Voll mit wilden Rosen - Fritz Schranz - E-Book

Voll mit wilden Rosen E-Book

Fritz Schranz

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Beschreibung

Angeregt durch die Existenzphilosophie Husserls, Heideggers und Sartres und durch die atemberaubende Entwicklung der Kunst vom Dadaismus über den Surrealismus zum Happening macht sich unser Protagonist Gert Trebetsch auf den Weg, die Frage nach der Bestimmung des Menschen neu zu stellen. In der Trilogie 'Von goldenen Träumen schwer' von Fritz Schranz wird diese Frage geistig und konkret beantwortet. Fritz Schranz 1. Band: Voll mit wilden Rosen 2. Band: Frischer Glanz 3. Band: Anders als bisher

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Fritz Schranz

Voll mit wilden Rosen

Ein neues Begreifen von Welt und Mensch

Für Gottliebe und Anne, die Treuesten der kleinen Gruppe. Foto des Deckblatts Gottliebe Gräfin Lehndorff 'Dionysischer Tanz in der Wüste' Copyright des Fotos: Fritz Schranz BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kindheit

 

 

Es war an einem Tag im April des Jahres 1930. Irgendwo wurde wieder ein Mensch geboren. Ein Einzelorganismus. Gert Trebetsch. Er sieht noch nichts und hört noch nichts. Er strampelt und schreit. Die Mutter windet sich in Geburtsschmerzen und möchte ihrem Leben am liebsten ein Ende machen.

Eine Überschrift in den 'Münchner neuesten Nachrichten' lautete: 'Frick für die Einbürgerung Hitlers!' In dem Artikel hieß es: 'Im Mittelpunkt einer nationalsozialistischen Kundgebung am Mittwoch im Berliner Sportpalast stand eine Rede des thüringischen Staatsministers Dr. Frick. Er betonte, es sei des deutschen Volkes unwürdig, Adolf Hitler, der vier Jahre Frontkämpfer für Deutschland gewesen war, die Staatsangehörigkeit vorzuenthalten. Er werde alles tun, um dieses Unrecht wieder gut zu machen.' - Sport: 'Die Athletik-Kommission des Staates Neuyork hat jetzt den 15-Runden-Kampf zwischen Jack Sharkey und Max Schmeling, der für den 2. Juni im Neuyorker Yankee-Stadion angesetzt ist, als Weltmeisterschaft bestätigt. Der Sieger wird als der offizielle Nachfolger von Genè Tunney anerkannt. Die Preise der Plätze betragen 2, 5, 15 und 25 Dollar.' - Eine Todesanzeige: 'Herr Gustav Hotter, Bevollmächtigter der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft Filiale München ist am 2. April 1930 nach kurzer, schwerer Krankheit im 49. Lebensjahr verschieden. Die Direktion der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft Filiale München verspricht ihm ein dauerndes, ehrendes Angedenken.'

Nein, Gert kann sich an nichts erinnern. Diese Ereignisse waren für ihn genauso wichtig oder unwichtig wie der Untergang der Titanic oder der Beginn oder das Ende des 1. Weltkriegs. Es gab Gert noch nicht. Weder die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Ereignisse, noch der Stand der Sterne, noch sonst etwas hätten Auskunft über Gert geben können. Er war ein hilfloses, in die Welt gesetztes Etwas. Aber jedes Et

 

was kann sich vergrößern oder verkleinern. Plötzlich trifft Licht auf es. Plötzlich wird es gebraucht und es geschieht etwas.

 

Gert stand auf der Straße. Ja, daran kann er sich noch genau erinnern. 'Sedanstraße' nannten die Leute diese Straße. Plötzlich spürte Gert, wie sich die Erde unter seinen Füßen bewegte. Er wusste nicht, soll er jetzt Angst haben oder sich freuen. Gert lief zu Oma Sutor. Oma Sutor war eine große Frau und ihr Kleid reichte vom Hals bis zum Boden. Es bestand aus anthrazitfarbenem Plüsch mit großen, grauen Punkten. Sie stand hinter dem Ladentisch. Jetzt nur nichts sagen, sagte sich Gert. In der Ecke stand ein Papprohr. Ja, damit wird es weitergehen, dachte er. Gert täuschte Gleichgültigkeit vor. Ein Kunde trat ein. Gert packte das Rohr und, wupps, war er wieder draußen. Er hob das Rohr und sah die Straße entlang. Das ist das Trottoir, das sind die Häuser und das ist der Himmel, stellte er fest. Er war gerade dabei, sich auch die andere Seite der Straße anzusehen, als ein neuer Stoß die Erde erschütterte. Gerts Gleichgewichtsorgan geriet durcheinander. "Kind komm!" hörte er Oma Sutor rufen. Was sollte er tun? Die Erde bebte zum dritten Mal. Gert ließ das Rohr fallen und lief zu Oma Sutor.

Weihnachten kam. Laden und Nebenraum von Oma Sutor waren durch einen mit Leder gesäumten dunkelbraunen Vorhang voneinander getrennt. Gert wurde plötzlich untersagt, sich im Nebenraum aufzuhalten. Der Fall war klar. Dort waren die Weihnachtsgeschenke.

Er hatte nur noch eines im Kopf: Wie kann er an die Geschenke kommen? Er holte sich den Schlitten, und begann, vor dem Vorhang hin- und herzu rutschen. "Willst du da den Boden durchwetzen?" fragte ihn Lotte. "Nein, nein, ich spiele nur Schlittenfahren", antwortete Gert. Dann kam der Augenblick, wo er allein im Laden war. Er stieß sich, so kräftig er nur konnte, mit dem Schlitten vom Boden ab und landete durch den Vorhang im Nebenraum. Er konnte gerade noch vor der Kommode bremsen. Auf ihr stand ein Glassturz mit einem Ozeandampfer. Sonst war er immer aufgeregt, wenn er diesen Dampfer sah, aber heute war er ihm egal. Unter dem Fenster war ein verschnürtes Paket. Das wird es sein, dachte er.

Endlich hatte er den Knoten auf. Eine Schachtel kam zum Vorschein. Holzwolle! Dann war Papier zu sehen. Ein Gegenstand aus Holz, hart und bunt. Er packte den nächsten Gegenstand aus. Ein Turm! Eine Mauer! Eine Zugbrücke! Jetzt war alles klar. Er bekommt eine Burg! Gert freute sich. Genau genommen freute sich Gert nicht über die Burg, sondern darüber, dass er jetzt wusste, was er an Weihnachten geschenkt bekommen wird. Vorsichtig wickelte er alles wieder ein, schob das Paket unter das Fenster und rutschte mit dem Schlitten wieder in den Laden zurück.

In Oma Sutors Küche war ganz oben in einem Regal eine weiße Porzellanschale mit Kleingeld. Einpfennigstücke, Zweipfennigstücke, Fünfpfennigstücke, Zehnpfennigstücke. Gert holte sich einen Stuhl, streckte die Hand aus und tat einen kräftigen Griff in die Schale. Er war im Besitz seines ersten Geldes. Gert wusste, was man mit diesen Metallscheibchen machen konnte. Man geht in ein Geschäft und sagt: "Dies und das möchte ich haben." Dann gibt man einen Teil der Metallscheibchen ab und bekommt das Gewünschte. Was will er denn? - Das Höchste, was Gert sich vorstellen konnte, war das Schreibwarengeschäft von Frau Mühlecker.

Er rannte mit dem Geld zu Frau Mühlecker. Kaum war er im Laden, war er auch schon betört. Die Hefte, die Zeitschriften, die Bleistifte, die Federn und Federhalter erzeugten einen Geruch, den er für den Duft des Paradieses hielt. Was ist da wohl noch alles unter dem langen, schwarzen Tisch? fragte er sich. "Was willst du denn, Kleiner?" sagte Frau Mühlecker. "Ich möchte ein Malbuch, einen Pinsel und einen Malkasten", antwortete er und stülpte das Geld auf den Ladentisch. Frau Mühlecker ordnete es und bewegte dabei schnell die Lippen. Dann nickte sie und griff unter den Tisch. "Hier, mein Kleiner! Hier hast du ein Malbuch, einen Malkasten und einen Pinsel." Mein Gott, dachte Gert, dieses Glück! Er stopfte alles unter seinen Pullover und lief so schnell er konnte nach Hause.

Jetzt wollte Gert natürlich auch malen. Im Nebenzimmer war eine Couch. Das ist das Richtige, sagte er sich und kroch samt Mal zeug unter die Couch. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Um sich nicht durch das Geräusch seines Atems zu verraten, öffnete er den Mund. Allmählich beruhigte er sich. Er konnte sich zwar kaum rühren und die Sprungfedern pikten ihn in den Rücken, aber er fühlte sich geschützt. Er ließ Speichel auf den Malkasten fließen und rührte Grün an. Er malte einen grünen Schmetterling. Dann malte er ein rotes Haus und eine blaue Landschaft. Das Glück war perfekt.

