Volksgemeinschaft und Lebensraum - Uwe Danker - E-Book

Volksgemeinschaft und Lebensraum E-Book

Uwe Danker

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Beschreibung

Die Neulandhalle im Dieksanderkoog besaß während der NS-Zeit als Kirchenersatz im ehemaligen Adolf-Hilter-Koog eine kultische Bedeutung. Der 1935 eingeweihte NS-Musterkoog wurde als friedliche Lebensraumgewinnung gefeiert. Hier verwirklichten die Nationalsozialisten wie im Reagenzglas eine Volksgemeinschaft im Kleinen. Ausgehend von der Biografie der Neulandhalle entwickelt der Autor sein viel diskutiertes Konzept eines »historischen Lernortes Neulandhalle«. Im geplanten »Historischen Lernort Neulandhalle« können genau jene Fragen beantwortet werden, die an den Stätten der NS-Verfolgung offen bleiben müssen. Das sind vor allem Fragen nach dem »Warum?«. Es geht also um Verheißung - Verbrechen - Erinnerung.

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Beiträge zur Zeit- und Regionalgeschichte

Herausgegeben von Uwe Danker, Robert Bohn und Sebastian Lehmann für das Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) der Universität Flensburg

Band 3

Uwe Danker

Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als Historischer Lernort

© 2014 Wachholtz Verlag – Murmann-Publishers, Neumünster/Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

Gesamtherstellung: Wachholtz Verlag

ISBN 978-3-529-09209-1

Besuchen Sie uns im Internet:

www.wachholtz-verlag.de

INHALT

EINLEITUNG: EIN PROJEKT ENTSTEHT

I. ZUR BIOGRAFIE EINES MARKANTEN GEBÄUDES

Nationalsozialistischer Aufstieg im »Mustergau« Schleswig-Holstein

Ideologisierte Landgewinnung

Der Adolf-Hitler-Koog

Die Neulandhalle

Nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Schleswig-Holstein

Lebensraumgewinnung im »Reichskommissariat Ostland«

Nationalsozialistische Nachgeschichten

II. ZUM GESELLSCHAFTLICHEN WERT DER NEULANDHALLE

Relevanz: die Neulandhalle als Symbol für NS-Konzepte

Selbstdarstellung

Volksgemeinschaft

Lebensraum

Bedarf: die Neulandhalle als Ort Historischen Lernens

Rolle in Geschichtskultur und Bildungssystem

Marktlage

Besucherprofile

Vergleichbares in Deutschland

Folgerungen

III. ZUR KONZEPTION DES »HISTORISCHEN LERNORTS NEULANDHALLE«

Zunächst die Theorie: vom authentischen Ort zum Historischen Lernort

Regionalgeschichte

»Authentischer Ort«, »Täterort«, »Opferort« oder was sonst?

Geschichtsdidaktische Grundlagen

Ausstellungsphilosophie

Dann die Realisation: die Konstruktion des Historischen Lernorts Neulandhalle

Ausstellung

Architektur

Rundgang

IV. RÜCK- UND AUSBLICK: VORERST GESCHEITERT, NICHT OHNE ZUKUNFT

ANHANG

Endnoten

Literaturauswahl

Bildnachweis

EINLEITUNG: EIN PROJEKT ENTSTEHT

Bevor die Neulandhalle im Dieksanderkoog und die Vision eines Historischen Lernorts die folgenden Buchseiten füllen, möchte ich das Eigentliche ansprechen, möchte ich erläutern, was dieses millionenschwere Projekt und meine persönliche Beschäftigung damit erklärt. Drei Beobachtungen helfen dabei.

Die erste lautet: Da gibt es unsere Studierenden. Seit langem begrüße ich sie immer mal wieder mit einem ausdrücklichen Verstoß gegen die Political Correctness, wenn ich deklariere »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!«. Interessant – und für den Hochschullehrer, der intergenerationelle Kommunikation braucht, wichtig – ist eine sensible Wahrnehmung des Wandels. Vor zwei Jahrzehnten löste das befremdete Belustigung aus, heute ist es eine nur noch leicht irritierte, eher interessierte Offenheit; oft schwingt sogar etwas Zustimmung mit, übrigens unabhängig von der biografischen Herkunft. Die gegenwärtigen Kohorten sind Mitte der 1990er Jahre geboren. Warum sollten sie als Deutsche – oder deutsche Europäer? – nicht stolz sein? Gewiss, und dafür steht ihre Irritation gegenüber dem Geschichtsprofessor, sie wissen schon, womit ich spiele. Sie sind wohl bereit, eine begrenzte historische Verantwortung für Holocaust und Nationalsozialismus zu integrieren, zu tragen, aber sie schützen sich davor, noch als (Ur-)Enkel ausschließlich Schuld und Scham für die Handlungen ihrer (Ur-)Großeltern zu übernehmen, suchen vielmehr nüchterne und rationale Distanz. Außerdem erlebten sie ihren schulischen Geschichtsunterricht oft als überfrachtet mit dem Thema Nationalsozialismus, inklusive gleich mitgelieferter Wertungen. Wir wollen das achten. Ja, obwohl meine generationelle Erfahrung eine ganz andere ist, erkenne ich darin eine – vielleicht sogar heilsame – Normalisierung.

