Vom Zauber des Untergangs - Gabriel Zuchtriegel - E-Book

Vom Zauber des Untergangs E-Book

Gabriel Zuchtriegel

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Beschreibung

»Eine Liebeserklärung an die Archäologie«Frankfurter Allgemeine Zeitung Garküchen, ein Sklavenzimmer, griechische Theater, Villen, Thermen und Tempel – die Ausgrabungen in Pompeji offenbaren eine Welt. Doch was hat sie mit uns zu tun? Gabriel Zuchtriegel, der neue Direktor des Weltkulturerbes, legt eindrucksvoll dar, dass verschüttete Altertümer, starre Ruinen und schweigende Bilder uns noch heute verändern können. »Ein kluges und auf zurückhaltende Weise persönliches Buch« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »Zaubern mit Scherben – Gabriel Zuchtriegels so famoses wie ungewöhnliches Buch« Süddeutsche Zeitung »So lebendig wurde noch nie über Archälogie erzählt.« Die Zeit »Ein herausragendes Sachbuch, eine Einladung, sich zu bilden.« Denis Scheck, Druckfrisch

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Vom Zauber des Untergangs

Gabriel Zuchtriegel, geboren 1981, studierte in Berlin und Rom Archäologie und griechische Literaturgeschichte.Nach seiner Promotion an der Universität Bonn erhielt er ein zweijähriges Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung in Süditalien. Doch daraus wurden mehr als zehn Jahre, in denen er in Italien forschte, lehrte und im Denkmalschutz arbeitete. Seit April 2021 ist er Direktor des Archäologischen Parks Pompeji.

Fast täglich kommt Gabriel Zuchtriegel bei seiner Arbeit mit den Spuren der Katastrophe in Berührung, die Pompeji 79 n. Chr. komplett zerstörte: ungemachte Betten, stehengelassenes Geschirr, von Asche eingeschlossene Körper von Opfern des Vulkanausbruchs. Aber auch bezaubernde Kunstwerke, so wie die Skulptur eines schlafenden Fischerjungen, der sich genauso eingerollt hat, wie es Kinder heute noch tun, wenn die Decke zu kurz ist.Dass solche Momente wesentlich sind, um zu vermitteln, was die Antike heute aktuell macht, darum geht es in diesem Buch. Gabriel Zuchtriegel bringt uns anhand der archäologischen Entdeckungen vom 19. Jahrhundert bis heute auch Fragestellungen näher, die mit dem Wandel der Gesellschaft und unserer Gegenwart verknüpft sind. Das alles verbindet er mit seinem Werdegang als Archäologe, der das Weltkulturerbe nicht nur erhalten möchte, sondern sich dafür einsetzt, dass alle diesen Ort als ihren begreifen. Denn alles Vorwissen bringt nichts, wenn man sich nicht in seinem Innersten von der Kunst und Lebenswelt der Antike berühren lässt – und das kann jeder, auch ohne Archäologiestudium.

Gabriel Zuchtriegel

Vom Zauber des Untergangs

Was Pompeji über uns erzählt

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Bildteil:© Abb. 1: Museo Archeologico Nazionale di Napoli, Ministero della Cultura; alle anderen: Parco Archeologico di Pompei, Ministero della Cultura.Fotos: Silvia Vacca (2, 3, 4b, 5, 6–15, 17–23, 30, 31); Llorenç Alapont (29); Giuseppe Sannino (1); Luigi Spina (24a u. 24c); Assunta Somma (32); Ufficio Stampa Parco Archeologico Pompei (16, 24b, 25b, 28); Gabriel Zuchtriegel (4a, 25a, 26, 27). Zeichnungen: Simona Capecchi (Gesamtplan der antiken Stadt); Raffaele Martinelli (18b).

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH1. Auflage 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Alle Rechte vorbehaltenFoto Autor: © Sandro MichahellesUmschlagbild: Familienporträt aus Raum 42, ca. 50-79 n. Chr., Villa Arianna, Stabiae. © Parco Archeologico di Pompei, Ministero della Cultura.Umschlaggestaltung: © Cornelia Niere, MünchenE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2964-2

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Zu Risiken und Nebenwirkungen

1 Was ist dran an klassischer Kunst?

2 Im Sog des Ritus

3 Eine Stadt am Rande der Katastrophe

4 Was am Ende zählt

Dank

Bildteil

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Motto

Pompeii like any other town. Same old humanity. All the same whether one be dead or alive. Pompeii comfortable sermon. Like Pompeii better than Paris.H. Melville, Journal, 1857

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Dass Besucher in Pompeji immer wieder Herzinfarkte erleiden, manche mit tödlichem Ausgang, war mir nicht bewusst, bis mich eine erfahrene Mitarbeiterin dezent darauf hinwies, einige Wochen, nachdem ich im April 2021 meine Arbeit als Direktor der UNESCO-Stätte aufgenommen hatte. Seither haben wir den medizinischen Notdienst in der antiken Stadt noch mal aufgestockt. Von den durchschnittlich 600 Einsätzen im Jahr haben etwa 20 Prozent mit Herz-Kreislauf-Problemen zu tun. Man schiebt es meistens auf das heiße Wetter. Aber ist das der einzige Grund?