Er blätterte um. Ein Baum! Er entschloss sich, ihn gelb zu malen. Plötzlich hörte er seinen Namen rufen: "Gert! Wo bist du denn nur?" Das ist Lotte, Schoss es ihm durch die Glieder. Er hielt den Atem an. Aber da war es auch schon passiert. Lotte blickte unter die Couch und schrie nach Oma Suter. Oma Suter erschien und schrie nach Jesus und Maria. "Da unten ist er." Man zog Gert unter der Couch hervor. Lotte und Oma Suter starrten ratlos auf den grünen Schmetterling und die blaue Landschaft. "Was soll denn das? Und das Geld?" fragte Lotte. "Wo hast du denn das Geld dafür her? - Aha, gestohlen. Er stiehlt Geld und kauft sich dafür Malbücher! Hast du da noch Worte!" Oma Suter zog Gert an den Ohren und Lotte versetzte ihm eine Ohrfeige. Gert nahm es gelassen hin. Die Schläge, die er tagtäglich auf der Straße bekam und natürlich auch austeilte, waren bedeutend stärker. Im Übrigen hatte er ja gewusst, dass alles so kommen würde.

 

Schräg gegenüber von Oma Sutors Wäschereifiliale war das Geschäft von Bäcker Beil. Bäcker Beil hatte blaue Augen und einen sanften Blick. Das Markanteste an ihm war seine fast bis zur Decke reichende Mütze. Mit einer solchen Mütze kann man ruhig einen sanften Blick haben, dachte sich Gert. Da Bäcker Beil auch noch Konditor war, gab es bei ihm auch Kuchen und Torten. Gert interessierte sich allerdings nur für eines und das waren die von ihm produzierten Granatsplitter. Da standen sie in Reih und Glied. Am meisten frappierte ihn, dass die etwas hellere Masse unter dem dunkelbraunen Schokoladenguss noch besser und süßer schmeckte als die Schokolade. Das Stück kostete fünfzehn Pfennige. Fünfzehn Pfennige! Das war eine Menge Geld. Hin und wieder konnte er Bäcker Beil überreden, ihm einen Granatsplitter für vierzehn oder sogar nur für dreizehn Pfennige zu geben. Aber auch diese vierzehn oder dreizehn Pfennige mussten erst einmal verdient werden.

Seit dem Griff in die Kleingeldschale war die Schale verschwunden. Gert musste sich nach einer anderen Einnahmequelle umsehen. Er begann nun, wie ein Hund, der sich durch Pfötchen geben seine Leckerbissen verdienen muss, den Kunden in Omas Geschäft die Hände hinzustrecken. "Er kann auch einen Diener machen und 'bitte' und 'danke' sagen", teilte Oma Suter stolz ihren Kunden mit. "Ja, dann mach' doch mal einen schönen Diener", forderte man ihn auf und Gert machte einen schönen Diener. "Einfach rührend, dieser Junge", hieß es dann und er bekam ein paar Pfennige in die Hand gedrückt.

Kaum hatte Gert das Geld für einen Granatsplitter beisammen, rannte er los. Bäcker Beils Miene war verhalten. Er zählte das Geld. Sein Gesicht hellte sich auf. Es waren genau fünfzehn Pfennige. Er ging zur Auslage und schob den Tortenheber unter eine der weißen Papierrosetten, auf denen sich die Granatsplitter befanden. Gert lief das Wasser im Mund zusammen. Nun wurde der Granatsplitter samt Rosette auf einen Karton gesetzt und in weißes Seidenpapier gewickelt. Am liebsten hätte Gert gesagt: "Nein, das ist nicht nötig, ich esse ihn ja doch gleich auf", aber das traute er sich nicht. Für ihn war Bäcker Beil ein Heiliger. Draußen allerdings gab es kein Halten mehr. Er riss das Papier vom Granatsplitter, sah sich noch einmal kurz um, ob ihm nicht doch noch jemand die Beute streitig machen wollte, und steckte dann den Granatsplitter so weit in den Mund hinein, bis es nicht mehr weiter ging. Dann schloss er die Augen und drückte die Zähne zusammen.

 

Sedanstraße 5 war ein kleinbürgerliches, ordentlich geführtes Mietshaus. In jedem der vier Stockwerke befanden sich drei Türen. Die Türen rechts und links gingen in Drei- und Vierzimmerwohnungen. Hinter der mittleren Tür befand sich nur ein Zimmer ohne Küche und ohne WC. Dieses Zimmer im 1. Stock war die Wohnung von Gerts Mutter. Küche und WC mussten im Parterre bei Oma Suter mitbenutzt werden. Gerts Bett hatte eine Ähnlichkeit mit einem Reliquienschrein. Es stand mitten im Zimmer und bestand aus einem dünnen Polster und vier weiß gestrichenen Eisengittern.

Wollte Laurentia abends ausgehen, musste Gert ins Bett. Dora wohnte im Parterre und war Laurentias Freundin. Geschminkt und mit einem Hut mit rosa Schleier erschien sie bei Laurentia. Sie flüsterten sich etwas zu. Dann beugte sich Dora zu Gert und sagte: "Unser kleines Gertchen muss jetzt ganz schön schlafen." "Und dass er das auch tut", fuhr Laurentia fort, "dafür spricht unser Gertchen noch mit seiner Mami sein Nachtgebet. - 'Mein Herz ist klein, mein Sinn ist rein, kommt niemand hinein als mein Jesulein'." Gert faltete die Hände und betete. Dann musste er die Augen schließen. Dora und Laurentia schlichen aus dem Zimmer.

 

Jeweils am 9. November kam Adolf Hitler nach München und marschierte zum Gedenken an den gescheiterten Putsch der NSDAP von 1923 mit seinen Getreuen vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle. Tausende von SA-Leuten marschierten mit. Oma Sutor stellte ihnen zum Übernachten Ihren Laden zur Verfügung.

Stroh wurde abgeladen. Lotte schwirrte aufgeregt hin und her. Der Laden war voll mit braunen Hemden, schwarzen Stiefeln, Breeches, Koppelschlössern, Schulterriemen, schwarzen Krawatten und Hakenkreuzarmbinden. Die Männer waren in ausgelassener Stimmung. Sie standen breitbeinig im Raum, stemmten die eine Hand in die Hüfte und setzten mit der anderen die Bierflasche an den Mund. "Jetzt sind wir an der Reihe", sagten sie. Gert durfte die Kappen der SA-Männer ausprobieren. Sie waren ihm alle zu groß. Die Männer lachten. "Hast du gesehen? Ha, ha, ha. Der Stöps! - Wird schon noch, wird schon noch", sagten sie und klopften ihm auf die Schultern. -

 

Oma Sutor war unverheiratet und hatte keine Kinder. Gerts Vater, Stani, war der uneheliche Sohn einer Ihrer Schwestern. Sie übernahm die Erziehung von Stani. Nach der Geburt des zweiten Kindes von Laurentia sagte Stani, dass er weder Gert noch Naukel als seine Kinder anerkenne. Die Ehe wurde geschieden und Stani ließ Laurentia mit den Kindern alleine. Laurentia musste sich eine Arbeit suchen. Durch die Ehe war sie Ausländerin und musste froh sein, als man ihr eine Stelle als Zigarrenmacherin anbot. Oma Sutor stand zwar auf der Seite ihres Neffen, aber da sie glaubte, dass wenigstens Gert ein Kind von Stani war, war sie bereit, hin und wieder auf ihn aufzupassen.

 

Gert hatte gerade mit dem Sohn der Meindls gespielt. Er war stolz, dass er den Sohn der Zigarrengeschäftsbesitzer zum Freund hatte. Nein, wirklich, sagte er sich, an diesem Tag gibt es nichts auszusetzen. Aber jetzt musste er nach Hause. Plötzlich sah er Dora, Mare, Lotte und seine Mutter vor sich. Irgendetwas musste geschehen sein. Und da passierte es auch schon. Ohne dass er wusste, worum es sich handelte, wurde er von den Frauen gepackt, hin und her gezerrt und angeschrien: "du Kerl, du bist es gewesen!" "du bist an allem schuld!" "Wie kannst du uns nur so etwas antun?" Es war zwar sehr selten, aber dieses Mal war sich Gert keiner Schuld bewusst. Was sollte er gewesen sein? Und woran sollte er Schuld haben? "du hast den Schlitten stehen lassen!" "Ja, mitten im Gang!" "Wie kann man nur so etwas machen!"

Es dauerte eine ganze Weile, bis Gert begriffen hatte, um was es ging. Oma Sutor war im Gang über den Schlitten gestolpert. Dabei hatte sie sich verletzt und musste ins Krankenhaus. Es tat Gert leid. - Nach ein paar Tagen sah Gert die Frauen wieder versammelt. Alle waren in Schwarz. Oma Sutor war an den Folgen des Sturzes gestorben. -

 

Frau Sutor hatte in ihrem Viertel ein gutes Renommee. Dementsprechend begegneten die Leute Laurentia und ihren Kindern. Das änderte sich nun aber schlagartig. Gert spürte, wie ihn die Menschen jetzt mit abfälligen und geringschätzigen Blicken ansahen. Plötzlich waren seine Mutter, seine Schwester und er Aussätzige. Ab jetzt gehörten die Trebetschs zur untersten Schicht des Viertels. Laurentia erhielt eine Räumungsklage. Kaum war sie von der Arbeit zu Hause, ging sie auf Zimmersuche, aber als geschiedene Frau mit zwei kleinen Kindern wurde sie überall abgewiesen. Laurentia war verzweifelt. Der Räumungstermin war gekommen. Gert erschrak. Drei Männer, zwei Polizisten und ein Gerichtsvollzieher standen vor ihm. Die Polizisten packten alles in mitgebrachte Kartons und stellten sie samt den Möbeln auf die Straße. Der Gerichtsvollzieher versiegelte die Tür.