Die zweite Beobachtung: Da trägt eine Jugendliche nach dem Besuch einer KZ-Gedenkstätte in deren Gästebuch ein:1 »Ja, das ist alles ganz schrecklich und furchtbar. Unbestritten … Aber es muss doch am Nationalsozialismus auch etwas Positives gegeben haben, eine andere Seite, die unsere Großeltern dazu brachte, Hitler zu wählen. Was war das bloß?« – Ihre Frage ist sehr berechtigt: In KZ-Gedenkstätten wie beispielsweise Ladelund, Kaltenkirchen oder Schwesing, an Gedenkorten geschändeter Synagogen, auch mit den üblichen Gedenkfeiern, mithin an vielen Orten und aus einigen Anlässen, lassen sich die Schrecken, die Abgründe, die Verbrechen der nationalsozialistischen Jahre erfahren, spüren, erfragen. Wer aber »nur« KZs als NS-Hinterlassenschaft kennt, wird das komplexe System Nationalsozialismus nicht verstehen können, wird reagieren wie die – hilflos wie klug zugleich – fragende Jugendliche. Tatsächlich gab es die andere Seite: Zu Ausgrenzung, Verfolgung und Ausmerze der Anderen lieferten die Nationalsozialisten das damit eng verbundene verheißungsvolle Gegenstück, das Zusammenrücken der Arier, der Gesunden, der politisch Folgsamen in der »Volksgemeinschaft«. So fern es uns zunächst erscheinen mag: Die Frage der Jugendlichen weist in das historische Verstehen, in die Erklärung des so unerklärlich Erscheinenden.

Eine dritte Beobachtung: Wer Kambodscha1976, Ruanda1994, Srebrenica 1995 und eine Reihe weiterer Beispiele als Symbole für recht aktuelle genozidale Verbrechen wahrnimmt, wird immer vorsichtiger werden in der Betonung des Einzigartigen der NS-Gewaltverbrechen, obwohl es unbestreitbare Elemente ihrer Singularität gibt. Zunehmend wird die Erkenntnis in den Vordergrund rücken, dass jedenfalls gewisse Strukturen und Prozesse genozidaler Verbrechen Ähnlichkeiten aufweisen, vergleichbar sind, ja zu pathologischen Ausartungen ganz üblicher menschlicher Vergemeinschaftung gezählt werden müssen. Bei aller Vorsicht und Distanz: Möglicherweise lässt sich mit Hilfe des Verstehens und der Erkenntnis aus der Geschichte lernen, kann man Muster der Wiederholung markieren.2 Und gewiss wird man schmerzhaft erkennen müssen, wie normal, wie bekannt einem selbst diese Mechanismen sind. Einfache, vollständige und wohltuende Distanzierung von den bösen Tätern ist dann kaum mehr möglich.

Fassen wir mit besonderem Blick auf nachwachsende Generationen zusammen: Die grenzenlose Inhumanität der deutschen, oft also auch ihrer Geschichte, die erkennen sie; aber Erklärungsmuster, denkbare Bedingungsgeflechte, andere Seiten des Nationalsozialismus, Übertragbarkeiten auf andere Gesellschaften und historische Situationen, unverkrampft wünschen sie auch darüber verwertbare Informationen. Mit vollem Recht, wie ich meine: Es ist der Wunsch nach einem Wandel unserer Erinnerungskultur vom emotionsgeladenen Gedenken zum sachlicheren Historischen Lernen.

Es geht in diesem Buch also um schwere Kost, große Fragen – und einen kleinen Beitrag zur Lösung.

Gegenstand dieses Buches ist die Neulandhalle im Dieksanderkoog in Dithmarschen. 1936 war sie als eine nationalsozialistische Ersatzkirche im kurz zuvor eingeweihten, damals nach dem »Führer« benannten Adolf-Hitler-Koog »geweiht« worden. Als Ensemble bildeten Koog und Halle Mitte der 1930er Jahre das Modell einer klinisch rein und neu geschaffenen »Volksgemeinschaft« im Kleinen, ja stellten ein Renommierprojekt zur Beschreibung der nationalsozialistischen Verheißung einer geschlossenen, harmonischen und kämpferischen Zukunftsgemeinschaft der Arier dar. – Wie ich zeigen will, lässt sich sehr viel lernen an diesen realisierten Versprechen!