Im Jahr 2018 erlitt ein Besucher der Uffizien in Florenz einen Herzinfarkt vor Botticellis Geburt der Venus in einem voll klimatisierten Saal. Die Medien spekulierten über das Stendhal-Syndrom, benannt nach dem französischen Dichter, der 1817 beim Besuch der Basilica di Santa Croce in Florenz in eine Art Ekstase verfiel angesichts all der Kunst und Geschichte. In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte die Florentiner Psychiaterin Graziella Margherini bei Touristen der Stadt ähnliche Symptome festgestellt. Das »Stendhal-Syndrom« war geboren.1 Da offiziell nicht als Krankheit anerkannt, ist die Liste der Merkmale offen. Außer Herzanfällen werden genannt: Herzrasen, Atemnot und Hyperventilation, Ohnmacht, Schwindel, Schweißausbrüche, Übelkeit, Halluzinationen.

Ich selbst blieb bisher verschont. Aber es gibt einige Orte in Pompeji, an denen ich für mich eine gewisse Gefährdung sehe. Dazu gehört der Orto dei Fuggiaschi, der »Garten der Flüchtlinge«, am Südrand der antiken Stadt. Hier entdeckten Archäologen dreizehn Opfer des Vulkanausbruchs, der an einem Herbsttag 79 n. Chr. Pompeji unter einer meterdicken Ascheschicht begrub. Unter den Opfern sind mehrere kleine Kinder. Gegen 7:30 Uhr morgens, fast zwanzig Stunden nach Beginn der Eruption, fanden sie hier den Tod beim Versuch, aus der Stadt zu entkommen. Erfasst von einer Hitzewelle von circa 400 Grad, die sich mit fast 100 km/h vom nahen Vulkan Vesuv ausbreitete, wurden sie zu Boden gestreckt. Etliche halten die Hände schützend vors Gesicht, ein Mann versucht, sich mit letzter Kraft aufzustützen. Ein kleiner Junge hält sich die Brust, machtlos gegen die Wucht der Schockwelle aus Staub und Asche, die ihn umschloss. Fast scheint er zu schlafen, den Mund leicht geöffnet.

Dreizehn von 1300 Opfern des Vesuvausbruchs, die bislang in Pompeji ausgegraben wurden. Aber dreizehn, deren Gesichtszüge, Frisur, Kleidung, Körperbau wir genau kennen, als lägen sie tot seit wenigen Stunden. Asche und Staub schlossen ihre Körper ein und wurden hart, die Leichen selbst zersetzten sich, ließen so einen Hohlraum im Boden entstehen.

Als zwischen April und Juni 1961 Grabungsarbeiter auf diese Hohlräume stoßen, gießen sie Gips hinein. So stehen, nach neunzehn Jahrhunderten, die Abgüsse jener Menschen wieder vor uns. Oder sind es keine Abgüsse, sondern sie selbst? Wie umgehen mit solchen »Funden«? Und was erzählt unser Umgang damit über uns selbst?

Solche Fragen stellen sich in Pompeji manchmal ganz konkret. Zum Beispiel, wenn ich eine potenzielle Gruppe aus Sponsoren der Industrie- und Handelskammer Neapel durch Pompeji führe, wie ein paar Wochen nach meiner Ankunft in Pompeji geschehen. Dann sind sie wieder da: diese erwartungsvollen Gesichter, die zu sagen scheinen: Jetzt leg mal los. Erklär uns mal, warum wir eigentlich hier sind, ob es die Reise wert war. Soll ich die Kinder, Frauen und Männer aus dem »Garten der Flüchtlinge« in meine Führung mit einbauen, versuchen, meine Ergriffenheit mit den Leuten von der IHK zu teilen? Oder wäre das eine Art Verrat? Würde ich, von den dreizehn Opfern sprechend, etwas Intimes auch von mir preisgeben? Sollte ich mich gar am Ende mitschuldig machen, wenn einer von ihnen das Stendhal-Syndrom bekommt?

Dieses Buch gibt auf alle diese Fragen die Antwort: Ja! Denn in meiner Laufbahn als Archäologe vom Touristenführer während des Studiums im Pergamonmuseum Berlin bis nach Pompeji ist mir längst klar geworden: Das Problem ist nicht das Stendhal-Syndrom. Statistisch sind Herzinfarkte und andere Symptome in Pompeji nicht häufiger als in einer beliebigen Fußgängerzone. Das Problem ist ein anderes, nennen wir es: das Sammlersyndrom.

Das Sammlersyndrom

Der Sammler betrachtet alles unter dem Gesichtspunkt des Besitzes: Wäre das was für meine Sammlung? Hat ein anderer mehr als ich? Ein ständiges Abschätzen, Anhäufen, Vergleichen, Bewerten, Beurteilen. Er sieht die Welt als eine Art Warenhaus, in dem es den Einkaufswagen vollzuladen gilt – so weit eben die Kreditkarte reicht.

Ich habe immer wieder Menschen kennengelernt, die Sammlungen antiker Kunstwerke besitzen, und glauben Sie mir: Beneidet habe ich keinen von ihnen, eher bemitleidet, eine so wundervolle Sache wie die Archäologie zu einem Haufen von Besitztümern herabzuwürdigen. Aber das Sammlersyndrom ist nicht auf Sammler von Antiquitäten beschränkt. Zu einem gewissen Grad leiden wir alle daran – es ist schlicht ein Ausdruck unserer materialistischen Welt.

