Von den Altarstufen zur Showbühne - Markus Schächter - E-Book

Von den Altarstufen zur Showbühne E-Book

Markus Schächter

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Beschreibung

Ob Günter Jauch, Thomas Gottschalk oder Hape Kerkeling. Von Stefan Raab bis Anne Will: Sie waren Ministranten. Dieses Buch zeigt: Die Großen der Medien-Unterhaltung, die beliebten und charismatischen TV-Entertainer haben eine ganz besondere Kindheit. Was ist geblieben von dieser Kindheit? Von den Werten, die damals galten? Was ist ihnen heute heilig? Markus Schächter, selber ehemaliger Ministrant und ZDF-Intendant, bringt die Stars der Branche zum Erzählen. Ein spannendes, persönliches, farbiges Buch voll hintergründiger Einsichten und unerwarteter Geschichten.

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Markus Schächter
Von den Altarstufen
zur Showbühne
Geschichten und Bekenntnisse prominenter Messdiener
Neuausgabe 2018
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotive: © Getty Images, dpa Picture-Alliance, Shutterstock, iStock
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
ISBN E-Book  978-3-451-81280-4
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
»Das lässt mich nicht mehr los!«: Reinhold Beckmann
Genuss und ­Disziplin: Alfred Biolek
Kirche, Kicken, Karneval: Guido Cantz
Der andere könnte recht haben: Frank Elstner
»Die Frohe ­Botschaft, die nehm’ ich ernst.«: Thomas Gottschalk
Schmidt, ­Merkel, Jauch: Günther Jauch
Spiritueller Tiefgang, sanfte Heiterkeit: Hape Kerkeling
Kirchenmann mit Kultstatus: Dieter Kürten
Über den ­Brenner und ­zurück: Markus Lanz
»Ich glaube nicht an Gott. Aber ich ­vermisse ihn.«: Jürgen von der Lippe
Muntermacher und Marathonmann: Sven Lorig
»Der liebe Gott hat es richtig gut mit mir ­gemeint.«: Matthias Opdenhövel
Willi weiß mehr: Helmar Rudolf Willi Weitzel
Kompetent, klug, kritisch, keck, ­(rheinisch-)katholisch: Anne Will
Vorwort
Wenn in einem der prominenten Top-Jobs gut die Hälfte der dort erfolgreichen Stars aus einer Gruppe von Menschen kommt, deren Vergangenheit eine auffällige Gemeinsamkeit aufweist, dann macht das neugierig. Und wenn es zwischen diesem Spitzenjob und dieser Herkunft auf den ersten Blick ausgesprochen wenig Gemeinsamkeiten zu geben scheint, dann lohnt es sich allemal, genauer hinzuschauen. Jedenfalls erklärt sich die biografische Beziehung zwischen vielen Showstars aus der ersten deutschen Fernsehliga und ihrer kirchlichen Vergangenheit mit Messdienerzeit nicht von selbst. Von den 25–30 Unterhaltungsmoderatoren in den letzten drei Jahrzehnten sagen gut 15 von sich, dass sie früher Messdiener waren. Gibt es eine besondere, bisher unbeachtete Verbindungs­linie zwischen Showbiz und Messdienst? Dies war eine Frage, die auch bei mir als ehemaligem Programmentscheider im ZDF irgendwann einmal aufkam. Sicher keine zentrale oder strategisch bedeutsame Frage. Sie stellte sich mehr aus programmpsychologischer Verwunderung. Der Gegensatz zwischen beiden Tätigkeiten könnte –prima vista – ja kaum größer sein. Hier das glamouröse Entertainment mit dem Millionenpublikum und dem roten Teppich, mit den gefeierten Stars und den großen Schlagzeilen – dort ein eigentümlich zurückgenommener, fast verschroben wirkender Zirkel junger Menschen mit geheimnisvoll anmutenden Spezialaufgaben für Gottesdienst und religiöse Zeremonien.
Was steckt hinter einem solchen Zusammenhang, der seit den 80er Jahren nicht nur Programminsider erstaunt? Welche heimliche Verbindungslinie existiert zwischen den Altarstufen und der Showbühne? Was hat eine solche Karriere mit einer religiös grundierten Kindheit zu tun, die die ehemaligen Messdiener auf der Showbühne als gemeinsamen Ausgangspunkt bezeichnen? Steckt in der katholischen Kindheit eine spezifische Lust und List und eine Kraft, die erklärbar macht, dass eine solche Vergangenheit als eine besonders geeignete Startrampe für den Erfolg im Showbiz taugt?
Das wäre dann eine neue Sicht der Dinge. Bis vor noch gar nicht so langer Zeit war es in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ziemlich klar, dass eine kirchliche Kindheit, ob katholisch oder evangelisch, durchaus kritisch zu sehen ist. Der evangelisch sozialisierte Psychoanalytiker Tilmann Moser hat es in dem extremen Bild der »Gottesvergiftung« drastisch so formuliert: »Kirchliche Kindheit ist kindliches Unglück.« Moser beschreibt seine in der Kindheit anerzogene Religiosität als Krankheit und als eine Fessel, die die Entwicklung eines wirklichen und gelingenden Lebens behindert und zu Neurosen führt. Dieses Deutungsmuster hat lange für den öffentlichen Disput eine Art Deutungshoheit besessen.
In Diskussionen über kirchlich geprägte Kindheiten war, wenn es um katholische Zusammenhänge ging, das Amt und der Begriff des Messdieners in besonderem Maße exemplarisch. Wer in der säkularen Welt von sich sagt, er sei Ministrant gewesen, galt eher als sonderbar. Ein Messdiener galt als eher harmloser und argloser Zeitgenosse, der noch nicht viel weiß vom Leben. »Oberministrant« gar war ein anderes Wort für ­jemand, der sich mit einem falschen Leben aufspreizt.
Immerhin: Im letzten Jahrzehnt hat sich das Klima um die Einschätzung religiöser Fragen etwas gedreht. Glaube und Spiritualität, die Fragen nach der eigenen Herkunft, nach dem Sinn der eigenen Existenz haben einen neuen Stellenwert. Eine ganze Reihe von Ereignissen haben nach der Jahrtau­sendwende so etwas wie die »Rückkehr der religiösen Frage« begründet: die zugespitzte Auseinandersetzung mit dem Islam, die Beschäftigung mit dem Buddhismus, die weltweite Aufmerksamkeit um das öffentliche Sterben des polnischen Papstes, später der ganz neue Papst Franziskus. Indikator und Symp­tom eines neuen Denkens war auch der sensationelle ­Erfolg des Pilgerbuchs von Hape Kerkeling mit seinen Erzählungen vom lieben Gott und dem Glauben an ihn.
