Von Arsen bis Zielfahndung - Christine Lehmann - E-Book

Von Arsen bis Zielfahndung E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Was ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag? Welches Gift wirkt wie? Woran merkt man, dass ein Toter ermordet wurde und sich nicht etwa selbst umgebracht hat? Wofür genau ist eine Staatsanwältin zuständig? Und wie sieht eine Wasserleiche wirklich aus? Auf den Dauerseller "Das Wort zum Mord" folgt jetzt "Von Arsen bis Zielfahndung", der zweite Leitfaden für alle, die Interesse am Krimihandwerk haben. Die Lisa-Nerz-Schöpferin Christine Lehmann hat sich gemeinsam mit dem polizeikundigen Fahnder Manfred Büttner das Ziel gesetzt, Sachverstand in die deutsche Krimikultur zu bringen. Mit solchem Handwerkszeug kann jeder Autor, jede Autorin ihre Szenarien wirklichkeitstreu gestalten. In Krimis sind rund die Hälfte aller Täter Frauen, im wahren Leben liegt die Frauenquote bei Mördern unter zehn Prozent. Die überwältigende Mehrheit dieser Morde wird mit Gift begangen – das heißt aber nicht, dass 90 % aller Giftmorde von Frauen begangen werden! Lehmann und Büttner arbeiten mit Witz und Verve daran, die Krimiwelt von Märchen und Vorurteilen zu befreien. Bei aller Fachkompetenz bleibt der Text noch bis in die trockensten Aspekte der Polizeiarbeit äußerst unterhaltsam, zumal die Fakten mit süffigen Beispielen aus Literatur und Film aufgelockert sind. "Von Arsen bis Zielfahndung" ist ein unverzichtbares Handbuch für Schreibende und Wissbegierige: Von der korrekten Art, Funksprüche abzusetzen, über eine Auflistung, welche Abteilung wann am Tatort eintrifft, bis zur Besoldung der einzelnen Dienstränge steht hier ein einmaliges Arsenal an Fakten zur Verfügung, und der Sinn fürs Realistische wird gründlich geschärft. Und auch wenn Lehmann und Büttner ihren Kolleginnen nicht alle Arbeit abnehmen wollen, gibt es als Sahnehäubchen eine kleine Giftkunde und viele weitere mörderische Details …

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Ariadne[Leit]Faden

Manfred Büttner / Christine Lehmann

Von Arsen bis Zielfahndung

»Ein hochinteressantes Werk!

Ich kann die Autorin und den Verlag nur dazu beglückwünschen. Insbesondere habe ich mich natürlich mit den Themen zur Rechtsmedizin befasst und darf sagen, dass hier erstklassig recherchiert und wiedergegeben wurde.

Ich wünsche dem Handbuch eine große Verbreitung unter der schreibenden Zunft.

Man kann den Krimiautorinnen nur raten,

dieses Buch zur Hand zu nehmen.«

Prof. Dr. med. M. Tsokos

Direktor des Instituts für Rechtsmedizin

der Charité Berlin

Keineswegs fordern wir, dass Autorinnen sich stets von der Wahrscheinlichkeit des Realistischen gängeln lassen und jegliche Fantastik im menschlichen Verhalten aus unseren Krimis verbannt sein muss. Wir denken nur: Die dichterische Freiheit endet dort, wo der Rechtsstaat beginnt, vor allem dann, wenn wir über Unrecht schreiben. Und es gehört eben zu den Grundsätzen, dass kein Mensch von der Polizei befragt wird, ohne zu ahnen, ob er nun verdächtig ist oder Zeuge, und dass kein Staatsanwalt Haftbefehle ausstellt, sondern Zwangsmaßnahmen immer vom Richter angeordnet werden. Alles andere – die Giftkunde, die12

Autor und Autorin

Manfred Büttner, Jahrgang1956, lebt in Stuttgart, ist Diplom-Finanzwirt (FH) und seit vielen Jahren als Steuerfahnder tätig. Neben seiner Arbeit als Ermittler in Wirtschaftsstrafsachen ist er Dozent an den Hochschulen der Polizei und der Steuerverwaltung des Landes Baden-Württemberg.

Veröffentlichung:Ermittlung illegaler Vermögensvorteile, Boorberg, Stuttgart2005. www.vermoegensabschoepfung.de

Christine Lehmann,1958in Genf geboren, wohnhaft in Stuttgart und Wangen im Allgäu, hat Germanistik und Kunstgeschichte studiert und in Literaturwissenschaft promoviert. Sie arbeitet als Politik­redakteurin beimSWRund schreibt unter anderem Kriminalromane, Krimi-Essays (z. B. »Doch die Idylle trügt – Über Regionalkrimis«, in:Das Argument278, oder für Wörtches Krimikolumne imTitelMagazin) und Kriminalhörspiele. Bei Ariadne erschienen sämtliche Lisa-Nerz-Krimis: ­Vergeltung am Degerloch,Gaisburger Schlachthof,Pferdekuss,Harte Schule,Höhlenangst,Allmachts­dackel,Nachtkrater,Mit Teufelsg’walt,MalefizkrottundTotensteige.

www.lehmann-christine.de

Manfred Büttner / Christine Lehmann

Von Arsen bis Zielfahndung

Das aktuelle Handbuch für

Krimiautorinnen und Neugierige

ARGUMENT / Ariadne

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2009

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

Satz: Iris Konopik

Umschlag: Martin Grundmann, herstellungsbuero-hamburg.de

ISBN 978-3-86754-876-2

Vierte Auflage 2016

Inhalt

Vorworte13

Unser detektivischer Sinn17

Krimi ohne Kriminologie20

Teil 1: Das Mordmotiv23

Rache24

Herrschsucht26

Strafe · Familiendrama · Erweiterter Selbstmord

Ohnmacht des Opfers29

Erpressung · Das Stockholm-Syndrom

Die Frauenquote32

Mordende Mütter34

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom · Neonatizid · Unbemerkte Schwangerschaft

Triebtäter38

Teil 2: Der Mord41

Der perfekte Mord43

Selbstmord45

Sterbehilfe45

Der gewaltsame Tod46

Schusswaffen47

Schmauchspuren · Waffenscheine

Messer48

Schnittverletzungen · Stichverletzungen

Hiebverletzungen51

Ersticken52

Erhängen · Erdrosseln · Erwürgen · Reflextod

Ertrinken56

Süßwassertod · Salzwassertod · Reanimation · Die Wasserleiche

Sprengstoff60

Schwarzpulver · Dynamit · Plastiksprengstoff

Stromtod62

Steckdose · Blitzschlag · Strommarken

Tod in der Badewanne63

Feuer64

Kohlenmonoxid · Kohlendioxid · Nitrose Gase

Stürze65

Hirnverletzungen67

Amnesien67

Kongrade Amnesie · Retrograde Amnesie · Plötzlicher Gedächtnisverlust · Antegrade Amnesie · Transiente Globale Amnesie

Der Giftmord72

Tödliche Dosis74

Kleine Giftkunde75

Medikamente75

ASS · Barbiturate · Benzodiazepine · K.o.-Tropfen · TCA

Pflanzenschutzmittel76

Alkylphosphate und Carbamate · Paraquat · E605

Klassische Krimigifte78

Arsen · Thallium · Zyanid

Bio-Gifte82

Nikotin · Aconitin · Atropin · Coniin · Rizin · Taxin · Oleandrin · Digitaloide · Cytisin · Strychnin · Kurare

Das Pilzgericht88

Grüner Knollenblätterpilz · Mutterkorn

Tiergifte90

Seewespen und anderes Getier · Palytoxin/Maitoxin · Tetrodotoxin · Batrachotoxin

Bakteriengifte95

Botulinumtoxin · Milzbrand

Tödliche Viren97

Das Gift der Sterbehelfer97

Teil 3: Die Ermittlungen99

Mord oder Totschlag99

Verbrechen oder Vergehen?