Eine wissenschaftliche Studie hat gezeigt, dass zwei der wichtigsten Beweggründe, ein Museum zu besuchen, im Sammeln von Wissen und Erfahrungen bestehen.2 Liest man genauer, so stellt sich heraus, dass mit »Erfahrungen sammeln« gemeint ist, dass man einen Haken dahintermachen kann: Pompeji-Besuch erledigt! Die abzuhakenden Erfahrungen werden ausgewählt nach dem, was man so hört, sprich: Diese Besuchergruppe geht dorthin, wo man gewesen sein muss. Man arbeitet eine Art Liste ab. Wie, noch nie im Louvre gewesen? … Dann aber nichts wie hin, ansonsten ist man ja kein ganzer Mensch/Archäologe/Kunsthistoriker! Kurz: Mit dem Sammlersyndrom lebt man im Bewusstsein, noch wohin zu müssen, noch etwas werden zu müssen, sich noch etwas aneignen zu müssen, sei es nun Wissen, Erfahrung oder Besitz.

Ich würde sogar vermuten, dass dieses Sammeln im weitesten Sinn das stärkste Motiv ist – zumindest nach der Mehrzahl der Besucherinnen und Besucher zu urteilen, denen ich als Führer durch archäologische Museen und Parks begegnet bin. Sie wollen in erster Linie wissen, warum sie diesen Ort eigentlich auf der Liste haben.

Das Bedürfnis, einen Haken darunterzusetzen, wird natürlich von den sozialen Medien wundervoll bedient. Dass Menschen filmen, bevor sie hinschauen, wäre meinen Großeltern als Witz erschienen; heute sind wir längst daran gewöhnt. Das ist auch völlig in Ordnung, es geht ja nicht darum, irgendwas vorzuschreiben.

Anders verhält es sich mit einem weiteren Symptom des Sammelsyndroms: Man nimmt was mit. Jede Woche gehen in Pompeji Päckchen und Pakete ein mit Lavabrocken, Mosaiksteinchen oder Scherben, die jemand hat mitgehen lassen. Die Reue kommt Jahre, manchmal Jahrzehnte später – der Nachteil am Sammeln ist, dass sich das Angehäufte irgendwann als Last erweist. In Pompeji kommt hinzu, dass eine Legende umgeht, der zufolge das Entwenden solcher Gegenstände, das übrigens strafrechtlich verfolgbar ist, Unglück bringt. Manch reuevoller Sammler begleitet denn auch die Rücksendung mit einer Aufzählung von Unglücksfällen, die teils sehr berührend sind. Von Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes und selbst Krebserkrankungen habe ich schon gelesen. Ein Beispiel aus dem Sommer 2022:

Lieber Museumsleiter,

ich bin ein Steinesammler, und überall, wo ich hingehe, lese ich einen großen oder kleinen Stein auf. Als ich daher 2012 Pompeji besuchte, las ich diese hier auf und ein kleines Keramikfragment, das ich auf dem Boden fand.

Vor einer Weile las ich einen Artikel auf CNN und auch im Lonely Planet, wo es um Leute ging, die mitgenommene Dinge zurückgeben, weil sie ihnen Unglück gebracht haben. Seither hat mich die Geschichte nicht mehr losgelassen.

Ich ging in der Zeit zurück und sehe klar, dass die Dinge in meinem Leben und in meiner Karriere seit 2012 nicht gut gelaufen sind. Ich habe sogar bis heute eine Reihe komplizierter Gesundheitsprobleme durchzustehen gehabt.

Ich weiß zwar nicht, ob der »Fluch« wahr ist oder nicht, aber ich habe entschieden, diese Gegenstände dorthin zurückzusenden, wo sie hingehören. …

In welche Gruppe hätte Stendhal gepasst? Sicher in keine Sammlergruppe; er war zeit seines Lebens ein unsteter Wanderer mit wenig Platz für Angehäuftes – materiell und geistig. Auch eine andere, laut Studie ziemlich zahlenstarke Gruppe – die derer, die ihrem Partner oder ihrer Partnerin zuliebe ins Museum gehen – scheidet aus, ganz von denen zu schweigen, deren Hauptgrund der Besuch der öffentlichen Toiletten ist. (Auch die sind eine Gruppe, wenn auch beruhigenderweise nur eine ganz kleine!)

Stendhal hätte am besten in die Gruppe derer gepasst, die in der Fachliteratur als »spirituelle Pilger« bezeichnet werden.3 Sie gehen in ein Museum oder in einen archäologischen Park, um Energie zu tanken, sich selbst besser kennenzulernen, Inspiration und ein Gefühl von Freiheit zu finden. Etwas neu entdecken, wie ein Kind, zum ersten Mal; nicht die Highlights abarbeiten, die andere definiert haben, sondern der eigenen Wahrnehmung vertrauen. So kann ein Museumsbesuch in der Tat zu einem spirituellen Erlebnis werden. Denn es geht dabei um uns selbst beziehungsweise darum, über uns selbst hinauszuwachsen. Stendhal sprach von »himmlischen Gefühlen«, die einhergingen mit einer totalen »Erschöpfung« des Ichs.4 Das klingt heute vielleicht schwülstig, entsprach aber dem damaligen Sprachgebrauch in Sachen Spiritualität. In buddhistischer Terminologie wäre das vielleicht die »erste Vertiefung«.

Zur Warnung sei gesagt, dass gewisse Nebenwirkungen tatsächlich nicht auszuschließen sind, auch wenn die Gesundheitsfolgen von Kunstgenuss, wie wir gesehen haben, wissenschaftlich umstritten sind. Aber Kunst und Archäologie haben nun mal viel mit Schmerz, Verlust, Tod und Gewalt zu tun, ganz wie unsere persönliche Geschichte – in Pompeji, der Stadt, die 79 n. Chr. vom Vesuv »lebendig begraben« wurde, ist das deutlicher als anderswo zu spüren. Angesichts der Gipsabgüsse von bei der Katastrophe umgekommenen Kindern schaltet sich bei mir auch nach vielen Jahren Wissenschaft, für die solche Gegenstände eigentlich »Fundgruben« sind, der Wissenschaftler aus. Ein fünfjähriger Junge, nach 18 Stunden Bimssteinregen und Dunkelheit erfasst von einer 400 Grad heißen Staub- und Aschewelle, spricht die Urangst des Kindes in mir an, in der schlimmsten Not alleingelassen zu werden. Mama und Papa konnten nichts mehr machen, die kämpften selber um ihr Leben.