Als Laurentia nach Hause kam und das Debakel sah, kullerten ihr die Tränen über die Wangen. - "Die Möbel kann ich natürlich nicht in die Wohnung nehmen", sagte Dora, "aber heute Nacht könnt ihr gerne bei uns übernachten." Laurentia, Gert und Naukel bekamen von Dora das Wohnzimmer. Da niemand bereit war, den Hausrat der Trebetschs unterzubringen, blieb Laurentia nichts anderes übrig, als alles auf der Straße stehen zu lassen. - Am vierten Tag fing es zu regnen an und alles wurde nass. Irgendjemand verständigte die Polizei. Ein Wagen kam, lud das ganze Zeug auf und brachte es ins Sozialamt. Endlich bekam Laurentia in Sedanstraße 15 ein Zimmer. Das Zimmer, das ab jetzt ihr Zuhause war, war nur vier Quadratmeter groß. Ein Bett, ein Stuhl, eine kleine Anrichte und ein Wasserhahn, das war alles. Wollte man in das Zimmer hinein, musste man zunächst die Tür bis zum Anschlag an das Bett öffnen. Dann musste man in die Ecke treten und die Tür schließen. Erst jetzt war es möglich, am Bett entlangzugehen. Wollte man wieder hinaus, musste man die gleiche Prozedur in umgekehrter Reihenfolge vollziehen. Gert und Naukel fanden das lustig.

 

Es war ein schöner Sonntagnachmittag. Laurentia hatte Naukel bei Mare unterbringen können. Sie teilte Gert mit, dass sie beide jetzt einen Spaziergang machen würden. Für Spaziergänge hatte Gert nicht viel übrig. Aber da es dadurch ins Freie ging, hatte er auch nichts dagegen. -

Sie zwängten sich durch die Tür und standen auf der Straße. "Wohin willst du jetzt?" fragte ihn Laurentia. Gert war perplex. Er durfte entscheiden, was geschehen sollte? Das hatte Laurentia noch nie gemacht. Wenn er jetzt sagt, dass er zur Isar gehen möchte, wird seine Mutter mit ihm zur Isar gehen und beide würden sie den Nachmittag an der Isar verbringen. Alle anderen Möglichkeiten wären dann allerdings ausgeschlossen. Würde er jetzt sagen, dass er gerne in den Tierpark gehen möchte, würde sie mit ihm in den Tierpark gehen. Das ist ja wie im Märchen, dachte Gert. Er war nahe daran, zu sagen, dass er sich lieber nichts wünschte, weil der Zustand, sich alles wünschen zu können, so schön ist. "Gehen wir zum Ostbahnhof?" "Zum Ostbahnhof?" "Ja, zum Ostbahnhof." "Na gut, wenn du zum Ostbahnhof gehen willst, gehen wir zum Ostbahnhof."

Durch die Kastanienbäume sah man die Fassade des Bahnhofs. Gert drückte die Hand seiner Mutter. Die Fassade wurde größer und größer. Aus den dunklen Öffnungen gingen Leute heraus und hinein. Dann erkannte man die Kioske mit Büchern, Zeitungen, Zigarren, Zigaretten, Feuerzeugen, Brötchen, Getränken, Schokoladen, Pralinen, Keksen und Bonbons. Nach den Kiosken kamen die Schalter für die Fahrkarten. Überall waren Rauch und Lärm. Das ist schon was, dachte sich Gert. Er löste sich von seiner Mutter und ging langsam auf das Absperrgitter zu. -

Da waren sie, die Geleise! Festgeschraubt auf Schwellen. Dazwischen Steine. Gert versuchte, es sich am Gitter bequem zu machen. Er stellte sich auf die Querstange, steckte die Knie zwischen die Stäbe und legte das Kinn auf den Handlauf. Ein Zug näherte sich. Gert sah auf die Lokomotive. Viereckig, grau, unbesiegbar. Das war es, was er sehen wollte. Er wollte sehen, wie sich eine Maschine bewegt, die überall hinkommen konnte. Er spürte, dass die Leute, die Lokomotive, die Waggons, dass Ankommen und das Abfahren, die Schienen, die Leitungsmasten und die Signale ein zusammengehöriges Ganzes bildeten. Offenbar gehörte auch der Himmel dazu, denn durch die Spalten der Bahnsteigdächer waren blaue Stellen zu sehen.

Seine Mutter hatte sich auf eine Bank gesetzt. Sie ließ ihn gewähren. Nach einiger Zeit sah er sich nach ihr um. Ah ja, da sitzt sie, dachte er. Er stieg vom Gitter und lief zu ihr. Sie hatte ihr weißes, mit schwarzen Blumen bedrucktes Chiffonkleid an. Sie drückte seinen Kopf in ihren Schoß. Er spürte, wie sie atmete. "War es schön, mein Kleiner?" fragte sie. Er nickte mit dem Kopf. Dann war es Zeit zum Gehen. Laurentia stand auf, zog ihr Kleid nach unten und streckte ihm die Hand entgegen. -

 

Gert hatte sich mit dem Sohn des Malermeisters Seidl angefreundet. Gerne sahen das Herr und Frau Seidl allerdings nicht. Dieser Trebetsch war nicht der richtige Umgang für ihren Sohn. Aber weil es nun schon mal so war, hatten sie auch nichts mehr dagegen. Gert und Michael hatten bereits den ganzen Nachmittag im Hof gespielt. Jetzt hatte Michael vom Fenster aus ein Zeichen erhalten, dass er nach oben kommen solle.

Als Gert auf die Straße kam, stockte er. Was war los? Die ganze Straße war voller Leute. Am meisten wunderte er sich, dass auch seine Mutter unter den Leuten war. Das tut sie doch sonst nie! Alle starrten auf die Bäckerei der Ströttles. Die Bäckerei befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite direkt neben dem Haus der Trebetschs. Es war nichts zu sehen. "Ja", hörte Gert sagen, "es ist einfach nicht zu glauben." Was war da nicht zu glauben? "Zuerst hat er seine vier Kinder erschossen, dann seine Frau und dann sich selbst." Aber das kann doch nicht wahr sein, dachte sich nun auch Gert. Ein Mann, der eine eigene Bäckerei, eine Frau und vier Kinder besitzt, bringt sich doch nicht um? Aber es war so. "Die Kinder!" hörte Gert sagen. "Mein Gott, ja, die Kinder! Was können die schon dafür!" "Warum muss der Kerl auch einen Revolver in seiner Wohnung haben!" "Des Glücks voll, des Teufels toll." "Der hätte mal lieber bessere Brötchen backen sollen." -

Gert versuchte sich vorzustellen, was hinter diesen Fenstern vor sich gegangen sein mag. Hatte er seine Kinder vorher noch gewarnt? Hatte er lüstern jedem Kind und seiner Frau die Pistole an die Stirn gesetzt und dann abgedrückt? Aber warum haben sie sich nicht gewehrt? Oder hat er einfach blindlings drauflosgeschossen und erst wieder aufgehört, als sich nichts mehr rührte? Laurentia hatte Gert entdeckt. Sie ging auf ihn zu, nahm ihn an der Hand und führte ihn über die Straße. "Das ist nichts für dich", sagte sie. "Um so etwas zu verstehen, muss du noch ein bisschen älter sein." -

 

"Ich muss jetzt zu Frau Merkheimer", sagte eines Abends Laurentia. Frau Merkheimer war die Vermieterin. Nach ein paar Minuten kam sie wieder zurück. "Wir müssen raus. Habt ihr das gehört? Wieder raus! Mein Gott, hört das denn nie auf?" Frau Merkheimer hatte Laurentia gekündigt. - Laurentia setzte sich auf den Bettrand und ließ den Kopf hängen. Lieber Herr Jesus, betete Gert, lass sie jetzt nur nicht weinen.

Am nächsten Tag ging zunächst das Leben wie gewohnt weiter. Laurentia brachte Gert und Naukel in den Kindergarten. Dann fuhr sie mit der Straßenbahn in ihre Zigarrenfabrik, wickelte dort eintausendzweihundert Virginias - was weit über dem Durchschnitt lag - und holte am Abend die Kinder wieder ab. Frau Panzer, eine alleinstehende Frau, hatte ihren Sohn ebenfalls im Kindergarten. "Der Bürschi und der Gert mögen sich", sagte sie zu Laurentia. "Ja, sie sind den ganzen Tag beisammen." "Wohnen Sie weit weg?" "Nein, das nicht, aber ich muss da raus. Die Frau dort hat mir gekündigt." "Und wo gehen Sie dann hin?" "Das weiß ich noch nicht." "Wenn Sie überhaupt nichts finden, können sie gerne für ein paar Tage bei mir übernachten." "So? Meinen Sie das ernst?" "Ja, natürlich." "Da danke ich Ihnen aber sehr." Frau Panzer bot Laurentia an, so lange mit den Kindern bei ihr übernachten zu dürfen, bis sie eine neue Wohnung gefunden hat. "Sie brauchen mir nur fünf Mark für die Woche zu zahlen, damit ist alles abgegolten." Fünf Mark pro Woche, dass konnte Laurentia gerade noch bezahlen.