Paradoxerweise ist ausgerechnet der Kirchenkreis Dithmarschen seit 1971 Eigentümer und Träger der Neulandhalle. Seine dort betriebene evangelische Jugendbegegnungsstätte musste 2010 aus ökonomischen Gründen den Betrieb einstellen, der Kirchenkreis in der Folge über Veräußerung oder Abriss nachdenken. Ein freier Verkauf der Immobilie könnte als Bieter auch Rechtsextreme anlocken, ein Abriss – die Genehmigung durch Dithmarschens Landrat liegt seit einiger Zeit vor – würde ein markantes architektonisches Relikt der NS-Zeit unwiederbringlich zerstören – ein Schritt, der jedenfalls wohl überlegt sein sollte! Deshalb ist um die zukünftige Nutzung vor Jahren eine Diskussion entbrannt, an der sich auch der Autor dieses Bandes mit mehreren Beiträgen jeweils in den 16 Zeitungen des sh:z-Verlages beteiligte.3

Im Gefolge der kontroversen Diskussion entschied sich der Kirchenkreis, zweigleisig zu handeln: Er erwirkte die rechtskräftige Abrissgenehmigung, erteilte jedoch auch dem Institut für Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) der Universität Flensburg den Auftrag, eine »Machbarkeitsstudie« zur »Neukonzeption der Nutzung der Neulandhalle im Dieksanderkoog als Vermittlungsort regionaler NS-Geschichte« anzufertigen. Als Autorengruppe machten wir deutlich, dass wir einen solchen Auftrag als zweigeteilt verstanden: als Aufgabe, erstens, konzeptionelle Ideen für einen »Historischen Lernort Neulandhalle« zu entwickeln, und, zweitens, Bedarf, Markt, Kosten, Trägerschaft und Finanzierungsmöglichkeiten in Hinblick auf die Machbarkeit zu bewerten. Wir brachten 2012 also unsere Kernkompetenz ein und bemühten uns zugleich, die Realisierungsoptionen abzuwägen, Perspektiven aufzuzeigen.4

Inhaltlich-konzeptionell entwickelten wir die fachwissenschaftlich und geschichtsdidaktisch fundierte Idee eines Historischen Lernortes Neulandhalle, verorteten das Projekt in der bundesweiten Landschaft und leisteten museale wie bauliche Vorplanungen für die historische Ausstellung. Darüber hinaus befassten wir uns mit Umbauten und Landschaftsarchitektur, der Ermittlung technischer Optionen, Analysen des Marktes und potenziellen Trägerschaften sowie der Erstellung von Kostenplan und Finanzierungskonzept. – So weit gespannt und lebensnah kann Wissenschaft geraten.

Abb. 1Die Neulandhalle heute

Gleichwohl haben wir in der Studie konsequent die Sichtweise der Wissenschaft eingehalten, und zwar auf allen drei konzeptionellen Feldern: die Perspektiven der regionalhistorischen Forschung, der aktuellen Fachdidaktik Geschichte und schließlich der Museologie. Die Autorengruppe des IZRG – Uwe Danker mit Claudia Ruge in Kooperation mit Astrid Schwabe und Sebastian Lehmann – schöpfte aus Erfahrungen: Unsere Arbeitsschwerpunkte umfassen fachhistorische und fachdidaktische Forschung, kulturwissenschaftliche und vermittlungsbezogene Perspektiven, Schule und Universität sowie kreative außerschulische Vermittlungsarbeit von Regionalgeschichte. Wir entwickeln fachdidaktische Konzepte und suchen die konkrete Umsetzung in regionalhistorischer Perspektive.5

Wir haben Expertisen eingeholt, zum Beispiel bei Referenzprojekten im ganzen Bundesgebiet: Uwe Seemann, IT-Manager Stelenfeld (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas), Dr.-Ing. Günter Schlusche (Mauergedenkstätte Bernauer Straße), Julia Hornig, M.A. (Willy-Brandt-Haus), Kai-Britt Albrecht, M.A. (Potsdam), Dr. Rainer Stommer (Alt Rehse), Susanna Misgajski (Prora), Norbert Ellermann, M.A. (Wewelsburg) und Franz Albert Heinen (Vogelsang). Wir haben Kontakt gesucht zu potenziellen Kooperationspartnern: Karin Penno-Burmeister (KZ-Gedenkstätte Ladelund), Dr. Detlef Garbe (Leiter KZ-Gedenkstätte Neuengamme), Dr. Gerd Meurs (Multimar-Wattforum des Nationalparks Wattenmeer in Tönning), Prof. Dr. Oliver Auge (Lehrstuhl Landesgeschichte Universität Kiel), Hans Joachim Langbehn (IQSH), Prof. Dr. Bernd Eisenstein (Institut für Management und Tourismus der FH Westküste), Dr. Martin Westphal (Vorsitzender des Museumsverbandes Schleswig-Holstein), Dr. Nils Köhler (Leiter der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Golm auf Usedom). Wir haben mit Vertretern der Ministerialbürokratie konferiert, insbesondere Susanne Bieler-Seelhoff und Prof. Dr. Stephan Opitz. Intensive Hilfestellung für Bauplanungen erfuhren wir von Diplom-Ingenieur Klaus Elhöft (Bauamtsleiter des Kreises Dithmarschen) und Jörg Albrecht (Architekt in Heide), es halfen auch aus der Verwaltung der Universität Flensburg: Diplom-Wirtschaftsinformatiker Helge Petersen, Axel de Haan, Bernd Eggers, Sven Kaufmann sowie Kanzler Frank Kupfer. Es skizzierte spontan für uns die Vision: Levke Maria Danker. Rat und Impulse lieferten auch Dr. Jörn-Peter Leppien, Prof. Dr. Waltraud Wende, Dr. Jutta Müller, Dr. Klaus Bästlein, Dr. Martin Gietzelt, Dr. Ulf Ickerodt und Dr. Sven-Hinrich Siemers. – Ein herzliches Dankeschön an alle auch hier noch einmal.

