Von der Formel zum Sein - Raymond Jahae - E-Book

Von der Formel zum Sein E-Book

Raymond Jahae

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Beschreibung

Das Buch geht dem Problem der Herausforderung des Wahrheitsanspruchs des katholischen Glaubens durch die modernen Naturwissenschaften nach. Einem Abriss der Geschichte des Verhältnisses zwischen kirchlichem Glauben und rationalem Naturverständnis seit der Antike folgt die Analyse der Art und Weise, wie sich dieses bei vier zeitgenössischen Autoren (M. Heller, H.-D. Mutschler, T. Nagel und B. Weissmahr) darstellt. Auf dieser Grundlage schließt sich die systematische Untersuchung des Problems an mit der Schlussfolgerung, dass die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung die Glaubenslehre nicht berühren. Zum Verständnis ihrer Aussagen über Gott und die Schöpfung bietet sich die metaphysische Besinnung auf die Möglichkeitsbedingungen der Existenz des weltlichen Seienden an.

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Raymond Jahae

Von der Formel zum Sein

Religion in der Moderne

Herausgegebenvon Matthias Lutz-Bachmann,Thomas M. Schmidtund Michael Sievernich

RIM Band 27

Raymond Jahae

Von der Formelzum Sein

Der Wahrheitsanspruch des Christentumsangesichts der Herausforderungdurch die Naturwissenschaftin der Diskussion der Gegenwart

echter

Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2018 Echter Verlag, Würzburg

www.echter.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ISBN

978-3-429-04468-8 | Print

978-3-429-04948-5 | PDF

978-3-429-06368-9 | ePub

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINFÜHRUNG

1 Der vermeintliche Zusammenhang zwischen Atheismus und Naturwissenschaft als Motiv einer Untersuchung nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums angesichts des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaften

2 Thematik, Gedankengang und Struktur der vorliegenden Untersuchung zum Wahrheitsanspruch des Christentums gegenuber dem Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften

TEIL I. CHRISTLICHER GLAUBE UND NATURWISSENSCHAFT: EINE HISTORISCHE SKIZZE

KAPITEL 1. DIE ENTWICKLUNG DER NATURERKENNTNIS BIS GALILEO GALILEI

1 Die westliche Philosophie vor Aristoteles

2 Aristoteles

2.1 Die Grundbegriffe der Naturphilosophie – der Hylemorphismus

2.2 Aristotelische Naturphilosophie und moderne Naturwissenschaft

2.3 Naturwissenschaft bei Aristoteles

3 Mathematik und Naturwissenschaft in der spateren heidnischen Antike

3.1 Archimedes

3.2 Ptolemäus

4 Rationale Erkenntnis der lebendigen Natur in der klassischen Antike

5 Naturwissenschaft in der christlichen Welt

5.1 Die basale Denkform in der klassischen Antike und im Mittelalter als der Hintergrund der Offenheit des Christentums für Vernunft, Philosophie und Naturwissenschaft und der gleichzeitigen Marginalisierung der Naturwissenschaft

5.2 Über die Beziehung des Menschen zur Natur nach der Heiligen Schrift

1 Offenbarung, Gott, Schöpfung, Übel und Erlösung

2 Konsequenzen für die Beziehung zu Natur und Naturwissenschaft

5.3 Geschichtliche Gründe für die schwache Entwicklung der Naturwissenschaft in Spätantike und Mittelalter

1 Die geschichtliche Entwicklung des intellektuellen Lebens im Mittelalter

2 Die Bedeutung des Mittelalters für die Geburt der modernen Naturwissenschaft

KAPITEL 2. DIE MODERNE NATURWISSENSCHAFT

1 Einige Schlusselmomente in der Entwicklung der modernen Physik

1.1 Die Anfänge der modernen Physik: Ihre Entwicklung bis Newton

1 Kopernikus und Galilei

2 Descartes und Newton

3 Die Philosophie und die moderne Physik

a Der antiaristotelische Reflex der fruhen Vertreter der modernen Physik

b Die Antwort der modernen Philosophie auf die moderne Naturwissenschaft bei Descartes und Kant

1.2 Die Entwicklung der Physik nach Newton

1 Einige Ergebnisse der bisherigen historischen Untersuchung

2 Die Entwicklung der nach-Newton’schen Physik und ihre theologisch möglicherweise bedeutsamen Implikationen

a Einige Erkenntnisse der Physik des 20. Jahrhunderts

b Erwägungen zur möglichen Bedeutung der zeitgenössischen Physik für das Verständnis von Welt und Mensch

2 Die Entwicklung der Biologie in der Neuzeit

3 Naturwissenschaft und Philosophie in der nach-Hegel’schen Philosophie

3.1 Wissenschaftskritik

3.2 Naturphilosophie

SCHLUSS

TEIL II. GESTALTEN DER AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN THEOLOGIE UND NATURWISSENSCHAFT IN DER GEGENWART

KAPITEL 1. KIRCHLICHE VERKUNDIGUNG UND THEOLOGIE AUF DER SUCHE NACH ANSCHLUS ANS HEUTIGE WELTBILD. NATURWISSENSCHAFT UND RELIGION NACH MICHAŁ HELLER

1 Michał Hellers Standpunkt im Gesprach der Theologie mit der Naturwissenschaft

1.1 Der Beitrag des Christentums zum Entstehen der modernen Naturwissenschaft

1.2 Das Gespräch zwischen christlicher Theologie und Naturwissenschaft heute

1.3 Der Wahrheitswert der naturwissenschaftlichen Erkenntnis

1.4 Kerninhalte des Gesprächs zwischen Naturwissenschaft und Theologie

1 Die Theologie gegenüber dem sog. naturwissenschaftlichen Weltbild

2 Die Theologie gegenüber sog. Letzterklärungen des Universums

3 Die theologische Relevanz neuerer Entwicklungen in der Naturwissenschaft

2 Einige kritische Erwagungen zu Michał Hellers Standpunkt im Gesprach zwischen Theologie und Naturwissenschaft

2.1 Das Problem der Rolle der Philosophie im Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft

1 Unterbewertung der klassischen Philosophie, insbesondere des Aristotelismus

2 Mangel an philosophischer Reflexion

2.2 Mangel an theologischer Reflexion

1 Verkennung der beschränkten theologischen Relevanz naturwissenschaftlicher Einsichten

2 Verkennung des Eigenwerts der Theologie

SCHLUSS

KAPITEL 2. DIE GEGENSEITIGE IRREDUZIBILITAT DER WIRKLICHKEITSPERSPEKTIVEN UND DIE UNERLEDIGTE SEINSFRAGE. NATURWISSENSCHAFT, PHILOSOPHIE UND RELIGION NACH HANS-DIETER MUTSCHLER

1 Die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Technik, Philosophie und Religion nach H.-D. Mutschler

1.1 Die Möglichkeit verschiedener Perspektiven auf die Natur

1 Der geistesgeschichtliche Hintergrund der zeitgenössischen Frage nach der Möglichkeit verschiedener Perspektiven auf die Natur

2 Unterschiedliche Begriffe von Natur

3 Kritik der Naturwissenschaft

4 Eine Perspektive auf die Natur durch die Technik

5 Eine Perspektive auf die Natur durch die Ethik

1.2 Moderne Naturwissenschaft und Metaphysik

1 Wissenschaftstheoretische Besinnung

2 Ablehnung des Materialismus

a Die Inkonsistenz der „materialistischen Glaubensartikel“

b Das Unvermögen des Materialismus, das Entstehen von Neuem zu erklären

c Das Versagen des Naturalismus in der Diskussion über Leib und Seele

3 Die Analogie des Seins

1.3 Naturwissenschaft, Philosophie und Religion

1 Naturwissenschaft, Philosophie und Religion in bezug auf die Sinnfrage des Menschen

2 Kritik der Verschmelzung von Naturwissenschaft und Religiosität

1.4 Technik und Religion

2 Erwagungen zum Verhaltnis zwischen Naturwissenschaft und Religion im Anschlus an das Werk H.-D. Mutschlers

2.1 Vom Gespräch zwischen Naturwissenschaften und Theologie zum Streit zwischen unterschiedlichen ontologischen Konzeptionen und Weltanschauungen