 

Der Erste kam. Das Hab und Gut der Trebetschs hatte in zwei Persilkartons Platz. Laurentia legte die Schlüssel auf die Anrichte. Zum letzten Mal zwängten sich die Trebetschs aus dem Zimmer. Frau Panzer wohnte in der Kellerstraße. Laurentia läutete. "Da seid ihr ja! Nur hereinspaziert. Viel ist es nicht, was ich euch bieten kann. Aber ihr habt wenigstens ein Dach über dem Kopf." Die Wohnung von Frau Panzer bestand aus einem kleinen Vorraum, einer Küche und einem Schlafzimmer. Gert wunderte sich, dass das Schlafzimmer größer als die Küche war. Laurentia bekam die Couch in der Küche als Schlafstelle und Gert und Naukel ein Kinderbett im Schlafzimmer. In einem zweiten Kinderbett schlief Bürschi. Frau Panzer schlief im Ehebett. "Ich möchte nicht", sagte sie zu Laurentia“, dass der Platz von meinem Mann belegt wird. Vielleicht kommt er wieder zurück, und dann ist sein Bett schon fertig." Gleich am nächsten Tag nach der Arbeit machte sich Laurentia auf die Suche nach einer neuen Wohnung.

 

Gert und Naukel wurden jeden Tag von Laurentia ins Josifiheim gebracht. Naukel war eine Puppe. Sie hatte glänzendes, schwarzes Haar und einen Pagenkopf. Ihre Wangen, ihre Augen, ihr Mund und ihr Gesicht waren kugelrund. Die halblangen, von Marmelade und abgewischtem Rotz strotzenden Ärmel und den abstehenden Kleidersaum ihres Rotweiß karierten Kleidchens hatte Laurentia mit einem weißen Ripsband versehen. "Dann hält das Ganze länger", sagte sie.

Im Josefiheim musste man als erstes die Schuhe aus- und Pantoffeln anziehen. Die Pantoffeln lagen ineinandergesteckt auf einem Haufen. Sie hatten alle Übergröße. Das war ein Trick von Schwester Kunigunde. Man konnte sich damit nämlich nur noch schlürfend bewegen. Wer sich zu einer spontanen Bewegung hinreißen ließ, der stolperte. Im Aufenthaltsraum standen in Reih und Glied Tische und Bänke. Gleich neben dem Vorraum war eine Bühne. An der Wand zum Essraum waren die Regale mit den Spielen und eine Tischkegelbahn. Alles war gekehrt, geputzt und gebohnert. Selbst auf der Straße konnte man den Geruch des Bohnerwachses noch riechen. Im ganzen Heim musste ständig Ruhe sein und Ordnung herrschen. Jedes Geschrei und jeder fliegende Gegenstand waren ein Akt teuflischer Mächte. Die Pantoffeln waren natürlich die beliebtesten fliegenden Gegenstände. Die Gegenmaßnahme der Schwestern bestand darin, dass sie energisch den Zeigefinger an den Mund legten. In schwereren Fällen musste sich der Täter in die Ecke stellen, und in Fällen, die unter keinen Umständen geduldet werden konnten, gab es eine Ohrfeige.

Einige Jungen waren auf der Toilette und pinkelten. Plötzlich drehte sich Bürschi um und zeigte den anderen sein Zipfelchen. Er wollte bewundert werden. Die anderen waren aber nicht bereit, Bürschi wegen dem, was schließlich auch sie hatten, zu bewundern. Sie zeigten Bürschi, dass auch sie vorne etwas Herunterhängendes hatten. Gert zögerte. Er wollte da nicht mitmachen. Er zog die Hose nach oben und lief weg.

Nach ein paar Tagen sah er am Nachmittag Schwester Agnes auf ihn zukommen. "du, ja du", sagte sie, "komm doch mal her." Sie packte ihn, führte ihn über den Hof und zog ihn über mehrere Treppen und einen spiegelblanken Gang vor eine große, weiße Tür. Schwester Agnes drückte die Klinke. Er war in einem großen Zimmer. In der Mitte stand ein Schreibtisch und dahinter saß die Schwester Oberin. Neben ihr standen Schwester Hilaria und Schwester Kunigunde und neben den Schwestern war eine ganze Front von Eltern mit ihren Kindern.

Alles schwieg. Die Schwester Oberin fragte laut und deutlich: "Ist es der?" "Ja, der ist es!" riefen alle wie aus einem Mund. Gert wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Aber nach einigem Hin- und Her reden und Gesten, die einmal den lieben Gott, ein andermal den Teufel beschworen, begriff er, dass es sich um das Herzeigen des Zipfelchens im Klo handelte. "Aha", sagte die Frau Oberin, "du bist also der Anstifter. Das ist keine gute Erziehung. Wir werden beratschlagen, ob wir dich überhaupt noch hier behalten können." Aber das war doch der Bürschi, der das Zipfelchen hergezeigt hatte, dachte Gert, brachte jedoch kein Wort heraus. Bürschi stand bei seiner Mutter und klammerte sich fest an ihren Rock. "du kannst jetzt gehen", sagte die Schwester Oberin zu Gert. Schwester Agnes nahm ihn am Arm und führte ihn wieder in den Hof. -

Am Abend hörte er ein Gespräch zwischen Frau Panzer und seiner Mutter. "Es tut mir leid", sagte Frau Panzer, "aber so geht es nicht mehr. Sie müssen sich eine andere Übernachtungsgelegenheit suchen. Ich möchte nicht, dass mein Bürschi noch länger mit so jemandem beisammen ist." Laurentia war gewohnt, alles so hinzunehmen, wie es auf sie zukam. Sie hatte sich schon gedacht, dass sie vielleicht längere Zeit bei Frau Panzer wohnen könne.

 

Was werden jetzt Schwester Agnes, Schwester Hilaria und Schwester Kunigunde von ihm denken? fragte sich Gert. Sind sie jetzt seine Feinde? Gelegenheiten, ihn zu bestrafen, hätte es genügend gegeben. Aber die Schwestern bestraften ihn nicht. Gert hatte das Gefühl, als ob sie ihn seit dieser Geschichte mit dem Zipfelchen sogar mit besonderer Zuvorkommenheit behandelten.

Jetzt wurde Gert übermütig. Er erklärte die Schwestern kurzerhand zu seinen Geliebten. Ein richtiger Mann, so sagte er sich, darf ruhig mehrere Geliebte haben. Von nun an hatte er alle Hände voll zu tun, um mit den auf ihn einstürzenden Impressionen fertig zu werden. Gert drohte der Verstand zu schwinden, wenn sich eine der drei Schwestern ihm näherte oder an ihm vorüberging. Er schloss dann die Augen und versuchte, den Windstoß auf seinem Gesicht zu spüren, den ihr aus tausend Falten bestehendes schwarzes Ordenskleid dabei erzeugte. Das Geräusch, das die an den Gürteln der Schwestern befestigten Rosenkränze und Kruzifixe beim Aneinanderschlagen erzeugten, war für Gert Musik, die direkt aus dem Himmel kam.

Eines Tages kam Laurentia von der Arbeit nach Hause und strahle über das ganze Gesicht. "Ich habe heute etwas bekommen", sagte sie. "Das ist aber leider nichts für euch. Wenn es gegangen wäre, hätte ich euch mitgenommen, aber es geht nicht." Gert und Naukel waren gespannt, was ihre Mutter heute bekommen hatte. "Ich habe von der 'Kraft durch Freude' eine Karte zum Besuch der Schlösser von Ludwig II. bekommen." "Nein, wirklich?" "Ja, müsst euch mit mir freuen." "Das machen wir", sagten Gert und Naukel. Mama wird ein Schloss besuchen, dass hatten sie verstanden.

Das einzige Problem war, dass Laurentia nicht wusste, wo sie in dieser Zeit ihre Kinder unterbringen konnte. Frau Panzer kam nicht mehr in Frage. Aber es gab auch sonst niemanden. Gert sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. "Aber Mama", sagte er, "du kannst ruhig gehen. Uns passiert schon nichts." Laurentia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte. "Nein, nein", sagte sie, "ich bin gerne bei euch. Diese Schlösser! Was sollen schon diese Schlösser!" -

Laurentia machte einen letzten Versuch. Sie ging ins Josefiheim und fragte, ob ihre Kinder nicht vielleicht dort für zwei Tage sein könnten. "Einen Augenblick", sagte Schwester Kunigunde, "da muss ich erst die Schwester Oberin fragen." Nach ein paar Minuten kam sie wieder. "Ja, Frau Trebetsch, die Schwester Oberin hat erlaubt, dass ihre Kinder das kommende Wochenende hier bei uns bleiben dürfen." Laurentia richtete ein Dankgebet an den heiligen Bruder Konrad.