Andererseits vermag keine wissenschaftliche Beschreibung den kleinen Glücksmoment einzufangen, in dem Christopher Clark, der zu Dreharbeiten für eine Doku in Pompeji war, und ich im Depot über die kleine Skulptur eines schlafenden Fischerjungen stolperten. Weil sein Kapuzenmantel so kurz ist, hat er sich eingerollt, um nicht zu frieren – wie mein achtjähriger Sohn das manchmal macht. Sein Wasserkrug ist umgefallen, aus seinem am Boden liegenden Korb frisst eine Ratte. Inmitten des Drehrhythmus war das wie ein Gruß von unserem inneren Sonnenkind. Wir haben die Skulptur dann spontan in die Dokumentation eingebaut.

Dazu fallen mir zwei Sätze aus Stendhals Beschreibung seines Florentiner Erlebnisses ein, die viel mehr sagen als das oft zitierte Herzklopfen und der Schwindel, den er beim Weg aus der Kirche empfand: »… das alles spricht lebendig zu meiner Seele. Ah! Wenn ich vergessen könnte! …«5

Warum vergessen? Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, das bedeutet, dass diese Art von Erfahrung nicht sammelbar und abheftbar ist, und auch, dass man sie nicht planen kann wie einen Restaurantbesuch. Vor allem aber: dass dafür all unser Vorwissen eher hinderlich denn hilfreich ist und daher für den Augenblick besser vergessen wird. Eine solche Begegnung findet in diesem Moment statt, zwischen dir und dem Werk, und dann ist sie vorbei. Was bleibt, ist kein fixierbares Wissen, kein Häkchen auf der To-do-Liste, nur ein kurzer Ausbruch aus dem Gefängnis der Gegenwart: Gegenstände und Kunstwerke, die vor Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren geschaffen wurden, sprechen plötzlich zu uns – wenn wir zuhören. Zur Gruppe der »spirituellen Pilger« zählen die, die ins Museum gehen, um in dieser Weise zuzuhören – und das Stendhal-Syndrom riskieren.

Wir können alle dieser Gruppe beitreten. Vom Standpunkt der Psychologinnen und Psychologen, die sich mit Museen beschäftigen, ist das ganz einfach, probieren Sie es selbst aus: Wenn Sie in ein Museum gehen, stellen Sie sich vor, jemand fragt Sie für eine Studie, was Sie sich davon erwarten. Und Sie antworten: dass es zu meiner Seele spricht!

Was treibt uns an?

Natürlich ist es nicht ganz so einfach. Vielleicht versteht der Psychologiestudent, der die Fragebögen austeilt, die literarische Anspielung auch nicht und stuft Sie als unkooperativen Spaßvogel ein. Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Es setzt da an, wo meiner Ansicht nach eine Wurzel des Problems liegt. Wer pilgert, braucht einen Motor, der ihn antreibt. Etwas, das uns anzieht, so wie Stendhal von Italien angezogen wurde, dem Land, in das er immer wieder zurückkehrte.

Jeder hat so einen Motor, doch tun wir Archäologen und Kunsthistoriker zugegebenermaßen denkbar wenig, um ihn anzukurbeln. Wir sind uns nämlich selbst oft nicht klar darüber, was uns die Energie gibt, jahrelang zerbrochene Amphoren oder bruchstückhafte Inschriften zu studieren. Und so driften wir in die reine Sammelei von Faktenwissen und Literaturhinweisen ab. Dass das Publikum da ebenfalls im Sammeln stecken bleibt, sollte eigentlich niemanden verwundern.

Man kann es sich so vorstellen: Ein junger Mensch schreibt sich an der Universität für Archäologie ein in der Hoffnung, dass »alles lebendig zu seiner Seele spricht«. Auf der Universität ist von der Seele aber keine Rede. Stattdessen geht es ans Sammeln: Studienpunkte, Scheine und Kataloge. In der Archäologie machen wir von allem Kataloge: von Vasen, Sarkophagen, Bildmotiven, Gebäudetypen, aber auch von Nägeln, Eisenschlacken und Dachziegeln, die auf Ausgrabungen gefunden werden. Später, während der Promotionsphase, wird es dann wichtig, ein paar Publikationen zu sammeln, denn das ist entscheidend für die weiteren Berufsaussichten. Hat man es ins nächste Level geschafft, geht es weiter: Jetzt sind Drittmittel essenziell, also Gelder für Projekte von der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder von der EU, mit denen man sich um eine Professur bewerben kann. Denn ausschlaggebend ist bei der Bewertung der Kandidatinnen und Kandidaten, wie viele Drittmittel sie eingesammelt haben.

Wer jetzt die Dinge, die »lebendig zur Seele sprechen«, noch nicht vergessen hat, hat in den allermeisten Fällen gelernt, sie für sich zu behalten als etwas Privates, Unwissenschaftliches, Kindliches, das vielleicht auch ein bisschen peinlich ist. Das, was ursprünglich der Antrieb war, gilt also im wissenschaftlichen Betrieb als unwichtig oder wird sogar versteckt: Der Motor kommt unter die Haube. Und so unterrichten wir dann neue Generationen im Ansammeln von Publikationen und Drittmitteln und entwerfen Projekte für wissenschaftliche Ausstellungen und Museen, ohne viel über Gefühle, geschweige denn himmlische, nachzudenken.