Seit 2005 sprechen Umfragen davon, dass es eine Art »Wiederkehr des Religiösen« gibt. Nur wenig von dem, was zu dieser »Renaissance der Religion« gehört, zahlt allerdings auf das Konto der Kirchen ein. Bis heute gibt es eine unverminderte Austrittswelle, die durch Missbrauchsskandale und Kommunikationsversagen zugleich befeuert wird. Aber Religion und Spiritualität werden zu Beginn des neuen Jahrtausends wieder ein gesellschaftlich akzeptiertes Thema. Ein Neben­effekt dessen, dass auch das Interesse an den Besonderheiten einer kirchlichen Kindheit mit Taufe und Kommunion bzw. Konfirmation wieder zunimmt, ist ein neues Interesse auch an der bunten Existenz der Messdiener-Gruppen. Gänzlich ironiefrei spricht die »Süddeutsche Zeitung« vom Ministrantendienst als einer »Schule des Lebens«. Die Argumentation folgt einer neuen ­Erfahrung. Wie könnte man ansonsten erklären, fragt die Zeitung, warum so viele Politiker, Spitzensportler, Schauspieler, Kabarettisten und Künstler der Öffentlichkeit kundtun, dass sie einmal Messdiener waren? Anders als noch Jahre zuvor macht man jetzt fröhlich öffentlich, dass man doch gerne bei diesem »Club« war, bei dem man zum ersten Mal ­seinen öffentlichen Auftritt und auch erstmals öffentliche Anerkennung ­erfahren hatte. Ein solcher Stolz folgt freilich einer ziemlich ­eigenen Logik.
Nirgendwo in der Gesellschaft wird einer so großen Gruppe von so jungen Menschen so früh und so selbstverständlich zugetraut, eine solche Breite an Aufgaben, Funktionen und Tätigkeiten zu übernehmen wie im katholischen Gottesdienst. Und nirgendwo gibt es für Kinder und Jugendliche so früh die Chance, vor erwachsenen Menschen ihren eigenen Auftritt zu gestalten, mit klaren Rollenzuweisungen und wichtigen Funktionen. Sie sind dann Teil einer vorgegebenen, festgelegten Dramaturgie, die viele Facetten menschlicher Emotionen kennt: bewegend feierlich wie etwa in der Osterliturgie, düster und mitleidend wie in der Fastenzeit, adventlich getragen und in tausend Kerzen getaucht vor und um Weihnachten.
Fast 500000 junge Menschen in Deutschland, 50000 in Österreich und 35000 in der deutschsprachigen Schweiz sind bei diesem Dienst dabei. Dass es derzeit wieder mehr Mess­diener gibt als in den letzten Jahren, hängt auch damit zusammen, dass es jetzt überall üblich ist, dass auch Mädchen am ­Altar stehen dürfen: eine revolutionäre Veränderung für den Altardienst in der katholischen Kirche, wenn man bedenkt, dass die »Akolythen« – wie die Messdiener früher hießen – über ein Jahrtausend lang eine Vorstufe zum Priesteramt bil­deten. Das alte Idealbild der Kleriker-Ministranten hat sich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen im Prinzip bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts gehalten.
In der Nachkriegsgeneration, ab 1950 bis Mitte der 60er Jahre, erlebt ein neuer Typus des Gemeindemessdieners eine bis dahin ungekannte Konjunktur: Fast jeder getaufte Junge, der bei der Erstkommunion war, sollte, konnte und wollte jetzt Messdiener werden. Und dafür hatte sich auch längst eine klare Hierarchie-Vorstellung unter den Ministranten herausgebildet. Es ist eine ganz eigene interne Karriereleiter. Und für jede Stufe gab es eine Aufstiegsmöglichkeit, die mit einem lateinischen Titel umschrieben war. Der Anfänger, der die Kerzen trug, war der Ceroferar, wer als Assistent des zelebrierenden Priesters den Altardienst besorgte, war der Akolyth. Der legendäre Rauchfass-Schwenker, der bei den feierlichen Hochämtern und bei Prozessionen dem liturgischen Geschehen eine besondere Note zu geben hatte, war der Thurifer. Und der, der die Fürbitten und die Lesung vortragen durfte, war der Lektor. Dazwischen gab es noch die Stufe des Fahnenträgers und, wenn man ganz oben angekommen war, die dirigierende Funktion des Zeremoniars, der die anderen anleitete. Das ist für junge Leute vor und in der Pubertät eine steile Nomenklatur, die früher durch die lateinische Sprachgestalt der Gebete und Antwortrituale mit zungenbrecherischen Wortkaskaden noch überhöht wurde.
All dies machte aus manchen frommen Messdienergruppen einen stolzen, seiner besonderen Bedeutung und Stellung bisweilen sehr bewussten und darum ziemlich geschlossenen Zirkel. Mit dem langsamen Niedergang der Volkskirche wurde jedoch in vielen Gemeinden der selbstbewusste Kreis mit seinen vielen Funktionen eher zur Kleingruppe. Die Anzahl und das Ansehen der »Minis« gingen Ende der 70er und in den 80er Jahren deutlich zurück. In der Öffentlichkeit setzte ein Reputationsknick ein. Wer freiwillig dabeiblieb, sah sich in seiner Rolle von der ­Gesellschaft eher belächelt – so, als wenn er noch nicht den Anschluss an die Moderne gefunden hätte.
Das neue Klima in der Bewertung religiöser Fragen Anfang des neuen Jahrhunderts, die Renaissance von Religion und Glaube bringt dann aber auch eine Veränderung im Selbstwertgefühl der Messdiener: Der Ministrant im roten Talar ist bei den Inszenierungen der Weltjugendtage und der großen, jetzt live im Fernsehen übertragenen Feierlichkeiten der Weltkirche ein besonderer Hingucker. Die Öffentlichkeit wird wieder aufmerksam auf diese Messdiener, die lange Zeit vom Radar der breiten Wahrnehmung verschwunden waren. Man wird neugierig auf diesen Verein, zu dem sich immer mehr prominente Mitglieder der Gesellschaft bekennen – und zwar auch solche, von denen man in ihrem jeweiligen Metier nicht ohne Weiteres ­erwartet hat, dass sie ihrem einstmaligen »Club« so große Bedeutung für die Prägung ihres Lebens zuerkennen.
