Vom Vierwaldstättersee an den Lac Léman - Ulrich Meyer - kostenlos E-Book

Vom Vierwaldstättersee an den Lac Léman E-Book

Ulrich Meyer

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Beschreibung

Prof. Dr. iur. Ulrich Meyer, Fürsprecher, wurde 1986 als Bundesrichter ans Eidgenössische Versicherungsgericht gewählt und gehörte dem Bundesgericht während fast 34 Jahren an. Zum Ende seiner Justizkarriere war er von 2013 bis 2016 dessen Vizepräsident und von 2017 bis 2020 dessen Präsident. Die letztere Funktion hatte er als erster Vertreter des Bundesgerichtsstandorts Luzern inne, was sich auch im Titel des Bandes widerspiegelt. Aus Anlass des 70. Geburtstags von Prof. Meyer sind im vorliegenden Band Beiträge von, mit und auch über ihn zusammengestellt, die nicht nur sein fortdauerndes wissenschaftliches Wirken dokumentieren, sondern auch vertiefte Einblicke in die richterliche Tätigkeit sowie die justizpolitischen Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts vermitteln. Es geht einerseits um grundlegende Tendenzen im Sozialversicherungsrecht, dem Stammgebiet des Geehrten, anderseits um die Auseinandersetzung mit den Funktionen der Justiz im modernen Rechtsstaat. Zudem finden sich persönlich gefärbte Betrachtungen über die langjährige Tätigkeit am obersten Gericht.

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Vom Vierwaldstättersee an den Lac Léman Copyright © by Ulrich Meyer is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.

© 2023 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)

Verlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Autor: Ulrich MeyerHerausgeber: Thomas GächterProduktion, Satz und Vertrieb: buch & netz (buchundnetz.com)ISBN:978-3-03805-608-9 (Print – Softcover)978-3-03805-609-6 (Print – Hardcover)978-3-03805-610-2 (PDF)978-3-03805-611-9 (ePub)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-609Version: 1.02 – 20240311

Dieses Werk ist als gedrucktes Buch sowie als E-Book (open access) in verschiedenen Formaten verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL:https://eizpublishing.ch/publikationen/vom-vierwaldstaettersee-an-den-lac-leman/.

1

Bundesrichter Ulrich Meyer portraitiert am 24. März 2015 im Bundesgericht Luzern (KEYSTONE/Gaetan Bally)

2

Editorische Anmerkungen

Mit wenigen Ausnahmen sind alle in diesem Band abgedruckten Beiträge bereits zu einem früheren Zeitpunkt in einem anderen Publikationsorgan erschienen.

Die Beiträge wurden inhaltlich nicht verändert oder aktualisiert. Lediglich in formeller Hinsicht wurden sie für die Bedürfnisse der vorliegenden Zweitpublikation angepasst.

Die genauere Beschreibung des Autors oder der Autoren, die sich häufig in der ersten Fussnote der Originalbeiträge befunden hat, wurde in diese Ausgabe nicht übernommen.

Die Originalfundstelle der einzelnen Beiträge findet sich im (aufsteigend chronologisch) geordneten Schriftenverzeichnis am Ende dieses Bandes. Zudem ist das Jahr des ersten Erscheinens in der Inhaltsübersicht in Klammern angegeben.

Soweit die Beiträge vom Geehrten allein verfasst worden sind, wird auf die besondere Nennung der Autorschaft verzichtet. Bei Beiträgen in Co-Autorschaft wird die jeweilige Co-Autorin/der jeweilige Co-Autor am Anfang des Beitrags sowie in der Inhaltsübersicht genannt.

3

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

Geleitwort (Thomas Gächter)

Gelehrt und wirkmächtig – eine Würdigung

Gelehrt und wirkmächtig – zum Amtsende von Bundesrichter Ulrich Meyer (2021, Martin Wirthlin)

Richterliche Tätigkeit

Grundvoraussetzungen richterlicher Tätigkeit (2019)

Die für die Entscheidung der Richterin und des Richters massgeblichen Elemente (2021)

Festvortrag zur Patentierungsfeier der bernischen Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen vom 1. Juli 2019 (2019)

Interview Bundesgerichtspräsident Prof. Dr. Ulrich Meyer (2019, Interview Boris Etter)

Entwicklung und Organisation der Bundesgerichtsbarkeit

Zur Rolle des Bundesgerichts für die Schweizer Rechtspflege (2022)

Vom Vierwaldstättersee an den Lac Léman – Wegmarken einer juristischen Reise (2018)

Das Projekt Justitia 4.0 (2020, mit Jacques Bühler)

Wir lassen niemanden im Regen stehen (2019, Interview Kathrin Alder)

Mit Moral hat das nichts zutun (2018, Interview Katharina Fontana)

Die Justizinitiative ist staatspolitisch verfehlt (2021)

Verfassungsgericht und «Richterstaat» (2022)

40 Bundesrichter sind 20 zu viel (2022)

Vorwort, in Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 3. Aufl., Zürich 2020 (2020)

Festvortrag 50 Jahre Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (2019)

Entwicklungen im Sozialversicherungsrecht

Entwicklung von Rechtsprechung und Verwaltungspraxis seit BGE 137 V 210. Zwischenbilanz nach zwei Jahren (2014)

Die Verbandsausgleichskassen als Durchführungsorgane der Sozialversicherungen (2015)

Tatfrage – Rechtsfrage (2015)

Auswirkungen der EGMR-Rechtsprechung auf das Recht der Sozialen Sicherheit (2016)

Am Beispiel der Rechtsprechung zur Invalidität (2017)

Nicht ohne Herz (2020, Interview Andres Eberhard)

Das System der IV ist hochgradig ungerecht, Streitgespräch mit Rechtsanwalt Rainer Deecke (2021, Gesprächsleitung Gjon David und Karl Kümin)

Abschied

Abschiedsrede vom 26. November 2021 am Bundesgericht in Lausanne (2021)

Brief an Prof. Dr. Dres. h.c Andreas Vosskuhle, verfasst zu seinem Abschied als Präsident des Bundesverfassungsgerichts (2020)

Schriftenverzeichnis

Schriftenverzeichnis von Prof. Dr. iur. Ulrich Meyer

I

Zum Geleit

Zum Geleit

Prof. Dr. iur. Ulrich Meyer, Fürsprecher, alt Bundesgerichtspräsident und Titularprofessor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, feiert am 28. Oktober 2023 seinen siebzigsten Geburtstag. Er darf auf eine reich erfüllte, wissenschaftlich wie praktisch ausserordentlich erfolgreiche Berufskarriere zurückblicken, von der mit dem vorliegenden Band einige Aspekte gewürdigt werden sollen.

Der 2013 in Zürich erschienene Sammelband «Ulrich Meyer, Ausgewählte Schriften», den ich aus Anlass des sechzigsten Geburtstags meines geschätzten Lehrers und Freundes herausgeben durfte, gibt einen Einblick in das reiche wissenschaftliche Schaffen des Geehrten, insbesondere zu Grund- und Spezialfragen des Sozialversicherungsrechts. In seinem siebten Lebensjahrzehnt hat er sich zwar weiterhin mit der Entwicklung des Sozialversicherungsrechts befasst, doch stand eine andere Aufgabe im Zentrum seines Wirkens: Er war zunächst während vier Jahren (2013–2016) Vizepräsident und sodann von 2017 bis 2020 Präsident des schweizerischen Bundesgerichts. In dieser Funktion, die er als erster Vertreter des «Standorts Luzern» innehatte, war er der oberste Repräsentant der schweizerischen Justiz. Von diesem Wechsel vom Vierwaldstättersee an den Lac Léman sowie einem Beitragstitel in diesem Band (wo freilich ein etwas anderer Zusammenhang hergestellt wird) ist denn auch die Überschrift dieser Sammlung inspiriert.