Samstag früh erschien sie mit Gert und Naukel im Josefiheim. Sie hatte es eilig. "Also, ihr dürft hier wohnen. Schwester Kunigunde weiß Bescheid. Ich komme am Sonntagabend wieder. Und ihr seid mir in der Zwischenzeit brav. Ich will nichts hören." Sie gab Gert und Naukel noch einen Kuss und verschwand zur Tür hinaus. -

"Hier, das habe ich für euch mitgebracht!" sagte Laurentia zu den Kindern, als sie wieder zurückgekommen war. Sie kramte in ihrer Tasche und holte zwei Ansichtskarten hervor. Auf der einen war Schloss Neuschwanstein zu sehen, die bekam Gert, auf der anderen Schloss Linderhof, die war für Naukel. "Na, gefällt es euch?" "Oh ja, das ist sehr schön", sagte Gert. -

 

Am nächsten Freitag kam Laurentia bereits nach dem Mittagessen ins Josefiheim, um ihre Kinder abzuholen. Sie machte ein trauriges Gesicht. "Was ist denn los?" fragte Gert. "Nichts", antwortete sie. Plötzlich, mitten auf dem Weg nach Hause, blieb sie stehen und sagte tonlos: "Gekündigt. Mir ist gekündigt worden." Zu Hause angekommen, teilte Laurentia Frau Panzer mit, dass ihr gekündigt worden sei und dass sie jetzt auch tagsüber hin und wieder in der Wohnung sein werde. "Das geht nicht", sagte Frau Panzer. "Es tut mir leid, aber unter diesen Umständen muss auch ich Ihnen kündigen. Ich hätte es schon damals tun sollen, als Ihr Sohn die Geschichte mit dem Bürschi gehabt hatte. Sie können noch bis zum Ersten hier bleiben. Bis dahin müssen Sie sich aber eine andere Wohnung gesucht haben." Bis zum Ersten, das war noch eine Woche. Laurentia war verzweifelt. Sie fasste einen Entschluss. Ich gehe jetzt zur Polizei, sagte sie sich. -

 

"Heil Hitler." "Heil Hitler, was wollen Sie?" "Ich wollte etwas sagen." "Ja, was wollen sie denn sagen?" "Ich will sagen, dass ich nicht mehr weiter kann." "Sie können nicht mehr weiter?" "Ja, ich bin am Ende." Der Polizeibeamte glaubte, dass Laurentia eine Irre sei. "Aber, gute Frau, wo wollen Sie denn hin?" "Nirgends. Ich weiß nicht mehr, wo ich hingehen soll." "Aber, liebe Frau, das ist doch nicht so schlimm. Gehen Sie doch einfach nach Hause. Hier ist die Polizei. Wenn Sie keine Anzeige machen wollen, dann ist das hier für Sie nicht der richtige Ort." "Nein, ich will keine Anzeige machen." "Aber was wollen Sie denn dann?" "Ich bin arbeitslos. Ich bin alleinstehend. Ich habe zwei kleine Kinder und jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich wohnen soll, weil mir Frau Panzer gekündigt hat. Am Freitag muss ich raus." "Frau Panzer, ist das Ihre Vermieterin?" "Sie hat mich vorübergehend bei sich wohnen lassen. Aber jetzt geht es nicht mehr." "Aber irgendwo müssen Sie doch wohnen." "Ja, deswegen bin ich ja hier. Ich weiß nicht, wo ich wohnen soll und ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Wohnung haben." Der Polizeibeamte verzog das Gesicht und kratzte sich am Kopf. "Liebe Frau, eine Wohnung gibt es im Wohnungsamt und nicht hier." "Nein, die geben mir keine Wohnung, weil ich Ausländerin bin." "Was? Ausländerin sind Sie auch noch?" "Ja."

Der Polizeibeamte unterhielt sich mit seinem Kollegen. Laurentia hörte etwas von 'Dienstvorschriften' und 'Notfall'. Dann ging er wieder auf Laurentia zu und sagte: "Also hören Sie. Wir sind für Ihren Fall einfach nicht zuständig. Das ist doch so, Karl." Karl stand auf und fragte Laurentia: "Wie heißen Sie denn?" "Trebetsch, Laurentia Trebetsch." "Also wissen Sie, Frau Trebetsch, so alt sind Sie ja nun auch wieder nicht. Es dürfte Ihnen doch nicht allzu schwer fallen, sich irgendjemanden zu suchen, bei dem Sie wohnen können." "Wenn ich alleine wäre nicht, aber ich habe zwei kleine Kinder." "Ach so, dass hätte ich jetzt beinahe vergessen. - Aber Sepp, was ist denn da drüben los?" "Wo da drüben?" "Gleich da drüben. Da ist doch der Maler, na, wie heißt er doch jetzt gleich wieder, ausgezogen." "Die Rackls." "Ja, das wäre doch etwas für Frau Trebetsch. Die Bruchbude wird zwar sicher bald abgerissen, aber vielleicht geht es wenigstens für eine Übergangszeit." Der Beamte telefonierte ein paarmal. Dann sagte er zu Laurentia: "Frau Trebetsch, ich habe gerade mit dem Wohnungsamt telefoniert. Der zuständige Beamte hat mir mitgeteilt, dass Sie ab sofort in die von uns vorhin erwähnte Wohnung einziehen können. Auf Grund Ihrer Notlage ist er bereit, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen."

 

Die 'Bruchbude dort drüben', das war Milchstraße 21. Poli- zeiwachtmeister Sepp führte Laurentia über die Straße und ging mit ihr in den ersten Stock. Rechts wohnte Frau Irtzputz. Links klapperten die Türen und die Fenster. Die Wohnung stand offen. "Hier ist es", sagte Sepp. Um nicht an der Tür anzustoßen, musste er sich beim Betreten der Wohnung bücken. Sie bestand aus zwei kleinen Zimmern und einer Kammer. Ja, warum nicht, dachte sich Laurentia. "Ich möchte Ihnen noch einmal recht herzlich für Ihre Mühe danken. Wenn ich sie bekomme, dann nehme ich diese Wohnung", sagte Laurentia. "Das ist schon ausgemacht. Ich muss jetzt aber wieder gehen. Dienst ist Dienst. Heil Hitler." -

Laurentia sah sich in ihrem neuen Zuhause um. Das Wasser war kein Problem. Wasser gab es im Gang. Da sich Frau Irtzputz das Wasser in ihre Wohnung hatte legen lassen, hatten die Trebetschs den Brunnen im Gang ganz für sich alleine. Elektrizität gab es nicht. Einzige Lichtquelle war ein Gaslicht in der Küche. Aber wo ist das Klo? fragte sich Laurentia. Sie läutete bei Frau Irtzputz. Geräusche von Ketten und Schlüsseln waren zu hören. "Guten Tag", sagte Laurentia. "Ich habe vom Wohnungsamt die Wohnung hier bekommen, aber ich finde kein Klosett. Können Sie mir sagen, wo es ist?" "Die Wohnungen haben kein Klosett", sagte Frau Irtzputz. "Da müssen Sie in den Hof gehen. Ich hoffe, dass Sie es sauber halten." Die Türe schloss sich wieder. "Im Hof" repetierte Laurentia. Und wo ist der Hof? Links war eine Häuserlücke und am Ende der Lücke war ein kleines Häuschen. Das war es. -

Am anderen Tag ging Laurentia ins Wohlfahrtsamt und fragte nach ihrem Hausrat. Wie durch ein Wunder war der Spiegel unverletzt geblieben. Laurentia bekam noch einen Küchenschrank, eine Couch, einen Tisch und zwei Stühle.

Laurentia wollte die Wohnung noch ein bisschen herrichten, aber dazu hatte sie keine Zeit mehr. Am nächsten Tag kam eine Postkarte, in der sie aufgefordert wurde, sich am Montag früh um sieben Uhr bei der Firma Villiger als Zigarrenmacherin zu melden.

Der Wecker rasselte. Fünf Uhr früh. Für Laurentia war es Zeit aufzustehen. Gert hörte, wie sie ihre Notdurft in den Kübel verrichtete. Dann war ein kurzes Plätschern mit Wasser zu hören. Danach kam ein "Kruzifix! Kruzifix!" Laurentia stürzte ins Schlafzimmer, riss den Schrank auf und begann, in einem Haufen alter Strümpfe zu wühlen. Ihr Strumpf hatte eine Laufmasche. "Das Brot müsst ihr euch heute selber schneiden", rief sie, dann stürzte sie sich in die meist noch stockdunkle Nacht auf die Straße.

Von der Wohnung der Trebetschs aus konnte man hören, wenn die Schulglocke läutete. In vier, fünf Sätzen war Gert über der Straße, in weiteren drei durch den Eingang, in noch ein paar Sätzen auf der Treppe und dann im Klassenzimmer.

Plötzlich war es mäuschenstill. Lehrer Nickel hatte die Tür aufgerissen und stürzte aufs Pult. Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Nickel setzte einen Fuß auf das Pult und blieb mit gesenktem Kopf eine ganze Weile so stehen. Der Klasse gruselte vor diesem Augenblick. Dann zog er das zweite Bein nach und wandte sich ruckartig der Klasse zu. Wer es jetzt wagte, auch nur den leisesten Ton von sich zu geben, der war an diesem Tag sein Todfeind. "Setzen!" Die Klasse setzte sich. Man war erleichtert. -

Zuerst begann Nickel mit dem Kopfrechnen. Es war nicht schwer und für Gert war es selbstverständlich, am Ende immer die richtige Zahl zu haben. Danach musste Marktaler zehn größere Multiplikationen und Divisionen an die Tafel schreiben und es begann das schriftliche Rechnen. Dann läutete die Pausenglocke.