Die Auflistung jener Ministranten, die das belegen, ist beachtlich. Der geläufigste Zusammenhang ist dabei noch der zwischen der Sakristei und der Politik. Von Spitzenpolitikern, die Messdiener waren, war schon immer die Rede. Es waren vornehmlich die Christdemokraten wie Helmut Kohl oder Bernhard Vogel, Heiner Geißler oder Norbert Blüm, bei denen klar war, dass in einem quasi natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Altarstufen und Kabinettsplätzen Menschen kontinuierlich ihren Weg vom Messdiener über die Junge Union zu Spitzenfunktionen in der Politik gegangen sind – ein Weg, der heute ja keineswegs mehr selbstverständlich ist.
Gleichzeitig wird die Öffentlichkeit überrascht von sehr engagierten ehemaligen Messdienern in der SPD-Führungsriege: Andrea Nahles, SPD-Linke, Ministerin für Rentenreform und Mindestlohn, war in ihrer kleinen Eifelgemeinde eines der ­ersten Mädchen, die sich gegen den Widerstand des Pfarrers durchgesetzt hatten und eine Hauptrolle am Altar spielten. 2009 schreibt sie ein autobiografisches Buch: »Frau, gläubig, links«. Ein ganz neuer Dreiklang, den ihr nicht zuletzt ihr Engage­ment bei den Messdienern nahegelegt habe, sagt die Autorin, die dann später beim Sturz von Franz Müntefering eine zentrale Rolle spielen sollte. Ausgerechnet Müntefering. Er ist der »Sprecher« der Messdiener-Fraktion in der SPD – und ein großer Erklärer, wie Politik »zu gehen hat«: »Wir brauchen gerade in der Politik Inszenierung und beste Dra­maturgie«, schreibt er in einem großen Essay über das Staatstheater der Alltagspolitik. Und weiter: »Ich war in Kindheit und Jugend Messdiener. Da habe ich intensiv erlebt und gelernt, was ich Jahrzehnte später dann in meiner Partei wiederfand: Rituale, Gesang, Besinnung und Gemeinschaft, Gebete und Erkenntnisse, Fahnen und Musik.«
Fehlt nur noch der Weihrauch. Den hatte sich ein anderer politischer Alpha-Mann aus dem rot-grünen Lager zu eigen ge­­macht. Joschka Fischer war lange Zeit Messdiener und Weihrauchspezialist in Oeffingen bei Stuttgart.
Prägende Einflüsse gibt es dann freilich auch in vielen anderen Beziehungsgeflechten – zum Beispiel in der Sphäre der Kunst: Ein Beispiel ist der verstorbene Theaterregisseur Christoph Schlingensief, lange Deutschlands umtriebigster und innovativster Theaterprovokateur. Nur zwei Jahre nach seinem Tod hat seine Heimatstadt Oberhausen bewusst jene Straße nach ihm benannt, an der die Herz-Jesu-Kirche liegt, wo Schlingensief in Kindertagen ein sehr aktiver Messdiener war und seitdem in permanentem, aber intensiv produktivem Clinch mit den dortigen Pfarrern lag.
So ähnlich war es auch bei Christoph Maria Herbst, dem Hauptdarsteller in der Erfolgsserie »Stromberg«, einem TV-Serienerfolg und späteren Kinofilm über Deutschlands fiesesten Chef, »der nach unten tritt und nach oben buckelt«. Im wahren Leben ist er umgänglich, ein bekennender Christ aus kirchlich aktivem katholischem Elternhaus. Der zweite Vorname »Maria« war offensichtlich bewusst und programmatisch gewählt. »Was bin ich froh, dass sich Joseph keine Sandy oder Priscilla geschnappt hat«, sagt Christoph Maria Herbst, der über zehn Jahre Messdiener, Obermessdiener und dann Lektor war.
Auf ihre kirchliche Vergangenheit und religiöse Grundierung berufen sich auch überraschend viele Spitzensportler. ­Unter den Fußballern fällt der sonst sehr zurückhaltende Nationalspieler Miroslav Klose durch seine deutliche Position auf. »Ich bin gläubiger Katholik«, sagt der Sohn polnischer ­Eltern aus dem schlesischen Oppeln. Er war in seiner Nordpfälzer Heimat engagierter Messdiener und Sternsinger. Von ihm gibt es den typischen Klose-Satz: »Ich freue mich auf Weihnachten, weil es dann bald wieder losgeht mit der Sternsingerei.« Sein Glaube sei ein selbstverständlicher Teil seiner Existenz.
Auch sein Trainer, Joachim Löw, spricht über den Glauben. Der ehemalige Messdiener aus der Schwarzwald-Gemeinde Schönau findet, es nutze der Gruppendynamik seiner Elf, wenn sich einzelne Spieler für Wertefragen und Spiritualität öffneten. Löw bekennt, sein Glaube gebe ihm die Zuversicht, »dass es stärkere Kräfte im Menschen gibt als den Egoismus«.
Als »kabarettbegabt« gilt der Stürmerstar der Nationalmannschaft und des FC Bayern, Thomas Müller. Der Mess­diener aus Pähl im bayerischen Pfaffenwinkel war bei der ge­wonnenen Weltmeisterschaft 2014 einer der auffälligsten und überzeugendsten Spieler. Er verkörpert eine Haltung von Teamfähigkeit, Unbekümmertheit und Selbstbewusstsein wie kaum jemand sonst. Seine Mannschaftskollegen haben oft genug seine geradezu besessene Lust gerühmt, als besonderer ­Individualist sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen.
In fast jeder wichtigen Teilöffentlichkeit lassen sich solche Spuren verfolgen: Bruno Jonas, Gerhard Polt oder Dieter Nuhr im Kabarett, Christian Rach und Johann Lafer in der Spitzengastronomie oder Tom Buhrow, Claus Kleber und Heribert Prantl im Journalismus – oder auch in der Literatur, wo die Büchner-Preisträger Arnold Stadler und Martin Mosebach für ganz unterschiedliche Positionen in kirchlicher und existenzieller Selbstreflexion stehen. Selbst in den Gewerkschaften und sozialen Spitzenverbänden gibt es Chefs, wie Franz-Josef Möllenberg, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung – Genuss – Gaststätten, oder Ulrich Schneider, Sprecher des gesellschaftskritischen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die sich gerne dazu bekennen, einstmals in der Kirche »gedient« zu haben. Sie alle sind Taktgeber im öffentlichen Diskurs, gehören zu den Meinungsführern ihres Metiers. Daraus entsteht ein bemerkenswert großes Spektrum, eine unerwartet breite Präsenz und eine gesellschaftliche Auffälligkeit.
Eine Branche aber sticht alle anderen aus und ist an Zahl und Bedeutung der dort versammelten ehemaligen Messdiener kaum zu übertreffen. Es ist mit der Unterhaltungsindustrie im Fernsehen ausgerechnet der Show-Zirkus der großen Unterhaltungsbranche.
Wie geht das zusammen – vom Hochamt am Hauptaltar zum TV-Event am Hauptabend? So sehr sich auch bei der ersten Annäherung ein geradezu krasser Kontrast und scheinbar unüberbrückbarer Graben zwischen beiden »Dienst-Leistungen« auftut, so ist für viele heutige Showstars der Weg von der Stille der Frühmesse zu den »standing ovations« des Hallen­publikums keineswegs ein Widerspruch. Sie sind Lieblinge der Öffentlichkeit und die Aushängeschilder der Sender, in denen sie auftreten.
Da ist Thomas Gottschalk, über Jahrzehnte der Superstar des deutschen Unterhaltungsfernsehens, der als einer der Ersten – fröhlich, offensiv und geradeaus – von seiner kirchlichen Prägung gesprochen hat und seine religiöse Herkunft, seine kirchliche Kindheit und darin seine Messdienerzeit als eine Wurzel seiner unvergleichlichen Erfolgsstory bezeichnet. Die Presse nennt den blonden Alleskönner gern den »geborenen Messdiener«. Da ist Gottschalks Freund, Günther Jauch, der Souverän der etwas leiseren Show, der als Moderator und Journalist das breite Themenspektrum der neugierigen Zeitgenossen repräsentiert. Das Fernsehpublikum vertraut ihm wie kaum einem anderen und wünscht ihn sich in die aller­höchsten ­deutschen Ämter. Auch Hape Kerkeling gehört dazu, der ­Entertainer mit der sanften Heiterkeit und tiefen Spiritualität.
Gottschalk, Jauch und Kerkeling waren lange Zeit das Spitzentrio der Unterhaltungsbranche im deutschen Fernsehen. Sie haben über eine sehr lange Strecke den Gipfel familien­fähiger und populärer Unterhaltung verkörpert. Stefan Raab mit seiner bisweilen anarchischen Stilistik macht das Trio zum Spitzenquartett. Er trifft vor allem den auf Comedy aus­gerichteten Geschmack jüngerer Zuschauer. Stefan Raab hat im Rheinland »das Glöckchen nicht nur gebimmelt, wenn der Priester Kelch und Hostie hebt«. Sein alter Gemeinde­pfarrer schwärmt von ihm als von einem »ungewöhnlich an der Sache interessierten und über die Maßen engagierten Messdiener«. Stefan Raab selbst verschließt sich im Interesse seiner Familie und der Privatsphäre seiner Kinder restriktiv wie kaum ein anderer der öffentlichen Nachfrage. Für ein Gespräch zu diesem Buchprojekt über die Erfahrung einer ka­tho­lischen Kindheit stand er bedauerlicherweise nicht zur Ver­fügung.
Die hohe Präsenz der Ministranten im Showgeschäft ist keine Generationsfrage: Es gibt die ganz Jungen, die in den 90er Jahren ihre Messdienerzeit hinter sich gebracht haben, es gibt die Babyboomer wie das beschriebene Quartett, geboren vor und nach 1960, und es gibt die, die vor dem Krieg, während der Kriegswirren oder in der noch deutlich durch sie ­geprägten Zeit geboren wurden.
Zu den Letzteren zählt Frank Elstner. Der Erfinder von »Wetten, dass …?« hat eine 50-jährige Spitzenkarriere mit vielen Höhepunkten und mit nur ganz wenigen Tiefs hingelegt.
Alfred Biolek ist ein Kind des böhmischen Katholizismus mit einer stark barocken Grundierung. Er war lange ein Messdiener, der sich ­begeistert hat an der Inszenierungskraft der Messen, Andachten und Prozessionen. Die »grandiose Emotion bei einer Mozart-Messe« und die verschiedensten Feierlichkeiten des ganzen Kirchenjahres mit ihren »dramaturgischen Momenten einer biblischen Traurigkeit und himmlischen Freude« genoss er nach der Flucht mit seiner Familie aus der böhmischen Heimat auch in seiner neuen, protestantisch geprägten Umgebung in Württemberg.
Dieter Kürten hat noch im fortgeschrittenen Alter ministriert. Samstagsabends führte er eloquent und humorvoll durch das »Aktuelle Sportstudio«, am Sonntagmorgen war der »Mann für alle Fälle« im Sonntagsgottesdienst als Messdiener und Lektor zu sehen und zu hören.
Dieter Kürten, Alfred Biolek, Frank Elstner: drei Moderatoren mit vorkonziliarer Messdienerfahrung, die ihre klassische TV-Karriere in einer Zeit gemacht haben, in der die noch fehlende Konkurrenz Zeit und Möglichkeit ließ, um ruhiger und sorgfältiger als jemals wieder in der TV-Geschichte das eigene Format, das eigene Talent, das eigene Profil und schließlich die eigene Marke aufzubauen.
Gegen Ende einer solchen Zeit, die die heutigen Macher gerne als »altes Paradies« bezeichnen, betritt ein anderer ­Quotenkönig die Unterhaltungsbühne: Jürgen von der Lippe, Sohn eines Barmixers in einem Nachtlokal, wird durch cha­rismatische Religionslehrer in Aachen zum Messdienen bewogen. Seine große Karriere als Spaß-Moderator ist durch einen ganz individuellen Stil, dem man die 68er-Impulse anmerkt, geprägt. Heute bezeichnet sich Jürgen von der Lippe, der früh aus der Kirche ausgetreten ist, als bekennenden Agnostiker, der sich in seinen Publikationen und auf der Bühne mal ironisch, mal nachdenklich mit dem Glauben seiner Kindheit auseinandergesetzt hat: »Ich glaube nicht an Gott. Aber ich vermisse ihn«, wird sein gern zitiertes Anti-Credo.
»Mich lässt diese Sache nicht mehr los«, bekennt dagegen Reinhold Beckmann. Die katholische Kindheit in einer eher schwierigen norddeutschen Diaspora hinterlässt tiefe Spuren. Seine kirchliche Frühzeit bedeutet dem Granden der ARD-Unterhaltung nach wie vor außerordentlich viel. Er – und darin ähnelt er Thomas Gottschalk – bekennt sich selbstbewusst und offensiv dazu, dass es für ihn einen durchaus engen Zusammenhang von kirchliche Wurzeln und erwachsener Existenz gibt.
Anne Will, Talk-Moderatorin, sieht nur einen losen Zusammenhang zwischen ihrer kölnisch-katholischen Kindheit und ihrer heutigen Lebensform, sie nimmt eher Brüche wahr als Brücken. Sie ist in diesem Buch eine zweifache Ausnahme: Sie ist nicht nur die einzige Frau unter dem runden Dutzend männlicher Kollegen, sie durfte sich auch nicht offiziell Messdienerin nennen, weil ihr Pfarrer damals Frauen am Altar strikt abgelehnt hatte. Das hat einerseits dazu geführt, dass ihr Engagement für Gleichberechtigung und ihr Kampf gegen Ungleichbehandlung bereits früh begonnen hat; und andererseits entwickelte sie den Ehrgeiz, dem Pfarrer ein Schnippchen zu schlagen und es ihrem »dienenden« älteren Bruder gleichzutun. Bei Schul- und Wortgottesdiensten, aber auch bei der Aussendung der Sternsinger übernimmt sie, etwa als Lektorin, Messdienerhilfsdienste.
Mit halben Sachen und falschen Restriktionen hat sich niemand aus der jüngeren Generation der Messdiener mehr abspeisen lassen müssen. Die Gemeinsamkeit der Ministranten aus den späten 80er und den 90er Jahren, die es – nicht ohne Verwunderung in der Szene – ebenfalls schafften, später auf der großen Bühne der Fernsehshows im Mittelpunkt zu stehen, lag darin, dass sie sich ganz bewusst und freiwillig für den Altar­dienst entschieden haben. Da gab es nicht mehr die großen Klassenverbände, die sich kollektiv beim Pfarrer einschreiben ließen. Die Entscheidung war hier eine ganz individuelle Wahl und setzt Selbstbewusstsein voraus.
Matthias Opdenhövel, Moderator während der Fußballweltmeisterschaft 2014 vor bis zu 30 Millionen Zuschauern, war auch einer von diesen. Zum Ende seiner kirchlichen Karriere war er der Kreuzträger, der im feierlichen Hochamt und an besonderen Festtagen des Kirchenjahres vor der gesamten Schar der liturgischen Funktionsträger vorherschreitend besondere Verantwortung für den Ablauf der Liturgie trug.
Einen ähnlichen »Karriere«-Verlauf an den Altarstufen verzeichnet auch Guido Cantz, der Mittelpunkt des ARD-Klassikers »Versteckte Kamera«. In den drei großen »K’s«, die in Köln zählen – Kirche, Karneval und Kicken –, wollte Guido sich von niemand übertreffen lassen.
Sven Lorig, seit vielen Jahren Anchorman im Morgenmagazin und Moderator unterschiedlicher Showabende in der ARD, war die lange Zeit von zehn Jahren engagiert beim Dienen.
Willi Weitzel hat mit »Willi wills wissen« die Herzen der Kinder und die Unterstützung ihrer Eltern wie auch das Votum der Juroren von großen Fernsehpreisen erobert. Und er hat es fertiggebracht, auf dem Höhepunkt seiner Sendung von sich aus Schluss zu machen, um mit etwas Neuem zu beginnen. Die Gefahr eines möglichen dunklen Schattens über seiner Messdiener-Kindheit in Gestalt eines aufdringlichen Pfarrers hat er abwehren können. Dieses Erlebnis ist bis heute für ihn eine große Belastung.
Ein Messdiener ganz eigener Herkunft ist Markus Lanz: In seiner Heimat in den italienischen Dolomiten hatte man kaum eine Chance, nicht Messdiener zu werden. Die fünf Jungs aus seinem Kommunionunterricht waren zur »Aufrechterhaltung« der liturgischen Minimalia fest vom Pfarrer eingeplant – und Lanz blieb schließlich bis zum Abitur dabei. Wenn er heute zur Kur für die Seele wieder über den Brenner nach Hause zurückfährt, wohnt er in der Nähe seines Heimatdorfes auf einer ausgebauten Alm. Touristen sind bisweilen überrascht, wenn sie im Sommer bei den großen feierlichen Gottesdiensten unter den mitwirkenden Gläubigen auch einen Kopf entdecken, den sie aus dem deutschen Fernsehen kennen.
Es sind diese besonders feierlichen, im Fachjargon »levitierten« Messen, die Harald Schmidt, selbst eine der Legenden des Showbusiness, zu einer Erklärung des Zusammenhangs zwischen TV-Moderation und Messdienerei bringen: Die Begegnung mit Liturgie und Inszenierung sei für jedes Messdiener-Kind, »eine erste fundamentale Erfahrung der Theatralik«. Sie gehe, wenn sie nur intensiv wiederholt und abwechslungsreich variiert werde, durchaus in Herz und Seele, Hirn und Bauch. Harald Schmidt war, auch wenn es die Gerüchte anders wollen, kein Messdiener. Er hat die Prüfung zum Kirchenmusiker gemacht und in Gottesdiensten seiner Gemeinde die Orgel gespielt. Er hat die Abläufe einer katholischen Messe quasi aus der Höhe der Empore und aus der Distanz der Orgelbank erlebt und kann sie daher von außerhalb bewerten: Der TV-Auftritt so mancher Kollegen mit kirchlicher Vergangenheit sei, sagt er, in Rhetorik und Körpersprache massiv von den liturgischen Grundmustern und pastoralen Vorbildern durchsetzt.
Matthias Brodowy, langjähriger Ministrant und heute erfolgreicher Kabarettist, benennt die Zusammenhänge konkreter: »Wir haben als Messdiener nicht nur eine liturgische Tiefe gelernt, sondern schon als Kind gelernt zu inszenieren. Wir haben Dramaturgie gelernt, wir haben gelernt, vor Menschen, die uns beobachten, zu laufen, zu handeln und zu sprechen.« Brodowy ist ein Vertreter der These, dass der Dienst am Altar die perfekte Vorbereitung für den Erfolg auf der Bühne sei: »Wer einmal als Lektor diese ganzen alttestamentlichen Texte mit den schwierigen Namen fehlerfrei und in einer vollbesetzten Kirche vorgelesen hat, kann mit dem Mikrofon umgehen. Er kann es weit bringen.«
Auf dieser frühen Begegnung mit den Freuden der Theatralik beruht die populärste These über den Zusammenhang zwischen Messdienen und Medienerfolg. Für nicht wenige Kenner beider Lager scheint diese Erklärung einleuchtend. Alfred ­Biolek kommt ins Schwelgen: »Eine wahre Pracht für Augen, ­Ohren und Nasen: das ist der feierliche Gottesdienst. Prächtige Gewänder, Musik und Weihrauch. Die großen Auftritte in der Liturgie, das ist das älteste und beste Showbusiness der Welt«, sagt er und verweist darauf, dass es ohne die Kirche und ihren Kult ja auch, historisch gesehen, keine modernen Bühnen geben würde. In der Tat ist der Gottesdienst eine der Wurzeln des Schauspiels im Mittelalter. Die Kirchen waren die Volkstheater. Der Ort, wo ansonsten das »heilige Spiel der Messe« gegeben wird, ist an besonderen Feiertagen der Platz, an dem die zentralen Themen der Christenheit, das Leiden und Sterben des Erlösers, die Weihnachtserzählung und die Auf­erstehung Jesu, gespielt werden. Für viele ist es plausibel, dass diese Tradition einer großen Theatralik eine Erklärung für den engen Zusammenhang zwischen Altar und Bühne darstellt.
Es gibt so manchen prominenten Vertreter der bunten, runden, leicht folkloristischen Theorien eines direkten Zusammenhangs zwischen Messdienst und Mediendienst im Sinne einer quasi logischen Karriere.
Andere bleiben skeptisch. Sie halten eine solche »Kausalkette« für eine fantasievolle Verkürzung einer weit komplexeren Wirklichkeit. Zwar entwickelten begabte und sensible Messdiener zweifellos ein Feeling für Inszenierung, Dramaturgie und theatralischen Effekt. Auch bekämen sie eine Ahnung davon, wie verlockend es sein könnte, später beruflich vor Publikum zu brillieren. Doch eine solche Annäherung ist in ihren Augen bestenfalls eine notwendige, aber niemals eine hinreichende Voraussetzung, um im sehr harten Medien-Metier wirklich dauerhaft »bella figura« machen zu können. Showmaster, das wissen die Insider, werden letztlich die, die einen harten, sehr differenzierten Qualifikationsweg hinter sich gebracht haben und sich als besser erweisen als die sehr große Zahl der Konkurrenten. Günther Jauch hat keine wirklich dezidierte Meinung über den Grund für den zahlenmäßig so auffälligen Zusammenhang von Messdienst und Erfolg im Showgewerbe. Wie viele andere zuckt er zunächst mit den Schultern auf die Frage, warum so mancher Programmdirektor Entertainment-Jobs bisweilen zu zwei Dritteln mit ehemaligen Mess­dienern besetzt hat. Dies sei »streng genommen eher Zufall«, sagt er.
Vielleicht gibt das Wort vom »Zufall« dennoch eine Richtung vor, die mehr erklären kann, als ein Schulterzucken zum Ausdruck bringt. Jedenfalls dann, wenn man »Zufall« so versteht, wie eine heutige Psychologie diesen Tatbestand auch zu umschreiben gelernt hat: im Sinne einer Situation, in der der Einzelne die Gelegenheit beim Schopfe packt, um die Wahrscheinlichkeit für die nächsten Gelegenheiten zu erhöhen. »Zufälle« sind in diesem Sinne Situationen von besonderer Qualität – für Menschen, die großen Einsatz zeigen, wenn sie ungeplant außergewöhnliche Chancen bekommen. »Kontingenz« ist das Zauberwort für eine solche prinzipielle Offenheit menschlicher Lebenswege: ein Begriff für Konstellationen, in denen – vereinfacht gesagt – eine Sache weder notwendig noch unmöglich ist, die sich dann aber ereignen und einstellen kann, wenn aktiv und mit Vorsatz die Weichen so gestellt ­werden, dass sich weitere Möglichkeiten ergeben. Eine der »kontingenten« Möglichkeiten und Weichenstellungen für die erstaunliche Karriere-Gemeinsamkeit von Messdienern im Medienberuf ist vielleicht auch die soziale Herkunft. Ein Satz von Hape Kerkeling zeigt eine mögliche Spur. Er sagt über seine Familie: »Wir stammen aus kleinen Verhältnissen. Aber klein nur im Sinne von Geld. Im Sinne von Geist, Güte und Arbeitsbereitschaft waren wir nicht klein.« Ein solcher Blick auf die soziale Herkunft könnte ein Schlüssel für die auffällig häufige Weichenstellung in Richtung Show-Job sein. Die soziale Ausgangslage ist für fast alle identisch und klar. Kaum eine der ­Familien war auf Rosen gebettet. Durch die Bank hatten die Elternhäuser ihre Mühe, die eigene Vorstellung von einem besseren Leben für ihre Kinder auch umzusetzen. Durch den frühen Tod eines Elternteils konnte es bei dem einen oder anderen sogar kurzfristig auch zu fast prekären Verhältnissen kommen. Jeder musste einen Teil zum Lebensunterhalt beitragen. Die heranwachsenden Kinder erfinden interessante Nebenjobs. Vom klassischen Zeitungsausträger bis zum schlauen Job des Disco-DJ haben die prominenten Ex-Messdiener in ­ihrer Pubertät so ziemlich alles gemacht, was man machen konnte, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen.
Dies ist schon ein erheblicher Unterschied zur Genera­tion der großen Unterhaltungs-Dinos wie Hans-Joachim Kulenkampff, der aus großstädtisch-großbürgerlichem Milieu stammt. Die Nachfolgegeneration kommt eher aus dem Lager der sozialen Aufsteiger. Aufsteiger sind Kämpfer. Und sie sind motiviert, weil sie durch ihre Leistung einen Unterschied machen können. Angeleitet durch ihre Eltern, wollen sie zu den Bildungsgewinnern zählen. Hier verbindet sich das Wissen der Messdiener, sich etwas zutrauen zu dürfen, mit einem zentralen Versprechen der Elterngeneration: Du kannst es aus eigener Kraft schaffen. Diese Erfahrung ist einer der Motoren für Fleiß und außergewöhnliche Ideen. Wer aus kleineren Verhältnissen kommt, ist eher bereit, seine Kräfte einzusetzen und dranzubleiben. Das hat nicht selten den Effekt, dass man auch in den Augen der Personalentscheider motivierter, interessanter erscheint als die, die weniger kämpfen müssen.
Wer früher als Messdiener regelmäßig die Energie aufgebracht hatte, pünktlich um 6.15 Uhr zum Frühgottesdienst ­anzutreten, wie es Reinhold Beckmann heute noch gern erzählt, bringt auf der Suche nach dem Job die größere Bereitschaft mit, im Wettbewerb um die wenigen Plätze hart zu rackern und zu kämpfen und mehr zu investieren. Wer, wie Matthias Opdenhövel, sich konsequent darauf eingerichtet hat, sehr pünktlich vor den Gottesdiensten in der Sakristei zu sein, der hat für sich eine ziemlich genaue Vorstellung von Disziplin und Zuverlässigkeit erworben. Wer, wie Sven Lorig, bisweilen zusammen mit zwölf Ministranten einen Festgottesdienst zu gestalten hatte, mit allen gemeinsamen Vorbereitungen und notwendigen Übungseinheiten, hat später wenig Probleme mit der geforderten Teamfähigkeit. Wer, wie Frank Elstner, den liturgischen Marathon von Palmsonntag über Gründonnerstag, Karfreitag, die Osternacht und das Auferstehungshochamt über mehrere Jahre hindurch mitgemacht hat, der hat möglicherweise seine Steherqualitäten und eine selbstverständliche Kraft zum Durchhalten entwickelt. Wer, wie Guido Cantz, die Sakristei nicht nur als sakralen Vorraum, sondern als kommunikativen Treffpunkt erleben durfte und von früher Kindheit an die langen, bisweilen legendären Freizeiten mitgemacht hat, der konnte beim Dienen die fröhlichen Seiten von Gruppen­dynamik erleben. Wer, wie Willi Weitzel, die unangenehme Messdiener-Erfahrung mit Sakristei-Tyrannen erleben musste, der hat gelernt, selbstbewusst dagegenzuhalten. Selbstbeherrschung und Demut, sagt Markus Lanz, seien versteckte Tugenden nicht nur der vorkonziliaren Generation von Messdienern, die wegen der geforderten Nüchternheit vor dem Kommunion-Empfang drei Stunden vor ihrem Dienst nichts essen durften: Selbstbeherrschung sei auch später angesichts des durchaus kritischen Auges der Öffentlichkeit eine wichtige Überlebenstugend geworden. Und ebenso überlebensnotwendig ist es, trotz des Stolzes über die wachsende Anerkennung geerdet zu bleiben und – auch wenn es schwerfällt – Demut zu lernen.
Wer mit Durchsetzungskraft all diese Fähigkeiten für sich zu nutzen weiß, der hat einen großen Vorrat an Reaktionsmustern, Verhaltensweisen, Qualifikationsmerkmalen und Geisteshaltungen für den Einstieg in den Aufstieg zum Traum­beruf. 
Eine andere Spur, die zum besseren Verständnis der besonderen Affinität von Messdiener und Medienstar führen kann, legt Thomas Gottschalk. Er sagt, dass seine katholische Kindheit und die damit eng verbundene Messdienerzeit ihm eine solche Mitgift an Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl mitgegeben habe, dass er ein Leben lang davon zehren könne. Er sei umhüllt gewesen von einer lebendigen, motivierenden und glaubwürdigen Vorstellung von Kirche und Religion – glaubwürdig durchaus im Wortsinn: würdig, glauben zu können. In einem Spiegel-Gespräch fasst er diese Erfahrung sehr eindeutig zusammen: »Meine Erinnerungen sind ausschließlich positiv!« Für ihn heiße kindliche Grunderfahrung in der Kirche, dass Spaß und Ernst, Spiritualität und Erlebnis sich positiv ergänzen können. Die Erlebnisse, Bilder und besonderen Menschen hätten ihn stark und sicher gemacht im Hinblick auf die Frage, ob er auf der richtigen Spur sei. Für Gottschalk ist die Geisteshaltung, auf die er trifft und die ihn prägt, eine außer­ordentlich positive Kraftquelle für ein starkes Selbstwertgefühl. Diese Stabilität eines starken Selbst, dieses Wissen um die »eigene Identität« als ein Fundament für psychische Gesundheit ist für ihn klar auch ein Ergebnis einer geglückten kirchlichen Kindheit. Die religiöse Grunderfahrung hat ihn psychisch robust und selbstbewusst gemacht.
Für Thomas Gottschalk und viele seiner Kollegen, die sich in den kleinen Porträts dieses Buches über Besonderheiten ihres Weges zwischen Altardienst und Showbühne äußern und von ihrem eigenen Selbstwertgefühl sprechen, ist eine individuelle Gewissheit gemeinsam: dass ihnen – bei allen notwendigen Relativierungen – diese kirchliche Kindheit mit der Zeit des Messdienens durchaus eine Quelle für ein fundiertes Selbstwertgefühl und ein vitales Selbstbewusstsein gewesen sei. Und dass diese Zeit durchaus mit dazu beigetragen habe, eine innere Haltung zu finden, die stark genug ist, um zu verhindern, dass man abhebt.
Zusätzlich zum eigenen Talent hat eine kirchliche Kindheit und eine aktive Zeit als Messdiener, so sagen sie, eine zusätzliche Plattform für ein starkes Selbstbewusstsein geschaffen. Von dieser inneren Plattform her ist man gut gewappnet, den eigenen Weg zu gehen, auch gegen starke Konkurrenz. Dieses starke Selbst, das weiß, was zur eigenen Identität gehört und was als unverhandelbar anzusehen ist, ist für viele der in diesem Buch vorgestellten Showstars offensichtlich eine Mitgift aus der Zeit, als sie gedient haben. Sie wissen: Das ist durchaus ein starkes Pfund, eine besondere Qualität, ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal in ihrer exponierten Funktion.
Zu meiner Zeit als Programmverantwortlicher war ich in den Gesprächen und Verhandlungen mit den Moderatoren gern auf solche Momente aus, in denen das Unverhandelbare, ein letztlich ethischer Maßstab, zur Sprache kommen konnte. Vielleicht war es für solche Gespräche damals hilfreich, dass ich vor langer Zeit selbst eigene Erfahrungen als Messdiener gemacht hatte. Jedenfalls waren diese Gespräche auch für mich selbst immer eine spannende Auseinandersetzung über die Vorstellungen von Haltung, Spirit und auch die Grenzen für das, was attraktiv, populär und unterhaltend sein darf. Diskussionen dieser Art, die dann häufig von den Moderatoren auch untereinander weitergeführt wurden, waren zumeist nicht bloß theoretische Betrachtungen und abstrakte Über­legungen über verantwortbare Formen der TV-Unterhaltung. Sie waren in der Regel auch Auseinandersetzungen über ganz reale Konfliktzonen und Grenzziehungen im eigenen Gewerbe. Es waren Debatten darüber, wieso Zynismus kein Stilmittel der Familienunterhaltung sein kann und weshalb es defintiv nicht geht, Menschen in Sendungen »vorzuführen«.
In den vielen Gesprächen für dieses Buchprojekt mit den Moderatoren, bei denen ich mich nachdrücklich für freund­liche und kritische Offenheit, vielfältige Hinweise und ganz neue Spuren bedanke, kam wie ein roter Faden immer wieder diese Reflexion über die ethischen Bedingungen ihres Jobs zur Sprache. In den Portraits der Moderatoren auf den folgenden Seiten dieses Buches gewinnen die individuellen Betrachtungen ihren eigenen Bezugspunkt und ihre subjektive Wertigkeit. Gemeinsam bleibt bei den meisten meiner Gesprächspartner eine Genugtuung darüber, dass, bei aller selbstkritischer Einschätzung von Fehlern, von Unzulänglichkeiten und Qualitätsschwankungen, hierzulande generell über eine lange Zeit ein auch im internationalen Vergleich bemerkenswert guter Standard für Familienunterhaltung im Fernsehen etabliert werden konnte: eine Idee von Unterhaltung, die mit Witz und Grips, mit Kreativität und Charisma Menschen unterhalten will, ohne dabei Menschen zu beschädigen. Es gibt ja, das ist auch meine persönliche Erfahrung, viele grandiose Beispiele und gute Belege dafür, dass diese Vorstellung als Norm gelebt worden ist. Das eindringlichste, aber auch gleichzeitig dra­ma­tischste Beispiel ist die intuitive Entscheidung von Thomas Gottschalk, nach dem schweren Unfall von Samuel Koch in seiner »Wetten, dass …?«-Sendung die Live-Show aus Respekt vor Samuel spontan abzubrechen. Es war damals die individuelle Entscheidung des Moderators – ein Verhalten, das heute in vielen Medienethikseminaren als Best Practice für verantwortliches Entertainment ausführlich dargestellt und diskutiert wird.
Reinhold Beckmann
»Das lässt mich nicht mehr los!«
So wie die soziale Herkunft eines Menschen seine Zukunft prägt, so ist der Ort des Herkommens ein Schlüssel zum genaueren Verständnis seiner Vita. Ob einer vom Land kommt oder aus der Großstadt, aus den Bergen oder vom Leben am Fluß, all dies sind mehr als nur zufällige Hinweise auf prägende Einflüsse und gefundene Identitäten. Für Reinhold Beckmann ist Twistringen, 30 km südlich von Bremen am Südostrand des Naherholungsgebietes Wildeshauser Geest gelegen, ein Ort, der ihn sein Leben lang begleitet hat. Es ist dabei nicht so, dass dessen Besonderheit als eine typisch niedersächsische, erdverwachsene Land- und Großgemeinde nicht schon prägende Aussagekraft genug hätte. Bei Twustern, wie Twistringen auf Plattdeutsch genannt wird, kommt noch eine sehr charakteristische Besonderheit hinzu: Twistringen ist ein Solitär. Es ist eine katholische Gemeinde in rundum hundertprozentig protestantischer Umgebung. Es ist – konfessionell gesehen – Dias­pora pur. Wer sich hier religiös oder kirchlich versteht – und das tun in den 50er Jahren sehr viele –, der lebt diese Überzeugung mit Nachdruck und mit einem Hang zur Demonstration. »Zeige nach draußen, was du im Innern glaubst!«, heißt eine der forschen Maximen im norddeutschen Diaspora-Katholizismus. Und dies umso mehr, als das damals eher feindliche protestantische Umland in den Papisten eigentlich keine Christenmenschen und auch sonst eher Bürger minderer Klasse sehen wollte. Und so wird ein klar herausgebildetes Milieu zu einem prägenden Merkmal. Diaspora wird im einst münsterischen Twistringen als historische Verpflichtung angesehen und als Chance verstanden, sich in ganz vielen Dingen von ganz vielen Nachbarn ringsherum zu unterscheiden. Und das erst recht, weil man schon eine natürliche Unterscheidung aus der Geschichte beibehalten hat: Twistringen hat eine eigene Sprache, ein ureigenes Plattdeutsch. Alle anderen Gemeinden in der Gegend sprechen Hochdeutsch.
Auch die Familie Beckmann lebt in den 50er Jahren diese ganz eigene Identität, dieses Twistringer »Proprium«, wie Pfarrer Grothaus in der Ortschronik mit steiler lateinischer Diktion bemerkt. Und dieses Eigene hat einen klaren Ausgangs- und Schwerpunkt. Es ist die konsequente Art, wie die Familie Religion und Kirche lebt und wie man sich aufgehoben fühlt in einer Gemeinde, in der viele Hundert Familien es ähnlich empfinden.
Reinhold Beckmann nennt sein Elternhaus »heftig katholisch« und schildert seine Mutter als eine ebenso pragmatische wie tief religiöse und gottesfürchtige Frau. Sie kommt aus dem Teutoburger Wald und arbeitete nach ihrer Schulzeit als junges Mädchen in der Küche des Knabenkonvikts in Osnabrück. An Berufsausbildung war in diesen wirren Zeiten des Krieges nicht zu denken. 1946 aber entschließt sich die 25-jährige junge Frau zu einem mutigen Schritt: Sie nimmt eine Stelle in der Gaststätte Wellering in Twistringen an, 100 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Damals eine kleine Weltreise.