2.2 Von der Naturwissenschaft zu einer Pluralität theoretischer Perspektiven auf Natur und Wirklichkeit überhaupt

2.3 Von der Epistemologie zur Ontologie

1 Die ontologische Bedeutung der aristotelischen Naturphilosophie als eines Denkens des materiellen Seienden an sich

2 Von der Annahme der inneren Determiniertheit und Selbstgenügsamkeit der Natur zur Anerkennung der Kontingenz der Natur, der menschlichen Freiheit und der Existenz Gottes

a Die Kontingenz der Natur und die Freiheit des Menschen

b Das Dasein Gottes

2.4 Von der Suche nach Sinn zur Anerkennung der Existenz Gottes

2.5 Schluss

KAPITEL 3. VON DER NATUR WISSENSCHAFT ZUR ONTOLOGIE. NATURVERSTANDNIS, SEINSFRAGE UND GOTTESFRAGE BEI THOMAS NAGEL UND BELA WEISSMAHR

1 Einfuhrung: Der Stand der Arbeit nach der Untersuchung des Werkes M. Hellers und H.-D. Mutschlers

2 Der Begriff der Evolution und das Verhaltnis zwischen Geist und Leib im Denken T. Nagels

2.1 Das Denken Nagels

1 Ein grundlegendes Problem: das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität

2 Der Begriff der Evolution und das Verhältnis zwischen Geist und Kosmos

3 Fragen zum Sinn des Lebens

2.2 Würdigung des Denkens von Nagel

1 Konfrontation von Nagels Auffassung der Evolution der Lebewesen mit den Auffassungen heutiger Naturwissenschaftler

a Kritik des Neodarwinismus und einer engen mechanizistischen Auffassung der Evolution bei heutigen Evolutionstheoretikern

b Epistemologische und naturphilosophische Besinnung auf Passivitat und Aktivitat des materiellen Seienden und auf Recht und Grenzen der Teleologie

2 Das Problem der Einheit von Geist und Materie

3 Die rationale Legitimität der Schöpfungslehre

3 Sein und Werden des Seienden im Denken B. Weissmahrs

3.1 Das Denken Weissmahrs

1 Epistemologische Grundpositionen

2 Metaphysik

a Begriff und Verantwortung der Metaphysik

b Ausarbeitung der Metaphysik

3 Philosophische Gotteslehre

a Die Bestreitung der Moglichkeit einer philosophischen Gotteslehre

b Die Erfahrung des Unbedingten und die auf Gott hinweisenden Tatsachen

c Das Wesen Gottes und das Verhaltnis zwischen Gott und Welt

4 Das theologische Verständnis der menschlichen Empfängnis, der Evolution und des Wunders im Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Erklärung

a Metaphysische Uberlegung zum Handeln Gottes in der Welt und zu seiner Vermittlung durch Zweitursachen

b Gottes Handeln durch Zweitursachen bei der Entstehung des Menschen, in der Evolution und beim Wunder

c Geist und Materie in der aktuellen Diskussion

3.2 Würdigung

1 Der Gottesbeweis aufgrund der Evolutionstheorie

2 Das Verhältnis zwischen dem Wirken Gottes und dem Wirken des Geschöpfs, insbesondere beim Entstehen der Menschenseele, in der Evolution und beim Wunder

3 Das Problem des Übels

4 Schluss

KAPITEL 4. DIE IRRELEVANZ DER MODERNEN NATURWISSENSCHAFT FUR DIE CHRISTLICHE GOTTES- UND SCHOPFUNGSLEHRE UND DER ERWEIS IHRER WAHRHEIT AUFGRUND DER ERKENNTNIS DES ENDLICHEN SEIENDEN. SYSTEMATISCHE DARLEGUNG IM ANSCHLUß AN DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM ZEITGENOSSISCHEN DENKEN

1 Das Problem: die Herausforderung der christlichen Gottes- und Schöpfungslehre durch die moderne Naturwissenschaft

2 Philosophischer – epistemologischer, ontologischer, naturphilosophischer und anthropologischer – Aufweis der theologischen Irrelevanz naturwissenschaftlicher Aussagen

3 Von den Seienden uber das Sein zu Gott

TEIL III. SYSTEMATISCHE BESINNUNG

1 Die Methode der Naturwissenschaft

2 Naturwissenschaft als Weg zur Anerkennung der Existenz Gottes

3 Die Unmöglichkeit einer vollständigen Erklärung der endlichen Wirklichkeit durch die Naturwissenschaft

3.1 Epistemologische Überlegungen zu den Grenzen der Naturwissenschaft

3.2 Der problematische Charakter der Suche nach einer Weltformel in der Physik

3.3 Der problematische Charakter des Naturalismus in der Anthropologie und die grundsätzliche philosophische Möglichkeit und Plausibilität der christlichen Lehre von der Seele

4 Die christliche Lehre und die Evolutionstheorie

4.1 Die Evolutionstheorie: einige wissenschaftstheoretische Prolegomena

4.2 Evolution und Schöpfung

4.3 Die Frage der Finalität und des Zufalls in der Evolution

1 Hinführung zum Thema: die vom Meinungsbeitrag Kardinal von Schönborns über die Evolutionstheorie in der New York Times vom 7. Juli 2005 ausgelöste Kontroverse

2 Teleologie als notwendiges Verständnis des materiellen Seienden

3 Die Frage nach Zufall und Übel in der Natur

SCHLUSS

BIBLIOGRAPHIE

A In der Bibliographie benutzte Abkürzungen von Werken

B Bibliographie

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2016 als Habilitationsschrift von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster angenommen. Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Dr. Klaus Müller, der die Entstehung der Arbeit mit wohlwollendem Interesse begleitete und das Erstgutachten erstellte, und Herrn Prof. Dr. Ulrich Lüke, der das Zweitgutachten abfaßte. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Religion in der Moderne“ möchte ich ihren Herausgebern, den Herren Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann, Prof. Dr. Michael Sievernich und Prof. Dr. Thomas Schmidt, herzlich danken. Dank gebührt weiter der belgisch-niederländischen Provinz der Ordensgemeinschaft der Missionare Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria, die mir das Habilitationsstudium und die Veröffentlichung der Arbeit ermöglicht hat, und meinem Mitbruder Herrn Prof. Dr. Heinrich Treziak, der, seitdem ich ihn kennengelernt habe, wie kein anderer meinen intellektuellen Lebensweg stimuliert hat.

Gemmenich, im Juni 2017Raymond Jahae O.M.I.