Nach der Pause waren Schönschreiben und Geschichte. "Knößl!" Die Knößl sprang aus der Bank. "Herkommen!" Lehrer Nickel gab ihr einen Zettel. "Schreiben!" Die Knößl war die beste Schönschreiberin der Klasse und schrieb den Text an die Tafel. 'Alarich I., 370-410 n.Chr.' Das war die Überschrift. 'Alarich I. war der erste König der Westgoten. Bereits damals zeigte sich die Kraft der germanischen Rasse. Er eroberte Rom. Als er sein Reich vergrößern wollte, starb er plötzlich. Seine Schätze und seine sterblichen Überreste wurden im Busento vergraben.' "Abschreiben!" befahl Nickel.

Gerts Vorliebe galt den Überschriften. Als die anderen mit dem Abschreiben fast schon fertig waren, bastelte Gert immer noch an 'Alarich I.' herum. Damit alles genau in die Mitte kam, schrieb er die Überschrift zuerst mit Bleistift. Dann begann er, die Buchstaben nachzuzeichnen und mit schwarzer Tusche auszufüllen. Zu guter Letzt wurde alles mit blauer Farbe schraffiert. Nickel stand vom Pult auf und ging durch die Reihen. "Ala-arich"! sagte Nickel, als er bei Gert stand. Gert wusste nicht, was er damit meinte. Nickel sagte noch einmal: "Ala-arich!" Merkwürdig, dachte sich Gert, wie Nickel jetzt plötzlich Alarich ausspricht. "Ala, Ala, Ala" fauchte Nickel. Gert starrte auf sein Heft. Mein Gott, ja! Er hatte das zweite a von Alarich vergessen. Gert schämte sich. Er nahm seine dünnste Feder und drechselte zwischen das 'l ' und das 'r' das fehlende 'a ' hinein. -

Dann sprang Nickel von seinem Stuhl auf und eilte zum Klavier. Herrje, dachten alle, jetzt geht es damit los! "Altenhauser!" Altenhauser war der Bedauernswerteste der Klasse. Er war der Erste im Alphabet. Wenn Nickel abfragen, vorturnen oder vorsingen ließ, ging er immer nach dem Alphabet vor. "So", sagte Nickel, "Ich brauche jetzt von jedem eine Note in Musik." Nickel spielte das 'Hänschen klein'. Altenhauser begann zu singen: "Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein ...". Die Klasse kicherte. "Ruhe! - Weiter!" "Stock und Hut stand ihm gut, war ihm wohlgemut." "Gut. - Besenreiter!" Jetzt kicherten alle schon nach dem ‚Hänschen klein‘. "Ruhe! Verdammt noch mal! Ich werde euch schon noch das Singen beibringen! - Weiter!" Die Besenreiter hatte bereits Tränen in den Augen. Mit Mühe und Not sang sie zu Ende. "Buchwieser!" Jetzt wurde bereits gekichert, noch ehe Buchwieser einen Ton gesungen hatte. Nickel schlug mit den Fäusten auf die Tasten und sprang auf. "Ihr Kerle! Ihr Krawaten!" Sein Gesicht lief rot an. Er drohte zu platzen. Jetzt hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Nickel setzte sich und fing wieder zu spielen an. -

 

Der wichtigste Tag der Woche war für die Trebetschs der Freitag. Am Freitag war Zahltag. Dieser Tag hatte sein eigenes Zeremoniell. Gert und Naukel stürzten zur Tür. "Hallo! Hallo!" "Mami!" "Na, ihr beiden!" Gert und Naukel waren voller Erwartung. Laurentia strahlte. Gert schob die dunkelgrüne Samttischdecke beiseite und Laurentia lud ihre Sachen ab. Naukel entdeckte sofort, dass oben auf dem Einkaufsnetz etwas Besonderes war. Hastig wurde das Papier entfernt. "Mein Gott, das ist ja eine Torte!" "Für jeden ein Stück!" sagte Laurentia. Die Torte bestand zwar nur aus zwei trockenen Biskuitscheiben, zwischen die eine dünne Schicht rot gefärbter und mit Saccharin gesüßter Margarinecreme gestrichen war, aber den Trebetschs schmeckte es.

 

Heute musste alles schneller geschehen als sonst. Mama wollte fortgehen. Sie setzte eine Schüssel Wasser auf den Herd, zog sich aus und machte ein Schnellbad. Dazu wurde ein Zipfel des Handtuchs ins Wasser gesteckt, damit alle Körperteile einmal kurz angefeuchtet und dann mit dem anderen Teil des Handtuchs wieder abgetrocknet. Der Hosengummi war ausgeleiert. "Immer diese Gummis", rief sie. Sie holte eine andere Hose. Die hatte Löcher. Mit einem gezischten "Kruzifix! Kruzifix!" riss sie den Gummi heraus. "Den Gummi in die Hose!" befahl sie Gert. Er zog mit einer Sicherheitsnadel den Gummi ein. Inzwischen hatte Laurentia den Büstenhalter angezogen. Sie ging auf Gert zu, drehte sich um und sagte: "Einen Haken enger!" Gert schob seine Finger zwischen den Büstenhalter und Laurentias Rücken, löste den Haken und versuchte, ihn in der nächsten Öse einzuhängen. "Autsch! Nicht so grob." "Da ist die Hose."

Jetzt kam der Strapsgürtel an die Reihe. Ging Laurentia in die Arbeit, genügten ihr zwei Strumpfhalter für jeden Strumpf. Beim Fortgehen mussten es aber drei sein. Zwei der zum Halten der Strümpfe an den Strapsen angebrachten Gummipfropfen waren abgerissen. "Pfennige!" rief Laurentia. Gert durchwühlte seine Taschen. "Da", sagte er und gab ihr zwei Pfennige. Sie drückte die Pfennige samt Strumpf in die Halterung. Nun zog sie sich den Unterrock über den Kopf. "Schau doch mal, ob die Träger stimmen!" Gert holte den Hocker und entwirrte die Träger. Dann kam das schwarze Samtkleid. Gert musste ihr sagen, ob der Unterrock noch vorsteht oder nicht. Stand er noch hervor, musste er die Träger mit Sicherheitsnadeln verkürzen. "So. Jetzt steht nichts mehr raus", sagte er. "Aber rechts sieht man noch den Straps durch das Kleid und die Blume fällt schon fast runter." Laurentia drehte das Strapsband nach innen und befestigte mit ein paar Stichen die rote Blume.

Mama war eine hübsche Frau. Sie hatte dunkles, langgewelltes, fast schwarzes Haar, dunkle Augen und eine schlanke, dennoch aber weiche Figur. Das 'Fortgehen' war für sie der Höhepunkt ihres Lebens. Dadurch, dass sie jetzt eine eigene Wohnung hatte, war es für sie auch kein Problem mehr, wo sie mit der von ihr im 'Orlando di Lasso' oder sonst wo gemachten Bekanntschaft den Rest der Nacht verbringen konnte. Gert hatte für diese Bekanntschaften nicht viel übrig. Aber was sollte er tun? Seine Mutter zur Keuschheit überreden? Einmal fragte Laurentia Gert, ob er darüber traurig sei, wenn sie hin und wieder mit Männern in die Wohnung kommt. "Nein, nein", sagte Gert. "Ich finde es nur blöde, wenn du wieder ein Kind bekommst, wo wir doch zu dritt schon immer Hunger haben." "Nein, darüber brauchst du dir wirklich keine Gedanken zu machen", entgegnete sie. "Das mache ich schon so, dass nichts passiert. Weiß du, bei den Männern ist das ganz einfach. Die wollen alle nur ein bisschen herumtappen. Aber für immer kommt mir da keiner mehr in die Wohnung."

Anni kam. "du bist ja schon wieder nicht fertig", sagte sie zur Begrüßung. - Um Anni zu besänftigen, forderte Laurentia Gert auf, in der 'Siegesgöttin' eine Radler zu holen. Mittlerweile war Laurentia beim Schminken angelangt. Nun stand der Aufbruch unmittelbar bevor. Noch ein paar Tupfer Puder ins Gesicht, noch einmal Lippen und Augenbrauen nachgezogen und es war soweit.

 

"Wenn jemand arm ist, dann hilft es ihm auch nicht viel, wenn er betet", sagte Laurentia. "Der Papst soll erst einmal ein paar Kinder aufziehen, dann kann er mit mir reden." Aber so unreligiös, wie sich Laurentias Aussprüche anhörten, war sie nicht. - Einmal klopfte es und ein gutangezogener Herr stand vor der Tür. Er redete von den vielen Schicksalsschlägen, denen der Mensch in seinem Leben ausgesetzt ist und dass es deshalb gut sei, wenn man dagegen etwas abgesichert wäre. Dann hob er seinen schwarzen Koffer auf den Tisch und öffnete ihn. Der ganze Tisch war voller Gebetbücher, Kerzen, Weihwassergefäße, Rosenkränze und kleiner und großer Kruzifixe. Laurentia nahm ein Kruzifix in die Hand und sagte: "Dieses will ich haben." Es war das größte, das der Mann in seinem Koffer hatte. Es bestand aus schwarzem Holz mit einem silberglänzenden Christus. Unter dem Gekreuzigten war eine Plakette, auf dem der hl. Bruder Konrad abgebildet war. Das Kruzifix kostete fünfundzwanzig Mark fünfzig und konnte in sechs Monatsraten zu je fünf Mark abbezahlt werden.