Wie alle Funktionen, die der Geehrte in seiner langen beruflichen Karriere wahrgenommen hat, erfüllte er auch diese höchste Tätigkeit mit vollstem Elan und grossem Gestaltungswillen. Im Zentrum dieses Bandes stehen deshalb ausgewählte Zeugnisse aus der Wirkungszeit als Vizepräsident und Präsident des schweizerischen Bundesgerichts. Naturgemäss handelt es sich dabei nicht nur um wissenschaftliche Abhandlungen, sondern häufig auch um mündliche oder schriftliche Stellungnahmen in Publikumsmedien und weiteren Kontexten, die in diesen Funktionen erforderlich sind. Die Beiträge widerspiegeln nicht nur das persönlichen Schaffen Ulrich Meyers, sondern sind auch Zeugnis eines wichtigen Jahrzehnts in der schweizerischen Justizgeschichte. Sie machen deutlich, dass auch die dritte Staatsgewalt laufend von verschiedensten Entwicklungen gefordert ist und unter einem hohen Anpassungsdruck steht – auf den die Politik, wie es der Geehrte wohl auch zusammenfassen würde, nicht in allen Fällen mit angemessenen Schritten reagiert.

Ulrich Meyer hat bereits vor seiner Wahl als Bundesrichter an das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern, die am 1. Oktober 1986 erfolgte, während knapp sechs Jahren die höchstrichterliche Rechtsprechung als Gerichtsschreiber am selben Gericht mitgeprägt; und er tat dies bis zu seinem altersbedingten Rücktritt per Ende 2020, als ausnehmend produktiver Bundesrichter. Mit seinen 34 Amtsjahren, in denen er während über zehn Jahren das mit Abstand amtsälteste Mitglied des Bundesgerichts war, ist er zugleich auch derjenige Bundesrichter, der seit der Gründung des Bundesgerichts vor bald 150 Jahren am längsten im Amt war. Es sind aber nicht diese biographischen Daten, sondern die bis am Schluss spürbare Freude an der richterlichen Tätigkeit und das herausragende Fachwissen, das sich in einer langen Reihe von Leiturteilen niederschlägt, die auf Jahrzehnte hinaus bleibende Spuren hinterlassen werden.

Der vorliegende Sammelband enthält nicht nur Publikationen von Ulrich Meyer, sondern auch solche über ihn. Zudem sind verschiedene Interviews aus Publikumsmedien enthalten, welche die Lebendigkeit und Offenheit illustrieren, die dem Amtsverständnis des Geehrten stets zu Grunde lagen.

Eingeleitet wird der Band mit einer Würdigung von Herrn Bundesrichter Martin Wirthlin, die aus Anlass des Amtsendes des Geehrten erschienen ist. Der Band schliesst mit eigenen Abschiedsworten von Ulrich Meyer – einerseits seinen ans Bundesgericht gerichteten Worten, anderseits mit einem persönlich gehaltenen Schreiben an den scheidenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dres. h.c. Andreas Vosskuhle – Worte, die sinngemäss auch in ihrem Absender einen würdigen Empfänger gehabt hätten. Den Hauptteil des Bandes bilden aber Beiträge zu Entwicklungen in der schweizerischen Rechtspflege sowie im Sozialversicherungsrecht.

Bei der Herausgabe dieser Sammlung durfte ich auf die Unterstützung verschiedener Personen zählen. Zunächst möchte ich allen Verlagen, Herausgebern und Publikumsmedien danken, die ihr Einverständnis zur erneuten Publikation der Beiträge erteilt und teilweise gar die Dateien zur Verfügung gestellt haben. Weiter gebührt meinen Mitarbeitern Janis Denzler und Léon Hunziker ein grosser Dank für ihre sorgfältigen Vorarbeiten für diesen Band, insbesondere für die elektronische Übertragung der Daten ins richtige Format. Schliesslich ist auch dem Verlag für die reibungslose und angenehme Zusammenarbeit zu danken.

Dem Geehrten wünsche ich ein gesundes, glückliches und produktives neues Lebensjahrzehnt und hoffe, dass ihm und allen Leserinnen und Lesern dieser Einblick in sein Schaffen der letzten zehn Jahre Freude bereitet.

Zürich, im Oktober 2023 Thomas Gächter

II

Gelehrt und wirkmächtig – eine Würdigung

Gelehrt und wirkmächtig – zum Amtsende von Bundesrichter Ulrich Meyer

Martin Wirthlin, Bundesrichter, Luzern 2021

Nachdem er während rund 34 Jahren als Bundesrichter, vier davon als Präsident des Schweizerischen Bundesgerichtes, amten konnte, scheidet Ulrich Meyer auf Ende 2020 aus diesem aus. Dabei entbehrt es nicht jeder Ironie, dass er zuletzt in den Bannstrahl der Kritik geraten war: Wegen einer verbalen Entgleisung im Zuge einer Administrativuntersuchung verstellte sich nicht nur der Blick auf das tadellose Wirken unzähliger Richterinnen und Richter in diesem Land, sondern genauso auf das eigene Lebenswerk des hier Gewürdigten. Denn unter dem Eindruck der Entrüstung droht vergessen zu gehen, dass Ulrich Meyer unbestreitbar Herausragendes geleistet hat. So war er nach seiner erstmaligen Wahl im vergleichsweise jugendlichen Alter über die Dekaden hin an Abertausenden von letztinstanzlichen Urteilen beteiligt, dies federführend oder mit Beiträgen von exemplarischer Konsistenz und gedanklicher Schärfe, stets genährt von umfassender Bildung, hohem analytischem Denkvermögen und stupender Gedächtnisleistung. Daneben darf Ulrich Meyer für sich beanspruchen, unzähligen jungen Juristinnen und Juristen das Handwerk der Urteilskunde in der Praxis nähergebracht und sie obendrein für den Beruf der Richterin oder des Gerichtsschreibers nachhaltig begeistert zu haben.

Grossen Stellenwert in seinem stets auch wissenschaftlichen Standards verpflichteten richterlichen Wirken hatte das Invalidenversicherungsrecht, ein Rechtsgebiet, für das sich viele Juristen kaum zu begeistern vermögen. Mit seiner Praxiserfahrung erlangte er hier, getrieben von einer geradezu leidenschaftlichen Hingabe, den Ruf des wohl berufensten Kenners der Materie überhaupt. Und gerade in diesem Bereich wird sein Einfluss auf die Rechtsprechung anhaltend nachwirken. Dazu gehört nebst manchem anderen eine zuweilen fast unerbittliche Strenge bei der Beurteilung nicht objektivierbarer Gesundheitsschäden und des diesfalls zumutbaren Leistungsvermögens – eine Strenge, mit der er sich nicht nur Freunde schuf, die sich aber rechtlich fest fundieren lässt und die er im Übrigen stets auch sich selbst abzuverlangen pflegte.