Für solidarische und kritische Mitträgerschaft danke ich den potenziellen Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats des Vorhabens: PD Dr. Frank Bajohr (Zentrum für Holocaust-Studien, IfZ, München), Dr. Eckart Dietzfelbinger (Dokumentation Reichsparteitagsgelände, Nürnberg), Dr. Axel Drecoll (Dokumentation Obersalzberg, IfZ, München), Dr. Detlef Garbe (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), Prof. Dr. Hans Walter Hütter (Haus der Geschichte, Bonn), Prof. Dr. Alfons Kenkmann (Universität Leipzig), Dr. Babette Quinkert (Deutsch-Russisches Museum, Berlin-Karlshorst), Prof. Dr. Michael Sauer (Universität Göttingen), Prof. Dr. Johannes Tuchel (Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin).

Prof. Dr. Gerhard Fouquet hat als Vorstandsvorsitzender eine zeitweise geplante Trägerschaft der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten befürwortet.

Besonderer Dank geht an jene, die in Schleswig-Holstein seit Vorlage der Machbarkeitsstudie das Projekt beförderten: die Ministerin für Justiz, Kultur und Europa, Anke Spoorendonk, ihr Staatssekretär Dr. Eberhard Schmidt-Elsässer.

Großzügig und vertrauensvoll begegnen uns die Eigentümer der Neulandhalle, die Repräsentanten der Nordkirche, die ich habe sehr schätzen lernen dürfen: Propst Dr. Andreas Crystall, »Bruder« Wolfgang Pittkowski, Bischof Gothart Magaard und Bischof Gerhard Ulrich. Ich möchte mich für dieses Vertrauen ausdrücklich bedanken!

Schließlich ein persönliches Dankeschön auch an Frank Trende, der mich in der Weihnachtszeit 2010 anrief, um öffentlichkeitswirksame Intervention bat und mich auf diese Weise richtig infizierte: Früher als wir, das historische Verdienst sei ihm zugeschrieben, erkannte er den gesellschaftlichen Wert der Neulandhalle; seither brenne auch ich für das Vorhaben.

Und mit mir brennen Claudia Ruge, M.Ed., Dr. Astrid Schwabe und Dr. Sebastian Lehmann, das IZRG-Team, ohne dessen Kreativität, Begeisterungsfähigkeit und Einsatz solche Vorhaben in Tiefe und Breite nicht möglich wären. – Wer dieses Buch genau liest, der wird erkennen, wie viele Verästelungen und Überlegungen in das Gesamtprodukt hineinspielen, ganz abgesehen davon, dass eine ganze Reihe von mir mal mehr, mal weniger umgearbeitete Textbausteine der drei Genannten mit einflossen. Ohne die Genannten würde diese Arbeit keine Freude bereiten. Kann man mehr ausdrücken?

Die Gliederung des Buches ist klar und einfach. Im ersten Kapitel stelle ich die »Biografie eines markanten Gebäudes«, nämlich der Neulandhalle, eingebettet in die regionale Geschichte des Nationalsozialismus – einschließlich seiner Vor- und Nachgeschichte – vor. Dann versuche ich, den »gesellschaftlichen Wert der Neulandhalle« herzuleiten, nämlich zu zeigen, dass dieses Objekt tatsächlich drei zentrale NS-Konzepte repräsentiert und dass es einen massiven Bedarf an der Hinwendung zum Historischen Lernen über den Nationalsozialismus gibt. Im dritten Hauptkapitel entwickle ich die »Konzeption des Historischen Lernorts Neulandhalle«, indem ich von der umfänglichen Theorie zur kaum weniger komplexen, aber beschreibbaren praktischen Vision gehe. Schließlich wird der bisherige politische Prozess geschildert und bewertet sowie ein vorsichtiger Blick in die Zukunft unternommen. Der Anhang enthält die umfängliche Literaturauswahl.