Gert hatte gehört, dass man als Ministrant monatlich bis zu drei Mark und sogar noch mehr verdienen konnte. Er wollte Ministrant werden. Er machte sich an die Grasmüller heran. "du machst ja jeden Tag für die Lehrer die Tür auf." "Ja, weil ich gleich neben der Tür sitze." "Dann ist es ja nicht so schlimm, wenn du heute mal beim Semmelmeier mich die Tür aufmachen lässt." "Kannst du machen", sagte sie.

Die Religionsstunde war zu Ende. Gert öffnete Semmelmeier die Tür. "Ach, Herr Kaplan, ich wollte Sie noch etwas fragen." "Ja, was gibt es?" "Ich wollte Sie fragen, ob Sie noch einen Ministranten brauchen?" "du willst Ministrant werden?" "Ja, ich will Ministrant werden." "Aha, aha. Aber so leicht ist das natürlich nicht. Da musst du schon auch ein wenig Latein lernen. Aber das wirst du schon schaffen. Ich sage es dem Eberl und der bringt dir dann das Ministrieren bei." Eberl war Oberministrant und fünf Klassen über Gert.

Gert suchte Eberl. Er zupfte ihn am Ärmel. "Höhö, was willst du denn da, Kleiner?" fragte Eberl. "Ich komme von Kaplan Semmelmeier und der hat gesagt, dass ich zu dir in den Ministrantenunterricht kommen kann." "du bist der Trebetsch?" "Ja." "Na gut, dann komm doch einfach am Samstag um drei in die Sakristei."

Gert war pünktlich um drei Uhr an der Sakristei. Nach zehn Minuten erschienen Karli und der Buchner Sepp. "Was? Ihr wollt auch Ministranten werden?" "Ja, der Eberl hat gesagt, dass wir heute um drei Uhr hier sein sollen." Bald kam dann auch der Eberl und es begann der Unterricht im Ministrieren.

Eberl zeigte Gert, Karli und dem Buchner Sepp, wie man sich niederkniet, wie man wieder aufsteht und wie man das Kreuzzeichen richtig macht. Er sagte ihnen, wo man hinzuschauen habe, wenn man die Altarstufen entlang geht, wie dabei der Kopf zu halten sei und dass bereits in der Sakristei und erst recht in der Kirche jedes Geblödel zu unterbleiben habe. Zum Abschluss der Übung drückte Eberl jedem der Kandidaten einen hektographierten Text in die Hand. "Das ist der Text, den ihr bis zum nächsten Mal auswendig lernen müsst. Er ist lateinisch. Ihr müsst einfach immer dann antworten, wenn der Pfarrer mit dem Ton nach unten geht." Der Text war nicht übersetzt. Gert lernte ihn nach Gehör. 'Ad Deum, qui laetificat juventutem meam' hieß für ihn: 'Ateumkwilätifikatjuwentutemmeam.' Am darauffolgenden Samstag wurde das Ministrieren bereits mit Text geübt. "So, dass geht schon ganz gut", sagte Eberl. "Am nächsten Samstag müsst ihr allerdings schon um zwei Uhr kommen. Wir üben dann noch einmal bis drei Uhr. Dann machen wir eine Generalprobe und um halb fünf kommt dann der Stadtpfarrer und nimmt die Ministrantenprüfung ab. Ihr müsst euch also gut anziehen." Gut anziehen! Das war leichter gesagt, als getan. Gert hatte nur das zum Anziehen, was er anhatte. -

 

Die Klasse wartete schon seit einiger Zeit auf Kaplan Semmelmeier. Aber er kam nicht. An seiner Stelle erschien der Offiziant. Er stellte sich vor die Klasse und las ein Rundschreiben vor: "Hiermit wird der Klasse mitgeteilt, dass Herr Kaplan Semmelmeier ab heute keinen Religionsunterricht mehr erteilt. Den Religionsunterricht übernimmt ab nächste Woche Herr Kaplan Rechberger." Der Offiziant verschwand wieder. "Na klar", sagte man, "den habe sie verpetzt." Und so war es auch. Einige Eltern waren mit dem, was Semmelmeier im Aufklärungsunterricht gesagt hatte, nicht einverstanden. "So kann man den Kindern das Ganze nun aber auch nicht sagen", meinten sie. Semmelmeier machte an der Tafel zwei Striche, von denen der eine eine Wölbung nach vorne, der andere eine Wölbung nach hinten hatte. "Der linke Strich hier ist, wie schon in der Bibel steht, der Mann und der rechte die Frau", sagte Semmelmeier. "Wenn nun Mann und Frau zusammenkommen, dann entsteht das, was Gott aus dem Staub der Erde und dann aus der Rippe des Mannes gemacht hat, nämlich ein neuer Mensch." Während er das sagte, zeichnete er an die beiden Wölbungen zwei aufeinander gerichtete Pfeile. Die Klasse kicherte. Man war verblüfft, wie abstrakt man das ausdrücken konnte, dass jeder als 'Die-tuns-miteinander' kannte.

 

Georg war der neue Freund Laurentias. Er war Vertreter für Kurzwaren und hatte für seine Vertreterbesuche sogar ein kleines Auto. Es bestand aus dunkelroter Pappe und die Räder waren kaum stärker, als die eines Fahrrads. -

Für Sonntag war ein Ausflug geplant. "Wohin fahren wir denn?" fragte Gert Georg. "Heute geht es in den Wald." Alles ging drunter und drüber. "Wo ist denn mein Kragen?" fragte Georg. "Jetzt sind die Pfennige schon wieder weg", stöhnte Laurentia.

Laurentia setzte sich neben Georg und Gert und Naukel wurden in den Kofferraum verfrachtet. "Wenn du die Balanstraße immer geradeaus fährst, kommen wir direkt in den Wald", belehrte Gert Georg. "Da! Siehst du! Da vorne!" Georg reckte den Hals nach oben. "Tatsächlich, Wald!" sagte Georg. Die Ausflugsgesellschaft war am Ziel ihrer Wünsche. "Wald!" riefen alle. Laurentia breitete die dunkelgrüne Samtdecke auf dem Boden aus. Ein paar Meter neben dem Picknickplatz war eine Kiesgrube. Es roch nach Moder. In der Grube waren aufgerissene Matratzen, verrostete Kinderwagen und leere Konservendosen.

Nun wollte aber jeder endlich hören, wie das Grammophon klang. "du darfst es aufziehen", sagte Georg zu Gert. "Hier ist der Schlüssel." Er steckte in einer Lederschlaufe und die Schallplatten waren im Deckel. Gert nahm eine Platte heraus: "Yes Sir, yes Sir. - Das ist ja Englisch!" "Ja, das ist Englisch", sagte Georg, "das Neueste." Gert nahm die Platte aus dem Umschlag und legte sie auf den Plattenteller. Die Platte schwankte auf und ab. Eine Frauenstimme sang: "Tata - tata - ta-ate - tata." Dann war plötzlich laut und deutlich ein "Yes Sir" zu hören. Eine Chor wiederholte: "Yes Sir!" Die Platte war zu Ende. "Lass sie doch noch einmal laufen", sagte Laurentia, "das ist so schön." Gert strich sich ein Margarinebrot. Er legte zwei Scheiben Tomaten darauf, streute kräftig Salz darüber und biss hinein. "Yes Sir! Yes Sir!" erklang es. Das Glück war perfekt.

Als sie wieder zu Hause waren, stiftete Georg eine Radlermaß. Gert stürzte zur Tür hinaus, sprang die Treppe nach unten und wollte gerade losrennen. Plötzlich stutzte er. Warum jetzt rennen? Es dämmerte bereits. An der 'Siegesgöttin' leuchtete die Brauereireklame. Auf den Straßenbahnschienen spiegelte sich die Straßenbeleuchtung. Gert hatte für die Radler einen Glaskrug mitgenommen. Das durch die weiße Limonade aufgehellte Bier sah wie Honig aus. Das könnten ebenso gut Flügel von Engeln sein, dachte Gert.

 

"Habt ihr Lust, morgen zu uns zu kommen?" fragte Gert seine Freunde. "Wir spielen dann 'Nicht-auf-den-Boden-kommen'." "Wir kommen", sagten Freddy, die Rindbergerbrüder, Albert, Kurt und Rosi. Alle liebten das von Gert erfundene Spiel. Es war ein einfaches Fang-mich-Spiel. Die einzige Regel war, dass dieses Fangen nur auf den Möbeln und nicht auf dem Boden geschehen durfte. Zuerst wurde ausgezählt, wer der 'du-bist-es' war. Dann stieg man entweder auf den Schrank, die Couch oder eine der Anrichten. Nach einem "Auf die Plätze. Fertig. Los" ging es los. Der 'Du-bist-es' stellte sich nun an eine von ihm ausgewählte Stelle und begann, dem, der vor ihm war, den Zimmerwänden entlang nachzujagen. Wer schneller als der andere war, durfte überholen. Hatte der 'du-bist-es' seinen Vordermann eingeholt, musste er ihm auf die Schultern klopfen und sagen: "du bist es". Nun musste dieser den anderen nachjagen. Wer aus Versehen den Boden berührte, war automatisch der 'du-bist-es'. Hatte man sich nach dem Auszählen auf die Anrichte neben der Wohnungstür gestellt, sprang man bei 'los' über den Gasherd auf den Ofen und weiter auf die andere Anrichte. Jetzt musste man seinen Fuß auf den Türgriff der Schlafzimmertür setzen und mit einem Schwung den Küchenschrank erreichen. Von dort ließ man sich dann auf die Couch fallen. Vom Bett aus erreichte man mit einem Sprung die Nähmaschine. Dann kam das schwierigste Stück. Da unter dem Gasometer kein Möbel stand, musste man sich daran festklammern und versuchen, mit dem Fuß den Griff der Wohnungstür zu erreichen. Mit einem Schwung landete man dann wieder auf der Anrichte. Nicht selten wurden drei oder mehr solcher Touren gedreht, bis es einen neuen 'du-bist-es' gab.