Die Liste seiner Publikationen bezeugt immense Schaffenskraft: Auch als die höchstgerichtliche Geschäftslast in seinem Fachbereich notorisch schwer auflag, vermochte Ulrich Meyer die Rechtswelt immer wieder mit seinen tiefgründigen Schriften zu bereichern. In seiner Paradedisziplin, dem Sozialversicherungsrecht, hat er es wie kaum ein anderer vor ihm verstanden, das hiesige Recht, unter Einschluss seiner prozeduralen Aspekte, nicht nur in der Breite, sondern vor allem in der Tiefe auszuloten und es in zeitgemässen dogmatischen Kategorien zu fassen. Als gleichsam personifizierte Synthese von Theorie und Praxis wurde er so zum gewiss einflussreichsten Wegbereiter einer schweizerischen Sozialversicherungsrechtslehre. Dabei lag ihm seit seiner Dissertation daran, das Recht der staatlichen Daseinsvorsorge auch in seinen verfassungs- und menschenrechtlichen Bezügen zu verorten und zu durchdringen. Im Gleichschritt mit der Verdichtung der Sozialstaatlichkeit trug er damit ganz wesentlich dazu bei, dass sich das Sozialversicherungsrecht hierzulande ab den Achtzigerjahren aus dem Schattendasein eines ausserhalb spezialisierter Kreise kaum wahrgenommenen «Nebenfachs» zu lösen vermochte. Daneben hat er sich besondere Verdienste im interdisziplinären Dialog an der Schnittstelle von Recht und Medizin erworben, dem er sich nie entzog und in dem er zwischen den Welten von Empirie und Normativität kundig zu vermitteln wusste. Bei all dem darf es nicht erstaunen, dass Ulrich Meyer als Professor und Rechtslehrer (Universität Zürich), aber auch an zahlreichen Fachtagungen als eloquenter und stets kompetenter Referent hoch geschätzt war. Und schliesslich sticht aus der Publikationsliste ein Titel besonders hervor, der auch fachübergreifend aufhorchen lässt: Mit seinem Rekurs auf Michael Kohlhaas im Rahmen einer Diplomfeierrede vom 18. März 2011 sprang ein Fünkchen aus dem Fundus grosser Belesenheit, die zumindest hinsichtlich der ihm als Kraftquell dienenden Werke Thomas Manns und Friedrich Dürrenmatts noch manchem Germanisten Respekt einflösste. Bezeichnend für seine Persönlichkeit endlich die im Text verbriefte Geste, den frischgebackenen Jungjuristen Kleists Kohlhaasnovelle zu übereignen, um sie so vor der im Berufsalltag allenorts lauernden Gefahr des Gerechtigkeitswahns zu bewahren. – Wenn nun Ulrich Meyer das Bundesgericht verlässt, endet eine Ära; sein Esprit wird in der Rechtsprechung ebenso fehlen wie seine Energie in der alltäglichen Triage zwischen Gerechtigkeitswahn und begründeter Erwartung an das Recht.

III

Richterliche Tätigkeit

Grundvoraussetzungen richterlicher Tätigkeit

Ansprache vom 18. Januar 2019 anlässlich der Inaugurationsfeier der zum 1. Januar 2019 geschaffenen Berufungsabteilung des Bundesstrafgerichts

Signora presidente del Consiglio nazionale Monsieur le Vice-Président de la Commission judiciaire de l’Assemblée fédérale Frau Vizepräsidentin des Bundesgerichts Monsieur le Juge fédéral et troisième membre de la Commission administrative du TF Signor presidente del Tribunale penale federale (TPF) Frau Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Herr Präsident des Bundespatentgerichts Signore et signori giudici delle tre corti penale, dei ricorsi e d’appello del TPF Signora segretaria generale del TPF Frau erste Gerichtsschreiberin des Bundespatentgerichts Herr Stellvertretender Bundesanwalt Signora presidente del Gran Consiglio del Cantone Ticino Signor presidente del Consiglio di Stato Signor consigliere di Stato Signor presidente del Tribunale d’appello Signor sindaco di Bellinzona Signor comandante della Polizia cantonale Sehr geehrte Damen Gerichtsschreiberinnen, Herren Gerichtsschreiber und Mitarbeiter aller Dienste des Bundesstrafgerichts Signore et Signori Mesdames et Messieurs Meine Damen und Herren

Prolog

I

Ich beginne mit einem Geständnis. Je vous fais une confession. Comincio con una confessione. Der Titel meines Vortrages, «Grundvoraussetzungen richterlicher Tätigkeit» – was auf Französisch «conditions préalables de l’activité judiciaire» und Italienisch «presupposti necessari dell’attività giudiziaria» heissen könnte –, hat mir Kritik gebracht. Frau Bundesrichterin Niquille hat eingewendet, dass das Wort ein Pleonasmus sei. Meine Vizepräsidentin hat recht. Der Duden kannte das Wort lange nicht. Es gab wohl «Grund» und eine Vielzahl von damit verbundenen Wörtern wie «Grundhaltung» oder «Grundkenntnis» – aber nicht «Grundvoraussetzung»[1]. Dennoch, in den amtlich publizierten Bundesgerichtsentscheiden[2] findet es sich achtzigmal und meint immer das Elementare, das von vornherein Vorausgesetzte, das absolut Erforderliche und Unverzichtbare, the basics, die vorhanden sein müssen, damit etwas möglich werde, gelinge, zustande komme, les conditions indispensables qui doivent être remplies pourque c¸a fonctionne, i requisiti necessari che devono sussistere affinché qualcosa abbia successo.

II

Grundvoraussetzungen richterlicher Tätigkeit finden sich zunächst ausserhalb der Gerichte. Ohne Wahl und ohne Wiederwahl – ohne diesen, wie mein früherer Kollege im Amt des Abteilungspräsidenten, Herr alt Bundesrichter Rudolf Ursprung so treffend formulierte, ohne diesen «demokratischen Adelsschlag» wird und bleibt man oder frau in der Schweiz nicht Richter oder Richterin. Was bedeutet er? Zu Beginn, dann alle sechs Jahre und für jede Einsetzung in präsidiale oder vizepräsidiale Funktion holt man oder frau sich beim Parlament die demokratische Legitimation, das Richteramt anzutreten oder weiterhin auszuüben, ein Ritterschlag, den ich seit 1986 zwölfmal empfing (mein Kopf ist ganz zerbeult). Hängt die schweizerische Gerichtsbarkeit somit am Rocksaum von Mutter Helvetia, der Vereinigten Bundesversammlung als der obersten Gewalt im Staate? Ist das Bundesgericht, sind die eidgenössischen Gerichte deswegen in der Rechtsprechung abhängig von der Politik? Mitnichten! Wir brauchen uns nicht vor ausländischen Modellen zu verstecken, selbst wenn der Groupe d’Etats contre la corruption (GRECO), eine Staatengruppe des Europarates, sie uns als Vorbilder hinstellt. Was die Leute von GRECO nicht begreifen – obwohl ich es ihnen doch anlässlich ihres Besuches vom 1. Juni 2016 am Bundesgericht erklärt hatte –, ist, dass Unabhängigkeit der Gerichte durch Respekt der ersten und zweiten Staatsgewalt vor der dritten nicht vom Buchstaben von Verfassung und Gesetz abhängt, sondern eine Frage rechtlicher Gesinnung ist in Kopf, Herz und Hand derjenigen, welche im Bundeshaus zu Bern die Geschicke des Landes bestimmen, und – ebenso wichtig – eine Frage des vorhandenen, fortwährenden Vertrauens der Bevölkerung in die Gerichte. Beides – Respekt vor den Gerichten und Vertrauen in die Gerichte – sind die kostbaren rechtsstaatlichen Güter, zu denen wir als Richter und Richterinnen des Bundes Sorge zu tragen haben wie zu nichts sonst.

III

Weitere äussere Grundvoraussetzung sind die Finanzen. Wir sind den eidgenössischen Räten und insbesondere den Damen und Herren in den Finanzkommissionen dankbar, dass sie Jahr für Jahr Verständnis zeigen für den Bedarf der vier Bundesgerichte und uns mit den nötigen Mitteln ausstatten, wie gerade jetzt im Zusammenhang mit der Schaffung der Berufungsabteilung des Bundesstrafgerichts. Das Parlament stellte eine Million Franken mehr in das Budget ein, als der Entwurf zum Voranschlag vorsah, und es änderte innert 16 Tagen[3] (!) die Stellenverordnung, so dass im März 2019 nun auch die dritte französischsprachige Stelle der Berufungsabteilung ihrer Aufgabe entsprechend besetzt werden kann. In meinen Dank einschliessen möchte ich den Finanzminister, unseren Bundespräsidenten, Herrn Bundesrat Ueli Maurer, der immer wieder Verständnis für die Belange der Justiz gezeigt hat. Dieses funktionierende Zusammenwirken der Staatsgewalten erscheint den MitbürgerInnen als courant normal, ja gelangt ihnen kaum richtig zur Kenntnis, weil es der Presse mangels Sensation keine Zeile wert ist. Das gerade macht unsere gelebte Verfassungswirklichkeit aus. Das ist Rechtsstaat schweizerischer Prägung, eine nicht dogmatische, nicht politische, schon gar nicht parteipolitische, sondern in allererster Linie rechtskulturelle, dem Recht verpflichtete Haltung, welche in Angelegenheiten der Justiz die Praxis der Verfassungsorgane, Bundesversammlung, Bundesrat und Bundesgericht prägt. Diese Dinge sind in unserem Lande in Ordnung. Die Schweiz ist auch in Bezug auf ihre funktionierenden Gerichte ein «kleines Paradies», wie Bundesrat Johann Schneider-Ammann in anderem Zusammenhang gesagt hat. Der Rechtsstaat funktioniert. Das ist schon in Europa keine Selbstverständlichkeit mehr und weltweit gesehen eine Seltenheit. Zwar, wir haben keine Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene – das Grab würde ich mir schaufeln als Bundesgerichtspräsident, schlüge ich dafür die Werbetrommel –; jedoch, es schauen bei uns bald Bundesgericht, bald Parlament, bald der Souverän, Volk und Stände, zum Recht(en), wie sich seit Anbeginn des Bundesstaates (1848) bis in die Gegenwart in unverbrüchlicher Treue zur Idee Willensnation Schweiz immer wieder gezeigt hat – zuletzt am 25. November 2018 – und auch in Zukunft zeigen wird: «Die Verfassung gehört allen.»[4]