Okay, zugegeben, das war jetzt alles etwas überspitzt und bestimmt auch ein bisschen unfair. Ich hatte einige fantastische Lehrerinnen und Lehrer, die mir viel Inspiration, Offenheit und Seele mitgegeben haben. Aber das war nicht der Mainstream; wer es anders macht, schwimmt oft gegen ihn an.

Ein Kunstwerk, eine antike Stadt oder eine ganze Kultur zu erklären, ist, wie einen Samen zu pflanzen. Man kann die Technik des Pflanzens perfektionieren, gießen, düngen, hegen und pflegen. Aber es braucht noch etwas anderes zum Gelingen: fruchtbare Erde. Die fruchtbare Erde ist die Möglichkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer, diesen Samen wachsen zu lassen. Ohne das hilft alle Mühe nichts. In der Wissenschaft von der Kunstvermittlung (Museologie) wird diese Kapazität normalerweise als etwas betrachtet, das außerhalb unserer Reichweite liegt. Wir versuchen alles Mögliche zu gestalten, von der Beleuchtung bis zu den Beschriftungen und zur Barrierefreiheit, aber die Besucherinnen und Besucher nehmen wir, wie sie sind. Ganz so, wie Unternehmen ihre Kunden als Gegebenheit hinnehmen. Und das sind sie ja auch. Kein Museum oder archäologischer Park sollte sich einfallen lassen, sich sein Publikum auszusuchen: Jede und jeder ist willkommen.

Wir müssen bei uns selbst anfangen. Daher habe ich beschlossen, in diesem Buch die Motorhaube mal aufzumachen: Ich erkläre am Beispiel von Pompeji, was einen Archäologen wie mich antreibt, mich diesem Ort mit ganzer Seele zu widmen – von den Toiletten (das ist kein Scherz, wir hatten schon unzufriedene Besucher, die deswegen an den Kulturminister geschrieben haben) bis zu den jüngsten Ausgrabungen, die unserem Bild der antiken Stadt immer noch neue und teils überraschende Aspekte hinzufügen.

Worum es geht

Das, worum es hier geht, ist übrigens gar nichts Neues. Nur wird unter Fachleuten darüber normalerweise nicht gesprochen. Es ist von außen betrachtet erstaunlich, wie selten im Universitäts- und Museumsbetrieb die objektive Scheinoberfläche durchbrochen wird und zutage kommt, was uns emotional eigentlich antreibt, was »zu unserer Seele spricht«. Dass man so was nicht in den Projektantrag oder in die Fachpublikation schreibt, ist klar. Aber dass unter Kolleginnen und Kollegen so selten ein Wort darüber fällt, ist schon ein wenig sonderbar. Wir sprechen schließlich nicht von Quantenmechanik, sondern von menschlicher Kommunikation und Erfahrung, denn um nichts anderes geht es in Kunstgeschichte und Archäologie.

Der Grundriss eines Tempels ist an sich völlig uninteressant, wenn er nicht dazu dient, die ästhetische, religiöse, soziale und emotionale Erfahrung, die Bauherren und Architekten dadurch vermitteln wollten, zu rekonstruieren. So gesehen, steckt in jedem Bauwerk eine Welt. Und der Sinn, diese Welt zu rekonstruieren, ist, unsere eigene Welt ein Stück zu erweitern und vielleicht auch zu relativieren; eine andere Welt ist möglich – Veränderung ist möglich. Die Dinge haben sich gewandelt, manchmal radikal, und werden es auch in Zukunft tun.

Trotzdem gibt es jede Menge Fachbücher, die voll von Tempelgrundrissen sind, aber kein Wort über die Erfahrungswelt dieser Gebäude enthalten. Und überraschenderweise gibt es auch Autorinnen und Autoren solcher Bücher, die die Frage nicht nur nach ihrer eigenen, sondern auch nach der emotionalen Erfahrung der antiken Besucher eines Tempels nie stellen würden. So, als hätte das pure Zusammenstellen und Vergleichen von Grundrissen einen Zweck an sich, der von irgendeiner übergeordneten Buchhalterinstanz positiv vermerkt würde. Aber dass ein Tempel 6 × 13 Säulen hatte und der andere 6 × 14, ist noch keine Erkenntnis, schon gar keine »wissenschaftliche«, das sind nur Zahlen. Dennoch liest man so was selbst in manchen Reiseführern. Dabei stehen die Touristen ja vor dem Tempel und können selber zählen! Interessanter wäre, zu erklären, was sich in den Säulenhallen abspielte, aber das ist vielen schon verdächtig spekulativ.

Wenn man die hohen Stufen eines antiken griechischen Tempels hochsteigt, merkt man am eigenen Leib, dass diese Gebäude nicht für menschliche Maße gemacht sind. Die Schwelle zum Innenraum des Neptuntempels in Paestum, errichtet im 5. Jahrhundert v. Chr., bringt es auf 82 Zentimeter Höhe. Hier wird also durch Architektur körperlich erfahrbar vermittelt, dass der menschliche Besucher eine Nummer zu klein ist: Der griechische Tempel ist als »Haus der Gottheit« konzipiert, die darin »wohnt«. Aufgegangen ist mir das übrigens erst, seitdem ich als Direktor des Archäologischen Parks von Paestum, wo ich vor meinem Wechsel nach Pompeji arbeitete, selbst Zugang zum Tempelinneren hatte. Das war 2015. Es folgte die Entscheidung, die damals fürs Publikum geschlossenen Innenräume der Tempel zugänglich zu machen – im Fall des als »Basilika« bekannten Tempels sogar mit einem barrierefreien Rundgang, der erste und bisher einzige in einer Ruine dieser Art.