Aufgehört wurde erst dann, wenn entweder alle völlig erschöpft waren oder wenn es gegen sechs Uhr ging und jeden Augenblick Laurentia erscheinen konnte. Nach Atem ringend, schwitzend und lachend erzählte man sich am Schluss noch einmal die kniffligsten Situationen. "Bei deinem letzten Sprung hattest du großes Glück", sagte Erwin zu Freddy, "dass du nicht in den Kübel gefallen bist."

 

Als Klo diente den Trebetschs ein Kübel. Wenigstens dreimal in der Woche musste der Kübel geleert werden. Dieses Ausleeren war Gerts Aufgabe. Es war ein kleiner, weißer Emaillekübel, der mit einem Pappkarton zugedeckt wurde. Hatten die Gase, die sich im Kübel bildeten, den Deckel durchgefressen, musste Gert einen neuen besorgen. Der Kübel hatte keinen Henkel mehr. Er war ausgerissen und an seiner Stelle waren zwei Löcher. Da der Kübelrand abgebrochen war, war es unmöglich, es sich darauf bequem zu machen.

Es war ein wunderschöner Maiabend. Der Kübel war voll. Gert steckte sich den Hofschlüssel in die Tasche und zündete eine Kerze an. Dann packte er den Kübel und ging vorsichtig zur Tür hinaus. Mit dem Fuß tastete er nach dem Treppenanfang. Doch dann geschah es. Als er auf die erste Stufe treten wollte, streifte er mit dem Absatz die Kante und stolperte. Der Kübel, der Inhalt des Kübels und Gert flogen durch die Luft. Er bekam einen Schock. Meine Güte, durchschoss es ihn, dass wird Prügel geben! Und die Leute im Haus! In ein paar Sekunden werden sie es riechen! Er stellte die Kerze auf das Treppengeländer und fing an, die nach unten rinnende Soße mit dem Kübel aufzufangen. Frau Irtzputz riss als erste die Tür auf. "Jesus und Maria! Jesus und Maria!" rief sie und schon war die Tür wieder zu. Jetzt riss Frau Immel die Tür auf: "Zum Teufel! Zum Teufel! Ja, das ist ja unerhört. Man sollte sie alle hinter Schloss und Riegel bringen. Polizei! Polizei!" Dann schlug auch sie die Tür wieder zu. Jetzt erschien Laurentia. Ihr war sofort klar, was geschehen war. "Mein Gott, auch das noch", sagte sie. Merkwürdig, dachte Gert. Es gibt keine Ohrfeigen und kein Geschimpfe. Laurentia holte einen Packen Lumpen und fing an, damit die Treppe zu reinigen. -

 

Die Wörthschule ist schön, sagte sich Gert des Öfteren. Schade, dass der Herr Direktor die beiden Außenportale, die eine Ähnlichkeit mit dem Dresdner Zwinger hatten, immer geschlossen lässt. Es gab Tage, an denen Gert einfach deswegen früher zur Schule ging, weil er das Flair genießen wollte, dass dieses Portal ausstrahlte.

Heute war ein hektisches Hin und Her auf den Gängen. Die Stadt München hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben. Es sollte ein Loblied auf die Stadt gedichtet werden. Wie ein Lauffeuer hatte es sich herumgesprochen, dass der Herr Direktor persönlich einen Text und eine Melodie für diesen Wettbewerb geschrieben hatte. Diesen Wettbewerb kann nur einer gewinnen, dachte jeder, und das ist der Herr Direktor. Herr Gastager, so hieß der Direktor, wusste, dass er als Dichter und Komponist im Vergleich zu anderen Kollegen kaum eine Chance hatte, den Wettbewerb zu gewinnen. Da er aber auch ein Mann von Lebensfreude war, wollte er, dass sein Lied nicht ganz umsonst gemacht worden war und ordnete kurzerhand eine für alle Klassen verbindliche Feierstunde an. Einziger Programmpunkt der Feier war der Vortrag des Liedes von Herrn Direktor durch den Schulchor. Der Herr Direktor, so hieß es, würde den Chor persönlich am Flügel begleiten.

Der Turnsaal war festlich hergerichtet. Die Sänger waren alle in weißen Blusen oder Hemden und schwarzen oder dunkelblauen Röcken und Hosen. Vor dem Flügel waren in einem großen Bogen weiße, blaue und gelbe Blumen aufgestellt. Der Herr Direktor war mit einem Cutaway bekleidet und hatte bereits in der Mitte der ersten Reihe Platz genommen. Alle Klassen waren im Saal. Der Herr Direktor erhob sich. Sofort war alles mäuschenstill. Gastager hüstelte. Dann sagte er: "Lieber Herr Stadtrat Molcher, liebe Frau Schulrätin Birner, liebe Kollegen und Kolleginnen, liebe Schüler, Sie sollen wissen, dass ich mich gerne um Ihrer aller Wohl bemühe. Und dazu gehört auch, dass ich Ihnen jetzt nicht durch eine lange Rede die Qual eines langen Wartens aufbürde, sondern dass wir gleich zum Höhepunkt dieser Feier kommen. - Sie hören jetzt ein Loblied auf die Stadt München mit dem Titel: 'Die schöne Münchner Stadt'. Die Einstudierung des Chores, der uns jetzt von mir begleitet dieses Lied vorträgt, hat dankenswerterweise Herr Kollege Brenner übernommen. Der Text des Liedes und die Komposition stammen von meiner kleinen Wenigkeit." Alles klatschte und Gastager verbeugte sich.

Dann drehte er sich um, trat über die Blumen auf das Podium und schritt zum Pianoforte. Mit zwei gekonnten Schlenzern beförderte er die beiden Zipfel des Cutaways nach hinten und setzte sich. Gastager suchte die Pedale. Endlich hatte er sie gefunden. Er saß zusammengekauert und seinen Kopf auf die Brust gesenkt vor dem Instrument. Plötzlich schnellte er hoch, spreizte die Finger und donnerte einen Akkord in den Saal. Nun wusste der Chor, welchen Ton er zu singen hatte. Dann begann er, begleitet vom Herrn Direktor, dass Lied zu singen: "An der Isar, an der Isar / liegt die schöne Münchner Stadt / wohl die ganze Welt, wohl die ganze Welt / Ihresgleichen nicht mehr hat. / Oh, mein München fein, / dich liebt Groß und Klein / in der Sommernacht, in des Winters Pracht. / Ja, es gibt nur eine Münchner Stadt, trallalala, / ja, es gibt nur eine Münchner Stadt, trallalala, / ja, es gibt nur eine Münchner Stadt, / drum sind wir stolz auf unser Heimatland falra, / auf unsre Münchner Stadt, / auf unser Vaterland, falra." -Das Lied hatte zehn Strophen. Am Ende gab es frenetischen Beifall. -

 

Laurentia hatte Gert versprochen, zu seiner Firmung mit ihm und Anni auf die Auer Dult zu gehen. "Weil du heute gefirmt worden bist, darfst du dir jetzt irgendetwas aussuchen, was dir gefällt", sagte Anni. Gert war überwältigt. "Ich darf mir aussuchen, was mir gefällt?" "Ja, schau nur, vielleicht findest du etwas." An den Trödlerständen gab es Gold- und Silberrahmen, Portraits von Bauern und Königen, Stühle, Tische, Uhren, Vogelkäfige. In Vitrinen konnte man falsche und echte Pretiosen bewundern. Anni kaufte Gert eine Tüte gebrannter Mandeln. "Aber das ist nicht das Geschenk?" fragte Gert ängstlich. "Natürlich nicht", antwortete sie. Dann kamen sie an die Bücherstände. Auf den Tischen lagen alte Bücher, Hefte, ganze Stöße von Postkarten, kolorierte und nicht kolorierte Kupferstiche. Gert sah ein Buch mit dem Titel 'Im Fluge durch die Welt'. Er schlug es auf. "Das ist ja unglaublich!" entfuhr es ihm. Er sah einen riesigen Baum, der in der Mitte ausgehöhlt war und durch den eine Kutsche fuhr. Das Buch kostete eine Mark achtzig. Anni zahlte und der Trödler händigte Gert das Buch aus.

Laurentia Sie glaubte nur das, was sie sah und was sie spürte. Eines wusste sie aber ganz genau: Jede Mark, die sie für ihre Kinder oder sich ausgab, die musste erst einmal verdient werden.