Hauptstück

I

Nun, sehr geehrte Festgemeinde, wir Richterinnen und Richter haben uns vor allem mit uns selbst auseinanderzusetzen. «Freiheit eines Christenmenschen», um ein Wort Martin Luthers zu zitieren, ist auch bei Gerichtspersonen wesentlich innere Freiheit. Die Grundvoraussetzungen für gedeihliches Judizieren, für «Recht sprechen», liegen in uns. Und wenn das so ist – und es ist so –, dann haben wir eines, und nur eines, zu tun: tagtäglich unsere verfassungsmässige und gesetzliche Aufgabe zu erfüllen, Recht zu sprechen. Punkt. Nichts weiter. «Le juge est un juge, est un juge, est un juge.» Es gibt keine Abwechslung. Keine Einladungen. Keine Reisen. Somit auch keine Spesen. Man und frau ist nicht prominent als Richter, Richterin und darf es zwecks Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit auch nicht sein, weshalb Zurückhaltung zu üben ist mit öffentlichen Auftritten – und Bescheidenheit. Die «Weltwoche» hat mich neulich gefragt, ob ich nicht unglücklich sei darüber, dass man mich «als Bundesgerichtspräsidenten weniger gut» kenne «als irgendeinen Hinterbänkler im Parlament». Im Gegenteil, je weniger man über mich als Präsidenten spricht, umso besser für die Gerichtsbarkeit. RichterInnen, welche die erste Geige im Staate Schweiz spielen wollen, sind fehl am Platz. Anzustreben ist nicht die Bekanntheit von Gerichtspersonen, sondern nur und einzig, dass die Recht suchenden Bürgerinnen und Bürger das Gericht als funktionierende Institution wahrnehmen, der gegenüber ich meine persönlichen Interessen in jeder Lebenslage hintanzustellen habe. Denn nur der Fall, die Rechtssache sind unsere Domäne, das Dossier, die Verhandlung oder Beratung, Kontakte zu den KollegInnen, den GerichtsschreiberInnen und dem übrigen Personal. Das ist alles. Man kann uns bedauern ob des eintönigen Wesens, wie unsere Arbeit von aussen erscheinen mag. Dabei ist Richter, Richterin sein der schönste Beruf, den es gibt. Nur gilt es, dies stets aufs Neue zu entdecken. Diese Bewahrung der Liebe zum Beruf, unseres Berufsethos, gelingt nicht, wenn man oder frau nicht jeden Tag an sich selber arbeitet, sich seines (unbewussten) Vorverständnisses und der rechtlichen Grundvoraussetzung bewusst wird, dass ich als Bundesrichter mein Mandat nicht von einer politischen Partei, sondern, auf Vorschlag der Gerichtskommission, von der Vereinigten Bundesversammlung erhalte. «Ich bin zwar politisch gewählt, urteile aber nicht politisch», ist ein Axiom des schweizerischen Justizsystems, dessen Wahrhaftigkeit – véracité – veracità allein von uns Bundesrichtern und Bundesrichterinnen abhängt. Nebst Unabhängigkeit, Engagement und Passion, Fleiss und fachlich-juristischem Können ist schliesslich, in einem Kollegialgericht primordial, Sozialkompetenz gefragt: Wie gehe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um? Richter und Richterinnen sind von Berufs wegen da, unterschiedliche Auffassungen auszutragen. Ihre hohe Kunst besteht darin, dass dies in einer Weise geschehe, welche für das Gegenüber akzeptabel ist. Es geht – wieder zwei Begriffe, die sich nicht im Duden finden – um die aktive und passive Kritikfähigkeit. Argumentiere ich gegen den Referenten, tue ich das nicht rechthaberisch, sondern unter Wahrung seines Beurteilungsspielraumes und in vollendeter Form und Höflichkeit mit dem sanften Flügelschlag der Friedenstaube. Schlägt mir Kritik entgegen, stecke ich sie ein als Rhinozeros mit dicker Haut und breitem Rücken und rege mich darüber nicht auf, selbst wenn ich in die Minderheit versetzt werde und mir die Auffassung der Mehrheit als «grundfalsch», «grundübel», «grundverkehrt» erscheint. Glauben Sie mir, meine Damen und Herren, das fällt mir selber auch heute noch bisweilen schwer, nach exakt 31 Jahren, 11 Monaten und 18 Tagen bundesrichterlichen Wirkens.

II

So wende ich mich an Sie, signora presidente, signora vicepresidente e care colleghe e cari colleghi supplenti della Corte d’appello del TPF. Um Ihretwillen sind wir ja hier versammelt, um Ihnen Mut zuzusprechen für die Bewältigung Ihrer Aufgabe, deren Umfang noch im Nebel liegt. Wir befinden uns an der Türpforte zu einem Zimmer des Justizgebäudes, das noch niemand betreten hat. Wo, auf welcher Stufe sprechen Sie als Richter und Richterinnen der Berufungsabteilung des Bundesstrafgerichtes Recht? Sie alle kennen die Begriffe «Instanzenzug», «funktionelle Zuständigkeit» oder kurz «funktioneller Instanzenzug». Seit der Aufklärung, seit der Begründung des liberalen Rechtsstaates herrscht communis opinio, dass Rechtsprechung auf höchstens drei Stufen stattfinden soll. Im Zivil- und Strafrecht ist der Gedanke der doppelten gerichtlichen Tatsachen- und dreifachen gerichtlichen Rechtsprüfung aufgrund der Justizreformen der letzten Jahre voll verwirklicht, im öffentlichen Recht teilweise[5]. In den Kantonen sind es die Bezirks- und Ober- oder Kantonsgerichte, welche diese Aufgabe von Bundesrechts wegen erfüllen. Genau deswegen sind wir heute hier versammelt. Denn auf dem Gebiet der Bundesstrafgerichtsbarkeit war es bisher nicht so. Die Urteile des Bundesstrafgerichts, ausgesprochen auf Anklagen der Bundesanwaltschaft hin, Entscheidungen erster gerichtlicher Instanz somit, waren bis Ende 2018 direkt beim Bundesgericht anfechtbar, für welches der vorinstanzlich festgestellte Sachverhalt nach dem Bundesgerichtsgesetz (BGG) grundsätzlich verbindlich ist. Es fehlte die zweite gerichtliche Tatsachenüberprüfungsinstanz. Dem wollte Herr Ständerat Claude Janiak mit einer Motion dadurch abhelfen, dass er eine Ergänzung des BGG vorschlug, wonach das Bundesgericht Urteile des Bundesstrafgerichts hätte frei auf tatsächliche Richtigkeit überprüfen sollen. Alles, nur das nicht! Freie Tatsachenüberprüfung ist nun einmal nicht Sache des höchsten Gerichtes. Vielmehr ist das Bundesgericht dazu da, das Bundesrecht anzuwenden, die Einheitlichkeit der Rechtsordnung im Bundesstaat mit seinen 26 kantonalen Gerichtsbarkeiten sicherzustellen und für die Fortbildung des Rechts dort zu sorgen, wo der Gesetzgeber als Stratege seine Aufgabe nicht (ganz) erfüllt hat und auf das Gericht als Taktiker angewiesen ist, um die legislatorische Musik zum Klingen zu bringen. Bezüglich des individuellen Rechtsschutzes hingegen teilt sich das Bundesgericht in diese Aufgabe zusammen mit den Vorinstanzen, deren primäre Aufgabe gerade die Gewährung von Rechtsschutz im streitigen Einzelfall bildet. Es gibt Laien und JuristInnen, selbst solche von professoralen Würden, inner- und ausserhalb des Parlamentes, welche nicht verstehen können oder wollen, dass die Aufgabe, Rechtsschutz zu gewähren, in allererster Linie den kantonalen Gerichten und den eidgenössischen Vorinstanzen überantwortet ist. In der Strafgerichtsbarkeit des Bundes hatten die eidgenössischen Räte ein Einsehen: Statt dem Bundesgericht die nicht stufengerechte Aufgabe der freien Tatsachenprüfung hinsichtlich Urteilen des Bundesstrafgerichts zu überbinden, errichtete das Parlament die Berufungsabteilung.