Notfallort oder Tatort102

Die zwölf ersten Schritte103

Der Tote wird gefunden · Erster Angriff der Polizei · Die Kriminalpolizei übernimmt · Kriminaltechnik vor Ort · Die Staatsanwältin erscheint · Abtransport der Leiche · Erste Entscheidungen · Die Gerichtsmedizin · Die Obduktion · Kriminaltechnische Untersuchungen · Ermittlungsarbeit · Abschluss der Ermittlungen

Zeugen, Täter, Täterwissen110

Zeugen, Beschuldigte und Unbeteiligte111

Der Beschuldigte111

Die Belehrung · Das Recht auf einen Anwalt · Tatbeweis duch die Vernehmung – Täterwissen

Zeugen und Sachverständige116

Die Zeugeneinvernahme · Informatorische Befragung

Unbeteiligte – Privatdetektive122

Verwandte, Bekannte, Freunde123

Kriminaltechnik124

Spurensicherung125

Genspuren126

Klassische Spuren129

Blut · Glas · Haare · Handschuhe · Fingerabdrücke

Teil 4: Die Leiche135

Die leblose Person137

Sichere Todeszeichen137

Totenflecken · Leichenstarre

Der Sterbeprozess139

Individualtod · Intermediäres Leben · Absoluter Tod · Leichengift

Wenn die Würmer kommen141

Der Todeszeitpunkt144

Körpertemperatur · Leichenstarre · Idiomuskulärer Wulst · Elektrische Erregbarkeit

In der Gerichtsmedizin146

Äußere Leichenschau148

Identifikation · Zähne · Bestimmung des Alters · Hämatome · Wunden · Schusswunden · Vergewaltigung

Innere Leichenschau152

Der Schnitt · Das Gehirn · Weitere Verfahren

Der letzte Zeuge153

Zum Begräbnis freigegeben155

Teil 5: Die Fallanalyse156

Profiler156

Die operative Fallanalyse158

Ablauf einer Fallanalyse159

Ausgangsdaten · Entscheidungsprozess · Verbrechensanalyse · Täteranalyse · Täterprofil

Serienmörder164

Wenn der Täter an den Tatort zurückkehrt

Aktionsradius166

Tatmuster167

Vier Phasen einer Tat167

Tätertypen167

Der planende Täter · Der impulsive Täter

Serienmörderinnen170

Todesengel

Pädokriminelle171

Teil 6: Die Ermittler173

Bullen oder Cops173

Polizei spricht über die Polizei Polizei spricht mit der Polizei – persönlich  Polizei spricht mit der Polizei – Funkverkehr

Polizei und Bürger177

Bürger und Justiz178

Beschuldigter, Angeklagter oder Betroffener178

Wenn die Polizei erscheint179

Die Polizei180

Laufbahn und Dienstränge181

Polizei in Zahlen183

Frauenanteil · Verdienst · Die Vorgesetzten

Schutzpolizei – Kriminalpolizei186

Kripo, Bepo, Soko, SEK, MEK188

Landespolizei · Schutzpolizei der Länder · Spezialisierung bei der Schutzpolizei · Bereitschaftspolizei · SEK · Kriminalpolizei der Länder · Dienststellen und Büros · Dienstwaffen in Diensträumen · Dezernat für Tötungsdelikte · Mordkommission, Soko, Ermittlungsgruppe · MEK · Das Landeskriminalamt · Bundespolizei · Bundeskriminalamt ·Ortspolizeibehörden · Zollfahndung · Steuerfahndung

Die Staatsanwaltschaft199

Die Staatsanwältin als Ermittlerin199

Werdegang · Am Tatort · In der Soko

Aufgaben der Staatsanwaltschaft204

Durchsuchungsbeschluss und Haftbefehl205

Teil 7: Wirtschaftsverbrechen207

Betrug und Geldwäsche207

Geldwäsche

Das Bankgeheimnis211

Das Steuergeheimnis212

Teil 8: Zwangsmaßnahmen213

Verhören oder vernehmen215

Festnehmen und verhaften215

Flucht- und Verdunkelungsgefahr · Kautionen

Der Haftbefehl217

Festnahme218

Der Weg in die Untersuchungshaft219

Nach der Verhaftung oder Festnahme219

Handschellen · Polizeigewahrsam

Kontakt mit dem Richter221

Verschuben

Kontakt mit Angehörigen und Anwalt223

Untersuchungshaft224

Durchsuchung oder Razzia225

Durchsuchungen227

Geheimnisträger · Der Durchsuchungszeuge · Gefahr im Verzug

Schlösser öffnen232

Siegel und Siegelbruch

Der Nahkampf235

Karate oder Judo?

Kampftechniken der Polizei237

Straßenkampf · Die Geisel · Der Tonfa

Heimliche Überwachung240

Ausspähen von Terrorzellen241

Ausspionieren von Personen242

Nachschlüssel · Wanzen · Handyspion · Computerspion

Verdeckte Ermittler244

noeB · V-Person

Zielfahnder246

Topsecret246

Das war’s247

Verwendet und zum Weiterlesen249

Vorworte

Als ich Anfang der Neunziger mit dem Krimischreiben begann und über die Habeas-Corpus-Akte nachdachte, fiel mir auf, dass meine Begriffe von Polizeiarbeit und Rechtssystem aus dem angelsächsischen Krimi stammen. Ich kannte Chefinspektoren, hatte aber keine Ahnung von deutschen Polizeidienstgraden. Und wie sie arbeiten … tja! Also habe ich mir eine Strafprozessordnung besorgt und sie mit vielen Anstreichungen versehen. Aber die Praxis, wie geht die? Ein Polizist hat mir mal gezeigt, wie man einen Mann fixiert und abtastet und wie Handschellen tatsächlich funktionieren. Ich bin eine Nacht mit der Innenstadt-Streife mitgefahren, habe mir den Polizeigewahrsam angeschaut und gerochen, wie es da riecht, war mit bei der Ärztin, die im Präsidium in einem kleinen Raum mit Minirock und Thermosflasche saß und dem Fahrerflüchtigen Blut abnahm, und war mit meinen Streifenbeamten im Puff, um einen zahlungs­unwilligen Freier zur Raison zu bringen. Um herauszufinden, wie ein bestimmtes Gift wirkt, habe ich einen Arzt gefragt. Doch der hatte seinen hippokratischen Eid geschworen und Hemmungen, mir zu erklären, wie man Menschen umbringt. Und als ich vomADACwissen wollte, wie man die Bremsen eines Fahrzeugs manipuliert, fehlte nicht viel, und der Mann am Telefon hätte mir die Polizei auf den Hals gehetzt. Bis heute lasse ich deshalb übrigens bei Manipulationen an technischen Geräten oder Giftcocktails, die tödlich wirken sollen, ein kleines, aber wichtiges Detail weg. Das Internet erleichtert inzwischen die Recherche von Arsen bis Zielfahndung, aber wie Polizisten drauf sind, wie sie miteinander reden, wie es bei einer Leichenöffnung riecht oder wer als Erster am Tatort ist, wissen wir Krimiautorinnen oft trotzdem nicht.

Wir haben allerdings einen Begriff von Verbrechen, Polizei und Leichen. Doch der stammt meist nicht aus dem Studium von Polizeiakten und Gerichtsprotokollen, sondern aus Kriminalromanen undTV-Serien wieTatort,Soko5113oderPfarrer Braun. Die führen uns eine Realität von Poli­zeiarbeit vor, die es nicht gibt. Es fällt uns nur nicht auf, so mächtig ist die Realität des Fiktiven geworden. Wir ziehen gar nicht in Zweifel, ob die Rechts­medizinerin am Leichenfundort erscheint und eine erste Einschätzung abgibt. Es erscheint uns sogar besonders wirklichkeitsnah.

Viele Irrtümer sind lässlich, weil ohne Einfluss auf den Plot. Wenn wir imTV-Krimi einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss mit einem Poli­zeisiegel im Briefkopf sehen, ist es letztlich egal, denn das entscheidet die Geschichte nicht. Aber wenn der Plot nur zustande kommt, weil wir unsere Ermittler einen Rechtsbruch nach dem anderen begehen lassen und so tun, als gäbe es weder genetische Fingerabdrücke noch überhaupt eine Kriminaltechnik, dann erzählen wir Märchen. Und die märchenhafteste Gestalt ist derzeit in unseren Krimis der Profiler. Deshalb bin ich ausführlicher der Frage nachgegangen, was in deutscher Wirklichkeit eigentlich Profiling bedeutet (Die Fallanalyse).

Den meisten Krimiautorinnen, Drehbuchschreibern und Regisseuren ist durchaus bewusst, dass ihre Geschichten die Wirklichkeit und das Recht beugen. Und viele Konsumenten sagen, es sei ihnen egal. Aber will ich wirklich in meinem Krimi von Deutschland das Bild eines Polizeistaats zeichnen, in dem Polizisten zuschlagen oder auf Flüchtende schießen, in dem sie nach Gutdünken verhaften, in Wohnungen einbrechen und ohne richterlichen Beschluss in Schubladen wühlen, in denen Zeugen plötzlich zu Beschuldigten werden, ohne jegliche Rechtsbelehrung? Und brauche ich wirklich immer das ertrickste oder mit Drohungen erpresste Geständnis eines Täters, um meinen Fall zu beschließen? Vielleicht wären die vielfältigen kriminalistischen Methoden, mit denen man Verbrechen aufklären und den Täter überführen kann, ja auch mal ganz interessant. Und vielleicht steckt in der Wirklichkeit des Zusammenspiels von Polizei, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin ja sogar die eine oder andere nagelneue Krimigeschichte.

Also habe ich meinen langjährigen Freund Manfred Büttner, den ich immer frage, wenn ich Polizeijargon, Strafprozessordnung und Wirtschaftsdelikte brauche, gefragt, ob er mit mir zusammen dieses Buch schreibt. Und er hat Ja gesagt.

Christine Lehmann

»Sind in Polizeiautos eigentlich Ringe angebracht, an denen Handschellen von Verhafteten während der Fahrt festgemacht werden?« In meiner Erinnerung war das die erste Fachfrage, die mir Christine Lehmann gestellt hat. Das ist lange her. Seitdem habe ich versucht, viele solcher Fragen zu beantworten und bei manch einem Plot, den meine Freundin in ihren Krimis entwickelt hat, hilfreich zur Seite zu stehen. Und habe dabei auch selbst gelernt. Zwar habe ich langjährige Erfahrungen als Ermittler in Steuerstrafsachen und bilde unter anderem Polizeibeamte im Bereich Wirtschafts­kriminalität aus, zwischen einer Betrugs- und einer Mordermittlung besteht dann aber doch schon ein spürbarer Unterschied.

Kommt die Gerichtsmedizin eigentlich zu jedem Leichenfund? Und wie sieht es mit der Staatsanwaltschaft aus? Ich habe mich bei solchen Fragen bemüht, der Versuchung zu widerstehen, die allgegenwärtige Juristen­antwort zu gehen: »Das kommt darauf an.« Passt zwar immer, hilft aber nicht wirklich weiter. Und deshalb habe ich nachgefragt bei Kolleginnen und Kollegen der Fachdezernate, bei Staatsanwaltschaft und Gericht. Und weiß jetzt: Gerichtsmedizinerin und Staatsanwältin sind nicht immer am Leichenfundort, sondern nur manchmal. Wann genau, wird in diesem Buch beantwortet, so wie vieles andere auch zum Ablauf der Ermittlungshandlungen, dem Alltag von Ermittlern und den Strafgesetzen.

Um eines vorwegzunehmen: Es stört mich keineswegs, wenn in Krimihandlungen die Gerichtsmedizinerin immer am Fundort erscheint, wenn sie gar Anweisungen von Polizeibeamten entgegennimmt oder sie ihnen Rechenschaft ablegen muss, weil sie einen Termin nicht einhalten kann. Sogar der Pistolen oder Handschellen schwingende Staatsanwalt oder der Schutzpolizist als Dienstbote des Kriminalpolizisten bringt mich inzwischen nicht mehr ernstlich aus der Ruhe, auch wenn keines der Bilder der Realität entspricht. Solche Fantasie-Ermittlungsabläufe sind zwar falsch, aber für mich nicht wirklich schlimm.

Vielfach gilt das auch für die krimigemäße Erläuterung von Rechtsfolgen. Stünde etwa in der Klausur einer Jurastudentin, ein Totschläger müsse anders als ein Mörder »nur« eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren befürchten, könnte das Punktabzug bedeuten. Die Aussage stimmt zwar in den meisten Fällen, in besonders schweren Fällen lautet aber auch bei Totschlag das Urteil auf lebenslänglich, und in minderschweren Fällen beträgt die Mindeststrafe nur ein Jahr. Folglich würde die Studentin in der Klausur vermutlich eines der sprachlichen Hintertürchen der Juristerei verwenden und vor ihre Aussage »in der Regel«, »grundsätzlich« oder »insoweit« packen. Das habe ich bei meinen juristischen Ausführungen in diesem Buch auch getan und habe prompt von meiner Krimiautorin Punktabzug bekommen – beim sprachlichen Ausdruck. Also habe ich mich zusammengenommen und den juristischen Fachjargon so weit wie möglich vermieden.

Ich habe mich aber nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, alle Aussagen so zu machen, dass sie denkbare Lebenssachverhalte zu nahezu hundert Prozent treffen, und dann zur Sicherheit bei allen relevanten Rechtsnormen auch noch die jeweiligen Paragraphen zum Nachlesen angeführt. Sollten dennoch rechtliche Unschärfen verblieben sein, bitte ich vielmals um Entschuldigung.

Außerdem habe ich sehr viel Wert darauf gelegt, rechtsstaatliche Verfahrensabläufe verständlich, aber genau zu schildern. Sind nämlich von Ermittlungshandlungen bürgerliche Grundrechte tangiert, empfinde ich grobe Schnitzer, wie sie leider auch in der Krimilandschaft vorkommen, als fatal. Denn sie berühren in vielen Fällen das Selbstverständnis des Rechtsstaats, in dem wir leben. Und in diesem Staat stellen Polizisten nun eben mal keine Durchsuchungsbefehle aus, sie brechen nicht auf der Suche nach belastendem Beweismaterial so ganz nebenbei in Wohnungen oder Büros ein, sie verweigern Beschuldigten nicht regelmäßig den anwaltlichen Beistand und so weiter. Andererseits lassen sich Geldtransfers auf dem Giro­konto des Betroffenen durch Bankermittlungen herausbekommen, auch wenn man als Ermittler keine Bankmitarbeiterin persönlich kennt und sich von ihr unter der Hand Daten zuspielen lässt. Dazu braucht es in Realität, mit oder ohne Bankbekanntschaft, eine richterliche Anordnung. Und die beantragt auch nicht die Polizei, sondern die Staatsanwaltschaft (Das Bankgeheimnis).

Hoffentlich finden Sie auf Ihre Fragen im Folgenden auch die passenden Antworten. Nur auf eine ganz sicher nicht, deshalb gleich vorweg: In Streifenwagen gibt es keine Ringe, an denen Handschellen festgemacht werden. Der Gefangene wird an der Flucht gehindert, indem er hinten geschlossen und ins Fahrzeug gesetzt wird (Der Weg in die Untersuchungshaft).

Manfred Büttner

Unser detektivischer Sinn

Für Konsumentinnen von Krimis ist es ganz einfach, den Mörder zu entlarven. Wir brauchen dazu keine kriminalistischen Methoden, wir müssen keine Alibis abgleichen oder Puzzleteile zusammenfügen. Es genügt, wenn wir wissen – und das wissen wir auch intuitiv –, wie Krimis aufgebaut sind.

Wenn imTatortMauerblümchen(MDR,8.3.2009) ein Leipziger Bauunternehmer ermordet wird, dann ist der Täter nicht der Bauunternehmer, der sich am Vorabend mit ihm traf, und auch nicht die Ehefrau, die als Erste in Verdacht gerät. Als erfahrene Krimiguckerinnen wissen wir es, sobald er auftritt: Es ist der Mann, der von Helmut Zierl gespielt wird, dem prominentesten Schauspieler in einer Nebenrolle. Im Buch ist der Täter (oder die Täterin) fast immer die Figur, die der Ermittlerin auf den ersten Seiten begegnet und die am Verbrechen unbeteiligt erscheint. Das muss so sein, denn als Krimiautorinnen sind wir gehalten, unseren Täter oder unsere Täterin nicht erst im letzten Drittel einzuführen. Er oder sie muss von Anfang an als starke Figur präsent sein.

Im Fernsehkrimi ist die Dramaturgie noch standardisierter. Man kann die Uhr danach stellen. Wenn er um20:15Uhr anfängt und anderthalb Stunden dauert, wissen wir beispielsweise, dass alle, denen die Polizei bis21:30Uhr hinterherjagt, nicht die Täter sind. Wir behalten derweil die prominente Nebenrolle oder die scheinbar am Verbrechen unbeteiligte Frau im Auge. Um21:30Uhr enden alle Nebenhandlungen und Verwirrungen, und wer nun in den Fokus gerät, der ist es, eben die prominente Nebenrolle oder die Frau, die niemand in Verdacht hatte.

Die Polizei, deren Tun wir in Krimis beobachten, muss dagegen durchaus kriminalistisch handeln. Sie muss einen Täter identifizieren und überführen. Seit Jahrzehnten wird die Ermittlungsarbeit im deutschen Fernseh­krimi von einem Kommissar und seinem Assistenten erledigt. Manchmal hat er mehrere Assistenten, manchmal ist der Kommissar auch eine Frau und hat einen jüngeren Ermittlungspartner. Sie haben ein Büro, zuweilen taucht eine Sekretärin auf oder auch mal ein Chef, der zur Eile mahnt. Neuerdings wird das Ensemble durch eine Gerichtsmedizinerin ergänzt, und gelegentlich lässt sich jetzt auch schon eine Staatsanwältin blicken. Seit Ende der siebziger Jahre kennen wir auch Sokos (ZDF). Der Polizeibegriff war damals ziemlich unbekannt und sollte für Teamarbeit stehen. In Fernseh-Sokos ermitteln meistens fünf Personen. Fiktion muss die handelnden Personen reduzieren, deshalb kann sie nie eine zwanzigköpfige Soko abbilden. Zu viel Lebenswirklichkeit lenkt ab. Und ein Kommissar, der den Fall im Büro am Schreibtisch beim Aktenstudium löst, erfordert höchstes erzählerisches Talent, um den Fall und die handelnden – oder eben nicht handelnden – Personen doch irgendwie spannend zu machen.

Dass Krimis eins zu eins Realität sein sollen, wäre eine unsinnige Erwartung. Aber es gibt auch Untergrenzen. Bei mir war Schluss mit lustig, als bei einer Lesung eine meiner Mitstreiterinnen einen Kurzkrimi vorlas, der im Prinzip*folgendermaßen ablief:

Fanny Fuchs hat eine Mordswut auf ihren Mann. Im Streit schubst sie ihn gegen die Eichenschrankwand. Aus dem obersten Fach fällt eine Bronzeplastik auf seinen Schädel. Er ist tot!, stellt Fanny fest. So ganz unrecht ist es ihr nicht. Aber wer wird ihr glauben, dass sie ihn nicht ermordet hat? Die Mordkommission ermittelt. Kommissar Kalle Holbein jagt sie. Fanny taucht unter, doch er trifft sie zufällig in der Sauna, verhaftet sie und triumphiert: »Für den Mord an Ihrem Mann kommen Sie für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis.« Wie soll sie ihm beweisen, dass sie nicht zugeschlagen hat? Sie ergreift sein Handtuch und erdrosselt ihn.

Das Drama einer Frau, die ihren nicht geliebten Mann durch einen Zufall loswird, sich als Gejagte sieht und in ihrer Angst, für den Rest ihres Lebens für einen Mord büßen zu müssen, den sie nicht begangen hat, zur Mörderin wird, mag psychologisch interessant sein, doch würde es sich ums Verrecken in unserer Wirklichkeit nicht zutragen können.

Aus der Tatortanalyse der Kriminaltechniker, aus Auffindesituation, Lage der Leiche, Verletzungen und Spuren ergibt sich nämlich ziemlich genau, was vorgefallen ist. Man würde vermuten, dass die Ehefrau ihren Mann gestoßen hat. Von einem Mordvorwurf sind wir da noch weit entfernt. Fanny stünde höchstens unter dem Verdacht des Totschlags oder der gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge. Darauf steht nicht unbedingt lebenslänglich. Da kann Kommissar Holbein noch so drohend, geifernd oder einschüchternd auftreten, ihr heimtückischen Mord unterstellen, letztlich entscheidet die Richterin. Und nicht Fanny muss beweisen, dass sie ihren Mann nicht getötet hat, sondern die Staatsanwältin muss die Beweise vorlegen, dass Fanny ihren Mann töten wollte oder seinen Tod billigend in Kauf genommen hat. Wenn sie das nicht kann, wird die Richterin Fanny am Ende freisprechen, zumindest in diesem Punkt.

Sollte sich nämlich bei den Ermittlungen herausstellen, dass Fanny ihren Mann in der Wohnung zurückgelassen hat, wissend, dass er noch nicht tot war, muss sie sich wegen strafbarer Aussetzung verantworten. Allerdings hätte ihr Mann ihr da auch leicht selbst einen Strich durch die Rechnung machen können. Denn nach einiger Zeit wäre er vielleicht mit brummendem Schädel aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, hätte die blutige Wunde ertastet und selbst den Arzt rufen können. Schädelverletzungen sind nicht immer sofort tödlich. Sie entfalten ihre tödliche Wirkung oft im Laufe von Stunden, manchmal sogar Tagen, wenn sie nicht medizinisch versorgt werden (Hirnverletzungen).

Den Mord in der Sauna hätte Fanny sich jedenfalls sparen können. Was Kommissar Holbein über sie denkt, ist irrelevant. Und verhaften kann er Fanny auch nicht, denn dazu bräuchte er einen vom Richter unterschriebenen Haftbefehl. Er kann Fanny bestenfalls vorläufig festnehmen (Festnehmen und verhaften).

Aber nehmen wir an, Fanny kennt sich mit den juristischen Feinheiten nicht aus und glaubt sich verloren. Nehmen wir an, ihr kommt auch der Gedanke nicht, dass hinter Holbein ein ganzes Dezernat, ja ein riesiger Polizeiapparat steckt, der nicht ruhen wird, bis er eine Polizistenmörderin gefasst hat, dann sollte sie wenigstens nicht Holbeins Saunahandtuch nehmen, um ihn zu erdrosseln, sondern eine Kordel, ein Stahlseil oder die Kette, die er trägt.

Erdrosseln mit einem Handtuch ist ein Kraftakt, der zwischen fünf und zehn Minuten dauert. In den ersten Minuten ist die Gegenwehr überdies heftig. Hört Fanny auf, sobald Holbein ohnmächtig ist, erholt er sich wieder und kann ihren Anschlag bezeugen. Fanny kann ihn nur dann rasch handlungsunfähig machen, wenn sie ihn mit seiner eigenen Goldkette stranguliert (falls die Kette hält), ihm also die Hirnvenen abdrückt (Der gewaltsame Tod). Auch das dürfte in der schweißglitschigen Atmosphäre der Sauna nicht so einfach sein. Keinesfalls sollte sie glauben, ihr Werk sei getan, wenn sich Holbeins Blase entleert und er sich nicht mehr regt. Lässt sie zu früh los, überlebt er.

Krimi ohne Kriminologie

Populäre deutsche Krimis neigen dazu, die Kriminalistik brachliegen zu lassen. Wir schreiben Gesellschaftsstücke, die einer erzählerischen oder filmischen Dramaturgie folgen, welche die Spannung aus den zwischenmenschlichen Konflikten und individuellen Aktionen bezieht. Im Krimi werden Verbrechen hauptsächlich auf kommunikativer Ebene gelöst: Befragungen, Besuche, Alibi-Überprüfung, raffinierte Vernehmungen, Schlauheit des Ermittlers und Zufälle. Tatsächlich aber ist die Untersuchung eines Tötungsdelikts institutionalisiert und unter zahlreichen Akteuren und Abteilungen aufgeteilt, findet in Laboren, an Konferenztischen und in Akten statt und wird von zahllosen, dem individuellen Handeln der Ermittler übergeordneten Regeln begleitet.

DieSoko Wismar, die in einer hübschen Polizeidienststelle untergebracht ist und aus Chef, zwei zivilen Ermittlern und zwei bis drei uniformierten Beamten besteht, wird zu einem Toten gerufen, der im Stroh eines entlegenen Bauernhofs liegt (ZDF, 10.12.2008). Der Gerichtsmedizinerin fällt auf, dass sein Gesicht nach Benzin riecht, den Kommissaren, dass sein Anzug zu groß ist. Die Kriminaltechnik stellt fest, dass der Anzug gereinigt wurde und lange in einem Schrank lag. Zugleich ist der Gast des Bauernhofs, eine Frau, verschwunden. Im Zimmer der Frau finden sich Männerkleider. Die Ermittler finden nach und nach Hinweise, dass der Mann ein Transsexueller war, der seine Umwandlung zur Frau betrieb. Er/Sie wurde vom Bauern umgebracht, als er entdeckte, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, biologisch noch ein Mann ist. Der Bauer hat sein Opfer mit bloßen Händen erwürgt und ihm dabei den Kehlkopf eingedrückt. Dann hat er dem Opfer mit Benzin die Schminke aus dem Gesicht entfernt, ihm die Frauenkleider ausgezogen, Männerkleider (seinen eigenen alten Anzug) angezogen und ihn anderntags von seiner Schwester in der Scheune finden lassen.

Eine ungewöhnlich originelle Geschichte, das muss man sagen. Da denken wir auch nicht weiter darüber nach, ob man immer tumbe Bauern vom Land entlarven muss oder warum ein Transsexueller sein Coming-out als Frau an einem Bauern in Mecklenburg ausprobiert statt in Berlin. Allerdings hätten in Wirklichkeit Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin den Ermittlungen sogleich die Zielrichtung vorgegeben, welche die Ermittler hier mühsam aus Zeugenbefragungen und illegalen Wohnungsdurchsuchun­gen extrahieren und wofür sie zum Schluss das Geständnis des Täters brauchen. Der Fall wäre ohne eine einzige Zeugenbefragung aufgeklärt worden.

Man muss sich nur vorstellen, wie der Bauer die Leiche auszieht und wieder anzieht. Das ist anstrengend und langwierig. Der Transsexuelle dürfte von der Perücke bis zum Slip vollständig weibliche Wäsche getragen haben. Und von der Unterhose bis zum Anzug müsste der Täter ihn neu eingekleidet haben. Und dabei sollte er wirklich keinerlei Spuren hinterlassen haben, keinen Strohhalm zwischen Unterhemd und Haut, was kein Lebender ertragen hätte, keinen Kratzer seiner Fingernägel auf der Haut des Toten, kein Haar von seinem Kopf? Die Gerichtsmedizinerin hätte am Körper des Toten unbedingt fremdes Genmaterial gefunden, Haare und Hautschuppen. Außerdem hätte sie Spuren des postmortalen Kleiderwechsels entdeckt. Auch dass der Tote zu Lebzeiten diese Kleidung nicht getragen hat, hätte sie gesehen, allein schon deshalb, weil ein Mensch, der erwürgt wird, sich in die Hosen macht.

Aber selbst wenn die Gerichtsmedizinerin und ihr gesamtes Institut gerade einen schlechten Tag gehabt hätten, wäre der Täter auf den ersten Blick an den Kratzern im Gesicht und auf seinen Armen erkennbar gewesen. Ein Opfer, dem der Kehlkopf eingedrückt wird, wartet nicht wehrlos, bis es tot ist. Die Kampfspuren in der Scheune hätten ein Übriges dazu beigetragen, dass man den Bauern zeitnah zur Vernehmung mitgenommen und die Staatsanwältin einen Gentest anberaumt hätte und der Beschuldigte noch am selben Tag dem Ermittlungsrichter vorgeführt worden wäre. Der Bauer wäre besser beraten gewesen, wenn er die Leiche nackt in einem einsamen Gewässer entsorgt hätte. Natürlich hätte die Kriminaltechnik letztlich in seinem Auto oder auf dem Hof gen­identische Spuren gesichert, aber nur, wenn sie die Leiche auch gefunden hätte.

Ein schöner Plot, der an der irrealen Polizeiarbeit krankt. In unseren Krimis tun wir fast immer so, als ob die Kripo so naiv wäre wie wir selbst und heute noch mit den Methoden des Privatdetektivs Sherlock Holmes aus dem19. Jahrhundert (vor dem Fingerabdruck) ermitteln würde. Das tatsächliche Drama, das in dieserSoko-Folge steckt, ist die schier unlösbare Frage, wie man eine Leiche manipuliert, ohne dass die Forensik sofort draufkommt und binnen weniger Stunden eine Verbindung zwischen Leiche und Täter herstellt. Dabei ist es genau das, worauf die Kriminologie und ihre Instrumente ausgerichtet und worin sie sehr erfolgreich sind.

Wenn wir den massenhaften Output kommerzieller und serieller Krimischreiber/innen betrachten, stoßen wir immer wieder auf drei Grundfragen. Und genau damit wollen wir uns jetzt genauer befassen.

1.Ist das vorgeführte Motiv wirklich ein Grund zu töten?

2.Geht das mit der Leiche wirklich so?

3.Ist die Polizei wirklich so unbedarft?

Teil 1 Das Mordmotiv

Die Motivierung eines Mordes ist die Domäne des Krimis. Rache, Hass, Angst oder Wahnvorstellungen wollen psychologisch nachvollziehbar erklärt werden. Kein Lektor lässt einen Krimi passieren, in dem nicht begründet wird, warum die fiktiven Figuren so handeln, wie sie handeln, und der am Schluss nicht offenlegt, aus welchen zwingenden Gründen der Täter getötet hat. In Realität aber werden viele Tötungsdelikte vor Gericht verhandelt und Angeklagte verurteilt, ohne dass je klar wird, warum sie die Tat begangen haben.

Für uns aber ist das Motiv entscheidend. Denn wir wollen uns schreckliche Ereignisse erklären. Gewaltsame Todesfälle gehören für die Hinterbliebenen zu den fürchterlichsten Schicksalsschlägen überhaupt. Die Frage »Warum?« ist die quälendste Frage, die sich Angehörige stellen. Sie führt bis ins Religiöse und endet oft in der eigenen Schuldfrage: »Was habe ich getan, dass ich das verdiene? Warum musste mir das zustoßen?« Für den Tod eines Angehörigen brauchen wir nicht nur unbedingt einen Schuldigen, also den Täter, sondern wir möchten von ihm auch wissen, warum er die Tat begangen hat, deren Folgen uns aus der Bahn werfen.

Der Krimi ist vermutlich so beliebt, weil er die Schreckensvision dessen, was uns persönlich zustoßen kann, kunstvoll bannt. Deshalb akzeptiert er es auch als seine Aufgabe zu erklären, warum Menschen unvorstellbare Verbrechen begehen.

Rache

Psychologen sagen, jeder Mensch habe in seinem Leben schon mindestens einmal gewünscht, eine Person umzubringen. Aber die wenigsten tun es. Im Allgemeinen vermutet man, es hänge damit zusammen, dass wir die Folgen fürchten, also Ausgrenzung und Strafe. Andere meinen, Menschen hätten wie die meisten Tiere eine natürliche Hemmung, Mitglieder ihrer eigenen Art zu töten. Das trifft allerdings schon im Tierreich nicht zu. Die sozialen und moralischen Sperren in einer Zivilgesellschaft sind jedoch ziemlich hoch. Und komplex. Damit ein Mensch sich entschließt zu töten, muss vieles zusammenkommen.

Von allen Hassgefühlen verstehen wir keines so gut wie das Gefühl: Dem zahle ich es heim.

Der Investmentvertreter Harry Brenner hat hundert Anleger um ihr Erspartes betrogen, indem er ihnen wertlose Ostimmobilien als Geldanlage fürs Alter empfahl. Er suggerierte Renditen von über 100 Prozent. Die Immobilien erweisen sich als leerstehende Bauruinen. Die Betrogenen zeigen Harry Brenner wegen Betrugs an. Er nimmt sich einen guten Rechtsanwalt, der vor Gericht darlegen kann, dass das Kleingedruckte Hinweise enthielt, dass die Rendite sehr viel niedriger liegen kann. Einer der Kläger, der Rentner Müller, verliert schon im Gerichtssaal die Nerven und wird rausgeschickt. Der Richter befindet, allein der gesunde Menschenverstand und die Lebenserfahrung hätten Müller sagen müssen, dass Renditen von über 100 Prozent nicht vorkommen können, und spricht den Angeklagten vom Vorwurf des Betrugs frei.

Auf der Treppe vor dem Amtsgericht wartet Rentner Müller auf den siegreichen Angeklagten, zieht eine Pistole und schießt ihn nieder.

Versuchen wir uns zu erinnern, wann wir zuletzt in den Medien von so einem Mord gehört haben. Wann ist ein zynischer Banker, ein Betrüger, ein Pädokrimineller, ein Vergewaltiger oder ein mobbender Chef ermordet worden? Im Ernst: Solche Morde geschehen in Realität fast nie. Und das, obgleich es uns überhaupt nicht schwerfällt, Wut und Rache, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit als überzeugendes Motiv zu akzeptieren. Es gibt zahl­lose Filme und Romane, die ihren Handlungsimpuls aus dem Rachefeldzug ihres Pro­tagonisten beziehen. Und wir wünschen dem Täter Erfolg und Freispruch.

Tatsächlich aber lohnt es sich nicht, einen Betrüger oder Vergewaltiger zu ermorden. Der Gewinn wiegt den hohen Einsatz nicht auf. Rentner Müller bekommt sein Geld nicht wieder, wenn er den Betrüger erschießt, und während Harry Brenner nun tot und seine Sorgen los ist, kommt er selbst als Schütze lebenslänglich ins Gefängnis und hat jede Menge Ärger. Auch eine vergewaltigte und ermordete Tochter wird nicht wieder lebendig, wenn ich den Täter töte. Aber bestimmt komme ich dafür lange hinter Gitter.

Wenn es doch passiert, haben solche Taten einen erschreckend pubertären Charakter. Sie passen eher in die Phase der menschlichen Entwicklung, in der wir zu überdimensionalen und absoluten Gefühlsreaktionen neigen und in unserem Bewertungssystem noch nicht das Wichtige von Unwichtigem zu trennen gelernt haben. Da wird eine banale Kränkung zur tödlichen und unsere Reaktion auch.

Des Nachts im November 2007 nimmt eine 15-Jährige die Pistole ihres Vaters aus dem Tresor und setzt das Magazin ein. Mit der Waffe geht sie in das Zimmer ihres Bruders und macht Licht. Der zehn Jahre ältere Bruder wacht auf. Sie drückt zwei Mal ab. Aber es löst sich kein Schuss, denn sie hat vergessen, die Waffe durchzuladen. Die Mutter vertraut die Geschichte einem Lehrer an, und der verständigt die Polizei. Das Gericht verurteilt das Mädchen ein Jahr später zu zwei Jahren auf Bewährung. Als Motiv erkennt das Gericht an, dass der Bruder das Mädchen am Tag der Tat schwer sexuell beleidigt, gedemütigt und verletzt hatte. Mehr wird aus der Verhandlung nicht bekannt. (dpa, Dezember 2008)

Wenn Jugendliche einen Rentner zusammenschlagen, der sie in derU-Bahn auffordert, nicht zu rauchen, tun sie im Grunde genau das, was wir eigentlich gut verstehen: Sie strafen den ab, der ihnen dumm und frech kommt. Nur in diesem Fall schütteln wir die Köpfe, weil in unseren Augen das Ausmaß von Gewalt dem Anlass nicht angemessen ist. Aber das ist es genauso wenig bei Schüssen auf einen betrügerischen Investmentvertreter, der uns um die Ersparnisse fürs Alter gebracht hat.

Die naheliegende Idee, dass eine Frau langjährige Misshandlungen durch ihren Ehemann mit einem feinen Mord beendet, entspricht auch nicht dem, was in Realität passiert. Denn die Gefühle, die ein Opfer (von Gewalt, Mobbing oder Ungerechtigkeit) durchlebt und in sich ansammelt – Wut, Angst, Ohnmacht, Hass –, taugen kaum als Antrieb für eine große Tat. Opfer fühlen sich ohnmächtig.

Tötet ein Opfer oder aber – eher möglich – der Elternteil eines Opfers doch, so sind seine Gefühle so gut nachvollziehbar, dass sogar die Gerichte mildernde Umstände berücksichtigen. Wir neigen dazu, Rache­taten und Selbstjustiz zu entschuldigen. Einem Bösen etwas Böses antun, ihn also strafen, entspricht unseren primitiven kriegerischen Gefühlsstrukturen, auch wenn in westlich-bürgerlich geprägten Gesellschaften wie Deutschland gerade diese Gefühle wirkungsvoll in Schach gehalten werden.

Am 6. März 1981 erschießt Marianne Bachmeier im Gerichtssaal in Lübeck den noch nicht verurteilten Mörder ihrer Tochter, Klaus Grabowski. Einen solchen Fall von Selbstjustiz hat es bis dahin in Deutschland nicht gegeben. Nach eigener Darstellung hat Bachmeier vor allem auf die Behauptungen Grabow­skis ­reagiert, ihre kleine Tochter Anna habe ihre Misshandlung provoziert, sei selber schuld und habe ihm sogar gedroht, Lügen über ihn zu erzählen. Sie habe gewollt, dass der Mann aufhört, ihre Tochter zu diffamieren. Sie schießt am dritten Verhandlungstag dem Angeklagten in den Rücken. Sie drückt acht Mal ab, sechs Schüsse treffen. Grabowski ist sofort tot. Bachmeier wird 1982 jedoch nicht wegen Mordes verurteilt, obgleich die Tat, juristisch gesehen, Merkmale wie Planung und Heimtücke aufweist, sondern wegen Totschlags, und zwar zu sechs Jahren Haft. Bachmeier stirbt 1996, wieder in Freiheit, im Alter von 46 Jahren an Krebs.

Dass Bachmeier sich eine Waffe besorgte und tatsächlich schoss, hat vermutlich auch mit ihrer Biographie zu tun. Sie ist auffällig unbürgerlich, gebrochen und von Gewalterfahrungen geprägt (Frauenquote).

Herrschsucht

Gedemütigte suchen Anlässe, die sie aus der Depression holen. Dafür müssen sie das neuronale Belohnungssystem in Gang setzen. Es basiert auf dem Neurotransmitter Dopamin, auch als Glückshormon bekannt. Die Dopamin-Ausschüttung im Hirn als Belohnung für eine Anstrengung, die mit hohem Risiko verbunden sein kann, ist das stärkste Stimulans für Hochleistungen und Wiederholungstaten. Es ist das, was Kinderpornovertreiber und -nutzer im Internet blind macht für das Risiko, erwischt zu werden, was Betrüger, Erpresser und Diebe immer weiter treibt, obgleich der Untergang schon absehbar ist, was Serienmörder bezwingt (Serienmörder).

Wer mordet, sucht und erlebt ein Gefühl von Macht. Er sucht Kontrolle über sein Leben und die Bedingungen, die es bestimmen, er gewinnt Handlungsmacht. Das gilt für einen Amokläufer genauso wie für einen Vater, der seine Familie auslöscht. Sie sehen sich als Opfer, sind aber faktisch Täter.

Strafe

Darunter fallen Mafia-Morde, die auch in Deutschland nicht so selten sind. Sie dienen der Warnung. Die Bestrafung eines Abtrünnigen soll anderen Angst machen, die mit dem Gedanken spielen, sich nicht mehr den Regeln der Mafia zu unterwerfen. Auch bei der Blutrache handelt es sich um ein innerhalb des sozialen Zusammenhangs anerkanntes Mittel der Strafe. So demonstriert eine Gruppe ihre Macht. Unter Umständen tut das auch ein Staat, der die Todesstrafe verhängt, ebenfalls mit dem Argument der Abschreckung, die aber, wie wir wissen, nicht wirkt. Denn es gibt auch Individuen, die ihre Angst, getötet zu werden, überwinden, entweder weil sie glauben, davonzukommen oder berühmt zu werden, weil sie verliebt sind oder weil sie nichts mehr zu verlieren haben.

Der sogenannte Ehrenmord fällt noch eindeutiger in die Kategorie patriarchalischer Herrschaftsmorde. Er wird mitleidlos geplant und begangen, einzig und allein, um eine junge Frau zu töten, weil sie die Spielregeln nicht beachtet und Eigenmächtigkeiten entfaltet hat, die sie letztlich aus dem Machtgefüge emanzipieren würden. Die Frau wird ermordet, um ein Herrschaftssystem des Schreckens aufrechtzuerhalten. Die von uns so beschönigend bezeichneten Ehrenmorde erfüllen alle Kriterien des Mordes: Sie werden geplant, sie sind heimtückisch (der Täter ist bewaffnet und überrascht das wehrlose Opfer) und sie geschehen aus niederen Beweggründen, nämlich aus Herrschsucht. Zudem stehen sie im Grundsatz einer terroristischen Tat nahe. Es wird sogar eine terroristische Vereinigung gegründet: Der Familienclan – Vater und Brüder des Opfers – legt fest, dass die ­Tochter/Schwester sterben muss, und bestimmt, dass der Jüngste, der noch unter Jugendstrafrecht fällt, die Tat ausführt.

Familiendrama

Die meisten Tötungsdelikte werden in der Familie begangen. Für einen Krimi erscheinen sie uns zu banal, zu eindeutig, im Grunde unverständlich und zugleich bestens bekannt, ja stereotyp.

Ein Mann tötet seine Kinder, seine Frau und dann sich selbst. Er sticht die Frau ab, die sich von ihm getrennt hat, oder er ermordet die Kinder, damit die Frau sie nicht bekommt. Ein Sohn erschlägt seine Eltern. Eine Mutter tötet ihre Kinder. Gerade diese Taten, die vergleichsweise häufig sind, entziehen sich unserem Verständnis am meisten. Sie machen deutlich, dass Menschen, die töten, sich in einer emotionalen Extremsituation befinden, die für Außenstehende kaum verständlich ist.

In dem in den Medien so beliebten Wort »Familiendrama« steckt übrigens die ganze gesellschaftliche Ratlosigkeit angesichts solcher Taten. Insgeheim nehmen wir an, dass die Frau, die im Ehestreit erstochen wird, ihren Teil zum Drama beigetragen, also provoziert hat. »Zum Streiten gehören immer zwei«, wie es so schön heißt. Tatsächlich aber findet das Drama im Kopf des Mannes statt und hat sich über einen längeren Zeitraum aufgebaut. Sein Leben gerät ihm außer Kontrolle, seine Frau unterwirft sich seinen Konzepten nicht. Nur wenn er sie tötet, gewinnt er die Kontrolle zurück. Nur tot gehört ihm die Frau ganz. Da mischen sich Verlustangst – mit der Geliebten verliert der Verlassene den sozialen Halt, die Lebens­perspektive und sein Ich – und Herrschsucht: »Wenn ich dich nicht kriege, kriegt dich keiner.« Oder: »Wenn ich die Kinder nicht kriege, bekommst du sie auch nicht.«

Der Gewinn ist zwar paradox, aber hoch. Der Verlassene gewinnt nur dann Kontrolle über die Person, die ihn verlässt, wenn er sie tötet. Dann kann sie sich nämlich überhaupt nicht mehr bewegen. Erst nach der Tat mag dem Täter aufgehen, dass er sich den Gewinn befriedigender vorgestellt hat, als er ist. Er wird sich und anderen nie wirklich erklären können, wieso ihn diese Gefühle von Wut, Eifersucht und/oder Kränkung so haben beherrschen können, dass er zugestochen, zugeschlagen, gewürgt oder geschossen hat. Gekränkte männliche Ehre, gekränkte Männlichkeit oder frustrierte männliche Herrschsucht sind, wie die Wirklichkeit zeigt, äußerst starke Tatmotive.

Erweiterter Selbstmord

Oft beschließt der Täter, nicht nur mit dem Leben seiner Freundin, seiner Frau und seiner Kinder, sondern auch mit seinem eigenen Leben Schluss zu machen. Psychologen und Juristen nennen das einen erweiterten Selbstmord (Unwort des Jahres2006in der Schweiz). Auch das ist eine Tat, die typischerweise Männer begehen. Häufig sind es banale und an sich lösbare wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Männer dazu bringen, ihre Frau und ihre Kinder zu töten, weil sie glauben, diese würden mit den Problemen genauso wenig fertig wie sie selbst. Er befindet sich in einem Seelenzustand von Angst, Sorge, Verzweiflung, Stress und Depression, in dem er keinerlei vernünftigen Ausweg mehr sieht.

So ein Mann kann sich nicht vorstellen, dass andere Menschen, seine Frau oder seine Kinder, für ihr eigenes Leben verantwortlich sind und sein wollen. Er glaubt, seine Frau lebe nur für ihn und durch ihn. Dass sie nicht sterben will und vor allem die Kinder leben wollen, kann er nicht denken. Und zuweilen fällt es auch uns schwer, das zu denken. Als der Ex-General und Grünen-Politiker Gert Bastian im Jahr1992seine Lebensgefährtin, die Grünen-Politikerin Petra Kelly, im Schlaf erschoss und anschließend sich selbst, dauerte es eine Weile, bis die Medien darauf kamen, dass man in diesem Fall nicht einfach von Doppel-Selbstmord sprechen konnte, sondern dass es sich hier vermutlich um einen Mord mit anschließendem Suizid handelte.

Der Begriff Familiendrama verfälscht und verharmlost auch hier die ­Situation. Er verschweigt nämlich, wer der Täter ist, und impliziert, dass Frau und Kinder in irgendeiner Form aktiver Teil der Handlung waren. Tatsächlich aber hat hier ein Mann schweigend eine einsame Entscheidung getroffen, Frau und Kinder ermordet (geplant, heimtückisch und aus niederen Beweggründen) und sich dann selbst das Leben genommen.

Es gibt übrigens auch Frauen, die einen sogenannten erweiterten Selbstmord begehen, sie töten dabei aber nicht ihre Männer oder Lebensgefährten, sondern ihre von ihnen abhängigen Kinder. Abgesehen von den unerkannten Fällen, wo eine Frau sich und ihren Mann vergiftet hat, vielleicht weil sich beide in hohem Alter befanden, der Umzug ins Heim anstand oder sie ihn nicht alleine zurücklassen wollte.

Ohnmacht des Opfers

Während uns die subjektiven Opfer, ihre narzisstische Kränkung und ihre grausamen Taten fremd bleiben und als Krimifiguren nur taugen, wenn wir uns auf ein paranoides inneres Drama einlassen wollen, erscheinen uns alle Taten klar, die von echten Opfern begangen werden. Sie taugen bestens für handlungsorientierte und plausibel erscheinende Geschichten.

Erpressung

Erpressung gehört zu den zutiefst verletzenden Opfererfahrungen. Es ist deshalb für jeden nachvollziehbar, wenn das Opfer seinen Peiniger tötet. In der deutschen Realität passiert das aber höchstens alle zehn Jahre mal.

Fanny Fuchs verdient sich ein Taschengeld, von dem ihr Mann nichts wissen soll, in einer Boutique. Sie wird von einer Kollegin dabei erwischt, wie sie Modeschmuck im Wert von 7€in die Handtasche steckt und nicht bezahlt. Die Kollegin zeigt sich dann aber bereit, den Diebstahl nicht anzuzeigen – Fanny wäre dann vorbestraft und niemand würde sie mehr anstellen –, wenn Fanny ihr künftig monatlich einen Teil des Verdienstes bis zu einem Betrag von insgesamt 2000€zahlt. Fanny lässt sich darauf ein, zahlt im Lauf von einem halben Jahr 2000€. Danach meldet die Kollegin den Diebstahl der Chefin, und Fanny wird gekündigt.

Fanny wäre besser zur Staatsanwaltschaft gegangen und hätte die Erpressung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft hätte von der Verfolgung des Diebstahls abgesehen, selbst wenn sie mehr gestohlen hätte.

§ 154c Strafprozessordnung:

(1) Ist eine Nötigung oder Erpressung (§§ 240, 253 des Strafgesetzbuches) durch die Drohung begangen worden, eine Straftat zu offenbaren, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.

(2) Zeigt das Opfer einer Nötigung oder Erpressung (§§ 240, 253 des Strafgesetzbuches) diese an (§ 158) und wird hierdurch bedingt ein vom Opfer begangenes Vergehen bekannt, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung des Vergehens ­absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.

Die Kollegin hingegen wäre wegen Erpressung angeklagt worden (Höchststrafe5Jahre) und hätte das erpresste Geld an Fanny zurück­geben und womöglich sogar noch Schadensersatz leisten müssen. Außerdem wäre sie daraufhin entlassen worden. Fanny Fuchs allerdings auch. Denn wer klaut, wird entlassen. »Zeig deine Kollegin wegen Erpressung an!«, sagt sich daher leicht. Die Frage ist, wie viel Fanny ihr Arbeitsplatz wert ist.

Dass nach einem geringfügigen Diebstahl der Verlust des Arbeitsplatzes droht, könnte eine erpresste Mitarbeiterin objektiv in eine so gravierende Zwangslage bringen, dass sie den Gang zur Staatsanwaltschaft oder Polizei scheut. Vermutlich wäre es dann Fannys Liebhaber, Hans-Jürgen, der sich überlegt, wie er die Kollegin umbringt, um seine Freundin vom Erpressungsdruck zu befreien. Im Krimi kommt der Folgemord am Erpresser immer wieder vor. Und tatsächlich bleibt nicht jeder Erpresste straffrei.

Fanny Fuchs hat sich von ihrem Mann Dieter getrennt. Jetzt will sie die Möbel holen. Sie bringt Hans-Jürgen mit. Der brüstet sich Dieter gegenüber, er sei schon lange Fannys Liebhaber. Fanny stichelt außerdem, Hans-Jürgen sei auch viel besser im Bett. Im nachfolgenden Handgemenge der beiden Männer würgt Dieter den Liebhaber, Fanny hat Angst um Hans-Jürgen und sticht mit einem mauretanischen Krummdolch von hinten auf Dieter ein.

Sie flüchten aus der Wohnung, ohne sich um Dieter zu kümmern.

Anders als erwartet, ist Hans-Jürgen jedoch nicht dankbar, sondern fühlt sich in seiner männlichen Ehre gekränkt. Er sei nie in Gefahr gewesen, er habe Dieter gerade überwältigen wollen. Und, was Fanny nicht weiß, Dieter hat die Attacke überlebt. Hans-Jürgen macht mit Fanny Schluss und fängt an, sie zu erpressen. Als nach ein paar Wochen ihr Erspartes aufgebraucht ist, verabredet sie sich mit Hans-Jürgen im Wald. Sie bringt ein Küchenmesser mit, um ihn umzubringen.

Völlig unnötig! Nehmen wir an, Fanny wäre im Glauben, niemand würde ihr die Notwehr abnehmen, und denkt, sie habe sich des Totschlags an Dieter schuldig gemacht. Dann bliebe Fanny wirklich nicht straffrei, auch wenn sie die Erpressung durch Hans-Jürgen bei der Polizei anzeigen würde. Sie müsste dann nämlich in einem minderschweren Fall des Totschlags mit einer Strafe zwischen einem und zehn Jahren rechnen. Und eine Einstellung des Verfahrens nach §154c StPO kommt nur in Betracht, wenn die Nötigung oder Erpressung strafwürdiger ist als die Tat des Erpressten. Sie hätte also schon einiges zu verlieren. Einen Mord an Hans-Jürgen ist die Sache aber auf keinen Fall wert. Für die geplante Tötung zur Verdeckung einer anderen Straftat bekäme Fanny in jedem Fall ­lebenslang.

Das Stockholm-Syndrom

Opfer töten nicht, oder nur dann, wenn sie sich nicht mehr als Opfer erleben. Die Erfahrung von Stress, Ohnmacht und Verzweiflung vernichtet unseren Glauben an unsere Kraft und Handlungsmacht. Das gilt auch und vor allem für Opfer andauernder Misshandlung. Sie investieren ihre emotionale Kraft darein, den Täter freundlich zu stimmen. Es ist ihre einzige Chance, die für sie nachteilige Beziehung zu beeinflussen. Und selbst wenn sie sich über all die Zeit ausmalen, was sie ihrem Peiniger antun würden oder könnten, so hemmt sie die Angst vor seiner Strafe bei Misslingen eines Befreiungsschlags. Ihr Gehirn ist auf Depression und Ohnmacht gestellt. Es sucht nach Erleichterung unter unerträglichen Bedingungen.

Die Beziehung, die eine Geisel zu ihrem Geiselnehmer entwickelt, nennt man Stockholm-Syndrom. Sie kann so weit gehen, dass die Geisel sich in ihren Geiselnehmer verliebt und ihm hilft.

Das Phänomen wurde erstmals beleuchtet nach einer fünftägigen Geiselnahme in einer Stockholmer Bank1973. Die vier Angestellten, die als Geiseln genommen wurden, entwickelten eine größere Angst vor der ­Polizei und einem Polizeizugriff als vor ihren Geiselnehmern. Nach Beendigung der Geiselnahme empfanden sie keinen Hass auf ihre Geiselnehmer, sie waren ihnen dankbar, freigelassen worden zu sein, und baten um Gnade für die Täter.

Die Frauenquote

Wenn wir einen Krimi schreiben, stellt sich stets die Frage: Wer soll den Mord begangen haben? Eine Überraschung hätten wir schon gern, etwas völlig Unerwartetes. Zu Zeiten von Agatha Christie galten Pfarrer noch als tabu, aber inzwischen haben wir jede Berufsgruppe als Mörder durch. Also kommen wir zurück aufs Grundsätzliche. Einen Mord kann immer nur entweder ein Mann oder eine Frau begangen haben (auch als Kind nur ein Junge oder ein Mädchen). Damit es doch eine kleine Überraschung gibt, wird in schätzungsweise der Hälfte aller Krimis nach Ermittlungen in männlich dominierten Zusammenhängen eine Frau aus bürgerlichem Milieu entlarvt, übrigens meist mit einem Totschlagsdelikt und der Beteuerung: »Das habe ich nicht gewollt.«

Das funktioniert nur deshalb, weil wir im Grunde alle wissen, dass Verbrechen in der überwiegenden Mehrzahl von Männern begangen werden. Die Frauenquote liegt in Deutschland bei etwa8Prozent. Das gilt auch für Gewalt gegen andere Menschen. Nur etwa10Prozent der Tötungs­delikte werden von Frauen begangen, bei körperlicher Gewalt gegen andere, auch Mord- und Totschlagsversuchen, liegt die Frauenquote sogar bei nur3 ­Prozent.

Ende2008saßen in deutschen Gefängnissen73 203Menschen ein; nur5Prozent, also3916, von ihnen waren Frauen. Die deutsche Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts von2006weist400Männer aus, gegen die wegen eines Tötungsdelikts ermittelt wurde, aber nur41Frauen. Bei den Körperverletzungen waren es1993Männer, aber nur66Frauen. Eine Studie aus den siebziger Jahren zeigt außerdem, dass damals keine einzige (!) Frau aus der bürgerlichen Schicht wegen eines Tötungsdelikts im Gefängnis saß1, auch wenn damals im Fernsehkrimi wie