Auch in Pompeji versuche ich jeden Tag, den ich nicht auf Dienstreise bin, zwischen den zweitausend Jahre alten Häusern Zeit zu verbringen. Wenn es sich nicht während der Arbeit ergibt, weil eine Besprechung auf einer der zahlreichen Restaurierungsbaustellen oder eine Führung ansteht, mache ich abends noch einen Spaziergang, lasse mir von den Wachleuten momentan geschlossene Häuser öffnen. Auf solchen scheinbar unproduktiven, aber dennoch (oder gerade deswegen?) inspirierenden Spaziergängen kommen mir oft neue Ideen und neue Perspektiven öffnen sich plötzlich.

Im Studium ging es um solche Dinge so gut wie nie. Ich kam an der Humboldt-Universität in Berlin an mit der Vorstellung, mich unter Menschen wiederzufinden, die die Begeisterung für die Antike teilten. Aber wenn sie das taten, haben es die meisten gut versteckt. In Seminaren und Pausengesprächen ging es oft nur darum, mit Faktenwissen aufzutrumpfen. Als einmal Luca Giuliani aus München nach Berlin kam und in einem Gastvortrag den sterbenden Gallier nachstellte – er setzte sich tatsächlich in dieser Pose auf den Boden –, um zu zeigen, dass dessen Versuch, sich mit der Rechten wiederaufzurichten, aus anatomisch-physikalischen Gründen, die jeder selbst am eigenen Leib erfahren kann, zum Scheitern verurteilt ist, war das wie eine Erleuchtung. Meine Abschlussarbeit habe ich dann trotzdem zu was ganz anderem geschrieben: zu Latrinen und Abwassersystemen in antiken griechischen Städten. Ich kam darin zu dem Schluss, dass es die in der Zeit der griechischen Klassik nicht gab und dass wir uns die Straßen des antiken Athens und anderer Kunstzentren als Kloaken unter freiem Himmel vorstellen müssen. Ausgenommen davon waren lediglich die Heiligtümer und Tempel, da die Grenze zwischen schmutzig und sauber religiös fundiert war. Im Rückblick war mein emotionaler Motor die Rebellion gegen ein weißgewaschenes Bild der Klassik. Das war also eine Art Revolte gegen das Establishment, und tatsächlich ließen Reaktionen vonseiten einiger Professoren, die das nicht hören wollten, nicht auf sich warten.

Aber das ist gar nicht der Punkt. Das Beispiel zeigt einfach, wie bei Themenwahl, Ansatz und Reaktionen emotionale Triebfedern mitspielen. Ich fand es faszinierend, mir die Akropolis, von der eine Inschrift erhalten ist, die Kuhfladen aus dem Heiligtum verbannt (wie die Tiere dazu gebracht werden sollten, ist unbekannt), als eine durch allerlei Verbote, Regeln und architektonische Barrieren rein gehaltene Insel in einer von Unrat und Gestank strotzenden Stadt vorzustellen. Ich habe damals über das, was mich eigentlich zu dieser Arbeit bewegt hat, weder mit meiner Professorin noch mit irgendwem anders gesprochen. Vieles wurde mir erst im Rückblick klar.

In diesem Buch geht es darum: Warum interessiert uns die Antike heute überhaupt, was erzählt sie uns beziehungsweise über uns? Was macht die archäologischen Entdeckungen, von denen manchmal in den Medien berichtet wird, eigentlich bedeutsam? Um das herauszufinden, müssen wir uns erlauben, mit unserer persönlichen Geschichte und unseren emotionalen Triebfedern in Berührung zu kommen. Ohne die gäbe es weder Archäologie noch Kunstgeschichte oder Geschichte, sie ergäben schlicht keinen Sinn. Stendhal wusste das, und wir alle wissen es im Grunde auch. Wir müssen uns nur bewusst machen, dass die Vergangenheit mindestens so viel mit unseren eigenen Herausforderungen und Prägungen zu tun hat wie mit denen früherer Generationen; dass wir das Produkt der Vergangenheit sind, der Entscheidungen, die Menschen getroffen haben, manchmal vor Jahrhunderten; dass andererseits aber auch unsere Entscheidungen, die Geschichte auf eine bestimmte Weise zu erzählen, Gegenwart und Zukunft produzieren. Die Vergangenheit ist, so betrachtet, gar nicht wirklich vorbei: Wir, die wir sie immer neu erzählen und entdecken, sind mittendrin. Interbeing, »Zwischen-Sein«, könnte man das mit Thich Nhat Nanh, einem buddhistischen Mönch und Lehrer, nennen. Dazu gibt es kein Patentrezept, aber ich werde versuchen, es am Beispiel meiner Arbeit in Pompeji zu erklären. Kleiner Tipp vorweg: Es hat nichts mit der Säulenzahl zu tun!