III

A voi, onorevoli signora presidente, signora vicepresidente e gentili membri supplenti della Corte d’appello del Tribunale penale federale, a voi spetta il compito d’esaminare la correttezza dell’accertamento dei fatti (e ovviamente anche dell’applicazione del diritto) nell’ambito dei ricorsi inoltrati contro le sentenze della Corte penale. L’expérience nous montre que les litiges se dé­cident principalement sur la base de ce qui s’est passé ou qui ne s’est pré­ci­sé­ment pas passé. La tâche consistant à établir l’état de fait de manière com­plète et exacte et à l’examiner de fac¸on pertinente n’est à ce titre pas toujours appréciée à sa juste valeur. Für diese verfahrensentscheidende Aufgabe, den von der Strafabteilung festgestellten, dem Angeklagten zur Last oder nicht zur Last gelegten Sachverhalt, lege artis ebenso zu überprüfen wie gegebenenfalls die Strafzumessung, für das sind Sie da. Hierin besteht ihre raison d’être. Und zusätzlich fällt ihnen, Frau Präsidentin und Frau Vizepräsidentin, jetzt die besonders wichtige Aufgabe zu, die Berufungsabteilung, zu organisieren, sie zu einem funktionalen Spruchkörper zu machen. Was für eine schöne Aufgabe! Man könnte neidisch werden auf Sie, die Sie die einmalige Gelegenheit haben, eine neue Gerichtsabteilung zu gestalten.

Epilog

Der Epilog? Er lautet auf meine im Namen des Bundesgerichts ausgesprochenen besten Wünsche an Sie: «viel Glück – bonne chance – buona fortuna!»

Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 24. A., S. 472. Erst seit der 25. Auflage (2009) steht auch Grundvoraussetzung im Duden. ↵Soweit elektronisch erfasst, Ergebnis Volltextsuche vom 6. Januar 2019. ↵Bundesversammlung über die Richterstellen am Bundesgericht vom 14. Dezember 2018, BBl 2019 S. 367. ↵Pierre Tschannen, Wem gehört die Verfassung?, in: ZBJV 143/2007 S. 793 ff. ↵Hier braucht es aber auch nicht zwei Gerichtsinstanzen, schon deswegen nicht, weil vor der verfügenden Verwaltungsbehörde ein justizähnliches Verfahren stattfindet, das zusätzlich allermeistens noch um Vorbescheid- oder Einspracheprozeduren jeglicher Gattung alimentiert ist, s. grundlegend BGE 136 V 376, bestätigt durch BGE 137 V 210 und seitherige ständige Rechtsprechung. Es gibt im öffentlichen Recht eher zu viele als zu wenige Instanzen. ↵

Die für die Entscheidung der Richterin und des Richters massgeblichen Elemente

Warum entscheiden wir so, wie wir entscheiden? Überlegungen zum Prozess der richterlichen Entscheidfindung aus 40 Jahren bundesgerichtlicher Tätigkeit.

[1] Die individuelle richterliche Entscheidfindung, der innere – kognitive, emotionale und voluntative – Weg, der ausserhalb der rechtstechnisch geprägten Fälle (N 6) beschritten sein will und muss, um zum Urteil gelangen zu können, es als richtige Erkenntnis zu «finden» oder vielmehr – eingedenk der produktiven Komponente interpretatorischer Reflexion – zu «schaffen», ist ein höchstpersönlicher Akt. An ihm beteiligt ist einzig die Richterperson, welche kraft undelegierbarer und vertretungsfeindlicher Richterpflicht berufen ist, hic et nunc ihres Amtes zu walten. Daraus ergibt sich: Die richterliche Meinungsbildung als psychologisches Phänomen entzieht sich objektivierender Nachprüfung durch Aussenstehende grundsätzlich, und die folgenden summarischen Bemerkungen können nur beanspruchen, meine – notgedrungen subjektive – Sicht der Dinge wiederzugeben, gewonnen aus nahezu 40 Jahren bundesgerichtlicher Tätigkeit.

[2] Ein Urteil hat zum Gegenstand Entscheidung von Tatfragen oder Beantwortung von Rechtsfragen oder Beides. Von der ersten – in der Praxis sich täglich stellenden, quantitativ weitaus überwiegenden – Aufgabe der Tatsachenfeststellung, welche für den Rechtsschutz von primordialer Bedeutung ist und den erst- und zweitinstanzlichen kantonalen Gerichten sowie den eidgenössischen Vorinstanzen obliegt, nicht hingegen dem auf eine Rechtskontrolle beschränkten Bundesgericht, soll hier nicht weiter die Rede sein, obwohl selbstverständlich auch diesbezüglich die Richterpersönlichkeit eine grosse Rolle spielt. Zwar stehen die Grundsätze des Beweisrechts seit langem felsenfest, insbesondere, dass die Richterperson ihrem Urteil nur jene Tatsachen zugrunde legen darf, von deren Vorhandensein sie überzeugt ist. Aber wann bin ich überzeugt? Kein Richter würdigt die Beweise gleich wie seine Kollegin. Die Akte der Beweiswürdigungen sind wesensgemäss persönlich-perzeptiv (Wahrnehmung, Eindruck usw.) geprägt, wogegen nicht spricht, dass sie im Kollegialgericht ein übereinstimmendes, von den Mitwirkenden geteiltesBeweisergebnis zeitigen und so zur Grundlage des Urteils genommen werden können.

[3] Für die Beantwortung von Rechtsfragen, um die es am Bundesgericht als höchstem Gericht seinem Idealtypus nach gehen sollte (vgl. aber N 6), stellt die juristische Methodenlehre eine Vielzahl hermeneutischer Begriffe und Verfahren zur Verfügung, die in den letzten Jahrzehnten weiter ausdifferenziert worden sind, dies allerdings ohne zu grundlegend neuen Ergebnissen zu führen, weder bezüglich Auslegung noch Lückenschliessung noch dem Verhältnis der beiden Institute zueinander. Das für die Rechtsanwendung Wesentliche ist seit langem gesagt. Dieser konsolidierte Fundus an wissenschaftlich aufbereiteten Interpretationsregeln schüfe eine sichere Beurteilungsgrundlage, vor welcher die Richterpersönlichkeit zurückzutreten hätte, könnte man meinen. Der Eindruck täuscht. Weder steht das Auslegungsziel fest, noch besteht ein verbindlicher Auslegungskanon der normunmittelbaren Elemente Wortlaut, Systematik, Telos, Historie sowie der weiter entlegenen (normmittelbaren) Aspekte wie Rückgriff auf die Verfassung, Rechtsvergleichung, praktische Konkordanz u.a.m. Vielmehr befolgen alle sieben Abteilungen des Bundesgerichts erklärtermassen einen Methodenpluralismus, der bald den einen, bald den andern Gesichtspunkt durchschlagen und derweise zum Urteil erheben lässt.