Uwe Danker im März 2014

I. ZUR BIOGRAFIE EINES MARKANTEN GEBÄUDES

Nationalsozialistischer Aufstieg im »Mustergau« Schleswig-Holstein6

Es hatte so verheißungsvoll begonnen: Das revolutionäre Signal zur Gründung der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, war aus Schleswig-Holstein gekommen. Am Ende des Ersten Weltkriegs hatten Matrosen gegen ihren »ehrenvollen Untergang« gemeutert und waren nach Kiel verlegt worden, wo die Lage schnell eskalierte: Der Matrosenaufstand entwickelte sich in Tagen zur deutschen »Novemberrevolution«, denn der Funke sprang über, am 9. November rief Philipp Scheidemann (SPD) in Berlin die »Deutsche Republik« aus, und Kaiser Wilhelm II. dankte ab. Gemäßigte Sozialdemokraten setzten sich an die Spitze der Bewegung, führten im Bündnis mit alten Mächten die Revolution teilweise auch gewaltsam in parlamentarische Bahnen. Die im Januar 1919 gewählte Nationalversammlung schuf die demokratische Weimarer Reichsverfassung.

Die neue Republik begeisterte in Schleswig-Holstein wenige, und sie verängstigte jene, die althergebrachten Ordnungsstrukturen nachtrauerten. Die Demokratie musste schwere Hypotheken übernehmen: zum Beispiel eine im Krieg zugrunde gerichtete inflationäre Währung, zum Beispiel den »Versailler Friedensvertrag«, dessen Annahme im Zerrbild rechter Propaganda als Unterwerfung Deutschlands erschien. Für Schleswig-Holstein besaß der Vertrag eine besondere Bedeutung: Nach Volksabstimmungen in der Grenzregion ging Nordschleswig an Dänemark.

Wirtschaftlich und politisch stabil verliefen auch in der Provinz nur die Jahre 1924 bis1928, ab 1929 geriet man auch hier in den Strudel der Weltwirtschaftskrise. Einen Krisensektor gab es schon vorher: die Landwirtschaft vor allem an der Westküste und in den Elbmarschen, wo spezialisierte Bauern abhängig von Marktschwankungen waren. Einige konnten Rechnungen und Steuern nicht mehr bezahlen, Zwangsversteigerungen drohten. Protest formierte sich in der spontanen »Landvolkbewegung«. An einigen Orten griff der radikale Flügel der Bewegung zur Gewalt. Nach dem »großen Bombenlegerprozess« verlief sich die massenhafte Auflehnung. Aber die Nationalsozialisten traten das Erbe an, fanden im Milieu Anhänger und überdurchschnittlich viele Wählerstimmen.

Gesellschaftliche Konflikte wurden in der Weimarer Republik oft gewaltsam auf der Straße ausgetragen. Von Beginn an erschütterten revolutionäre Aufstände von links sowie Putschversuche und Mordanschläge von rechts die ungefestigte demokratische Ordnung. Die bewaffneten »Kampfverbände« von Nationalsozialisten und Kommunisten traten immer aggressiver auf. Aufmärsche, Überfälle und Mordanschläge bildeten öffentlichkeitswirksame Aktionen. In Schleswig-Holstein kamen von 1928 bis 1933 so fast 50 Personen ums Leben. Besonders gewalttätig waren die Wochen vor den Reichstagswahlen im Juli 1932. Traurigen Höhepunkt bildete der »Altonaer Blutsonntag« am 17. Juli 1932: Die NSDAP veranstaltete einen Umzug durch das »rote Altona«, das noch eine schleswig-holsteinische Stadt war. 25 Tote waren schließlich nach einem Einsatz von überforderten Polizisten zwischen den Fronten zu beklagen.

Das Ereignis nutzte Reichskanzler Franz von Papen als Vorwand, die preußische Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Otto Braun (SPD) abzusetzen. Jetzt wechselte man im größten deutschen Land, zu dem auch die Provinz Schleswig-Holstein zählte, demokratische Verwaltungs- und Polizeispitzen gegen deutschnationale Republikgegner aus. Ein wichtiger Schritt der Zerstörung der Demokratie – und wieder ein Signal aus Schleswig-Holstein!

Verschiedene Vereinigungen organisierten rechtsextremes Gedankengut in Schleswig-Holstein, bevor die Nationalsozialisten die Meinungsführerschaft errangen. Einige Akteure unterhielten Kontakte zur bayerischen Hitler-Bewegung. Unter ihnen der aus Mühlenbarbek stammende Altonaer Bankangestellte Hinrich Lohse. Am 1. März 1925 führte Lohse in Neumünster mit nur 26 Mitstreitern die Gründungsversammlung der schleswig-holsteinischen NSDAP durch. Kurz darauf bestätigte Hitler Lohse als »Gauleiter« der »Nordmark«.

Der rasante Aufstieg setzte ein, als sich die NSDAP auf die Landbevölkerung konzentrierte, und zwar zuerst in den Geestgebieten Dithmarschens, dann ausweitend auf die Kreise Steinburg, Rendsburg, Pinneberg und wenig später auch auf Eiderstedt und Husum. 1930 existierten 272 Ortsgruppen, 1932 schon 805. Anfang 1933 führte die schleswig-holsteinische NSDAP 50000 Mitglieder, 20000 Männer »kämpften« in den bewaffneten Parteivereinigungen SA und der kleinen Eliteorganisation SS. Schleswig-Holstein galt nunmehr als ein NS-»Mustergau«.

Abb. 2Agitation in Schleswig: Aufmarsch der SA um 1930

Bereits bei der Reichstagswahl am 20. Mai1928, bei der die NSDAP in Schleswig-Holstein insgesamt 4,1 Prozent der Stimmen erzielte und noch Splitterpartei blieb, war eine Sonderentwicklung zu bemerken: In Dithmarschen erreichte die »Bewegung« 18 Prozent der Stimmen und im Kreis Steinburg über 10 Prozent. Dithmarschen wuchs zur Kernregion der Nationalsozialisten heran. In der »Blutnacht von Wöhrden« am 7. März1929, einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen ihnen und Kommunisten, kamen zwei SA-Leute und ein Kommunist zu Tode. Kampf und Beerdigung ließen sich reichsweit propagandistisch auswerten. 1930 erhielten die Nationalsozialisten in Norderdithmarschen mehr als 50 Prozent der Stimmen, in Süderdithmarschen nur 36,3 Prozent, weil hier der Tierarzt Dr. Emil Grantz eine Abspaltung anführte. Im März 1933 erzielte die NSDAP in Dithmarschens Süden 63,7 Prozent und im Norden 68,6 Prozent der Stimmen.

Die NS-Bewegung speiste ihre Ansichten aus Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus. Hier, in der protestantischen und agrarisch strukturierten Region, verfingen die Ängste vor der Moderne, vor Industrie, Verstädterung und Demokratie besonders und träumten die Menschen mehr als anderswo von einer traditionsgebundenen, die bäuerliche Scholle und ein dumpftümelndes Deutschtum feiernden Vergangenheit. Hinzu kam die »Rasse« als Kategorie menschlicher Gruppierung mit der Hierarchie des Stärkeren, »Arier« als höchste, dagegen »minderwertige« Slawen oder gar die gefährlich-bösartige »Schmarotzerrasse« der Juden. Ja die Rückführung allen Unglücks und alles Bösen auf »den Juden«: »jüdisches Weltkapital«, »jüdischer Marxismus« oder »jüdisches Parteiengezänk«, je nachdem, wie es passte, und Juden als »Verderber des deutschen Blutes«. Anfang der 1930er Jahre galten antisemitische Ansichten in rechtsbürgerlichen Kreisen als ganz selbstverständlich, allerdings bis zur NS-Machtübernahme ohne Gewaltausbrüche.

Die Dithmarscher Dichter Adolf Bartels (1862–1945) und Gustav Frenssen (1863–1845) gelten als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Der Kritiker und Dichter Bartels zählte zur »Heimatkunstbewegung«, deren Kennzeichen Agrarromantik, Heimatliebe und ein fanatischer Antisemitismus bildeten. Er propagierte den völkischen Rassismus, literarische Qualität leitete sich für ihn allein von der Rasse ab. Bartels’ Roman »Die Dithmarscher« (1898) betonte ein Sonderbewusstsein dieses Stammes. Auch in Frenssens Bestseller »Jörn Uhl« (1901), in dem ein junger Bauer um seine Unabhängigkeit kämpft, konnten sich heimatverbundene Leser wiederfinden. Gustav Frenssen, Pastor in Barlt, Süderdithmarschen, und später außerordentlich erfolgreicher Autor, entwickelte sich ab Mitte der 1920er Jahre zum offenen Antisemiten und schließlich zum entschiedenen Anhänger des Nationalsozialismus, bis hin zur 1940 publizierten Rechtfertigung der Judenverfolgung.

Zwischen 1928 und 1930 schaffte die NSDAP den Durchbruch in der Provinz. Ihre Wahlergebnisse lagen deutlich über dem Reichsdurchschnitt: 1930 27 Prozent im Vergleich zu 18,3 Prozent auf Reichsebene, im Sommer 1932 mit sogar 51,1 Prozent das reichsweit beste Ergebnis, dort wurden im Schnitt nur 37,3 Prozent erreicht.

Der 30. Januar 1933 in Berlin: Reichspräsident Paul von Hindenburg ernennt Adolf Hitler zum Reichskanzler in einer Koalitionsregierung aus DNVP und NSDAP. Parallel zu gespenstisch feierlichen Fackelzügen forcierten die Nationalsozialisten jetzt ihren Straßenterror, und schnelle machtpolitische Weichenstellungen suggerierten eine »Machtergreifung«: Neuwahlen zum Reichstag fanden am 5. März statt, kommunale und Provinziallandtagswahlen in Preußen eine Woche darauf. Es wurde ein Wahlkampf im Übergang vom Rechtsstaat zur Diktatur. Weite und einflussreiche bürgerliche Kreise in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft befürworteten den neuen autoritär-staatlichen Versuch alternativ zur Weimarer Demokratie. Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag, wahrscheinlich entzündet von einem Einzeltäter. Die NS-Spitze ergriff die Chance, das Feuer als kommunistischen Umsturzversuch zu stilisieren. Die »Reichstagsbrandverordnung« setzte bürgerliche und politische Grundrechte außer Kraft und legalisierte politische Verfolgungen. Erste Opfer wurden Kommunisten, aber auch bereits Sozialdemokraten und Gewerkschafter; später konnte es viele weitere treffen.