1 Was ist dran an klassischer Kunst?

Der Pompeji-Effekt

»Sicher, dass die mich meinen?«, schoss mir neben vielen anderen Fragen durch den Kopf, als an einem regnerischen Nachmittag im Februar 2021 in meinem Büro in Paestum das Telefon klingelte und sich das Sekretariat des Kulturministers meldete. Die Woche zuvor war ich als einer von zehn Kandidatinnen und Kandidaten in Rom gewesen, um der Auswahlkommission meine Ideen für die Leitung Pompejis vorzustellen. Das war an einem Donnerstag. Nach Abschluss der Vorstellungsgespräche hatte die Auswahlkommission dem Minister, dem bei der Besetzung das letzte Wort zusteht, drei Namen unterbreitet. Aber das alles läuft streng geheim ab; man erfährt erst hinterher, wer es in die letzte Runde geschafft hat. Trotzdem fing mein Herz an zu klopfen, als der Anruf kam: Absagen kommen normalerweise nicht per Telefon, sondern in einer freundlichen Mail mit den besten Wünschen für den zukünftigen beruflichen Werdegang. Das Gespräch war ziemlich kurz. »Ich ernenne Sie zum Direktor von Pompeji«, sagte der Minister, und dass ich auf die Unterstützung des Ministeriums würde zählen können. Und noch was: kein Wort zu niemandem bis zur offiziellen Präsentation drei Tage später im Kolosseum in Rom.

Als ich aufgelegt hatte (ich hatte gesagt: farò del mio meglio, etwa: »Ich werde mein Bestes geben«), war mir ein bisschen schwindelig. Ich ging ins Freie, in die Tempelruinen von Paestum, wo es schon dämmerte. Pompeji! Das ist für die Klassische Archäologie (d. h. die Archäologie, die sich mit dem antiken Griechenland und Rom beschäftigt) so was wie der Vatikan für die katholische Kirche. Ein Ort, der wesentlich dazu beigetragen hat, die moderne Archäologie und Grabungstechnik zu entwickeln. Aber auch ein Ort, der extrem fragil ist. Zweitausend Jahre alte Mauern, deren Erbauer sich niemals hätten träumen lassen, dass die heute noch stehen würden, viele davon bedeckt mit Stuck und Freskomalereien, die wie heutzutage Tapeten je nach der aktuellen Mode erneuert wurden. Das alles ist der Witterung und den Besucherströmen ausgesetzt, teils seit über zweihundert Jahren (die Ausgrabungen in Pompeji begannen 1748). Pompeji ist also eine riesige Herausforderung für den Denkmalschutz; eine Verantwortung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird wie ein zerbrechliches, schutzbedürftiges Erbstück.

Vor allem aber: Pompeji bietet einen einzigartigen Querschnitt durch eine Provinzstadt der antiken römischen Welt. Mit seinen Häusern, Läden, Bäckereien, Bordellen, Kneipen, Brunnen, Plätzen, Tempeln und Friedhöfen (die in der Antike immer außerhalb der Mauern lagen) ist Pompeji für die Archäologie eine unermessliche Fundgrube.

Das Besondere ist, dass wir Dinge wie Statuen, Malereien, Wohn- und Tempelarchitektur, aber auch einfache Gebrauchsgegenstände in ihrem antiken Zusammenhang finden, und nicht, wie sonst in der Regel, in sogenannten sekundären Kontexten. »Sekundär« ist der Fundkontext eines Objektes, wenn es nach seiner Benutzung nicht mehr da ist, wo es eigentlich hingehört, sei es, weil es weggeworfen wurde, sei es, weil nach dem Verlassen einer Siedlung »postdepositionale Prozesse« wie Witterung, Zerfall, Überschwemmungen oder Bauarbeiten dazu geführt haben, dass sich den Ausgräberinnen und Ausgräbern viele Jahrhunderte später ein ziemlich verwirrendes Bild bietet. Ein Kochtopf zum Beispiel gehört eigentlich auf den Herd oder ins Küchenregal. Die meisten Kochtöpfe, die in der Antike übrigens oft aus Keramik waren, da Metall teuer und schwierig zu bearbeiten war, werden bei Ausgrabungen aber eben nicht in Küchen gefunden, sondern als Scherben auf Müllhalden oder in Auffüllschichten, in denen aller mögliche Unrat landet.

In Pompeji hingegen haben die Ausgrabungen tatsächlich eine Menge Kochtöpfe auf dem Herd, Brote im Ofen, Geldstücke in der Kasse und sogar ungemachte Betten im Schlafzimmer zutage gefördert. Das wird in der Archäologie manchmal als »Pompeji-Effekt« bezeichnet. Am Tag des Vesuvausbruches wurde die Stadt gleichsam eingefroren: eine einmalige Möglichkeit für die moderne Archäologie, in die antike Lebenswelt einzutauchen.

Die Sache mit der Klassik

Meine Zweifel, ob der Minister denn wirklich sicher war, den Richtigen ausgesucht zu haben, kamen vermutlich daher, dass mich an der klassischen Antike das »Klassische« ehrlich gesagt nie so richtig interessiert hat. Was macht so jemand in Pompeji, fragt man sich da, ist das doch neben Athen und Rom die UNESCO-Stätte, in der die klassische Antike nicht nur präsentiert, sondern regelrecht zelebriert wird. Vielleicht gibt das Buch eine Antwort darauf – eine Antwort, die nicht klar und eindeutig sein kann, weil unser Verhältnis zur klassischen Tradition in vielem ähnlich zweischneidig ist wie das zwischen Kindern und Eltern: Wir verdanken ihr so vieles, aber sie hat uns auch viel aufgebürdet, an dem wir noch lange herumlaborieren werden. Und wie das Eltern-Kind-Verhältnis, so tendiert auch unsere Beziehung zur »Klassik« dazu, emotional zu werden. Ich bin da keine Ausnahme. Das hat vermutlich damit zu tun, dass ich schon als Kind gespürt habe, dass »klassische Bildung« oft weniger der selbstlosen Suche nach Wahrheit und Schönheit dient, sondern vielmehr ein sozialer Ausschlussmechanismus ist. So eine Bildung muss man sich leisten können: Klavierunterricht, Familienreisen an Orte wie Pompeji, Athen oder Paris, Studium … Und überhaupt: Glaubt jemand ernsthaft, die Auswahl im dreigliedrigen deutschen Schulsystem erfolge objektiv gemäß der Veranlagung und der Leistung von Schülerinnen und Schülern? Tendenziell gehen doch immer noch mehr Kinder von Hochschulabsolventen aufs Gymnasium und Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien auf die Hauptschule.