EINFÜHRUNG

1 Der vermeintliche Zusammenhang zwischen Atheismus und Naturwissenschaft als Motiv einer Untersuchung nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums angesichts des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaften

Der Atheismus ist jedenfalls im Westen ein Massenphänomen geworden, so stellte P. Ehlen an der Schwelle des dritten Jahrtausends fest1. Es ist vielfach üblich, die heutige Krise von Religion und Kirche in eine Entwicklung, die im Laufe des 16. Jahrhunderts begonnen hat, hineinzustellen, wie es etwa der jüngst verstorbene, 2003 zum Kardinal kreierte Dominikanerpater Georges Cottier, ein Kenner der Geschichte des Atheismus und langjähriger Sekretär der Internationalen Theologischen Kommission und Theologe des Päpstlichen Hauses, getan hat2. Die Religionskriege, die Europa im 16. und 17. Jahrhundert heimsuchten, untergruben die Glaubwürdigkeit des Christentums und führten zu einer ersten Kritik an ihm und an Religion überhaupt. Die Kritik wurde im Laufe der Zeit immer massiver und mündete in offenen Atheismus im Namen der Autonomie von Mensch und Welt. Diese Entwicklung wurde begleitet, wenn nicht ermöglicht vom stetigen Verlust der Kirche an politischer Macht und gesellschaftlichem Einfluß seit dem Ende des 13. Jahrhunderts3. Der ausdrückliche Atheismus war lange Zeit die Sache einer kleinen intellektuellen Elite, doch bereits am Vorabend der französischen Revolution hatte sich in weiten Teilen der Bevölkerung Westeuropas religiöse Gleichgültigkeit breitgemacht, und seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheinen für viele Zeitgenossen Religionslosigkeit und Atheismus selbstverständlich und Religion und Kirche endgültig etwas von der Vergangenheit zu sein. Die Geschichtsdeutung A. Comtes scheint sich damit zu bestätigen. Bekanntlich sieht er in der Geschichte einem theologischen Stadium, in dem die Ereignisse durch die Annahme fiktiver übernatürlicher Wesen, Götter oder Geister, erklärt werden, ein metaphysisches Stadium, in dem Denken und Leben von abstrakten Notionen von Absolutem beherrscht werden, folgen und dieses metaphysische Stadium schließlich von einem positiven oder wissenschaftlichen Stadium, in dem die Menschheit bei den wissenschaftlich zu studierenden und studierten Erscheinungen bleibt und nichts hinter, unter oder über ihnen sucht, abgelöst werden. Die Verbreitung der religiösen Gleichgültigkeit im Westen hängt mit der Abnahme der gesellschaftlichen Relevanz von Religion zusammen. K. Lehmann erklärt diese Abnahme mit einem Verweis auf die Religionskriege4. Die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Friedens schien und scheint nicht aufgrund allgemein akzeptierter metaphysischer Prinzipien, sondern nur durch den Verzicht auf einen weltanschaulichen und lebensanschaulichen Konsens möglich zu sein. Dieser Verzicht ist in der Tat eine Voraussetzung der Demokratie.

Wir glauben nicht, daß wir gegenwärtig Zeugen einer „Wiederkehr der Religion“ sind. Wenn von einer solchen schon die Rede sein kann, dann geht es jedenfalls nicht um eine Rückkehr zum traditionellen institutionellen, kirchlichen Christentum. Die Entkirchlichung bzw. Entchristlichung des Westens, wie sie sich etwa im ständigen Rücklauf der Teilnahme an der sakramentalen Praxis der Kirche zeigt, hält unvermindert an. Und soziologisch weist nichts darauf hin, daß das Christentum in Leben und Bewußtsein der Menschen einer anderen institutionellen Religion Platz machte. Wer gleichwohl an der These einer Wiederkehr der Religion festhält, müßte angeben, was er unter Religion versteht. Religion ist schon längst nicht mehr synonym für Gottesglauben bzw. wird schon längst nicht mehr mit „Theismus“, der Bestätigung der Existenz eines die Welt transzendierenden persönlichen, intelligenten und freien, allmächtigen Gottes, der sie geschaffen hat, sie beherrscht und frei in ihr handelt, gleichgesetzt. Bereits für Schleiermacher bedeutete „Religion“ nicht viel mehr als ein unbestimmtes Transzendenzbewußtsein, das im Bewußtsein der Kontingenz des menschlichen Daseins wurzelt5. Man darf sich fragen, inwiefern Religion, wie Schleiermacher sie versteht, bei unseren Zeitgenossen vorhanden ist. J.B. Metz diagnostiziert im Westen am Ende des 20. Jahrhunderts ein Ja zur Religion bei einem gleichzeitigen Nein gegen Gott. Religion im Sinne der Kontingenzbewältigung, des therapeutischen Umgangs mit den Enttäuschungen des Lebens, und somit im Sinne der wohltuenden psychischen Selbstbestätigung ist dem bürgerlichen Subjekt recht, aber der biblische Gott, der für endzeitliche Gerechtigkeit steht und es an seine Verantwortung für die Armen und Unterdrückten erinnert, ist es nicht6. Die offensichtliche Korrelation zwischen dem Niedergang des Christentums und dem Interesse vieler Zeitgenossen für esoterische Praktiken, für Yoga und Zen-Buddhismus usw. scheint die Diagnose Metz’ auch fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Erstellung zu bestätigen, aber die Diagnose muß vor allem seit dem 11. September 2001 ergänzt werden um die Feststellung einer im Westen um sich greifenden Feindseligkeit gegenüber „Religion“, vor allem den drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Ihnen wird intellektuelle Rückständigkeit vorgeworfen, insbesondere das Festhalten an einem von Philosophie und Wissenschaft überholten (quasi)mythischen Bild von Welt und Mensch, ein Obskurantismus, dem eine vernünftig ebenso unhaltbare Moral und vor allem eine rücksichtslose, gewalttätige Intoleranz gegenüber Andersdenkenden entsprechen7. Dieser Vorwurf wird heute auf ziemlich aggressive Art und Weise vorgetragen vom sog. neuen Atheismus von Leuten wie Christopher Hitchens, Richard Dawkins und Sam Harris. Der Erfolg ihrer Arbeit zeigt, daß sie keine kleine Elite bilden, sondern in breiten Schichten der Bevölkerung des Westens lebende Gedanken formulieren.

Religionskritik und Atheismus haben sich oft mit einem Verweis auf die moderne Naturwissenschaft legitimiert. Der „alte“ Atheismus von Leuten wie Marx und Engels, Vogt und Haeckel tat das nicht weniger als der „neue“ eines Dawkins. Tatsächlich fällt die Verbreitung des Atheismus im Westen zeitlich in etwa zusammen mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaft. Das heißt aber nicht, daß sie notwendig den Atheismus zur Folge hat. Längst nicht alle Naturwissenschaftler waren oder sind Atheisten oder Religionskritiker. Wichtige Physiker wie Newton und Maxwell waren bekennende Christen. Es bleibt wahr, daß die Welt der Naturwissenschaft und die Welt der Religion einander in vielerlei Hinsicht fremd gegenüberstehen. Teilhard de Chardin versuchte, diese Fremdheit zu überwinden, da er sie als eine Katastrophe empfand. Anders als viele Glaubensgenossen nahm er gegenüber der Naturwissenschaft keine apologetische Haltung ein. Er war von der Wahrheit der Naturwissenschaft überzeugt, meinte aber, daß eine einseitig wissenschaftlichtechnische Beziehung zur Wirklichkeit der integralen Entfaltung des Menschseins des Menschen im Wege steht. Sie erfordert nach Teilhard de Chardin eine ethischreligiöse Perspektive auf den Menschen, die der französische Jesuit im Christentum gegeben sah. Er strebte nach einer organischen Verbindung von Wissenschaft und Glauben. Anders als Teilhard de Chardin haben viele römisch-katholische Philosophen und Theologen die Naturwissenschaft vor allem als eine Bedrohung des Glaubens empfunden und versucht, seine Kompatibilität mit der Naturwissenschaft aufzuzeigen. Die Wahrnehmung der Naturwissenschaft als Bedrohung des Glaubens war und ist insofern verständlich, als die Naturwissenschaft in der Tat regelmäßig gegen den Glauben ausgespielt wurde und wird. Wir sehen das heute bei Leuten wie Dawkins, im Namen der Biologie, und Stephen Hawking, im Namen der Physik, geschehen. Vor der Gefahr des Mißbrauchs der Naturwissenschaft, insbesondere des Evolutionsgedankens, für das Propagieren eines materialistischen und atheistischen Weltbildes warnte Papst Pius XII. in der Enzyklika Humani generis (1950), in der er gleichwohl die prinzipielle Kompatibilität besagten Gedankens mit der römischkatholischen Religion bestätigte.

2 Thematik, Gedankengang und Struktur der vorliegenden Untersuchung zum Wahrheitsanspruch des Christentums gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften

Das zuletzt Gesagte bringt uns zum Thema der vorliegenden Arbeit. Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen christlicher Religion, insbesondere römischkatholischer Glaubenslehre, und moderner Naturwissenschaft unter dem Aspekt der Frage nach der Haltbarkeit der Aussagen ersterer über das, was ist, im Lichte der Wahrheitsansprüche letzterer8. Wir betonen, in unserer Untersuchung nicht das Christentum, die christliche Religion oder die christliche Theologie im allgemeinen thematisieren, sondern uns auf die Glaubenslehre der römisch-katholischen Kirche konzentrieren zu wollen. Sie ist nicht mit dem Christentum identisch, und wir können nicht beanspruchen, fürs Christentum oder in seinem Namen zu sprechen. Es ist wichtig, hierauf hinzuweisen, weil in orthodoxen und protestantischen Kreisen, etwa unter evangelicals, oft andere Haltungen gegenüber der Naturwissenschaft anzutreffen sind als in der römisch-katholischen Kirche, deren Haltung anders als die der meisten anderen christlichen Glaubensgemeinschaften einen normativen Ausdruck findet in den Aussagen des Lehramtes und damit eine gewisse grundlegende Einheit und Einheitlichkeit aufweist. Es läßt sich nicht leugnen, daß es in der Geschichte Spannungen zwischen christlichem Glauben und moderner Naturwissenschaft gegeben hat. Was die römisch-katholische Kirche betrifft, wird in diesem Zusammenhang in der Regel nicht zu Unrecht an die kirchliche Verurteilung Galileis erinnert. Sie ist jedoch, wie unser Verweis auf die Enzyklika Humani generis bereits andeutete, keineswegs charakteristisch für die Haltung von Kirche und Theologie gegenüber der modernen Naturwissenschaft. Das wird im ersten Teil unserer Arbeit, der die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen christlicher Religion und philosophischem bzw. wissenschaftlichem Denken über die Wirklichkeit skizziert, deutlich werden. Die historische Untersuchung zeigt unter anderem, daß Kirche und Theologie in der Regel gegenüber diesem Denken Offenheit an den Tag gelegt, für naturwissenschaftliche Fragen jedoch kaum Interesse gezeigt haben. Letzteres ist nicht überraschend, da ihre theologische Relevanz minimal ist und sie in der Offenbarung und ihren normativen Zeugnissen, Schrift und Tradition, allenfalls einen marginalen Platz einnehmen. Diese Feststellung entspricht der Beobachtung Kants, daß die Physik uns nicht die „Dinge an sich“ bzw. den Grund der Wirklichkeit enthüllt, sondern Erkenntnis der „Erscheinungen“ durch die Bestimmung ihrer gegenseitigen Verhältnisse, insofern diese meßbar sind, in mathematischer Sprache ist und somit nichts über einen Gott bzw. die mögliche Existenz oder Nichtexistenz Gottes sagen kann.

Kant hat offenbar nur wenige von seiner Auffassung überzeugen können, denn bis auf den heutigen Tag ist das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und christlicher Lehre Gegenstand erhitzter Diskussionen. Der Erfolg der Schriften von Leuten wie Dawkins und Hawking, die unter Zuhilfenahme der Naturwissenschaft die christliche Religion widerlegen wollen, sollte christliche Denker, die mit Naturwissenschaft und/oder Philosophie, insbesondere Epistemologie und Metaphysik, vertraut sind, dazu bringen, sich erneut auf besagtes Verhältnis zu besinnen. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit untersuchen wir das Werk einiger Zeitgenossen, die diesem Gebot der Stunde Gehör schenken. Wir beschäftigen uns mit dem Denken des polnischen Physikers M. Heller, des deutschen Naturphilosophen H.-D. Mutschler, des serbisch-amerikanischen Philosophen T. Nagel und des ungarisch-deutschen Theologen B. Weissmahr. Diese Autoren gehen die zur Debatte stehende Problematik auf hohem reflexivem Niveau und aus einer gewissen Vertrautheit sowohl mit der heutigen Naturwissenschaft und der philosophischen Tradition als auch mit der christlichen bzw. römisch-katholischen Glaubenslehre heraus an. Abgesehen von Nagel, der ein Atheist ist, haben die genannten Autoren eine Ausbildung in römisch-katholischer Theologie genossen; für den Theologen, der zeigen möchte, daß die Rede von Gott, dem Schöpfer der Welt, durch die vermeintliche naturwissenschaftliche Erklärung der Welt nicht widerlegt oder überflüssig geworden ist, ist die Auseinandersetzung mit dem Denken Nagels sinnvoll, weil er durch seine wegweisende Arbeit auf dem Gebiete der philosophy of mind seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts regelmäßig mit strikt philosophischen Mitteln, also nicht aufgrund theologischer Vorgaben, das ontologische Ungenügen der modernen Naturwissenschaft, ihr Unvermögen, das Weltgeschehen adäquat zu beschreiben und zu erklären, enthüllt, aber durch seine unbegründete Weigerung, die erklärende Kraft der Theologie gelten zu lassen, sich seinerseits in unüberwindliche Aporien verstrickt.

Dem Denken Nagels wenden wir uns aber erst zu, nachdem wir jenes Hellers und Mutschlers analysiert haben. Der Physiker Heller, der auch Priester ist, macht sich wie Teilhard de Chardin Sorgen über die sich vertiefende Kluft zwischen traditioneller Religion und zeitgenössischer Kultur, näherhin zwischen dem überholten Weltbild der traditionellen Theologie und dem Weltbild der heutigen Naturwissenschaft. Es zeigt sich, daß Heller diese Kluft überwinden möchte in der für ihn wie für viele Naturwissenschaftler selbstverständlichen Annahme, daß die moderne Naturwissenschaft die Wahrheit über die Wirklichkeit und damit eine normative Vorgabe für die Theologie ist. Mutschler zeigt, daß Hellers Standpunkt aus philosophischer Perspektive fragwürdig ist. Die Naturwissenschaften – es ist besser, von den Naturwissenschaften als von der Naturwissenschaft zu sprechen – sind nicht in der Lage, endgültige Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, zu ihrem Wesen oder ihrem Grund vorzustoßen. Umgekehrt gesagt: Die Wirklichkeit, sogar die leblose materielle, ist nicht auf das, was die Naturwissenschaften von ihr sagen, zu reduzieren. Als ein Wesen, das mit Blick auf zu erreichende Ziele handelt, sieht der Mensch die Wirklichkeit anders denn als ein Wesen, das sie in neutraler Distanz zu ihr betrachten und beschreiben möchte, und man kann nicht sagen, daß die erste, praktische Perspektive falsch wäre oder minderwertig im Vergleich zur zweiten, theoretischen, diese also die einzige richtige oder zumindest jener überlegen wäre. Technik und Ethik sind irreduzible Perspektiven auf die Wirklichkeit, die nicht weniger als die Wissenschaft Wahrheit erschließen, wenngleich eine andere Wahrheit als die wissenschaftliche. Leider verkennt Mutschler wie Kant, dessen Konzept von Vernunft sich im Denken Mutschlers widerspiegelt, daß die Naturwissenschaft, von der er zugibt, daß sie keine Aussagen über den Grund der Wirklichkeit machen kann, nicht die einzige theoretische Perspektive auf die Wirklichkeit ist. Es ist möglich, a priori Aussagen über das endliche Seiende und somit über die Natur, Aussagen über das, was sie ist, zu machen. Es ist aufgrund von Aussagen über das endliche Seiende als solches, näherhin durch eine Analyse der Tatsache der Veränderung, daß die Bejahung des Daseins Gottes möglich ist. Zu ihr ist die theoretische Vernunft nach Mutschler nicht in der Lage. Diese seine Auffassung ist die logische Konsequenz seiner Identifikation der theoretischen Vernunft mit der modernen Naturwissenschaft, von der Kant mit Recht bemerkte, daß sie über die Gottesfrage nichts sagen kann. Diese ist für Mutschler wie für Kant im Anschluß an die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins zu entwickeln und somit eine Sache der praktischen Vernunft. Kants Theologie, für die die Existenz Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft ist – der Sinn des menschlichen Daseins läßt sich nur unter der Voraussetzung, daß ein Gott ist, denken –, wird niemanden vom Dasein Gottes überzeugen, es sei denn, die kantische Perspektive werde ergänzt um die Suche nach bzw. den Aufweis von Anzeichen jenes Sinnes, den der Mensch seiner Existenz nicht geben kann, in der Geschichte. Für die heilige Schrift ist die geschichtliche Offenbarung Gottes, die zugleich als eine Offenbarung des Sinnes des menschlichen Daseins verstanden werden kann, kein Beweis der Existenz Gottes.

Nagel erkennt, daß der Mensch strebt nach einem Ziel, das er aus eigener Kraft nicht erreichen kann, weigert sich aber, die Möglichkeit eines theologischen Ausweges aus dieser Aporie in Betracht zu ziehen. Nagel ist vor allem dadurch bekannt geworden, daß er seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Irreduzibilität von Subjektivität auf Objektivität, von Bewußtseinsphänomenen auf materielle Prozesse, wie sie von den modernen Naturwissenschaften beschrieben werden, ins Licht gehoben und schließlich zum Ausgangspunkt einer Kritik dieser Wissenschaften und besonders der „neodarwinistischen“ Version der Evolutionstheorie gemacht hat. In den vergangenen Jahren hat Mutschler auf ähnliche Weise oft die Aporien, in die eine sich materialistisch nennende Ontologie, für die das Ganze der Wirklichkeit „nichts als Materie“ und naturwissenschaftlich erklärbar ist, sich verstrickt, benannt. Wenn Nagel darauf hinweist, daß eine vom Mentalen bzw. Geistigen abstrahierende Naturwissenschaft die „Bewußtseinsphänomene“ – Denken, Begehren, Sehen, Fühlen usw. – nicht erklären kann, scheint er aber stillschweigend anzunehmen, daß sie die anorganische Natur hingegen sehr wohl erklären kann. Daß letzteres nicht der Fall ist, wußte Wittgenstein schon. Die Naturwissenschaft bietet keine Erklärung, sondern eine Beschreibung von Sachverhalten oder Ereignissen. Die Tatsache, daß kein Ereignis logisch bzw. ontologisch aus seinen Antezedenzien abgeleitet werden kann, ist eine der grundlegenden Voraussetzungen der modernen Naturwissenschaft als einer empirischen Wissenschaft. Es ist die Voraussetzung, aufgrund der die Naturwissenschaft sich dazu genötigt sieht, alle ihre Aussagen in der Konfrontation mit der Sinneserfahrung zu prüfen. Die Kontingenz des Endlichen und somit des Materiellen ist dem 2005 verstorbenen Jesuitenpater Béla Weissmahr durch seine Ausbildung, durch die er sich mit der Philosophie und Theologie der Neuscholastik vertraut gemacht hat, bekannt, aber in seinen Texten über Gottes Wirken in der Welt betont er das gleichwohl gottgegebene Vermögen des Geschöpfes, selbst tätig zu sein und dabei Neues hervorzubringen. Weissmahr möchte auf diese Art und Weise die Entwicklung des Kosmos, die Evolution des Lebens und sogar die Entstehung der Menschenseele als ein von Gott getragenes „eigenes“ Werk des geschaffenen Seienden denken, mißt u.E. aber der Tatsache, daß das endliche Seiende aus sich selbst heraus nichts vermag, nicht die gebührende Bedeutung bei.

Die Auseinandersetzung der Theologie mit der modernen Naturwissenschaft findet auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt. Ein Beitrag Kardinal von Schönborns in der New York Times vom 7. Juli 2005 über die „neodarwinistische“ Version der Evolutionstheorie, die kirchliche Position zu ihr und die Frage nach Finalität und Zufall in der Natur bekam viel Aufmerksamkeit und löste eine breite Diskussion aus, aber ein Zeitungsartikel eines weder naturwissenschaftlich, noch philosophisch ausgewiesenen Theologen, der über das Verhältnis zwischen Schöpfungslehre und Evolutionstheorie nur einige inhaltlich austauschbare Artikel veröffentlicht hat und dabei die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur weitgehend scheut, kann kaum die Grundlage einer differenzierten Diskussion über die in Frage stehende Angelegenheit auf der ihrer Komplexität angemessenen, akademischen Ebene sein9. Unsere Analyse der Arbeit Hellers, Mutschlers, Nagels und Weissmahrs gibt den aktuellen Stand der Diskussion der Theologie mit der modernen Naturwissenschaft auf höchstem denkerischem Niveau wieder. Die Diskussion ist nicht bei der Bestätigung der Kompatibilität von Naturwissenschaft und Theologie und der Möglichkeit der friedlichen Koexistenz beider stehengeblieben10. Mutschler und Nagel widerlegen die Ansicht, die Naturwissenschaft, insbesondere die Physik, sei zu einer umfassenden Beschreibung und Erklärung der menschlichen Wirklichkeitserfahrung in der Lage. Wie bereits angedeutet, können wir aber nicht bei den Ergebnissen der Arbeit der vier genannten Autoren stehenbleiben. Sie verfehlen die Möglichkeit, nachzuweisen, daß die theoretische Vernunft qua Suche nach einer Erklärung der sich zeigenden Wirklichkeit die Gottesfrage entdecken und positiv beantworten kann. Heller, Mutschler und Nagel verkennen die Bedeutung der Metaphysik, die die Seienden, ja das Sein überhaupt problematisiert; Weissmahr hat zwar ein „Handbuch“ zur Ontologie verfaßt, verpaßt aber wie die drei anderen die Chance, zu zeigen, daß das Endliche, somit das Universum, nur durch einen transzendenten Seinsgrund, dessen Wirklichkeit sich dem Denken aufdrängt, erklärt werden kann. Ein solcher Aufweis, der in der Diskussion mit den Vertretern des neuen Atheismus von entscheidender Bedeutung ist, findet sich im Schlußkapitel des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit. In diesem Kapitel wird auch die Irrelevanz der modernen Naturwissenschaften und ihrer Ergebnisse für die Gottesfrage aufgezeigt.

Es bildet den Übergang zum dritten Teil, in dem wir auf der Grundlage der in den zwei vorausgehenden Teilen erarbeiteten Einsichten einige im interdisziplinären Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie oft gestellte Fragen aufgreifen und systematisch zu beantworten suchen. Nachdem wir die epistemische Tragweite der modernen Naturwissenschaften erkundet haben, zeigen wir, daß sie die Bejahung des Daseins Gottes nicht ausschließen, sondern – wie das Selbst- und Gegenstandsbewußtsein des Menschen überhaupt – gerade einen Weg zu ihr eröffnen. Der Diskussion von Physikalismus und Materialismus, der Widerlegung der Ansicht, die Naturwissenschaft sei zu einer Totalerklärung dessen, was sich dem Bewußtsein aufdrängt, imstande und die Wirklichkeit lasse sich auf das, was sich naturwissenschaftlich beschreiben läßt, reduzieren, folgt eine Untersuchung der Bedeutung „der Evolutionstheorie“ für die christliche Lehre über Gott und die Schöpfung. Dabei wird auch auf die Frage nach dem möglichen Sinn der Rede von Finalität und Zufall in der Natur eingegangen. Anders als oft gedacht, ist diese Frage – wie die meisten heißen Eisen der Diskussion zwischen Naturwissenschaft und Theologie, etwa das Verhältnis zwischen Freiheit und Determinismus und die Legitimität des Materialismus – keine naturwissenschaftliche, sondern eine philosophische Frage, die als solche nicht von der Naturwissenschaft, sondern von der Philosophie beantwortet wird.

Mit dieser Feststellung berühren wir ein wichtiges Ergebnis unserer Arbeit. Das, was man das Gespräch oder gar den Konflikt zwischen Theologie und Naturwissenschaft nennt, ist in der Regel keine Diskussion der möglichen theologischen Relevanz bestimmter naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, sondern eine Diskussion philosophischer Konzeptionen und sogar populärer Vorstellungen, die von den Naturwissenschaften und ihren Ergebnissen vielleicht suggeriert, aber keineswegs gerechtfertigt werden. Die verbindliche Glaubenslehre über Wesen und Dasein Gottes und über das Verhältnis von Welt und Mensch zu Ihm wird von den Naturwissenschaften und ihren Ergebnissen weder bestätigt, noch widerlegt. So ist es den Naturwissenschaften nicht gegeben, sich zur Gottbezogenheit des Menschen zu äußern. Die Bezogenheit aufs Absolute ist ja etwas vom menschlichen Geiste, und über ihn – über die Frage, ob es ihn gibt bzw. welcher Natur er ist – können die Naturwissenschaften als empirische Wissenschaften nichts sagen. Die Kompetenz der Naturwissenschaften reicht nicht weiter als die Bestimmung quasigesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Sinneswahrnehmungen. Das ist der Grund, warum die Naturwissenschaften auch nicht sagen können, ob etwa materielle Prozesse sich gemäß einem „inneren Determinismus“, der die Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit ausschließt, vollziehen. Theologie und Naturwissenschaft berühren einander kaum. Sie können einander weder bestätigen, noch widerlegen. Die Formeln der Physik beziehen sich auf die „Erscheinungen“, die Theologie beschäftigt sich mit dem Sein, das sich nicht in den von der Physik zu studierenden Erscheinungen erschöpft, sondern ihre transzendente Möglichkeitsbedingung ist. Auf diesen Umstand spielt der Titel unserer Arbeit, Von der Formel zum Sein, an. Er ist inspiriert vom Titel einer Arbeit H.-D. Mutschlers, Von der Form zur Formel. Während er in dieser Arbeit die Beziehung zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft untersucht, untersuchen wir in unserer Arbeit die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Eine konsequente Untersuchung der Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik hätte u.E. jedoch auch den Titel Von der Formel zum Sein tragen können. Eine konsequent durchgeführte Metaphysik, wie sie auf der Grundlage des Denkens des hl. Thomas von Aquin etwa von F. Ulrich erarbeitet wird, problematisiert ja das Sein der Seienden. Eine solche Metaphysik stößt damit zum transzendenten Seinsgrund, den wir Gott nennen und zu dem die Naturwissenschaft prinzipiell keinen Zugang hat, vor. Die Tatsache, daß zwei Jahrtausende lang die Metaphysik der bevorzugte Gesprächspartner der Theologie gewesen ist und sie während dieser Zeit das Gespräch mit der empirischen Naturwissenschaft kaum gesucht hat, beruht nicht auf einer bedauernswerten Verirrung der theologischen Vernunft, sondern auf ihrem rechten Selbstverständnis. Die theologische Wahrheit ist nicht mit der naturwissenschaftlichen, sondern mit der metaphysischen verwandt11. Dieser Sachverhalt ist allerdings, wie unsere Untersuchung nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums angesichts des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaft in der Diskussion der Gegenwart zeigt, nicht allen Zeitgenossen, die über das Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft nachdenken, hinreichend deutlich und verdient es, neu ins Bewußtsein gehoben zu werden.

1 So EHLEN, Atheismus, S. 302.

2 Siehe COTTIER, Dieux, S. 95-128.

3 Siehe den geschichtlichen Überblick bei MARTINA, Storia I, S. 53-123.

4 So LEHMANN, Gegenwart, S. 11-34.

5 Siehe GREISCH, Buisson I, S. 73-119.

6 Siehe METZ/PETERS, Gottespassion, S. 11-62.

7 Weitverbreitet ist die Überzeugung einer umgekehrten Proportionalität zwischen Bildungsstand und Religiosität. „Eine Gesellschaft hört wie eine Person auf, religiös zu sein in dem Maße, in dem sie entwickelter und freier ist. Das scheint mir eine der grundlegenden Überzeugungen des heutigen Atheismus zu sein“, schreibt SEBASTIÁN AGUILAR, Fe, S. 335.

8 Mittlerweile findet man sogar bei manchen Theologen – etwa BÖTTIGHEIMER, Not, passim – die Ansicht, daß das Bittgebet durch die Entwicklung der Naturwissenschaft obsolet geworden ist. Wir fragen uns, wie sie diese Ansicht vereinbaren können mit Jesu Auftrag, unablässig Gott um alles, was wir verlangen, zu bitten. Böttigheimers Auslassungen irritieren umso mehr, als er offensichtlich kein Bedürfnis, sie durch erkenntnistheoretische und ontologische Analyse zu erhärten, spürt.

9 Zur vom Artikel Kardinal von Schönborns von 2005 ausgelösten Kontroverse, siehe unten, S. 392-394.

10 Siehe SCHOCKENHOFF, Kosmologie, S. 119-127.

11 Denn „alles Theologische ist schließlich metaphysisch“, ja „vielleicht ist alle Metaphysik nur anonym gebliebene Theologie“, meint HENRICI, Philosophie, S. 20.

TEIL I. CHRISTLICHER GLAUBE UND NATURWISSENSCHAFT: EINE HISTORISCHE SKIZZE

KAPITEL 1. DIE ENTWICKLUNG DER NATURERKENNTNIS BIS GALILEO GALILEI

Der Begriff „Naturwissenschaft“ ist nicht univok. Es gibt verschiedene Arten von Naturwissenschaften. Der Unterschied zwischen Physik, Chemie und Biologie ist traditionell. In jeder dieser Wissenschaften sind mehrere, oft hochspezialisierte Subdisziplinen zu unterscheiden. Zugleich fehlt es nicht an Versuchen, die verschiedenen Naturwissenschaften samt ihren Subdisziplinen in Einklang zu bringen. Es läßt sich allerdings neben der synchronen Vielzahl von Naturwissenschaften eine diachrone Differenziertheit der Naturwissenschaft ausmachen. Das 17. Jahrhundert – der Anfang der westlichen „Moderne“ – wird meistens als ein Bruch in der Geschichte der Naturerkenntnis betrachtet. Dank dem Werke Galileo Galileis (1564-1642) wurde in der Physik die Methode von Experiment und mathematischer Berechnung vorherrschend, und diese Dominanz existiert bis heute. Die rationale Naturerkenntnis wie es sie bis zur Zeit Galileis gegeben hatte, war der Form nach eher mit der heutigen Naturphilosophie als mit der heutigen Naturwissenschaft vergleichbar, obwohl das, was heute Physik heißt, im „vormodernen“ Denken nicht ganz fehlte12. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der rationalen Naturerkenntnis wird uns helfen, Einsicht in die charakteristischen Merkmale der wissenschaftlichen Methode Galileis und damit in die Beziehung zwischen christlicher Theologie und zeitgenössischer Naturwissenschaft zu gewinnen.

Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft steht im Zusammenhang der Geschichte der westlichen Rationalität. Meistens wird die Geburt der Philosophie in Griechenland im 6. Jahrhundert v.Chr. als der Anfang dieser Geschichte gesehen13. Sie beginnt, wenn Menschen Abstand von den traditionellen mythischen Erklärungen der Welt und des Lebens gewinnen und durch Sinnenerfahrung und unabhängiges Denken einen inneren Zusammenhang zwischen Tatsachen und Ereignissen und schließlich eine innere Ordnung in der Welt suchen. Es besteht insofern eine Spannung zwischen dieser Unternehmung und den Mythen, als diese natürliche Ereignisse durch die willkürlichen Eingriffe übernatürlicher Entitäten, Geister und Götter, in die Welt erklären. Die Mythen stellen diese Entitäten oft vor als das Ergebnis eines genetischen Prozesses und in diesem Sinne als einem anonymen Schicksal unterworfen. Die Geburt der Philosophie wird allgemein als der Übergang der Menschheit vom Stadium der Mythe zu dem der Vernunft gesehen. Traditionelle, unkritisch übernommene volkstümliche Vorstellungen fangen an, Platz zu machen für die Suche nach einem weltimmanenten Zusammenhang zwischen Ereignissen, nach einer inneren Ordnung in der Welt, aufgrund unabhängiger Wahrnehmung und unabhängigen Denkens. Diese Suche schließt nicht per se die Annahme von Transzendentem und Göttlichem aus, möchte sie aber nur durch Denken und Wahrnehmung zu begründen suchen.

Daß es eine innere Ordnung in der Natur gibt, legte sich den Menschen – nicht nur den Griechen – der Antike nahe aufgrund der Regelmäßigkeit von Phänomenen wie den Bewegungen der „Himmelskörper“ und dem Wechsel der Jahreszeiten und den entsprechenden natürlichen Ereignissen (dem Ansteigen von Gewässern, dem Blühen von Bäumen usw.). Die Astronomie ist dementsprechend in verschiedenen alten Kulturen schon weit entwickelt. Ähnliches kann von der Mathematik gesagt werden. Sie wird für die Berechnung der Bewegungen der „Himmelskörper“ gebraucht, aber auch um ihrer selbst willen betrieben.

1 Die westliche Philosophie vor Aristoteles

Die ersten Philosophen sind im wesentlichen „Naturphilosophen“. Die Aufmerksamkeit der Milesier Thales, Anaximander und Anaximenes gilt in erster Linie weniger dem Menschen als der Natur. Sie entwickeln eine Art rationaler Kosmologie. Sie nehmen kritisch Abstand von der mythischen Kosmogonie und streben danach, durch Wahrnehmung und Denken ein umfassendes Weltbild zu entwerfen und der Wirklichkeit – allem, was ist – ein universelles Prinzip (arché im Sinne „elementarer Materie“ oder „substantialer Materie“) zugrunde zu legen. Die Milesier beschäftigen sich aber auch mit der Erforschung konkreter, bestimmter Phänomene14.

Für Thales von Milet kann alles, was es gibt, auf Wasser zurückgeführt werden und treibt die Erde auf Wasser. Nach Aristoteles hatte er „empirische“ Gründe für seine Auffassungen. Er scheint festgestellt zu haben, daß alle Lebewesen sich mit feuchten Sachen ernähren. Sein „Weltbild“ ist also – trotz eines bestimmten Grades an Unkontrollierbarkeit – auf Sinneswahrnehmung und rationales Denkens gegründet. Thales beschäftigte sich nicht nur mit der Entwicklung eines Weltbildes, sondern auch mit der Erforschung konkreter, bestimmter Phänomene. Die Geschichte schreibt Thales die korrekte Vorhersage einer Sonnenfinsternis zu. Eine solche Vorhersage ist naturgemäß empirisch überprüfbar. Sie setzt kein globales Weltbild, dafür aber eine gewisse Erkenntnis bestimmter Phänomene voraus, insbesondere die Fähigkeit, die Bewegungen der (oder einiger) „Himmelskörper“ zu berechnen. Wie oben angegeben, gehört diese Art von Erkenntnis zu den frühesten Formen von Naturwissenschaft insgesamt.

Für Thales ist die arché („elementare Materie“ oder „substantiale Materie“) Wasser, für Anaximenes ist sie die Luft. Anaximander hat eine eigentümliche Vorstellung der arché. Sie besteht seiner Ansicht nach nicht in etwas, das als solches in unserer Welt wahrgenommen werden kann. Er bestimmt die arché als das apeiron, das „Unbestimmte”. Es ist nach F. Ricken als der allumfassende Raum zu verstehen. Ricken glaubt, daß Anaximander es wie einen materiellen Körper auffaßt. Das apeiron ist anderer Natur als die Elemente Luft, Wasser und Feuer. Sie kämpfen miteinander, so daß, wenn eines von ihnen absolut gewesen wäre, es die anderen bereits hätte verschwinden lassen. Das apeiron bestimmt alle Vorgänge im Kosmos. Es ist das Göttliche. Alle Dinge kommen aus dem apeiron hervor. Das eine Ding existiert auf Kosten des anderen. In diesem Sinne kommen die Dinge auseinander hervor und es nimmt das eine den Platz des anderen ein. Die Ordnung, die in dieser Weise sich mit der Zeit einstellt, ist gerecht. Die Erde hat die Gestalt eines Zylinders. Die Vorstellung, daß die Welt auf etwas aufruht, wird abgelehnt. Diese Vorstellung ist absurd, denn sie impliziert einen regressus ad infinitum; das, auf dem die Erde aufruhe, ruhte auf etwas anderem auf, dieses auf nochmals anderem usf. Die Erde steht im Mittelpunkt des Kosmos und wird dadurch, daß sie in entgegengesetzte Richtungen (an)gezogen wird, im Gleichgewicht gehalten.

Von der Sinnenerfahrung ausgehend, versuchen die Milesier durch logisches Denken ein rationales Weltbild zu entwickeln. Sie suchen ein Prinzip all dessen, was es gibt (oder was erscheint). Heraklit tut etwas Ähnliches. Er stellt fest, daß es die Gegensätze in der menschlichen Erfahrung – wie Hunger und Sättigung und Nacht und Tag – nur in ihrer gegenwendigen Einheit und durch sie gibt. Es ist genau durch sie, daß die Gegensätze Gegensätze sind. In ihrer untergründigen gegenseitigen Einheit machen sie die Wirklichkeit aus. Das Wesen des Wirklichen ist die Einheit der Gegensätze. Sie haben Sinn, d.h. als solche ist die Wirklichkeit gut, durch die Gegensätze, durch die sie sich konstituiert. Das Positive gibt es nicht ohne das Negative, so daß es ohne Negatives nichts Positives gäbe. Dank dem Hunger ist es möglich, Sättigung zu schätzen. Das Leben ist lebenswert, weil es den Tod gibt. Der Tod polarisiert das Leben und verspricht dem Menschen die Ruhe, nach der er Ausschau hält.

Heraklit möchte die Wirklichkeit nicht nur kennen, sondern sie auch verstehen. Die empirische Erkenntnis ist fragmentarische Tatsachenerkenntnis und verschafft uns somit keine Einsicht. Einsicht ist die Fähigkeit, das Wesen der Wirklichkeit hinter den Erscheinungen zu identifizieren. Heute würden wir sagen, daß Heraklit den Sinn oder die Bedeutung der Tatsachen sucht. Das ist etwas, was die Unternehmung der Milesier vermissen läßt – wie es auch die zeitgenössische Naturwissenschaft ihrem Selbstverständnis nach tut. Aus heutiger Sicht könnten wir Heraklits Denken insofern philosophisch nennen, als es Aussagen über Sein und Sinn der Wirklichkeit als solcher macht, und wir unterschieden Heraklits Denken insofern von der zeitgenössischen Naturwissenschaft, als es im Gegensatz zu dieser nicht primär an der genauen Bestimmung der Ursachen gewisser konkreter Phänomene interessiert ist.