Abb. 31939 feiert sich die NS-Zeitung »Schleswig-holsteinische Tageszeitung« und ihren Gründer, Gauleiter Hinrich Lohse, neben dem »Führer« Adolf Hitler.

Auch in der Provinz zeigte die nationalsozialistische Machtübernahme ihr Doppelgesicht: feierliche nationale Einheitsstimmung zum einen, Willkür und Gewalt als Kehrseite. Aus Freude über die neue Regierung veranstalteten Nationalsozialisten und Deutschnationale an vielen Orten Fackelzüge. Noch aber äußerte sich teilweise auch lauter Protest: Zeitgenössische Presseberichte dokumentieren oppositionelle Umzüge, kritische Flugblätter und Zusammenstöße. In Lübeck demonstrierten am 19. Februar noch ein letztes Mal 15000 Angehörige der örtlichen Arbeiterbewegung. Für die Nationalsozialisten setzte jetzt die »Abrechnung« mit den verhassten Repräsentanten der linken Parteien und des abgelehnten Systems ein: Zunehmend drangsalierten, jagten und »verhafteten« sie politische Gegner. Indem SA-Angehörige und auch »Stahlhelmer« als »Hilfspolizisten« agierten, fielen staatliche Institutionen zum Schutz ihrer Opfer meist aus. Zahlreiche Repräsentanten der Arbeiterbewegung und auch erste Angehörige der jüdischen Minderheit wurden in diesen ersten Monaten der NS-Herrschaft ermordet oder drangsaliert.

Das in diesem Klima erzeugte Wahlergebnis brachte der NSDAP reichsweit zwar mehr als 10 Prozentpunkte Gewinn, aber insgesamt nur 43,9 Prozent der Stimmen; in Schleswig-Holstein erzielte sie 53,3 Prozent, lag nur noch in fünftbester Position im Reich. Im Gefolge beider Märzwahlen übernahmen Nationalsozialisten auch institutionell in der Provinz die Macht. In den Großstädten verdrängten sie bürgerliche oder sozialdemokratische Mandats- und Funktionsträger; die Oberbürgermeister und Polizeipräsidenten stellten fortan die Nationalsozialisten. In jenen ländlichen Regionen, die als NS-Hochburgen galten, spielten republikanische Parteien keine Rolle mehr. Hier war die Durchsetzung der neuen Macht demokratisch legitimiert. Anderswo griff man zu Mitteln der Pression und Gewalt.

Symbolträchtig war die Besetzung des Amts des Oberpräsidenten, des höchsten preußischen Beamten in der Provinz: Am 25. März 1933 ernannte das preußische Staatsministerium den 36-jährigen NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse. In der mächtigen Personalunion Gauleiter und Oberpräsident vereinte er bis in den Mai 1945 das höchste Partei- und Staatsamt in Schleswig-Holstein. Schleswig-Holstein blieb ein »Mustergau«.

Das schleswig-holsteinische Erfolgsrezept hatte offenkundig darin bestanden, dass der selbst aus der bäuerlichen Protestbewegung kommende Gauleiter Lohse die Chancen der gezielten »Landagitation« erkannte, seine regionale NSDAP in ihrer Agitation auf regionale Eigenheiten und Traditionen – auf das Plattdeutsche und auf den Mythos der »Bauernrepublik Dithmarschen« oder den friesischen Leitspruch »Lewer düd as Slaw« – setzte. Vor diesem Hintergrund mochte es kaum überraschen, dass Lohse und seine Mannen auch das regionalspezifische Thema der Landgewinnung adaptierten.

Ideologisierte Landgewinnung

Der Kampf mit der Nordsee, dem »Blanken Hans«, ist tief in der Tradition der Westküstenbewohner verankert. Die vor circa 5000 Jahren entstandenen Watten gestalten breite Uferzonen der Nordseeküste: täglich zweimal von der Flut mit Meerwasser überschwemmte Schlickzonen. Das Wasser führt Sinkstoffe wie Algen, Sand, Ton, Kalk mit sich, die beim langsamen Abfließen im Wattboden verbleiben. Das Land »schlickt auf«, Marschland entsteht. Verheerende Sturmfluten wie die beiden »Mandränken« 1362 und 1634 führten zu erheblichen Landverlusten. Umgekehrt rangen die Küstenbewohner durch Eindeichungen dem Meer auch Land ab. Seit dem 11. Jahrhundert entstanden ca. 230 Köge.7

Der Prozess der Sedimentation lässt sich – mit Geduld – befördern: Gezielt angebrachte Gräben und »Lahnungen« sorgen für eine Reduktion der Fließgeschwindigkeit des Meerwassers. Über 15 bis 40 Jahre gestreckt entsteht fruchtbarer Boden, anfangs von salzverträglichen Pionierpflanzen wie Queller und Ander besiedelt, schließlich beweidet, immer seltener überflutet und dauerhaft grün. Jetzt gilt das von Wegen durchzogene »Vorland« als »deichreif«. Mit Eindeichung und Süßwasser-Regime – beides bereitet oft erhebliche technische Probleme – entsteht der Koog. Er kann sofort besiedelt und auch für Getreideanbau genutzt werden.

Abb. 4Lahnungsbau in den 1930ern

Immer wieder erlebten die Küstenbewohner Rückschläge. Aber die Grundrichtung lautete: »Deichen oder weichen.« Mentalität und kulturelle Äußerungen der Menschen tragen Prägungen: Sie begriffen die Nordsee als feindlich, heroisierten ihren Kampf mit dem »Blanken Hans«.

Nach dem Scheitern privat und genossenschaftlich initiierter Eindeichungsversuche glückten seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Süderdithmarschen staatlich geleitete Koogschließungen: 1853 entstand in dänischer Verantwortung der »König Frederik VII. Koog«, 1873 der preußische »Kaiser-Wilhelm-Koog«, 1899 der »Kaiserin-Auguste-Viktoria-Koog« und schließlich während der Weimarer Demokratie 1924 der »Neufelder Koog«.8

Obwohl in den 1920ern staatliche Investitionen in Küstenschutz und Landgewinnung stagnierten, schmiedeten Fachleute große Pläne. Der Kieler Professor Walter Dix schlug 1927 vor, das komplette nordfriesische Wattenmeer auf einer Linie Sylt–Amrum–Hooge–Pellworm–Eiderstedt nach dem Muster der Abschließung der holländischen Zuidersee einzudeichen. Dieser Plan wurde – unter anderem aus Angst vor unendlichen Dünenflächen – verworfen, das langfristige Ziel einer vollständigen Verlandung der Watten jedoch nicht. Realistischer schien eine Denkschrift der »Arbeitsgemeinschaft der Deichverbände« aus dem Jahr 1931. Hauptverfasser war Küstenschutz-Ingenieur Dr. Johann M. Lorenzen (1900–1972), der noch für Jahrzehnte die Arbeiten an der Küste gestalten würde.9

Abb. 5Der »Dix-Plan«

In der Denkschrift beschrieb er die technischen Möglichkeiten, Zukunftspläne und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Landgewinnung und entwarf sein Programm. Vom »Standpunkt des Küstenbewohners« aus bewertete Lorenzen die Kosten nach privatwirtschaftlichem Ertrag, nach Auswirkungen auf den Küstenschutz und an dritter Stelle erst nach »sonstigen mittelbaren Auswirkungen« wie der Ansiedlung von Bauern in neuen Kögen. Fazit: Rein privatwirtschaftlich betrachtet rechne sich Landgewinnung nicht, aber berücksichtige man die Belange des Küstenschutzes, so sei die Bilanz volkswirtschaftlich positiv. Wenn außerdem der schon in der Weimarer Republik existierende Arbeitsdienst eingesetzt werde, so dass Zahlungen an Arbeitslose umgeleitet würden in Billiglöhne, dann spreche vieles für arbeitschaffende Landgewinnung. Ja, es müsse »unschwer möglich sein, einen Arbeitsumfang von mehr als 1,5 Millionen Tagwerken im Jahr für die nächsten 10 Jahre bereitzustellen«.10

Abb. 6Heroisch gezeichneter landgewinnender Bauer

Die in dieser Denkschrift vorgenommene Zusammenführung von Küstenschutz und Landgewinnung, massiver Arbeitsbeschaffung für die Bauphase und sich anschließender landwirtschaftlicher Nutzung und Besiedlung war also zwar unwirtschaftlich, aber in der krisengeschüttelten Endphase der Weimarer Republik attraktiv und von politischer Bedeutung. Und sie korrelierte mit dem regionalen Aufstieg der Nationalsozialisten: Diese bemächtigten sich des populären Themas, luden die traditionelle Landgewinnung ideologisch weiter auf und propagierten die so perfekt zur Lösung von Gegenwartsproblemen passende Verknüpfung der verschiedenen Elemente.

»In der Gewinnung und Besiedlung der dem Meere abgerungenen Neulandflächen wird der Nachwelt ein bleibendes Symbol nationalsozialistischer Taten übermittelt, deren Geist für alle Zeiten durch die Siedler im neuen Koog vom Vater auf die Nachkommen vererbt, weiterleben wird.«11 Mit feinem Gespür für symbolische Politik überführte der frisch zum Oberpräsidenten ernannte NSDAP-Gauleiter Lohse die erwähnte Denkschrift der Arbeitsgemeinschaft der Deichverbände aus dem Jahr 1931 programmatisch ohne Abstriche in seinen »Generalplan für die Landgewinnung in Schleswig-Holstein«, bald nur »Lohseplan« genannt.12