von Göttern und Göttinnen machte er sich unverhohlen lustig und nannte sie Halluzinationen.

Fünf Jahre lang beobachtete Narendra den Meister; nie ließ er sich durch blinden Glauben beeinflussen, sondern prüfte die Worte und Handlungen Ramakrishnas stets in der Schmelzglut der Vernunft. Es dauerte lange und kostete ihn viele Kämpfe und Qualen, bis er Ramakrishna als Guru und Ideal seines spirituellen Lebens annahm. Als er jedoch den Entschluss fasste, war dieser rückhaltlos, endgültig und unwiderruflich. Auch der Meister war voller Freude, einen Schüler gefunden zu haben, der nicht alles blindlings hinnahm, und er wusste, dass Narendra es sei, der seine Botschaft in die Welt tragen würde.

Der innere Vorgang, durch den Narendra allmählich umgeformt wurde, wird, wie alle tiefen spirituellen Geheimnisse, der äußeren Welt für immer unbekannt bleiben. Die Menschen beobachteten jedoch, wie eine enge Bindung zwischen dem liebenden, geduldigen und nachsichtigen Lehrer und seinem herrischen und eigenwilligen Schüler entstand und immer fester wurde. Nie verlangte der Meister, dass Narendra auf Vernunft verzichten solle. Er begegnete Narens herausforderndem Intellekt mit seinem überlegenen Verständnis, das er durch seine unmittelbare Erkenntnis der Essenz der Dinge gewonnen hatte. Wenn Narens Verstand nicht ausreichte, um die letzten Geheimnisse zu ergründen, verhalf ihm der Lehrer zur notwendigen Einsicht. Mit unendlicher Geduld, Liebe und Wachsamkeit zähmte der Meister den widerspenstigen Geist, indem er unbedingten Gehorsam in den moralischen und spirituellen Disziplinen forderte, ohne die das religiöse Leben nicht auf einer festen Grundlage aufgebaut werden kann.

Narendras bloße Anwesenheit erfüllte den Meister mit unsagbarer Freude und weckte in ihm ekstatische Stimmungen. Durch viele Anzeichen wusste er von der künftigen Größe des Schülers, die nur auf den rechten Augenblick wartete, um sich zu zeigen. Was andere an Naren für Eigensinn und Hochmut hielten, war für Ramakrishna ein Ausdruck seiner Männlichkeit und seines Selbstbewusstseins, entstanden aus seiner Selbstbeherrschung und angeborenen Reinheit. Er konnte nicht die geringste Kritik an Narendra ertragen und sagte oft: „Niemand soll vorschnell über ihn urteilen. Die Menschen werden ihn nie ganz verstehen.“

Ramakrishna liebte Narendra, weil er in ihm die Verkörperung Nārāyanas, des Göttlichen Geistes, sah, nicht besudelt vom gemeinen Atem der Welt. Aber wegen seiner Anhänglichkeit wurde er kritisiert. Einmal sagte Hazra, ein verworrener Störenfried, der zusammen mit dem Meister in Dakshineswar lebte, zu ihm: „Wenn Ihr Euch die ganze Zeit nach Narendra und den anderen Jungen sehnt, wann wollt Ihr denn dann an Gott denken?“ Der Meister war zunächst über diese Worte bestürzt. Es wurde ihm aber sogleich enthüllt, dass Gott, obgleich Er in allen Wesen wohnt, sich in einer reinen Seele wie Narendra besonders offenbart. Erleichtert sagte er dann: „Welch ein Narr dieser Hazra ist. Wie unsicher hat er mich gemacht. Aber warum den armen Burschen tadeln? Woher sollte er es auch wissen?“

Ramakrishna lobte Narendra rückhaltlos. Das brachte den jungen Schüler oft in Verlegenheit und er kritisierte den Meister wegen seiner törichten Liebe und Verblendung, wie er es nannte. Eines Tages erklärte Ramakrishna in Anwesenheit Keshab Sens und des frommen Vijay Goswami, beide hervorragende Führer des Brāhmo Samāj: „Wenn Keshab eine Tugend besitzt, die ihn weltberühmt gemacht hat, so ist Narendra mit achtzehn solcher Tugenden ausgestattet. Ich habe in Keshab und Vijay das göttliche Licht wie eine Kerzenflamme brennen sehen; in Naren aber scheint es mit dem Glanz der Sonne.“ Anstatt sich durch diese Komplimente geschmeichelt zu fühlen, ärgerte sich Narendra und tadelte den Meister mit harten Worten wegen der – in seinen Augen – törichten Äußerungen. „Ich kann nicht anders“, entgegnete der Meister, „glaubst du, es sind meine Worte? Die Göttliche Mutter enthüllt mir Verschiedenes über dich und das wiederhole ich. Und sie offenbart mir nichts als die Wahrheit.“

Aber Narendra war nicht zu überzeugen, denn er war sicher, dass diese sogenannten Offenbarungen bloße Illusionen seien. Vorsichtig erklärte er Ramakrishna, dass – vom Standpunkt der westlichen Wissenschaft und Philosophie – ein Mensch sehr oft durch seine Vorstellungen getäuscht wird und dass die Möglichkeiten der Täuschung umso größer sind, je größer seine persönliche Anhänglichkeit ist. Er sagte zum Meister: „Da Ihr mich liebt und mich groß und bedeutend sehen möchtet, kommen Euch diese Einbildungen ganz von selbst in den Sinn.“ Der Meister war verwirrt. Er betete zur Göttlichen Mutter um Klarheit und erhielt zur Antwort: „Warum kümmerst du dich um das, was er sagt? Schon bald wird er jedes deiner Worte für wahr halten.“