Ich war auf dem Gymnasium und, ja, ich hatte Klavierunterricht, einige Jahre bei meinem Vater, der als Klavierlehrer seinen Lebensunterhalt bestritt. Aber als Scheidungskind im ländlichen Oberschwaben – Mutter Krankenschwester, Vater »Künschtler« (sehr verdächtig) – war klassische Bildung unterschwellig vor allem etwas, das den Zugang zur Welt der »ordentlichen Leute« zu regeln schien.

In unserem Dorf gehörten wir zu den ersten Scheidungsfamilien. Da unsere Mutter erst nachmittags von der Arbeit kam, luden wohltätige Eltern von Schulkameraden meine Schwester und mich an bestimmten Wochentagen zum Mittagessen ein. Da saßen wir dann schüchtern bei den »ordentlichen Leuten«, von denen uns ein unsichtbarer sozialer Graben trennte (übrigens auch ein kulinarischer: Meine Mutter wurde natürlich von den schwäbischen Hausfrauen in der Küche um Längen geschlagen). Wir Kinder merkten aber, dass es eine Möglichkeit gab, trotzdem Anerkennung zu bekommen: durch »Kultur«. Wenn ich etwas auf dem Klavier vorspielte oder, noch besser, den Kirchenchor begleitete, fanden Lehrer und Eltern das toll. Und wenn ich mich in der Schule ins Zeug legte, konnte ich hoffen, dass unsere ständig um die Finanzen bekümmerte Mutter strahlend vom Elternabend nach Hause kam und sagte: Ich bin ja so stolz! Als ich es dazu brachte, von den Eltern meiner Mitschüler als Latein-Nachhilfelehrer angeheuert zu werden, klopfte mir mal der Herr des Hauses, der im Vorstand einer karitativen Stiftung saß, auf die Schulter und sagte: »Na, Herr Professor?« Eine akademische Karriere war wohl ein Weg, durch den er meine Aufnahme in die »gute Gesellschaft« für vorstellbar hielt.

Es gab also Gründe, mich mit klassischer Bildung und klassischer Musik zu beschäftigen, die mit unserer Familiensituation zusammenhingen und gar nichts mit Kunst im hehren Sinn zu tun hatten. Natürlich war mir das damals so nicht bewusst, und es waren auch nicht die einzigen Gründe, die mich zum Lesen von »Klassikern«, zum Klavierspielen oder zum Lateinlernen animierten. Da war noch etwas, ein revolutionäres, transformierendes Potenzial »klassischer« Kunst, aber das ist mir erst sehr viel später klar geworden. Lange erschien mir klassische Kultur einfach als ein von oben verordneter Bildungskanon, mit dem man sich eben beschäftigen musste. Beethoven musste halt sein, viel mehr Spaß machte Blues. Schumanns Träumerei, die im Klavierunterricht drankam, fand ich ungefähr so traumhaft wie die Geranien auf dem Balkon meiner Patentante. Im Vergleich zu Laotse kam mir Sokrates langweilig und nervtötend vor mit seiner endlosen Fragerei. Anstatt in Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums, die meine Mutter im Regal stehen hatte, las ich lieber in den indianischen Mythen Nordamerikas. Wenige Kunstwerke schienen mir nichtssagender als der Apoll vom Belvedere, den Johann Joachim Winckelmann, Begründer der Klassischen Archäologie, im 18. Jahrhundert zum Ideal klassischer Schönheit hochjubelte. Was an einem nackten Mann mit Sandalen, der an peinliche FKKler am Kieselstrand erinnerte, schön, gar ergreifend sein sollte, war mir rätselhaft. Auf der Klassenfahrt nach Rom streunte ich lieber durch das verwinkelte Ghetto, das mittelalterliche jüdische Viertel am Tiber-Ufer, als übers antike Forum Romanum, das mir ernüchternd klein und übersichtlich vorkam. Und viel faszinierender als einen klassischen Tempel in all seiner Symmetrie und Transparenz fand ich die alten Bauernhäuser, die sich an die oberschwäbischen Hügel duckten und in denen jahrhundertealte Geheimnisse zu schlummern schienen. Ein denkbar weiter Weg zu den Stadtpalästen Pompejis mit ihrem bunten Stuck, der griechischen Marmor imitiert, erhalten in allen farblichen Schattierungen dank des »Pompeji-Effekts«. Oder doch nicht? Ist das eine dem anderen näher, als es scheint?

Chronik einer Katastrophe

Wie kommt es eigentlich zum sogenannten Pompeji-Effekt? Wie genau muss man sich die Stunden des Vesuvausbruchs vorstellen, die uns eine Stadt der klassischen Welt auf so unvergleichliche Weise erhalten haben, inklusive Brote im Ofen und Töpfe auf dem Herd? Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten.