Von der Bildfläche - Manfred Sommer - E-Book

Von der Bildfläche E-Book

Manfred Sommer

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Beschreibung

Was haben Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes, ein Fenster in einem Büroturm und ein Poncho gemeinsam? Auf den ersten Blick so gut wie nichts, auf den zweiten jedoch etwas sehr Grundlegendes, das zudem allgegenwärtig ist: rechteckige Flächen. Unsere Welt ist voll von ihnen, aber weder die Natur noch unsere Einbildungskraft bringen sie hervor. Ausgehend von der Bildfläche, dem unsichtbaren Grund, der es Farbe und Linie gestattet, zum Bild zu werden, erkundet Manfred Sommer diese so elementare wie diskrete Figuration und damit zusammenhängende Phänomene wie Grenze und Saum, Rand und Rahmen, Gitter und Karos, Raster und Pixel. Er beschreibt ihre Genese, die in der Jungsteinzeit beginnt: Rechteckig werden hier erstmals Felder gepflügt, später Häuser gebaut und Stoffe gewoben – und die Bilder wandern aus den Höhlen an die weißen Wände, um dort mit dem offenen Fenster um den schönsten Blick zu konkurrieren. Von der Bildfläche ist eine faszinierende Reise durch unsere rektangulare Welt, mit überraschenden Abzweigungen, etwa zu einem Malerwettstreit in der Antike, Husserls Überlegungen zur Geometrie oder den Bayerischen Meisterschaften im Gespannpflügen. Sie lehrt uns, eine lebensweltliche Selbstverständlichkeit neu zu sehen.

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Seitenzahl: 729

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Was haben Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes, ein Fenster in einem Büroturm und ein Poncho gemeinsam? Auf den ersten Blick so gut wie nichts, auf den zweiten jedoch etwas sehr Grundlegendes, das zudem allgegenwärtig ist: rechteckige Flächen. Unsere Welt ist voll von ihnen, aber weder die Natur noch unsere Einbildungskraft bringen sie hervor.

Ausgehend von der Bildfläche, dem unsichtbaren Grund, der es Farbe und Linie gestattet, zum Bild zu werden, erkundet Manfred Sommer diese so elementare wie diskrete Figuration und damit zusammenhängende Phänomene wie Grenze und Saum, Rand und Rahmen, Gitter und Karos, Raster und Pixel. Er beschreibt ihre Genese, die in der Jungsteinzeit beginnt: Rechteckig werden hier erstmals Felder gepflügt, später Häuser gebaut und Stoffe gewebt – und die Bilder wandern aus den Höhlen an die weißen Wände, um dort mit dem offenen Fenster um den schönsten Blick zu konkurrieren.

Von der Bildfläche ist eine faszinierende Reise durch unsere rektanguläre Welt, mit überraschenden Abzweigungen, etwa zu einem Malerwettstreit in der Antike, Husserls Überlegungen zur Geometrie oder den Bayerischen Meisterschaften im Gespannpflügen. Sie lehrt uns, eine lebensweltliche Selbstverständlichkeit neu zu sehen.

Manfred Sommer, geboren 1945, war bis zu seiner Pensionierung 2010 Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist u. a. Herausgeber zahlreicher Schriften Hans Blumenbergs aus dem Nachlaß.

Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Evidenz im Augenblick. Eine Philosophie der reinen Empfindung (1987 und stw 1291), Sammeln. Ein philosophischer Versuch (1999 und stw 1606) sowie Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen (2002).

Manfred Sommer

Von der Bildfläche

Eine Archäologie der Lineatur

Suhrkamp

Mit 65 Schema-Zeichnungen des Autors und 20 Abbildungen

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Manfred Sommer

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-518-74516-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

Erster Teil Albrecht Dürers Flächen

1. Karopapier auf der Tischplatte

2. Offene Fenster, leibnahe Stoffe

Zweiter Teil Feldlinien zu Grundformen

3. Mit Pinsel und Pflug zur Perfektion

4. Die Tragödie des Bauern

5. Variationen des Rundseins

6. Feldumkreisung und Innentextur

7. Rektangulierung

8. Idealfiguren und Bewegungsgestalten

9. Der Grund als Bildfläche

10. Grenze, Rand und Rahmen

11. Normative Lineaturen

12. Denken im Rechteck

Dritter Teil Die Domestikation des Bildes

13. Das Haus steht aufrecht da

14. Waagrechte Zweiseitigkeiten

15. Flechtwerk unter Lehm und Weiß

16. Die Ebnung der Höhlenbilder

17. Eckzeichen, Handflächen, Schattenkörper

18. Die Wand ist ein Wesen wie wir

19. Distanzverlust an der totalen Wand

20. Rahmen ums Leere – das Fenster

21. Das Bild an seiner Wand

Vierter Teil Textil- und Selbstgestaltung

22. Das gewebte Bild

23. Der bekleidete Leib

Anmerkungen

Verzeichnis der Abbildungen

Namenregister

Sachregister

The painter has learned from the weaver.

Rudolf Arnheim

Einleitung

Wie sind wir auf die Bildfläche gekommen?

Bildfläche ist, was übrig bleibt, wenn alles von ihr verschwunden ist. So würde meine Definition lauten, wenn ich mit einer beginnen müßte. Als Begriffsbestimmung unbrauchbar, gäbe dieser Satz dennoch einen Hinweis, wie an das Thema heranzugehen wäre: Achte auf das, was im Verschwinden begriffen ist! Beschreibe, was noch da ist, wenn nichts mehr sich zeigt!

Ich beginne aber lieber mit einem Zitat: »Wir sehen heute die rechteckige Form des Blattes Papier und seine klar umgrenzte, glatte Oberfläche als eine unerläßliche Grundlage des Zeichnens und Schreibens an. Einem solchen Feld entspricht jedoch nichts in der Natur oder der Einbildungskraft.« Damit hat der große amerikanische Kunsthistoriker Meyer Schapiro schon vor mehreren Jahrzehnten an etwas Selbstverständliches erinnert und zugleich auf etwas Erstaunliches aufmerksam gemacht.

Eine Selbstverständlichkeit ist uns das Blatt Papier. Es ist uns von Kindesbeinen an bestens vertraut und in unserer Lebenswelt fast allgegenwärtig. Mag sein, daß seit einiger Zeit das Papier durch digitale Medien etwas zurückgedrängt wird. Unmerklich aber behauptet sich in dieser Konkurrenz die rechteckige ebene Fläche. Ja, sie erhält sogar Zulauf; denn sie ist es, die wir mit all unseren Bildschirmen und Displays vor Augen haben. Und selbst das Papier war stets nur, und ist noch immer, das prominenteste Mitglied einer großen Familie von Bild- und Schreibflächen, denen allesamt das rechteckige Format gemein ist.

Andererseits muß man fragen: Ist es nicht höchst sonderbar, daß eine so verbreitete Form uns nirgendwo in der Natur zu Gesicht kommt? Davon, daß die Kunst die Natur nachahme, kann also hier überhaupt nicht die Rede sein. Doch auch die sichtbaren Gestalten, die uns in der Phantasie, im Traum oder in der bildhaften Erinnerung begegnen, haben nie einen rechteckigen Rahmen um sich, der sie erst zu Bildern machte. Darin ähneln die Figuren unserer Einbildungskraft den Höhlenmalereien der Altsteinzeit. Weder in der freien Natur noch in unserem imaginativen Vorstellungsvermögen ist also eine Bildfläche von rechteckiger Form beheimatet. Wann, wo und wie sind wir dann überhaupt dazu gekommen, sie zu haben? Und was lehrt uns der Prozeß ihrer Entstehung und Ausformung über sie, und über uns? Das sind die Fragen, denen ich in den Beschreibungen und Überlegungen dieses Buches nachgehe.

Entstehungsgeschichte

Die rechteckige Bildfläche hat eine Entstehungsgeschichte. Doch diese Genese vollzieht sich nicht isoliert. Auch viele andere Flächen haben sich in rechteckiger Form herausgebildet. Wenn wir die künstlerischen Bildinhalte in ›malerische‹ und ›lineare‹ einteilen, so zeigen gerade die letzteren eine enge Verwandtschaft mit schriftlichen Zeichen, kunstvollen Kalligraphien und geometrischen Figuren. Die ebenen Unterlagen, auf denen solche graphischen Gebilde erscheinen, teilen mit der bemalten Fläche das rechteckige Format. Diese Gleichförmigkeit beruht auf einer Herkunft aus denselben Anfangsgründen.

Die neu in die Welt kommende Fläche ist nicht nur ein ebenes Feld von rechteckigem Format, sie hat auch eine innere Form. Nicht nachträglich, sondern konstitutiv, und doch zumeist unmerklich, ist sie durchzogen von Linien, die entweder parallel zueinander verlaufen oder sich derart kreuzen, daß ein intern rechtwinkliges Muster entsteht. Diese innere Textur der Bild- und Schreibfläche ist an gewebter Leinwand äußerlich noch sichtbar und im Gitter von Karopapier wieder sichtbar gemacht.

Die menschlichen Tätigkeiten, aus denen sich die außen wie innen rechteckigen Flächen gemeinsam herausformen, sind uralte Kulturtechniken. Diese haben zwar anfänglich weder mit der Malerei noch mit der Graphik, weder mit der Schrift noch mit der Geometrie etwas zu tun. Aber Hand und Fuß derer, die diese Kulturtechniken ausgeübt haben, fanden in ihrem unterschiedlichen Tun zu ein und demselben Bewegungsmuster und folgten ihm fortan. Dieses stiftet eine Verwandtschaft zwischen allem, was rechteckig aussieht. Weil es diese gemeinsame Genese gibt, befaßt sich meine Darstellung immer wieder auch mit dem glatten Grund, auf dem geschrieben wird, und mit der vollkommen ebenen Ebene, die wir mit dem Namen des griechischen Mathematikers Euklid verbinden.

Anfänge in der Jungsteinzeit

Meyer Schapiro sieht die Anfänge des pikturalen Feldes dort, wo zuerst eine »Architektur mit durchgängigem und verfugtem Mauerwerk« geschaffen wurde, nämlich in der Jungsteinzeit. Es ist die Epoche der Menschheitsgeschichte, für die sich der Fachausdruck »Neolithikum« eingebürgert hat. An diese Bemerkung Schapiros knüpfe ich an. Verallgemeinert und in Frageform umgemünzt lautet der Hinweis: Wie hat sich aus kulturtechnischen Fertigkeiten, die im Neolithikum neu entstehen, die Bildfläche in ihrer Rechtecksform herausentwickelt? Und was bedeutet diese neue Fläche für alles, was sich auf ihr soll zeigen können?

Nur zur Erinnerung: In der letzten Epoche der Steinzeit ändern sich grundlegend der Stil und die Art, wie sich unter den Bedingungen, die von der Natur vorgegeben sind, das Leben der Menschen vollzieht: wie sie sich ihre Nahrung verschaffen und wie sie sich im Raum bewegen, welche Formen sie ihren Behausungen geben und aus welchem Material sie ihre Kleidung fertigen. Obschon arg holzschnittartig, ist die übliche Formel doch weithin zutreffend, daß nämlich im Neolithikum aus nomadischen Jägern und Sammlern seßhafte Ackerbauern und Viehhalter wurden.

Und wann war das? – In verschiedenen Regionen der Welt zu verschiedenen Zeiten. Zum ersten Mal aber, wie archäologische Forschungen der letzten Jahrzehnte nahelegen, im Südosten Anatoliens und am Oberlauf von Euphrat und Tigris. Erste Spuren des Anbaus von Pflanzen und des Aufbaus von Häusern lassen sich dort auf die Zeit von ca.10000 v. Chr. datieren. Erst mehr als 4000 Jahre später beginnt dann der neue way of life sich auch in Mitteleuropa auszubreiten.

Mit dem Neolithikum kommen also die Kulturtechniken auf, in denen und in deren Gefolge die rechteckige Fläche entsteht. Das ist zwar auch schon lange her. Gleichgültig, ob die Menschheit seit zwei oder seit drei Millionen Jahren existiert, in jedem Falle hatte sie zu Beginn der Jungsteinzeit bereits mehr als 99 Prozent ihrer Existenz zugebracht, ohne daß jemals ein Vertreter unserer Gattung eine derartige Fläche gesehen hätte oder auch nur in der Lage gewesen wäre, sie sich in der Phantasie vorzustellen. Natürlich kommt es in vielen Hunderttausenden von Jahren gelegentlich vor, daß Zweige, die auf dem Boden liegen, eine Art Rechteck bilden. Auch altsteinzeitliche Gravuren in Felswänden sehen an einigen Stellen aus wie ein # oder ein mißlungenes □. Aber anders als wir späten Betrachter konnte, wer solches sah oder ritzte, offenbar nicht wissen, daß diese Gebilde einem Rechteck ähnlich waren, geschweige denn, was ein Rechteck überhaupt ist. Keinerlei Anzeichen deuten auf ein solches Wissen hin.

Das ist im Neolithikum völlig anders. In einem Zuge bilden sich nun aus: das Rechteck, das Wissen, was es ist, und das Bestreben, ihm, wo immer es geht, Geltung zu verschaffen. Davon gibt es nicht bloß einzelne Spuren, sondern mannigfach Zeugnisse. Und dennoch bleiben die ersten Anfänge dieses Vorgangs oft eigentümlich dunkel. Kaum mehr als Mutmaßungen gibt es über die Gründe, warum das Jagen und Sammeln abgelöst wurde durch das Halten von Tieren und den Anbau von Pflanzen. Nicht besser steht es um die damit einhergehenden oder davon ausgelösten Prozesse, in denen vielgestaltige Umrisse einheitlich normiert und gerundete Lineaturen begradigt, parallelisiert und überkreuzt werden. Gerade solche Formveränderungen sind aber von grundlegender Bedeutung für die Konstitution der Bildfläche. Ihnen suche ich auf die Spur zu kommen.

Mit Dürer zu Feld, Wand und Stoff

Im Ersten Teil, »Albrecht Dürers Flächen«, beginne ich aber mit einer Betrachtung der künstlerisch voll ausgereiften Fassung der Bildfäche. In einem Holzschnitt des Nürnberger Künstlers untersuche ich zunächst die flachen Gegenstände, die darin vorkommen. Wie bei jedem Innenraum, so liegen auch in dem, welchen Dürer uns zeigt, einige Flächen waagrecht da, andere stehen senkrecht dort. Und wie jedem gedruckten Bild liegt auch diesem von Dürer ein Blatt Papier zugrunde, das diese Darstellung bereitwillig auf sich stattfinden läßt. Was hat dieses Blatt, flach wie es ist, zu tun mit den Flächen der Dinge, die darauf abgebildet sind? Wie verhält sich der Rand des bedruckten Papiers zum Rahmen des Bildes? Wie das rechteckige Format zu dem, was es in sich faßt und umgrenzt? – Das sind sachhaltige Anknüpfungspunkte für eingehendere Beschreibungen. Die Flächen, die Dürers Holzschnitt uns sehen läßt, verweisen aber mit ihrer Lage, Stellung und Biegung auch auf die Kulturtechniken und Bewegungsgestalten, aus denen die rechteckige Fläche vor Jahrtausenden entstanden ist. Ganz selbstverständlich verwendet Dürer Lineaturen, wie sie, ihrem gestaltlichen Typus nach, der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie aus dem Feld- und Hausbau bekannt sind.

Im Zweiten Teil, »Feldlinien zu Grundformen«, beschäftige ich mich deshalb zunächst mit den Anfängen des Ackerbaus. Als Resultat der Kultivierung von Boden ist die Fläche ein Feld. In Feldstudien, Feldtheorien und im pikturalen Feld lebt der Acker vor allem als Metapher fort. Den realen Bauern, der das Feld bestellt, sollte man indes nicht ganz ausblenden. Denn es läßt sich zeigen: Gerade er, der Bauer, der im Neolithikum erstmals den Boden urbar macht, ist der entscheidende Akteur. Er erschafft zwar das Rechteck nicht, aber während er tut, was seine Sache ist, entsteht es ihm. Grundlegend ist dabei eine Transformation, in welcher aus anfangs rundlichen Feldformen eckige werden. Diese vorgeometrische Quadratur des Kreises nenne ich, mangels einer besseren Vokabel, Rektangulierung. – Doch nicht Agrargeschichte ist mein Thema, sondern Gestaltgenese. Daher untersuche ich weiter, wie die anfängliche Feldform zur allgemeinen Flächenform und diese dann zu einer Selbstverständlichkeit hat werden können. Die Bild- und Schreibfläche, die wir kennen, lebt noch immer von dem, was agrarisch als Grenze, Saum und Rand erformt wurde, und von Furchenmustern, die wir beim Zeichnen und Schreiben als normative Lineaturen auch dann noch zu spüren bekommen, wenn diese latent bleiben. Natürlich sind nicht alle Bild- und Schreibflächen eckig. Aber fast alle. Runde, ovale Bilder? Gewiß, aber doch nicht als eine zweite Sorte neben den rechtwinkligen, sondern trotz ihrer und gegen sie. Mit der Entstehung des rechteckigen Formats entsteht überhaupt erst so etwas wie ein Format; und danach ist auch das Runde insgesamt nicht mehr das, was es vorher einmal gewesen war.

Auch im Dritten Teil, »Die Domestikation des Bildes«, folge ich weiter meinem Dürer-Leitfaden. Dürer stellt dem Betrachter allerlei senkrecht stehende Flächen vor Augen; manche davon stimmen in ihrer inneren und äußeren Form mit dem gepflügten Feld völlig überein, sind jedoch Teile einer Hauswand. Das ist nicht verwunderlich, denn der steinzeitliche Ackerbauer ist auch Hausbauer und besteht auf seinem Muster. Jäger und Sammler hatten zumeist einen zeltartigen oder igluförmigen Unterschlupf. Erst der Ackerbauer errichtet sein Haus in der typischen Form, wie wir sie noch immer kennen: rechteckiger Grundriß, rechteckig auch die aufrechten Mauern und Wände, desgleichen die Fenster und Türen. Natürlich sind nicht alle Gebäude rechteckig. Aber fast alle. Die runden und ovalen wollen eigens anders sein, um sich hervorzutun. Und es gelingt ihnen ja auch. –

Doch nicht Architekturgeschichte ist mein Thema, sondern Gestaltgeschichte. Für sie erweist sich in der Kette ›Haus–Wand–Fenster–Bild‹, die ich darstellen werde, die neolithische Wand als das lehrreichste Glied. Eine zweiseitige Fläche mit innerer Lineatur und äußerem Weiß: so steht sie uns gegenüber. Sie ist aufrecht und standfest wie wir, uns spiegelnd und feindlich zugleich. Wir suchen Distanz zu ihr und Durchsicht durch sie, und finden beides im Bild wie im Fenster. Das Tafelbild, Kind der Wand, hängt an ihr. Dort ist es zu Hause. ›Domestikation‹ ist der Titel für dieses Häuslichwerden des Bildes. Natürlich hängen längst nicht alle Bilder an Wänden. Aber die dort hängen, stellen noch immer den Ur-Typus dar, von dem all die anderen ihrer Form nach abstammen.

Schließlich kommt im Vierten Teil, »Textil- und Selbstgestaltung«, eine von Dürers Flächen zum Zuge, die weder flach liegt noch aufrecht steht, vielmehr sich biegsam und geschmeidig allen erdenklichen Formen anpaßt. Sie ist gleichfalls Produkt einer neolithischen Innovation, nämlich der Webtechnik. Das ist hier nicht die Technik, mit der das Internet betrieben wird, sondern die Kunstfertigkeit, Fäden – Kette und Schuß – dergestalt zu verkreuzen, daß daraus ein eben ausgedehntes Gewebe entsteht; ein nie aufgegebenes Verfahren, den Grundstoff für Textilien bereitzustellen, auch den für Text-Metaphern jeglichen Zuschnitts. Doch nicht Textilgeschichte ist mein Thema. Vielmehr untersuche ich, wie die neolithische Frau aus gesponnenen Fäden eine rechteckige Fläche webt, wie das Gewebe zu Bild und Kleid wird und was es für uns bedeutet, daß wir solchen Stoff um uns haben und an uns tragen.

Erster Teil Albrecht Dürers Flächen

Trotz seines Titels kann und will dieser Teil keine kunstgeschichtliche Untersuchung über Flächen bei Dürer sein. Lediglich anhand von Dürers bekanntem Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes unternehme ich eine vorläufige und fragmentarische Erkundung zur Fläche des Bildes und zu Flächen im Bild.

Im ersten Kapitel beschreibe ich die waagrechten Flächen, die in Dürers Druck vorkommen. Wie auch sonst bei einem graphischen Werk ›realistischer‹ Art sieht man allerlei Gegenstände dargestellt, darunter auch solche, die flach sind oder eine ebene Oberfläche aufweisen. Wir betrachten den Druck aber auch rein technisch-materiell und sehen dann, daß er nur noch aus schwarzen Linien besteht, die weiße Flächen umgrenzen. Die Aufgabe beider ist es, uns allerlei Dinge bildlich sehen zu lassen. Dies können sie aber nicht allein, sondern nur dank unserer Bereitschaft, sie als Darsteller von Gegenständen aufzufassen. Dann aber gibt es noch, all dem zugrunde liegend, die Bildfläche, das pikturale Feld, auf dem diese ganze Darstellung statthat. Bei Dürer erscheint nun im Bild selbst eine solche Fläche. So macht Dürer auf der Bildfläche diese selbst zum Thema. Wir schauen ihm dabei genau auf die Finger.

Im zweiten Kapitel untersuchen wir dann vor allem die Wand und die Fensteröffnungen in der Wand. Bekanntlich dient der Blick durch das Fenster in und seit der Renaissance dazu, verständlich zu machen, was Zentralperspektive ist – als Anleitung zu bildlicher Konstruktion, aber auch als Theorie der visuellen Wahrnehmung. Doch das ist für eine gestaltgenetische Untersuchung der Bildfläche nur ein Thema unter sehr vielen anderen und wichtigeren. Ich versuche, es klein zu halten. Denn in der Einengung auf das Thema Perspektive ist völlig unterschätzt, was das Fenster für die Bildwerdung des Bildes insgesamt bedeutet. Um zu verstehen, wie die Bildfläche verfaßt ist und es längst vor der Renaissance war, verdienen zwei leicht übersehene vertikale Flächen Dürers unsere Aufmerksamkeit. Sie finden sich nicht im Bild, aber doch genau dort, wo es selber ist, nämlich vor seinem Vordergrund und hinter seinem Hintergrund. – Den Schluß dieses zweiten Kapitels bildet eine kurze Betrachtung von rechteckigen Flächen, die Dürer in ihren Extremen darstellt. Die eine ist sanft abgerundet, die andere hingegen straff gespannt; beide aber sind textile Gewebe.

Meine Bildbetrachtung besteht aber nicht allein aus flächenkundlichen Kettfäden. Vorsichtig eingeflochten sind an einigen Stellen philosophisch inspirierte Vorstellungen, die kenntlich machen sollen, daß die Welt, zumal unsere Lebenswelt, etwas anderes ist als eine Ansammlung fertiger Gegenstände in einem dreidimensionalen Raum. Für bildhaft dargestellte wie für wirklich erfahrbare Dinge gilt gleichermaßen: Wenn wir etwas wahrnehmen, sind wir selbst an dem Vorgang beteiligt, in welchem diese Gegenstände sich bilden und zeigen. Neben diesen kleinen Erinnerungen an uns selbst ist meine Untersuchung der Flächen Dürers unsystematisch durchschossen von kritischen Notizen zur Interpretation des Holzschnittes insgesamt. Mit ein paar Beschreibungen, Erwägungen, Vermutungen, die hier und da vielleicht nur offene Türen einrennen, möchte ich auf einige Merkwürdigkeiten hinweisen, die in summa fraglich werden lassen, worauf dieser Druck eigentlich hinauswill.

1.KapitelKaropapier auf der Tischplatte

Kunst und Geometrie– Topos– Zoë ohne Perspektive– Gestaltliche Charaktere– Flächen: kantig hart und sanft überwölbt– Gegenständliche Auffassung– Das pikturale Feld– Das Blatt wird liniert– Schachbrett und Koordinatensystem– Aufnahmebereite Felder– Schrift im Quadrat.

Gern malen sich die Maler beim Malen, zeichnen sich die Zeichner beim Zeichnen, beschreiben sich die Schriftsteller beim Schreiben. Somit kommt der Künstler – früher nur als dargestellter – in seinem Werk selbst vor und mit ihm auch der Ort seines Schaffens: das Atelier oder das Studio, die Dachkammer oder die Ofenstube. Wie unterschiedlich auch immer solche Räume eingerichtet sind, neben dem übrigen Mobiliar finden wir stets auch diejenigen Stücke, die der produktiven Tätigkeit den nötigen Rückhalt geben, etwa eine Staffelei, einen Zeichentisch, ein Schreibpult. Sie dienen als Stützen oder Träger. Auf der Staffelei steht eine Leinwand, auf dem Zeichentisch liegt ein Stück Karopapier, auf dem Schreibpult ein liniertes Blatt. Was da aufrecht steht oder waagrecht liegt, ist fast ausnahmslos rechteckig und flach. Derlei Rechtecke, unbearbeitet meistens weiß, warten darauf, Farbflecken, Tuschelinien oder Tintenstriche aufnehmen und festhalten zu dürfen. Indem sie es wirklich tun, entsteht ein Gemälde oder eine Zeichnung, ein Roman oder ein Essay, also die Werke, die – oder deren Reproduktion – der jeweilige Betrachter oder Leser gerade vor Augen hat.

Knapp nicht, wie sich zeigen wird, paßt in dieses Schema Dürers Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes. Immer wieder gern nachgedruckt, ist das Bild manchem wenigstens flüchtig bekannt und eignet sich zu einer ersten Besinnung auf die Bildfläche. Das Buch, aus dem das kleine Kunstwerk stammt, hat einen etwas längeren Titel, der für das Verständnis dessen, was man sieht, von Belang ist und deshalb ungekürzte Erwähnung verdient: Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen unnd gantzen corporen. Das Buch ist 1525 in Nürnberg erschienen, 1538 dann erneut und nun erstmals mit dem Zeichner-Holzschnitt. Wie der Titel als ganzer, so ist auch der Name des »liegenden Weibes« von Bedeutung. Einer apokryphen Nürnberger Tradition zufolge heißt sie Zoë.

Abbildung 1: Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes (1538)

In der Underweysung der Messung bedeutet »Messung« soviel wie Bemessung oder Zumessung. Wäre das Buch heute erschienen, so trüge es vielleicht einen Titel wie Anleitung zur geometrischen Konstruktion. Dürer ist Teil der Renaissance-Bewegung, welche die Grenze zwischen der Malerei als einer ›mechanischen‹ Kunst und der Geometrie als einer ›freien‹ Kunst zu überwinden sucht. Kennzeichnend, daß er sein Buch von 1525 mit dem Satz einleitet: »Der allerscharfsinnigste Euklid hat den Grund der Geometrie zusammengesetzt. Wer denselben wohl versteht, der bedarf dieser hernach geschriebenen Dinge gar nicht.« Wir haben also ein Lehrbuch der angewandten Geometrie vor uns, das zugleich den, der ein bildender Künstler werden will, zu einem solchen machen soll. Kein Wunder also, daß Dürer den Zeichner der Zoë erst einmal ein quadratisches Blatt mit einem quadratischen Gitter überziehen läßt. Denn so macht der Zeichner sich – und Dürer uns – die unsichtbare Innenform der Euklidischen Ebene sichtbar.

Topos ohne Perspektive

Dieser Holzschnitt Dürers rangiert, was den Bekanntheitsgrad angeht, zwar hinter den Betenden Händen und dem Feldhasen – aber nicht sehr weit dahinter. Er wird tradiert wie eine gängige Formel visueller Art. Was derart selbstverständlich geworden ist, was zitiert wird und dann erneut zitiert wird, weil es zitiert wurde, gilt in literarischen Zusammenhängen als ein Topos, das heißt als etwas, wovon jeder, der es liest, sofort weiß, was es bedeutet. Auf solche Weise dient Dürers Druck oft dazu, schnell anschaulich zu machen, wie perspektivische Darstellung funktioniert.

Aber taugt er überhaupt dazu? Eignen sich, um Gesetze und Technik der Perspektive zu erläutern, nicht eher Außen-Bilder mit kantigen Bauwerken, quadratischen Plätzen und gepflasterten Straßen, die in die Tiefe des Raumes führen? Oder Innen-Bilder mit rechteckigen Türen und gegitterten Scheiben, getäfelten Decken und gekachelten Fußböden? Von dieser Art sind doch die Gemälde, Stiche und Fotos, an denen wunderbar zu sehen und zu zeigen ist, wie die Fluchtlinien verlaufen und was perspektivische Konstruktion bedeutet. Doch derlei Rechtecke aus Rechtecken sind für Dürer zentralperspektivischer Kinderkram und beileibe keine künstlerischen Herausforderungen. Nein, nicht die perspektivische Verkürzung in der räumlichen Tiefe interessierte ihn, sondern die Rundung der Körper und die Falten der Stoffe. Dürer war obsessiv mit der Vermessung des menschlichen Leibes beschäftigt und mit dem Problem, wie sich gewölbte und faltige, bauchige und leibliche Sujets auf der ebenen Bildfläche darstellen lassen. Deshalb wird Der Zeichner des liegenden Weibes begleitet von Drucken wie Der Zeichner der Laute, Der Zeichner der Kanne und Der Zeichner des sitzenden Mannes. Doch gerade beim Gerundeten, Faltigen, Organischen sieht man nicht recht, was da die geometrisch konstruierte Perspektive noch soll – und es stellt sich die Frage nach dem Wert dieser Konstruktion. Der aber ist gering.

Keinen der genannten Holzschnitte hat Dürer mit Hilfe der Geräte entworfen, deren Verwendung er darstellt und beschreibt, in keinem der Drucke hat er sich auch nur andeutungsweise selbst als Zeichner ins Bild gesetzt. Bei einem Künstler, dem es an Selbstdarstellungsbedürfnis wahrlich nicht mangelte, heißt das fast schon: »Ich doch nicht!« Trotzdem ist beim Entwerfen der Holzschnitte auch er selbst – freilich aus einem anderen Blickwinkel – Zeichner all der Gegenstände, die er seinen Zeichnern vorlegt. »Zeichner des liegenden Weibes«, das ist Dürer, auch wenn man ihn im Bild gar nicht sieht.

Schauen wir uns Zoë an, wie er sie ›sah‹ und uns zu sehen gibt! Wo um alles in der Welt finden wir bei der Zeichnung dieser Frau die Vorschriften für die perspektivisch richtige Darstellung angewandt? Mit ›seiner‹ Zoë und der Art, sie darzustellen, läßt Dürer den Zeichner, dem er sie vorlegt, ins Leere laufen. Das ergibt sich ihm wohl daraus, daß er partout ein ›gelehrter Meister‹ sein möchte, ein pictor doctus und magister artium. Diesem Meister neuen Typs genügt es nicht mehr, in seiner Werkstatt den anwesenden Lehrlingen zu zeigen, wie man’s macht, damit sie’s auch so machen. In der Überzeugung, seine Kunst sei eine Wissenschaft und diese wiederum nicht Nachahmung, sondern Konstruktion, glaubt er, mittels eines Lehrbuches auch abwesende Studenten ausbilden, ja sie zur Selbstausbildung anleiten zu können. – Das ist es, was man an der Zoë des Meisters sieht: Die Gesetze der Perspektive sind für einen Dürer, wenn er zeichnet, dasselbe wie die Regeln der Grammatik für einen Kafka, wenn er schreibt. Geschenkt.

Zur Tradition des Zoë-Holzschnittes als eines Topos gehört, daß häufig unterstellt und gelegentlich geschrieben wird, es gäbe darin eine »unschwer zu imaginierende Perspektive des Zeichnenden«. Aber stimmt das denn? Ist es wirklich so leicht, sich vorzustellen, was er von seiner Stelle aus sieht? Da ist doch Vorsicht geboten. Erst recht die Folgerungen wecken Zweifel. Das liegende Weib, so ist zu lesen, »räkelt sich« vor dem »voyeuristischen Blick« des Zeichners, mit ihrer »lasziven Haltung« sei sie bloßes »Objekt männlichen Begehrens«. Das hört sich doch recht anachronistisch an. Mit dem Vokabular, das selbst schon von gestern ist, wird ein Bild beurteilt, das vor fast 500 Jahren angefertigt wurde. Was auch immer der Zeichner sehen mag, uns, den Betrachtern des Druckes, deutet Dürer subtil an, daß er Zoë nicht nur nackt, sondern auch als Bloßgestellte hätte zeigen können, wenn es seine Absicht gewesen wäre. Aber er hat sie uns eigens mit geschlossenen Augen präsentiert und ihr somit gestattet, eine Person zu sein, die sich ersparen will, sehen zu müssen, daß und wie sie hier gesehen werden kann. Aus ihrer Sicht hat sie sich unserer Sicht entzogen. Das wollte Dürer so, und schon das allein ändert den Charakter der gesamten Darstellung …

Wie dem auch sei, mein Thema ist ja viel enger: die Flächen imBild und die Fläche des Bildes. Deshalb lasse ich fast alles beiseite, was ideengeschichtlich zur Zentralperspektive und kunsthistorisch zur Ikonographie gehört, und erst recht alles, was psychoanalytisch zur Sexualsymbolik und kulturwissenschaftlich zur Thematik »männlicher Blick« gesagt worden ist.

Geteiltes Studio

Dürer präsentiert uns einen Zeichner beim Zeichnen; und mit diesem das Zeichenstudio; und in diesem einen großen Tisch; und auf diesem ein Blatt Papier. Dieses rechteckige Blatt ist die Fläche, auf welcher die Zeichnung entstehen soll. Es ist das finale Zentrum dieses Druckes; alles, was gerade zu beginnen scheint, läuft auf es zu. Räumlich in der Mitte ist es jedoch nicht; da sitzt auch nicht aufrecht der Zeichner und liegt nicht das liegende Weib – dort steht ein mit Fäden vergitterter Rahmen. Ein Beziehungszentrum jedoch scheint dieses Gestell nicht zu sein, eher ein Raumteiler. Der Holzschnitt gibt sich ganz symmetrisch: das Gitterfenster als Mittelachse, links das Modell, rechts der Künstler, jeder wie im eigenen ›Gehäus‹ vorm eigenen Fenster. Sehr schön. Dürer hätte sogar seinen hölzernen Druckstock in der Mitte durchsägen und zwei Werke daraus machen können. »Zoë in sanftem Schlummer« und »Der Zeichner verzweifelt am Anfang« wären passende Titel gewesen.

Die beiden Seiten sind nicht nur thematisch getrennt, sie fühlen sich auch recht unterschiedlich an. Geht es links nicht eher geschmeidig und rund und weich zu, rechts hingegen mehr flach, spitz, hart, eckig? Bestimmte Eigenschaften, die sich dem Auge zeigen, erweisen sich als verwandt mit solchen, welche die Hand spürt. So vereint sich das Runde gern mit dem Weichen, und dem Eckigen liegt es nahe, Härte zu zeigen. Und das sehen wir dann auch.

Schema 1.1: Welche Gestalt heißt wie?

Derlei Verwandtschaftsverhältnisse unter den Sinnesgebieten hat die Gestaltpsychologie in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts untersucht; und für alle, die nicht recht glauben mochten, daß es solche Synästhesien überhaupt gibt, hat sie die enge Verbindung zwischen optischen und akustischen Gestalten an einem mittlerweile populär gewordenen Ad-hoc-Experiment demonstriert. Der optisch-taktile Gegensatz ›rund versus eckig‹, den Dürers Druck nach links und rechts zerteilt, setzt sich dabei ins Akustische fort. Die Aufgabe, die den zu Versuchspersonen verwandelten Zweiflern gestellt wurde, lautet einfach: Welche von den beiden visuellen Gestalten – in Schema1.1 habe ich sie nachgebildet – hört auf den Namen »Maluma«? Und welche heißt »Takete«?

Waagrechte Flächen, kantig und überwölbt

Die zwei Abteilungen von Dürers Studio sind unten zusammengehalten von einer wuchtigen Tischplatte. Sie scheint alles zu tragen. Weiter nach unten ist der Tisch selbst nur angedeutet; aber seine Beine, dann auch die Beine des Zeichners und schließlich die des Stuhls, auf dem dieser sitzt, ruhen, im Bild unsichtbar, auf dem Fußboden; auch er, so dürfen wir unterstellen, ist eben und waagrecht, wie es sich für seinesgleichen gehört.

Nicht bloß unsichtbar unter der Tischplatte, sondern auch sichtbar auf ihr und hinter ihr haben wir dingliche waagrechte Flächen: das Zeichenpapier auf dem Tisch und die Fensterbank in der Wand, beides rechts. Und hier geht es noch weiter: Der Blick, den zu tun Dürer dem Betrachter durch Pflanzentopf und Wuschelkopf erschwert, aber nicht verbietet, geht zum Fenster hinaus ins Freie. Dort erstreckt sich gleichfalls eine ebene Fläche: ein ruhig daliegendes Gewässer von solcher Ausdehnung, daß kein Ufer absehbar ist. Vier Linien, welche bereits dazu beigetragen haben, die Fensterbank, die Seitenwände und den Horizont darzustellen, formen darüber hinaus ein Rechteck, das uns eine waagrechte Wasserfläche sehen läßt.

Die Grenze zwischen dem Wasser und dem Himmel ist die einzige natürliche Waagerechte, die Horizontale schlechthin. Sie ist das Maß, das der Natur – hier der dargestellten – entnommen wird und nach dem sich alles, was waagrecht sein soll, zu richten hat: der Fußboden, die Tischplatte, das Zeichenpapier, die Fensterbank. Das aber bedeutet: Das rechte Fenster ist eine Wasserwaage. Und waagrecht ist, was parallel zur Horizontalen liegt.

Schauen wir nun aufs linke Fenster! Hier ist alles Waagrechte und alles Ebene optisch ausgeschlossen. Ans Firmament grenzt jetzt nicht mehr das horizontal maßgebliche Wasser. Vielmehr ist es Irdisches, sind es Land und Leib, die nun an den Himmel rühren: links, leicht abfallend, zwei sanft gerundete Hügel; daneben, leicht ansteigend, Zoës Handgelenk und das Tuch über ihrem Oberschenkel – eine Kontinuität aus Erd- und Haut- und Stoffkontur.

Genau an dem Wendepunkt, wo die Hügellinie in die Leiblinie übergeht und beide sich zum neuen Horizont zusammenschließen, an dieser tiefsten Stelle also taucht die alte Horizontlinie des rechten Fensters noch einmal auf. Sie hat aber schon aufgehört zu sein, was sie war. Rechts noch Himmelsstrich, ist sie links zur Uferlinie degradiert, zur Grenze zwischen Wasser und Land. Sie kommt von rechts noch herein, um sich links an Land zu zerkräuseln und im Land zu verlieren: als Teil dessen, was ein kleiner Hafenort sein könnte. Weithin von Land umgeben, nimmt das, was sich als Bucht nach rechts zum Meer hin zu öffnen scheint, den Charakter eines Binnengewässers an.

Abbildung 2: Dürers Landschaft (Ausschnitt)

Auf der rechten Seite sind es die Kanten des Fensters, die mit scharfem Schnitt die nasse Natur dort draußen vom Inneren des Ateliers fernhalten. Links hingegen ist nun Zoës obere Leibeslinie mehr Übergang denn Grenze zwischen dem Innen und dem Außen. Ja, fast ist es, als bildeten Gesicht und Schulter und Arm und Schenkel den Vordergrund der Landschaft, die im Hintergrund zu sehen ist, als reichte somit die Natur durch den Leib und als Leib ins Innere des Studios hinein, den trompe l’œils der Rahmenüberschreitung nicht unähnlich.

Auf Zoës Seite setzt sich die Vermeidung rechtwinkliger Flächigkeit im Innern des Raumes fort. Eckig, eben und waagrecht sind Fensterbank und Tischplatte natürlich auch hier, aber Dürer zeigt sie uns nicht als solche. Die Fensterbank wird von gerundeten Formen verdeckt, die Tischplatte stofflich und organisch überwölbt, und unten legen sich Kissen und Tuch über die Tischkante und schützen das »liegende Weib« vor der Härte des Holzes. Von Zoës Hals über ihre rechte Schulter und ihren Arm ergibt sich eine nach rechts auslaufende Kurve. Wird nicht sogar – in einer untergründigen textilen Verbindung – diese gelinde Biegung des Tuchs aufgenommen vom Bogen des Ärmels des Zeichners?

*

Darstellung und Auffassung

Was es auf diesem Druck zu sehen gibt, kann auch ganz anders gesehen und beschrieben werden. Dazu muß man allerdings von allen Gegenständen und Sachverhalten absehen, auch von einem Vorgang wie dem des Zeichnens, der soeben anzuheben scheint. Der Physiker und Philosoph Ernst Mach hat das, was hier nötig ist, eine »künstliche Naivität« genannt. Es ist fast ein Sich-dumm-Stellen: so auf die drucktechnischen Trivialitäten zu achten, als wäre da nichts außer ihnen. Das geht. Denn dieser Druck existiert, wie jeder, völlig plan, ohne alle Tiefe. Auf einem Blatt Papier verteilen sich hauchdünne Spuren von Druckfarbe, also schwarze Linien, nach Lage, Länge und Gestalt sehr verschieden. Einige von ihnen umschließen Stücke des Papiers und gliedern so die gesamte Papierfläche in Teilflächen von zumeist eigentümlicher Form. In diesen umgrenzten Gebieten kommen oft wiederum kürzere oder längere Striche vor. Unmittelbar hat Dürer also lediglich lineare oder linear umrissene Formen oder Gestalten erzeugt.

Mittelbar jedoch viel mehr. Allein schon wegen der unterschiedlichen Gestalt der gedruckten Linien bleibt auch in der gegenstandslosen Flachansicht die Maluma-Takete-Differenz spürbar. Auffälliger aber ist das andere: Es ist uns völlig selbstverständlich, all die flachen Formen so aufzufassen, daß sie für uns ein Ensemble voluminöser Gegenstände im Raum darstellen, »gantze corporen«. Wir sehen Kopf und Kissen, Tuch und Tisch, Pflanzentopf und Zeichnerkopf. Das zu sehen ist nicht bloß etwas, was wir in der Lage sind zu tun – wir müssen es auch tun. Und wir tun es, ohne zu merken, daß wir es tun, und erst recht, ohne zu merken, daß wir es tun müssen. Kraft dieser gegenständlichen Auffassung sehen wir nicht Flächen, sondern Dinge, nicht Linien, sondern Grenzen zwischen Gegenständen, nicht viele isolierte Striche nebeneinander, sondern einen zusammenhängenden Schatten. So gegenstandsbildend arbeitet unsere Wahrnehmung aber nicht nur, wenn wir ein Bild vor uns haben, sondern immer, wenn wir überhaupt uns sehend der Wirklichkeit zuwenden. Ob oder in welchem Maße solches Sehen ›angeboren‹ oder ›erlernt‹ ist, das lasse ich hier beiseite.

Die zugrunde liegende plane Papier-und-Druckfarbe-Materialität hat einzig und allein die Aufgabe, uns im Bild ein Stück plastisch-voluminöser Wirklichkeit sehen zu lassen. Je besser sie diese Aufgabe erledigt, desto schwerer tun wir uns, statt des Kopfes einer Frau einen leicht verformten Kreis wahrzunehmen, statt eines bauschigen Kissens eine ebene weiße Fläche, die am Rand gestrichelt ist. Das Verhältnis zwischen den schwarzen Linien und den daraus ersehenen Gegenständen ist so etwas wie Darstellung. Allgemein gefaßt, heißt das: Wir sehen einerseits mit mühsamer Zurückhaltung die darstellenden Linien und Flächen auf dem Papier; und wir sehen andererseits mit natürlicher Leichtigkeit die auf solche Weise dargestellten Gegenstände. Dabei ist es ein und dasselbe, daß die Linien und Flächen uns etwas Gegenständliches darstellen und daß wir sie gegenständlich auffassen. Einmal sprechen wir von der Funktion, die der Druckerschwärze zukommt, das andere Mal von der Leistung unserer Wahrnehmung, diese Funktion bei uns wirksam werden zu lassen.

Das pikturale Feld als Grundfläche

Darstellung hat nun das Vermögen, sich immer höher zu stufen. Ein Bild der Agnes stellt Dürers Frau dar. Es ist darstellend, sie wird dargestellt; sie, diese leibhafte Person. So können die im Bild sichtbaren Gegenstände, die bereits Resultat gegenständlicher Auffassung sind, selbst wiederum darstellend fungieren für außerbildlich existierende Objekte, also solche, die in der ›wirklichen Wirklichkeit‹ vorkommen. Dann ›beziehen sich‹, wie man sagt, diese Bildgegenstände auf jene Weltdinge. Halten wir also auseinander: In einem Bild dargestellt zu sein, das geschieht vermöge der gegenstandsbildenden Auffassung von Linien und Flächen. Durch ein Bild dargestellt zu sein, das setzt diese Auffassung als vollzogen voraus und bezieht ihr Resultat auf ein außerbildliches Objekt. Diese letztere Weise, etwas darzustellen, ist uns lebensweltlich bestens vertraut, in sich aber höchst voraussetzungsreich und kompliziert. Ganz zu schweigen davon, daß wir oft die Kenntnis von außerbildlich wirklichen Objekten schon mitbringen müssen, damit innerhalb unserer Bildwahrnehmung selbst, aus den bloßen Linien und Farbflächen heraus, sich bestimmte Gegenstände für uns überhaupt bilden können.

Dem Bild auf den Grund zu gehen heißt, alle Aufstufungen in Gegenrichtung zu verfolgen, also abwärts. Das bedeutet zunächst, so wenig wie möglich über das Bild selbst hinauszuschauen und hinauszudenken; eine, wenn man so will, auf reine Ikonik reduzierte Sichtweise. In ihr richtet sich das visuelle Interesse einerseits auf die Art und Weise, wie mittels Flächen und Linien im Bild etwas gegenständlich dargestellt wird. Andererseits gilt das Augenmerk der Beziehung der darstellenden Linien und Flächen untereinander, dem also, was Max Imdahl die »planimetrische Ebenenkomposition« genannt hat. Aber beide, die gegenständliche Darstellung und die Allokation von Linien und Flächen im pikturalen Feld, sind nur Durchgangsstationen auf dem Abstieg. Unter der Ebenenkomposition liegt die Ebene selbst, auf welcher die Komposition stattfindet. Diese unterste Ebene ist das Feld, in welchem auch die Prozesse aufspürbar sein müssen, die dazu geführt haben, daß es überhaupt existiert. Dahin müssen wir kommen.

Die Schnittkante als Innenstrich und Außengrenze

Ganz grob lassen sich somit in Dürers Holzschnitt drei Niveaus unterscheiden: (1) ›Ganz oben‹ dargestellte Gegenstände wie Hand und Hügel, Tisch und Wand; (2) ›darunter‹ vielformige Flächen, die, von vielgestaltigen Linien umgrenzt, die Funktion haben, uns Gegenstände jeglicher Art, auch flache, darzustellen; (3) ›am Grunde‹ die ebene rechteckige Bildfläche, auf der diese umgrenzenden Linien und umgrenzten Flächen zu liegen kommen.

Einer der Gegenstände, die Dürer darstellt, ist natürlich für die Thematik der Bildfläche besonders delikat: das Blatt Papier auf dem Tisch. Inmitten der Gegenstände kommt da einer vor, der selbst von der Art ist wie das, was ihnen und ihm selbst zugrunde liegt. Im Bild eine Bildfläche. Ja sogar das trapezförmig umgrenzte Stück wirklichen Papiers im hier vorliegenden Buch [Abbildung 2] stellt innerbildlich wirkliches Papier dar.

Der Zeichner scheint im Begriff, auf dieses letztere Papier nun derart gerundete Tuschelinien aufzutragen, daß ein Betrachter, der ihm über die Schulter blickte, sie sofort als Bild von Zoë auffassen würde. Wie gern hätten auch wir auf dem Blatt Papier, statt der geradlinigen Großkaros, in angemessen gerundeten Linien Zoë dargestellt gesehen! Es ist indes kein Zufall, daß Dürer den Zeichner genau zu diesem Zeitpunkt ins Bild gebannt hat. Das ist jener ›Fruchtbare Augenblick‹, der erzählt, was bereits geschehen ist, und voraussehen läßt, was sich gleich ereignen – oder auch ausbleiben wird. Man sieht: Ehe der Zoë-Zeichner den ersten Strich seiner Zoë-Zeichnung aufs Papier bringt, war er bereits zeichnerisch tätig. Er hat die Karo-Lineatur auf seinem Blatt erstellt. Das separate rechte Stück von Dürers zersägt gedachtem Holzschnitt hätte denn auch heißen können: Der Zeichner des liegenden Liniengitters.

Als Orthogonalist, wenn man ihn so nennen darf, ist der Zeichner soeben mit seinem Werk fertig geworden. Anfangs hatte er noch ein leeres Blatt vor sich gehabt; dann hat er genau zehn Striche eingetragen: fünf waagrechte, fünf senkrechte. So hat er mit seinen Strichen auch das Blatt in 36 quadratische Felder gegliedert. Hat er das?

Schema 1.2: Leeres Blatt, Strichgitter, gegliedertes Blatt

Nicht ganz. Denn was der Zeichner tatsächlich gezeichnet hat, waren eben nicht 36 Felder, sondern bloß 16. Um diese innenliegenden geschlossenen Felder herum hat er 20 Kästchen offen stehen lassen. Aus Leichtfertigkeit? Wohl kaum. Denn es fehlt ja nichts. Was wir im Holzschnitt mit gewohntem Blick sogleich wahrnehmen – und was wir auch den Zeichner wahrnehmen sehen –, ist eben nicht ein Blatt Papier und dann außerdem noch, darauf eingezeichnet, ein außen offenes Strichgitter; vielmehr sehen wir sofort ein Blatt mit lauter umschlossenen Feldern.

Wie machen das die darstellenden Holzschnitt-Linien? Zwar ist im Innern kein Trapez genau so geformt und genau so groß wie das andere. Das stört uns aber nicht im geringsten. Im Gegenteil, gerade so und gerade deshalb sagt uns gleichsam jedes von ihnen: Ich bin auch ein solches Quadrat wie all die anderen um mich. Und das große Ganze stimmt mit ein: Ich bin auch ein solches Quadrat wie all die anderen in mir. Gegenständlich aufgefaßt, ergeben sich aus der leicht schiefen darstellenden Binnenlineatur die zehn geraden Tuschestriche, aus der darstellenden trapezförmigen Um-Gestalt die vier Schnittkanten. Wenn wir uns ein solches Blatt in der ›wirklichen Wirklichkeit‹ vorstellen, ist evident, daß, anders als die Binnenlineatur, die Schnittkante nicht aus schwarzer Farbe besteht. Im Bild dargestellt wird sie aber so, daß sie von einem Strich der Lineatur ununterscheidbar wird.

So erbringen die äußeren Trapez-Linien eine zusätzliche Leistung: Sie verschaffen den außen offenen Kästchen ihren Abschluß. Erst auf diese Weise werden die zwanzig unfertigen Außenseite-Kästchen zu solchen Feldern, wie es ihre inneren Nachbarn allein dank der Striche des Zeichners von vornherein waren. Die doppelt darstellende Funktion ›ihrer‹ Druckfarbenlinie ermöglicht es der dargestellten Schnittkante, beides zugleich zu sein: die Grenze des Ganzen und Teil seiner Lineatur.

Wie kommt es, daß die Grenze selbst mitwirkt bei der inneren Gliederung dessen, was sie umgrenzt? Bestimmt das Umschließende, wie das Umschlossene in sich geformt sein muß? Oder schreibt umgekehrt die innere Form vor, wie die äußere zu sein hat, wenn diese dem geformten Ganzen einen Abschluß soll geben können? Sind unsere Bild- und Schreibflächen dergestalt normiert, daß sie von Hause aus auf die Möglichkeit gleichförmiger Gliederung bereits Rücksicht nehmen? Diesen Flächen wäre ihre Textur gleichsam angeboren, und indem der Zeichner die Lineatur aufs Papier bringt, machte er diese innere Form nur noch sichtbar.

Feldermatrix oder Koordinatensystem

In dem quadratischen Blatt, das Dürers Zeichner vor sich hat, sind nicht einfach aufs Geratewohl kleine Quadrate in einem großen vorhanden; vielmehr gibt es ein System der Gliederung und, daraus folgend, eine systematische Anordnung. Dieses System stellt sicher, daß das gesamte quadratische Blatt ohne Rest erfaßt und in gleiche quadratische Felder unterteilt wird. Und es sorgt eo ipso für ein Arrangement des Nebeneinander und Übereinander der Felder, für welches das Schachbrett das bekannteste Beispiel ist.

Wenn man sich in diesem extrem geordneten Feld zurechtfinden will, genügt indes die Gliederung, so systematisch sie auch sein mag, nicht. Erforderlich ist vielmehr die Mithilfe leibgebundener Orientierungsmittel: Was oben und was unten, was links und was rechts ist, das ist abhängig von der Lage des Papiers zum Leib der wahrnehmenden Person. »Ganz oben das vierte Kästchen von links«, sagt der Zeichner; welches Feld er meint, wissen wir nur dann, wenn wir ihn auch sehen, während er spricht.

Er hat – und wir haben – Kopf und Fuß, Brust und Rücken, dazu zwei Hände. Und wir sind auch immer dessen gewahr, wie wir leiblich positioniert sind; Psychologen nennen dieses Leibbewußtsein »Körperschema«. Ohne groß nachdenken zu müssen, wissen wir, wo sich was im Verhältnis zu uns befindet, erstreckt, bewegt. So wissen wir auch, was ›quer‹ und ›längs‹, ›links‹ und ›unten‹ jeweils bedeutet, und mit diesem Wissen nennen wir die quer verlaufende Feldersequenz ›Zeile‹, die nach unten gehende ›Spalte‹. Dank unserer Fähigkeit, die Wirklichkeit auch aus dem Blickwinkel eines anderen zu sehen, verstehen wir, was für ihn links und rechts und oben und quer ist.

Vom Leib und seiner Position kann sich die Fläche jedoch emanzipieren und hat es längst getan. Indem wir den Feldern Namen geben, machen wir sie identifizierbar, gleichgültig, ob wir das Feldganze vor Augen haben oder nicht. Typisches Resultat einer solchen Taufe ist das Schachbrett. Wir benennen die Spalten mit Buchstaben und die Zeilen mit Zahlen. Jetzt kann man leibunabhängig jedes einzelne Feld eindeutig benennen und auffinden. »D6«, bräuchte der Zeichner nur zu sagen, nachdem er ein marginal so ›bezeichnetes‹ Papier beiseite gelegt und sein Studio verlassen hätte. Wir holen das Papier wieder hervor, wissen genau, welches Feld er gemeint hat, und finden es problemlos. Die Zeichenkombination von Typus D6 ist nun der Name eines Feldes und zugleich die Angabe seines Ortes in dem Ganzen. – Leider hat Dürer dem Zeichner auf seinem Blatt Papier keinen freien Rand gelassen, auf den er die Buchstaben und die Ziffern hätte schreiben können. Da tun wir uns mit der Skizze in Schema1.3 leichter, weil ein bißchen zusätzliches Papier zur Verfügung steht.