[4] Zum Beispiel stellte sich kürzlich am Bundesgericht die Frage, ob das Gesetz es erlaube, einen Bundesrichter, der wegen COVID-19 hochgradig gesundheitlich gefährdet ist, an einer (zufolge fehlender Einstimmigkeit anzuberaumenden) öffentlichen Urteilsberatung per Videokonferenz teilnehmen zu lassen. Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend von der Wahl des Auslegungsziels ab: Hält man die subjektiv oder objektiv historische Auslegung für massgeblich, ist die Frage (der Wortlaut der einschlägigen Normen sagt es nicht ausdrücklich) ohne weiteres zu verneinen, da der historische Gesetzgeber – die Gesetzesregelung geht tief auf alte OG-Zeiten zurück – von vornherein an nichts anderes gedacht hat noch gedacht haben konnte als an die physische Präsenz des Magistraten im Gerichtssaal. Spricht man sich hingegen für eine zeitgemässe Auslegung aus, könnte man die Frage durchaus bejahen, da es bei der öffentlichen Urteilsberatung am Bundesgericht nicht um eine Verhandlung geht, sondern um einen (demokratiebedingten) Verzicht auf das gerichtliche Sitzungsgeheimnis zwecks Herstellung von Transparenz in der richterlichen Meinungsbildung, welches gesetzessystematische Regelungsziel bei EDV-mässiger Live-Zuschaltung der Richterperson in gleicher Weise erreicht wird.

[5] Der praktizierte Methodenpluralismus prägt im Weiteren den Umgang mit den Auslegungselementen, insbesondere dem Gesetzeswortlaut, von dem sich stets fragt, ob der Wortsinn auch den – zu ermittelnden, massgeblichen – Rechtssinn trifft. In der Regel tue er das; es dürfe von ihm, sagt die Rechtsprechung, nur bei triftigen, also den Wortsinn überzeugend zurückdrängenden Gründen, die sich aus den übrigen Auslegungselementen ergeben, abgewichen werden. Wann aber ist das der Fall? Es lässt sich weder allgemein sagen noch abstrakt im Voraus festlegen, sondern die Antwort darauf erschliesst sich immer erst in der Kontingenz des einzelnen, jeweils zur Beurteilung anstehenden Falles mit all seinen tatsächlichen, rechtlichen und rechtstatsächlichen Verumständungen: Der konkrete Fall, so wie er sich (unerwartet) ereignet, ist es, welcher die Auslegungsfrage aufwirft, nicht der Gesetzestext.

[6] Die an den Universitäten gelehrten, wissenschaftlich durch eine Schwem­me von Lehrbüchern, Monographien sowie Kommentaren allgemein verbreiteten und infolgedessen auch an den Gerichten etablierten hermeneutisch-auslegungstheoretischen Erkenntnisse vermögen als solche – nach dem eben Gesagten (N 3-5) – den Weg zum Urteil nicht zum Vornherein richtunggebend zu legen. Das will nun aber nicht heissen, dass (letztinstanzliche) Rechtsprechung gleichsam auf der grünen Wiese stattfände, täglich neu erfunden und dergestalt, der einzelnen Richterpersönlichkeit ausgesetzt, von dieser pionierhaft erfasst, geprägt und durchdrungen würde. Der Alltag sieht gänzlich anders aus, auch am Bundesgericht. Mindestens vier Fünftel der ungefähr achttausend Urteile, welche das höchste Gericht jährlich fällt, sind rein rechtstechnische Angelegenheiten, in denen der Wissens- und Erfahrungsschatz aus dem erwähnten juristischen Fundus (N 3) uneingeschränkt zum Zuge kommt. Das gilt vorab für die rund einen Drittel aller Entscheide ausmachenden Nichteintretens –, darüber hinaus aber auch für das Gros der in Dreierbesetzung erlassenen Sachurteile. Weniger als zehn Prozent aller bundesgerichtlicher Entscheidungen ergehen in Fünferbesetzung, welche nach Gesetz der Beurteilung grundsätzlicher Rechtsfragen vorbehalten ist. Der amtlichen Publikation für würdig, weil praxisbildend, befunden, sind noch weniger Urteile, ca. zwei- bis vierhundert von achttausend – es gibt eben nun einmal in diesem Lande nicht so viele Rechtsfragen, geschweige denn neue, also vom Bundesgericht bislang noch nicht entschiedene Rechtsfragen, als dass damit 38 Bundesrichter und Bundesrichterinnen voll beschäftigt wären. Rechtsprechung heisst nicht, das Rad täglich neu zu erfinden. Die Etablierung einer Praxis ist zwar wichtig, deren Konsolidierung durch Konkretisierung und Präzisierung in sich laufend ändernden Kontexten aber mit Blick auf Rechtssicherheit, Rechtsbeständigkeit und daraus fliessendem Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in die Entscheidungen des höchsten Gerichtes noch viel wichtiger. Die konstant übergrosse Arbeitslast des Bundesgerichts, welche zu vermindern das Parlament sich beharrlich weigert, rührt entscheidend daher, dass das Bundesgericht landauf, landab und insbesondere unter der Bundeshauskuppel als verkappte dritte Tatgerichtsinstanz verstanden und als solche angerufen wird: Zu Tausenden erheben die Beschwerden Rügen, welche, im Kern und von Nahem besehen, tatsächlicher Natur sind, in juristischem Kleide: eine Tatsachenfeststellung oder Beweiswürdigung wird nicht als einfach unrichtig gerügt – was das Gesetz als zulässigen Beschwerdegrund ausschliesst –, sondern – der Not gehorchend – als qualifiziert unrichtig, offensichtlich unrichtig, willkürlich, gehörsverletzend oder gegen die freie Beweiswürdigung, den Untersuchungsgrundsatz usw. verstossend. Dazu treten die einzelfallbezogenen Anwendungen unbestimmter Rechtsbegriffe und die Interessenabwägungen. Hierbei mag es sich dogmatisch um Rechtsakte handeln; aber es sind solche, denen von der Natur der Sache her ein weiter Beurteilungsspielraum inhärent ist wie insbesondere bei der Verhältnismässigkeit oder der Zumutbarkeit, Rechtsfiguren, welche in der täglichen Gerichtspraxis auf Schritt und Tritt anzutreffen sind. Hier muss sich das Bundesgericht eine gewisse Zurückhaltung auferlegen, ansonsten der Gang ans höchste Gericht trölerischer Besserwisserei Vorschub leistete.

[7] Die für die Entscheidfindung der Richterin und des Richters ausschlaggebenden individuellen Elemente kommen also lediglich in einem quantitativ schmalen Segment der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum Zuge. Aber es ist zweifellos der wichtigste Bereich, weil es hier um die richterliche (Fort‑)Bildung des gesetzten Rechtes geht: Der Gesetzgeber als Stratege, das Gericht als Taktiker zur Erreichung der legislatorischen Ziele. Was sind nun die wesentlichen individuellen Elemente, welche die Entscheidfindung wirklich beeinflussen? Es ist nach meiner Erfahrung klarerweise das – bewusste oder auch nur unbewusste, aber immer vorhandene – richterliche Vorverständnis, wie es Josef Esser in den 1970er-Jahren ans Licht gerückt, tiefgründig analysiert und ins Verhältnis zur juristischen Methodenlehre gesetzt hat. Dass sich jede Richterin und jeder Richter, ihres und seines Vorverständnisses bewusst werde! Sich daraufhin zurücklehne, in Gelassenheit übe, den eigenen Standpunkt nochmals offen – mit der potentiellen Bereitschaft, von ihm allenfalls abzurücken – überdenke, und zwar nicht leichthin, sondern gründlich und unter effektiver intellektueller Auseinandersetzung mit der Gegenposition!