Als der Meister bei einer anderen Gelegenheit vom Schüler zurechtgewiesen und von der Göttlichen Mutter beruhigt wurde, sagte er lächelnd zu Narendra: „Du bist mir ein rechter Schurke. Ich will nicht mehr auf dich hören. Die Mutter sagt mir, dass ich dich liebe, weil ich den Herrn in dir sehe. An dem Tag, an dem ich nicht Gott in dir sehe, werde ich deinen Anblick nicht einmal mehr ertragen können.“

Wegen seiner intensiven Studien oder aus anderen Gründen konnte Narendra nicht so oft nach Dakshineswar kommen, wie Ramakrishna es wünschte. Aber der Meister konnte seine längere Abwesenheit kaum ertragen. Hatte der Schüler ihn mehrere Tage nicht besucht, so schickte er gewöhnlich jemanden nach Kalkutta ihn zu holen. Manchmal ging er selbst nach Kalkutta. Einmal kam Narendra mehrere Wochen nicht nach Dakshineswar; selbst das heftige Bitten des Meisters half nichts. Ramakrishna wusste, dass er regelmäßig bei den Gebetsversammlungen des Brāhmo Samāj sang, und so machte er sich eines Tages selbst auf den Weg zum Brahmotempel, den der Schüler besuchte. Narendra sang gerade, als der Meister den Saal betrat, und als er Narendras Stimme vernahm, versank er in eine tiefe Ekstase. Die Augen der Versammlung wandten sich ihm zu und bald geriet alles in Aufregung. Narendra eilte zu ihm. Einer der Brahmoführer löschte die Lichter aus, um die Erregung zu dämpfen. Der junge Schüler, der erkannte, dass das plötzliche Erscheinen des Meisters die Ursache des Tumults war, stellte ihn mit heftigen Worten zur Rede. Der Meister antwortete mit Tränen in den Augen, dass er es ohne ihn einfach nicht mehr ausgehalten habe.

Bei einer anderen Gelegenheit kam es zu einem komischen Vorfall, der eine andere Seite von Narendras Charakter zeigte. Auch an jenem Tag hatte Ramakrishna Narendras Abwesenheit nicht länger ertragen können und war selbst nach Kalkutta gegangen, um den Schüler in seinem eigenen Haus zu besuchen. Man sagte ihm, dass Narendra in seiner Dachkammer studiere, die nur über eine steile Leiter erreicht werden konnte. Latu, ein anderer Schüler, der für den Meister sorgte, hatte ihn begleitet, und mit Latus Hilfe erkletterte Ramakrishna einige Sprossen der Leiter. Narendra öffnete die Tür, und beim bloßen Anblick des Schülers rief Ramakrishna: „Naren, mein Lieber!“, und geriet in Ekstase. Mit beträchtlichen Schwierigkeiten halfen die beiden Schüler dem Meister, die Leiter ganz hinaufzuklettern, und sobald Ramakrishna die Kammer betrat, versank er in tiefen Samādhi. Ein Klassenkamerad, der gerade bei Narendra war und keine Ahnung von religiösen Ekstasen hatte, fragte Narendra voller Erstaunen: „Wer ist dieser Mann?“ „Kümmere dich nicht um ihn“, erwiderte Narendra, „er ist ein Idiot. Geh jetzt nach Hause.“

Nach einer Weile erlangte Ramakrishna das normale Bewusstsein wieder. Latu, der ein Analphabet war, hatte das englische Wort Idiot gehört und erinnerte sich nun daran; er fragte Narendra nach der Bedeutung des Worts. Als ihm das Wort erklärt wurde, geriet er in Wut und fragte Narendra, wie er es wagen könne, Śrī Ramakrishna so zu beleidigen.

Naren suchte ihn zu besänftigen und erklärte ihm: „Da mein Freund keine Ahnung von religiösen Ekstasen hat und da ich ihm doch nicht die volle Bedeutung des Samādhi erklären konnte, dachte ich, der leichteste Weg, eine endlose Diskussion mit meinem Freund zu vermeiden, ist, wenn ich Śrī Ramakrishna als einen Idioten bezeichnete.“

Naren sagte oft, dass „der Alte“, womit er Ramakrishna meinte, den Schüler durch seine Liebe für immer an sich binde. „Was wissen Weltmenschen von Liebe?“, bemerkte er. „Bei ihnen ist es bloßes Getue. Nur der Meister liebt uns wirklich.“ Und Naren hegte seinerseits eine tiefe Liebe zu Śrī Ramakrishna, obwohl er selten darüber sprach. Es machte ihm Spaß, die spirituellen Erfahrungen des Meisters als Zeichen fehlender Selbstkontrolle zu kritisieren. Er machte sich über seine Verehrung der Göttin Kali lustig. „Warum kommst du her?“, fragte Ramakrishna ihn einmal, „wenn du Kali, meine Mutter, nicht akzeptierst?“ „Muss ich Sie denn annehmen?“, entgegnete Narendra, „bloß weil ich herkomme, um Euch zu sehen? Ich komme zu Euch, weil ich Euch liebe.“ „Schon gut“, war des Meisters Antwort, „bald wirst du meine gesegnete Mutter nicht nur annehmen, sondern in Ihrem Namen weinen.“ Sich zu den anderen Schülern wendend, sagte er: „Dieser Junge glaubt nicht an die Formen Gottes und erzählt mir, dass meine Visionen reine Einbildung sind. Aber er ist ein prächtiger Junge mit einem reinen Herzen. Er akzeptiert nichts ohne direkten Beweis. Er hat viel studiert und eine große Unterscheidungskraft entwickelt. Er verfügt über ein klares Urteil.“

Heranbildung des Schülers