Schema 1.3: Schachbrettmuster und Koordinatensystem

Das Blatt, das Dürers Zeichner vor sich sieht, ist allerdings eine Kippfigur. Entziehen wir den weißen Feldern unsere Aufmerksamkeit und widmen sie den schwarzen Linien! Dann haben wir statt leerer Kästchen in Reih und Glied wieder das Gitter vor Augen. Was vorher Ecken waren, sind nun Punkte, an denen die Linien sich orthogonal kreuzen. Wie vorher die Zeilen und Spalten, so werden nun die Linien bezeichnet, genauer: ›beziffert‹. Und wie vorher jedes Feld, so bekommt nun jeder Schnittpunkt seinen Namen. Mit diesem kann man, ohne Rekurs auf den Leib und seine Position, jeden Punkt im Feld eindeutig benennen und problemlos auffinden: »Schnittpunkt der Koordinaten 3 und 5«. Oder schriftlich »P (3;5)«.

Linien und Buchstaben in Feldern

Die Felder auf dem Papier von Zoës Zeichner sind noch leer. Sie laden dazu ein, etwas in sie einzutragen, sie auszufüllen, sie zu besetzen. Die einzelnen Kästchen sind, wie das Ganze, dazu da, mit Tuschestrichen durchzogen zu werden. Welche Gestalt diese Striche haben, hängt ab von dem, was der Zeichner durch sie darzustellen beabsichtigt. Nur in dem Sonderfall, daß der Orthogonalist einzig und allein die Quadrate darstellen wollte, wäre die Zeichnung so, wie sie auf dem Tisch liegt, fertig und abgeschlossen. ›Normalerweise‹ aber sollen die Felder ins Unscheinbare zurücktreten, damit sich die in sie eingetragenen Striche deutlich abheben und zum Ganzen einer Zeichnung zusammenschließen können.

In seiner Underweysung unterweist Dürer den ›Lehrling‹ auch in einer besonderen Kunst, Quadrate auszufüllen: mit Buchstaben. Und das schließt im Lateinischen Ziffern mit ein. Dürer führt diese rektanguläre Umrahmung für alle Majuskeln des lateinischen Alphabets vor. Jeder einzelne Buchstabe wird sorgfältig und präzise in ein Quadrat eingepaßt. Da wird nicht nur Zeichnen gelehrt, sondern auch Schrift. Im Französischen gibt es den schönen Begriff le graphisme. Der Ethnologe und Prähistoriker André Leroi-Gourhan verwendet ihn, um beides in einem zu bezeichnen: die Linie, aus der eine Zeichnung, und die, aus der ein Zeichen wird. Das trägt dem Umstand Rechnung, daß es für das, was sich später als Bild einerseits und Schrift andererseits auseinanderentwickelt, ohne sich je gänzlich zu trennen, eine anfängliche Einheit im Graphischen gibt. Das aus kleinen Quadraten zusammengesetzte große Quadrat des Zeichners ist also auch dazu geeignet, Buchstaben eines geschriebenen Textes aufzunehmen.

Abbildung 3: Dürers D im Quadrat

Ob Papier oder Pappe, Holztafel oder Hauswand: immer sind die Flächen bereit, jegliche Linien aufzunehmen, egal, ob diese sich nun zu einer bildhaften Zeichnung oder zu einem geschriebenen Text zusammenfügen. Die graphischen Figuren zeigen ihre Verwandtschaft in mannigfaltigen Verbindungen: Schrift im Bild und als Bild, piktographische und kalligraphische Darstellungen, lesbare Ornamente, figürliche typographische Arrangements und dergleichen Dinge mehr. Was aber trägt der Grund, von dem sie sich abheben, dazu bei, daß sie das können?

Was man aus dem Karopapier des Zeichners nicht ersehen kann, weil er mit dem Zeichnen des »liegenden Weibes« noch gar nicht angefangen hat, lassen die Linien, welche als Feld die Buchstaben umschließen, durch ihre Feinheit erkennen: Sie sind anderen Charakters als die, welche in dem Quadrat dann Platz finden. Diese dünnen Linien liegen gleichsam in der Mitte zwischen dem Papier ganz unten und dem, was darauf mit Tusche oder Tinte aufgetragen wird: ›Hilfslinien‹, welche dem Zeichner, Schreiber oder Typographen die Hand zwar nicht lenken, aber doch führen, die also vorher – a priori – bereits da sind und zu deren Zeichnung dem Zeichner nicht nochmals tiefer liegende und begründende ›Hilfslinien‹ zur Hand sind. In ihnen kommt vielmehr die der Schreib- und Zeichenfläche selbst innewohnende Form zum Ausdruck.

Was haben die Bildfläche des Künstlers, die Ebene des Geometers und die Schreibfläche des Typographen gemein? Wie kommt es bei allen dreien zu einer orthogonalen inneren Konstitution? Und was hat diese zu tun mit der Dominanz rechteckiger Formen und Formate? Der Versuch, dies aufzuklären, führt in einem ersten Schritt zurück zu einem klassischen Topos der Wissenschaftsgeschichte: dem Ursprung der Geometrie aus der Feldmeßkunst. Diese benutzt das Feld aber nicht nur als Objekt ihrer Betätigung, sondern setzt es als Grund ihrer Entstehung voraus. Der nächste Schritt, der Rückgang von der Feldvermessung zur Feldbearbeitung, endet bei den Anfängen des Ackerbaus. Es gibt ein agrarisches Fundament, von dem eine deskriptive Genese der Bildfläche auszugehen hat. Mit dem Beginn der Agrikultur im Neolithikum werden neue elementare leibliche Bewegungsgestalten ausgearbeitet, institutionalisiert und ritualisiert. Das auf diese Weise ausgebildete und verfestigte, im wesentlichen rektanguläre Muster wird kulturell tradiert und dient fortan dem Pflügen und dem Rechnen, dem Schreiben und dem bildnerischen Gestalten gleichermaßen als selbstverständlich mitgeführte Unterlage. Dürers Zeichner hat eine paradigmatische Ausformung dieses Musters vor sich liegen.

2.KapitelOffene Fenster, leibnahe Stoffe

Vertikale Flächen– Linierte Wand, und wo sie fehlt– Fenster, Bild und Spiegel– Gerahmtes Gitter– Fenster ist Wand– Kommunizierende Flächen– Negativer Fruchtbarer Augenblick– Bildfläche hinten und vorne– Reflexion– Gewebte Stoffe– Zoës Tuch– Fensterschleier– Textile Korrespondenzen.

Im ersten Kapitel haben wir uns anhand von Dürers Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes erste Gedanken gemacht über die Flächen im Bild und über die Bildfläche selbst. Wir sind zurückgegangen von den bildlich dargestellten Gegenständen zu den vielgestaltigen Linien auf dem Papier. Diese führen unsere Wahrnehmung, lassen uns, wenn unser Blick auf sie fällt, etwas anderes sehen, eben die Gegenstände im Bild. Diese gegenständliche Auffassung geschieht, ohne daß wir etwas tun müßten. Thema waren sodann die waagrechten Flächen, die im Bild vorkommen, neben Meer und Tisch auch das Blatt Papier, das auf letzterem liegt. Da stellt ein trapezförmiges Stück des bedruckten Papiers ein rechteckiges Stück Papier bildhaft dar. An diesem pikturalen Feld haben wir die Machart der inneren Lineatur und die Funktion der Schnittkante etwas näher untersucht. – Auch in diesem Kapitel bleiben wir bei Dürers Holzschnitt und wenden uns nacheinander zwei anderen Arten von Flächen zu: den aufrecht dastehenden und den biegsam-beweglichen. Und nebenbei füge ich meinen häretischen Bemerkungen zur Interpretation des Druckes zwei, drei weitere hinzu.

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