[8] Thematisch, gegenständlich, erfahrungsmässig, dem Erlebten nach kann im Rahmen des Vorverständnisses, das nicht etwa als Vorurteil misszuverstehen ist, alles erheblich sein, was in der Vita einer Richterperson eine Rolle gespielt hat und weiterhin spielt: Herkunft, Geschlecht, Familie, Kindheit, Jugend, Religiosität, Gesinnung, Charakter, Willensstärke, Entschlussfreudigkeit, Mut, Prägungen aus Erziehung, Bildung, Beruf, Erfolge, Misserfolge, Schicksalsschläge – all das macht unser Vorverständnis aus, selbstverständlich auch das Meinige – niemand kann ihm entgehen. Es ist, bildlich gesprochen, der seelisch-geistige Rucksack, den eine Magistratsperson wie jeder andere Mensch mit sich herumträgt; es sind die Vorstellungen, welche man als von den Zeitläufen Beeindruckter oder Betroffener über das und jenes hat. In diesem Sinne ist es auf Vorverständnis zurückzuführen, wenn das Bundesgericht vor einigen Jahren erwogen hatte, «in der heutigen Zeit» sei «bei solchen Vorkommnissen mit einer derartigen Eskalation zu rechnen». Was war passiert? Ein Autofahrer, beim Hinausfahren aus dem Parkhaus durch Passanten behindert, zeigte diesen den «Stinkefinger», was ihm, aus dem Auto gezerrt, eine Körperverletzung durch Schläge auf das Gesicht, eine Fraktur des Orbitabogens, einbrachte. Das Urteil führte europaweit zu lebhaften Diskussionen: «Leben wir tatsächlich in einer solchen Zeit?» Wenig später verneinte das Bundesgericht, vielleicht als Reaktion auf die Kritik am ersten Urteil, ein entsprechendes Schädigungspotential für Auffahren/Lichthupen und für die Bemerkung des Fussgängers an den zu schnell Fahrenden: «Hier gilt 20km/h» – Die Bezugnahme auf die allgemeine Lebenserfahrung und den gewöhnlichen Lauf der Dinge bildet das rechtliche Einfallstor, mittels dessen solche vor- oder ausserrechtlichen Annahmen für die RechtsfindungBedeutung erlangen können.

[9] «Der SP-Mann, der Tausende IV-Renten verhinderte», titelte SonntagsBLICK am 26. Dezember 2020 aus Anlass meines Wegganges vom Bundesgericht.

[10] Die Schlagzeile geht offenbar davon aus, dass Bundesrichter nach ihrem Vorverständnis urteilen, das sich mit jenem ihrer Partei decke – ein doppelter Irrtum: Erstens ist man nicht «SP-Bundesrichter», man erhält das Mandat als Bundesrichter oder Bundesrichterin nicht von einer bestimmten politischen Partei sondern, auf Vorschlag der Gerichtskommission, von der Vereinigten Bundesversammlung. Zweitens ist das Vorverständnis, wie es denn auch laute, keine taugliche Beurteilungsgrundlage. Wenn es, wie der Artikel insinuiert, «sozial» sein sollte, IV-Renten zuzusprechen und ihre Verweigerung demgegenüber «Abbau von Sozialstaat» bedeutete, so geben solcherlei Annahmen nicht den geringsten Aufschluss hinsichtlich der für die Rechtsanwendung allein massgeblichen Frage, ob im jeweils streitigen Einzelfall die gesetzliche Anspruchsvoraussetzung der (rentenbegründenden) Invalidität (dauernde Erwerbsunfähigkeit von mindestens 40%) erfüllt ist oder nicht. Die verfassungsmässige Bindung an das Recht verhindert also die Durchschlagskraft des Vorverständnisses auf Beurteilung und Falllösung, dies allerdings immer vorausgesetzt, dass sich die rechtsanwendende Person dessen bewusst werde, es kritisch prüfe (Introspektion und Selbstreflexion) und sich der Auseinandersetzung mit den Gegenstandpunkten stelle (N 7 in fine).

[11] Wie sah nun mein Vorverständnis im Hinblick auf die Invalidenrentenberechtigung im Laufe der Zeit aus? Ich wuchs im Oberen Emmental auf, einer Gegend, wo man bis weit ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts hinein mit Lebensschwierigkeiten aller Art zum Nachbarn, Arbeitgeber, Lehrer, Pfarrer, auf die Gemeinde oder zu einem der raren, in bei weitem nicht allen Dörfern als Hausärzte praktizierenden Allgemeinmedizinern, Internisten oder Chirurgen ging. Selbständig erwerbstätige Psychiater und Psychologen gab es noch nicht, was nicht heissen will, dass keine psychischen Probleme existierten, im Gegenteil, die Region hatte die höchste Suizidrate im Kanton. Das beschäftigte meinen Pfarrer-Vater sehr, warfen sich doch gar nicht so selten – meist jüngere – Männer von der Blasenfluh ins waldige Tobel oder ungewollt schwangere Mädchen unten im Tal, hinter der Kurve im Moos, vor den Zug, aus purer Scham und Verzweiflung – total unverständlich aus heutiger Sicht, aber es war so. Wirtschaftlich ging es immer nur aufwärts: Wachstum, Inflation, hohe Zinsen, Beschlüsse zur Dämpfung der überhitzten Konjunktur, Vollbeschäftigung bis zum ersten grossen Einbruch ab 1973 nach Jom-Kippur-Krieg und Erdölkrise. Trotz ständiger als «Pfarrers Ueli» ertragener Hänseleien der Dorfjugend und bezogener Prügel, ich war körperlich ungeschickt, ein «G’stabi» – heutzutage unter dem Titel «Mobbing» Gegenstand schulpsychologischer Intervention – und in der Schule erlittener Körperstrafen – heute allgemein verpönt – verbrachte ich eine sehr glückliche Kindheit im bäuerlich und handwerklich geprägten «Schönen Dorf im Emmental» mit seiner sozialen Kontrolle, der nichts entging, selbst nicht, dass ein Kommunist im Dorf wohnte… Diese pars pro toto berichteten Gegebenheiten und Ereignisse schufen einen Erfahrungshintergrund, vor dem ich mir als junger Richter nicht so recht, nicht wirklich vorzustellen vermochte, dass jemand lieber eine Rente beziehen als arbeiten wolle. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte begegnete ich in den Dossiers einer Fülle ganz unterschiedlicher Konstellationen, welche diese grundsätzliche Annahme in Frage stellten. Eine Sozialhilfebehörde meldet ihren Schützling bei der IV zum Rentenbezug an mit der Begründung, dieser könne nicht auf eigenen Beinen stehen, sei lebensuntüchtig, er brauche finanzielle Absicherung. Ein kaufmännischer Angestellter verlangt wegen seinem kaputten Knie die Invalidenrente. Eine Rentengesuchstellerin erklärt, sie werde erst wieder arbeiten gehen, wenn sie von ihren Schmerzen komplett befreit sei, worin ihr Arzt sie unterstützt und durch den Hinweis ergänzt, er könne die Therapie erst dann mit Aussicht auf Erfolg beginnen, wenn seiner Patientin die IV-Rente zunächst einmal zugesprochen worden sei. Die heiratswillige Sozialhilfebezügerin antwortet auf die Frage, wovon sie und ihr Ehemann künftig leben würden, es gehe jetzt «natürlich» darum, sich «die IV zu organisieren». Ein KMU stellt seinen Betrieb rezessionsbedingt ein, sieben der zehn Entlassenen werden im Laufe der nächsten Jahre berentet. Vier Arbeitnehmende schädigen durch Kassenmanipulationen ihren Arbeitgeber, welcher sie fristlos entlässt; dreien davon spricht die IV wegen Posttraumatischer Belastungsstörung eine ganze Invalidenrente zu. Und ohne Zahl die Gesuchsteller, welche nach Beendigung des versicherungsrechtlichen Verfahrens mit rechtskräftiger Ablehnung des Rentenanspruches wieder den Weg zurück ins Erwerbsleben fanden – obwohl sie von ihren Ärzten und Ärztinnen als voll und bleibend arbeitsunfähig erklärt worden waren.

[12] Das Vorverständnis eines der Sozialdemokratischen Partei angehörigen Bundesrichters zum Thema Invalidenrente könnte daher auch anders lauten, als die dem Artikel vorangestellte Schlagzeile glauben machen lässt. Wie kein anderer Sozialversicherungszweig ist die IV durch die seit ihrem Bestehen (1960) eingetretenen sozialmedizinischen Entwicklungen gefordert und gefährdet, insbesondere durch die Verbreitung des subjektiven Krankheitsbegriffs («Ich bin krank, wenn ich mich krank fühle.»), der die Versicherungsdurchführung vor grosse Schwierigkeiten stellt. Sein zirkulärer Charakter macht die Anspruchsprüfung redundant und die der Legaldefinition des versicherten Risikos – Invalidität als dauerhafte gesundheitlich bedingte Erwerbsunfähigkeit – zugrunde liegende Kausalbeziehung zur Makulatur: Versicherte Erwerbsunfähigkeit lässt sich von nicht versicherter Erwerbslosigkeit nicht mehr abgrenzen. Hier schritt das Bundesgericht korrigierend ein. Seine Rechtsprechung verhinderte, dass die IV-Rente zum staatlichen Grundeinkommen mutierte. – Wie das Vorverständnis nun auch lauten möge, es darf nach dem Gesagten (N 7 in fine) für die Rechtsanwendung keine entscheidende Rolle spielen. Daran habe ich mich gehalten. Es ging mir darum, IV-Renten zuzusprechen, wenn dafür eine schlüssige Beweis- und Beurteilungsgrundlage vorhanden war, welche eine rentenbegründende Invalidität stützte. Traf dies im Einzelfall nicht zu, musste die Beschwerde abgewiesen werden, und zwar selbst dann, wenn sich die tatsächlichen Gründe für und gegen die Annahme von Invalidität die Waage hielten, das Beweisergebnis demnach auf Beweislosigkeit lautete, deren Folgen nach den Regeln über die materielle Beweislastverteilung die rentenansprechende Person zu tragen hatte.

[13] Zusammenfassend, nach allen meinen Erfahrungen, imponiert im Vorverständnis die politische Seite, die Parteizugehörigkeit, gerade am wenigsten. Bundesrichter und Bundesrichterinnen sind politisch gewählt, urteilen aber nicht politisch, auch wenn sie sich bewusst sind, dass ihre Entscheidungen politische Auswirkungen haben können. Dieses Axiom des schweizerischen Justizsystems ist ungebrochen. Ich habe in all meinen Jahren keinen Bundesrichter und keine Bundesrichterin gekannt, der oder die diese Grundvoraussetzung in Frage gestellt hätte. Alle, ausnahmslos alle, haben nach ihrem – subjektiven – besten Wissen und Gewissen geamtet. So sind mir umstrittene Urteile, die entlang der Parteigrenzen verlaufen, äusserst selten begegnet. Konkret in Erinnerung geblieben ist mir einzig ein Entscheid nicht aus der Rechtsprechung, sondern der Selbstverwaltung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (EVG; 1917–2006), als sich beim Einzug in den neuen Sitz, dem Gotthardgebäude in Luzern (2002), die Frage stellte, ob die Plätze der Richter und Richterinnen im Gerichtssaal im Verhältnis zum Publikum erhöht sein sollten (was am alten Standort des EVG an der Adligenswilerstrasse nicht der Fall gewesen war). Drei SP-ler verneinten, sechs Bürgerliche bejahten die Stufe. Der Architekt bedauerte den Entscheid, er sei für den Raum ungünstig, man könne die Stufe leicht entfernen… Aber wer sagt denn, dass es die Parteizugehörigkeit war, welche für diese oder jene Möglichkeit meinungsbildend den Ausschlag gegeben hatte? So bleibt eben auch die richterliche Entscheidfindung – trotz der demokratiebedingten Beratungsöffentlichkeit – letztlich ein Geheimnis. Und das ist gut so, weil in dieser Unerforschbarkeit und Unantastbarkeit der inneren Meinungsbildung die erste und elementarste Voraussetzung richterlicher Unabhängigkeit liegt.

Festvortrag zur Patentierungsfeier der bernischen Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen vom 1. Juli 2019

Sehr geehrte Frau Obergerichtspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mesdames et Messieurs

1979–2019. Vor 40 Jahren stand ich, sehr geehrte frisch patentierte Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen des Kantons Bern, genau wie Sie, da, überglücklich, das Fürsprecherpatent in meinen Händen. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Erfolg, der Ihnen alle Wege öffnet, vielleicht, wer weiss, bis an die Spitze des Bundesgerichts. Die Chancen dafür stehen gut: Von den sieben bisherigen Bundesgerichtspräsidenten des 21. Jahrhunderts waren vier Berner (Hans Peter Walter, 2001/02; Arthur Aeschlimann 2007/08; Lorenz Meyer, 2009–2012; Ulrich Meyer, seit 2017). Während bald elf von neunzehn Jahren stand das Bundesgericht somit unter bernischer Führung. Zeitweilig waren auch bis zu vier von sieben Abteilungspräsidenten Berner. Zurzeit zählt die Berner Deputation am 38 Köpfe zählenden Bundesgericht sieben Mitglieder (aufgezählt nach Anciennität: Ulrich Meyer, Thomas Merkli, Hans Georg Seiler, Nicolas von Werdt, Christian Herrmann, Lorenz Kneubühler, Monique Jametti). Dass das Bundesgericht fest in Berner Hand sei, wäre übertrieben; doch ist es von Berner Geist im Gotthelfschen[1] Sinne durchweht.

Meine Patentierungsfeier 1979 fand im Rathaus, im Grossratssaal, statt. Die Urkunde empfingen wir vom Vertreter der Justiz-, Kirchen- und Gemeindedirektion, von Herrn Regierungsrat Peter Schmid, Mitglied des damals noch neunköpfigen bernischen Regierungsrates (übrigens dem Bruder des späteren Bundesrates Samuel Schmid). Der Justizdirektor Peter Schmid schaute uns allen vor der Überreichung des Patentes einzeln tief und lange in die Augen und mahnte: «Manne, Froue, dir syt itz bärnischi Fürsprächer. Leget Ehr y füre Kanton Bärn.» Ein unvergesslicher, ein prägender Moment.

Alle Wege öffnen sich Ihnen, habe ich eingangs gesagt. In der Tat, als Rechtsanwalt, Rechtsanwältin geniessen Sie einerseits als Angehörige eines freien Berufes ein ganz grosses staatlich garantiertes Privileg, das anderseits eine unverzichtbare institutionelle Grundlage unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates Schweiz bildet. Der gegenwärtige Präsident des ungarischen Verfassungsgerichtes, Tamás Sulyok, mit dem ich freundschaftlich verbunden bin, ein ganz mutiger Mensch und hochgescheiter Jurist, dem es gelingt, sein Gericht vor dem staatspräsidialen Allmachtsanspruch des Viktor Orbán einigermassen zu bewahren, durfte mangels Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei bis zur Wende 1989 nicht als Rechtsanwalt tätig sein. Sie hingegen können, ab dem heutigen Tag, jederzeit, ohne Zulassungsverfahren, ohne Bedarfsnachweis, ohne numerus clausus und – vor allem – ohne Altersbeschränkung, der ein jeglicher Richter zum Opfer fällt, praktizieren und frisch von der Leber weg advozieren, so viel und so lange Sie nur wollen. Vor Ihnen liegt also gut gerechnet eine etwa 60-jährige Aktivitätsperiode, wenn Sie, wie einige Beispiele zeigen, bis Alter 90 vor Gericht plädieren.