Der Ausgangspunkt des Denkens Heraklits ist die innere Differenziertheit der Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu bestreitet Parmenides Möglichkeit und Wirklichkeit von Werden und Veränderung. Er gibt für seine kontraintuitive Position ein logisches Argument. Veränderung ist entweder der Übergang vom Sein zum Nichtsein oder der Übergang vom Nichtsein zum Sein; doch da das Nichtsein nicht ist, ist Veränderung unmöglich. Im Rückblick können wir dieses Denken „metaphysisch“ im aristotelischen Sinne des Wortes oder ontologisch nennen. Wir haben mit einer Aussage a priori über das Sein als solches zu tun. Parmenides’ Unternehmung ist offenbar keine Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Er nimmt noch mehr Abstand von der Sinnenerfahrung als Heraklit.

Der Rationalismus behauptet, daß „der Vorgang der Bewegung oder irgendwelcher anderer Veränderung einen bestimmten Widerspruch beinhaltet: Etwas ist in einem gegebenen Zustand und zugleich verläßt es diesen Zustand“15. Da diese rationalistische These nicht leicht widerlegt werden kann, aber nichtsdestotrotz offensichtlich der Wahrnehmung widerspricht, erhält das Problem der Möglichkeit von Veränderung oder der Beziehung zwischen Sein und Werden nachhaltige Aufmerksamkeit von Denkern nach Parmenides und Heraklit16.

Demokrit führt die Wirklichkeit auf räumlich ausgedehnte, doch physikalisch unteilbare Partikel („Atome“17) ohne weitere Qualitäten in einem leeren Raum zurück. Es gibt keine Veränderung außer der Ortsveränderung der Partikel im Raum. Alle wahrnehmbare Veränderung – einschließlich all dessen, was wir heute „Bewußtseinsphänomene“ nennen – kann auf die Ortsveränderung der Partikel im Raum zurückgeführt werden. Wie die oben erwähnten Positionen Heraklits und Parmenides’ ist Demokrits „Atomismus“ keine naturwissenschaftliche Theorie im heutigen Sinne des Ausdrucks, sondern eine philosophische Position. Demokrit versucht nicht sosehr, eine Erklärung gewisser konkreter Einzelphänomene im Zusammenhang mit anderen konkreten Einzelphänomenen zu entdecken, als vielmehr die Möglichkeit der Veränderung als solcher zu denken. Sein Versuch führt zu dem, was man ontologischen Materialismus nennen könnte. Demokrit sieht keinen Plan hinter den Bewegungen der „Atome“. Sie bilden Konglomerate wie Menschenkörper, aber das Auftreten solcher Konglomerate und ihr anschließendes Sichauflösen entsprechen keiner wie auch immer gearteten Absicht. Demokrits Ontologie ist nicht nur materialistisch, sondern auch mechanizistisch. Sie steht in einem klaren Gegensatz zum teleologischen Denken Platons und Aristoteles’.

Die Pythagoreer nehmen in der vorsokratischen Philosophie einen besonderen Platz ein. Sie „vermuteten als erste, daß die kosmische Ordnung in geometrischen Formen fixiert und darum rational faßbar sei“18. Trotz der Diskrepanz zwischen mathematischen Formen und physikalischer Wirklichkeit – so kann eine Linie mathematisch zwar einen Kreis in einem einzigen Punkte berühren, doch ist dieser Sachverhalt niemals verwirklicht im Physikalischen, wo es etwa den Kontakt zwischen einer Schnur und einer Säule immer nur in räumlicher Ausdehnung gibt – waren die Pythagoreer davon überzeugt, daß die Strukturen der Welt von mathematischen Strukturen bestimmt sind. Zusammen mit der Entwicklung der Mathematik führte die weitergehende Entdeckung von Diskrepanzen zwischen empirischen Tatsachen und a priori-Lehren Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. jedoch zum Verfall der pythagoreischen Naturphilosophie19. Platon bemerkte, daß die empirisch zugängliche Natur der idealen bzw. ideellen Welt der Mathematik nicht entspricht und „trennte die mit den Sinnen wahrnehmbare veränderliche, materielle Welt, von der nur mit dem Geiste erfaßbaren unveränderlichen, ideellen Welt der mathematischen Formen. Dabei bilden die mathematischen Gegenstände ein Zwischenreich: Im Sand gezogene Kreise oder Querschnitte von Säulen sind Abbilder von eben so vielen verschiedenen mathematischen Kreisen, diese aber ihrerseits Abbilder der einen Idee ‚Kreis‘“20.

Platon unterscheidet zwischen dem Veränderlichen und Materiellen einerseits und dem Unveränderlichen oder den Ideen andererseits, sieht aber eine positive Beziehung zwischen den beiden darin gegeben, daß jenes an diesem „teilhat“ und sein „Abbild“ ist. Nach Platon können wir nur von den Ideen – die das Sein ausmachen – wahre Erkenntnis haben. Er kennt darum keine wahre Erkenntnis – Erkenntnis im wahren Sinne des Wortes – der materiellen Welt oder der Natur. Die Sinnenwelt – die Natur – ist der Gegenstand der „Meinung“. Epistemologisch ist es so, daß, konfrontiert mit dem empirischen Ding, das das Bild ist, wir die Idee, die das Exempel oder der Prototyp ist, erfassen und in ihrem Lichte das empirische Ding. Das Bild wird nur im Lichte des Exempels adäquat erfaßt.

Platons Sicht widerspiegelt sich in Kants Auffassung, daß es Naturwissenschaft im Sinne der Erkenntnis von „Erscheinungen“ gibt, aber keine Erkenntnis von „Dingen an sich“. Heute sprechen wir von „Naturwissenschaft“, und nicht wenige Zeitgenossen werden sogar dazu neigen, die Naturwissenschaft, besonders die Physik, als die Höchst- und Idealform von Erkenntnis überhaupt zu betrachten, aber epistemologisch werden wir Popper recht geben müssen, wenn er sagt, daß im Prinzip jede wissenschaftliche Aussage falsifizierbar ist und die Wissenschaft demnach keine endgültige Gewißheit bzgl. der materiellen Welt erreicht. Auch für die Naturwissenschaft hat die materielle Welt etwas Undurchsichtiges.

Zurückblickend auf das, was wir vom voraristotelischen griechischen philosophischen Denken über die Natur gesehen haben, kann man sagen, daß verschiedene Denkformen entdeckt worden sind. Menschen denken unterschiedlich über die Natur. Ein Grund dafür ist, daß sie unterschiedliche Arten von Fragen über die Natur stellen. Die Milesier versuchten, ein (quasi)physikalisches Prinzip all dessen, was es gibt, auszumachen. Wir können sagen, daß ihre Unternehmung wiederaufgenommen wird von jenen zeitgenössischen Physikern, die eine wissenschaftliche „Theorie von allem“ (theory of everything, ToE), die alles, was wir wahrnehmen, erklärt, suchen. Ebenso antizipiert der Versuch der Milesier, ein umfassendes Weltbild aufgrund empirischer Erkenntnis und rationalen Denkens zu entwickeln, die zeitgenössische wissenschaftliche Kosmologie. Die heutige Naturwissenschaft zeigt weniger Affinität mit dem Denken Heraklits, Parmenides’ und Demokrits. Sie sind weniger interessiert an der konkreten materiellen Welt als an formalen Aspekten der Wirklichkeit als solcher, wie Werden und Sein, wie Differenz und Identität. Das Denken Heraklits, Parmenides’ und Demokrits ist mehr philosophisch orientiert als das Denken der Milesier. Mehr als diese stellen jene Fragen, die die Philosophie bis heute beschäftigen. Es ist wichtig, zwischen einem philosophischen und einem wissenschaftlichen Diskurs über die Natur zu unterscheiden. Mit A. van Melsen kann man sagen, daß die Naturwissenschaft auf die Beschreibung und Erklärung konkreter und somit partikularer Fakten und Ereignisse (oder die Beschreibung und Erklärung von „Spezies“ konkreter Fakten und Ereignisse) abzielt, während die Philosophie das, was der Natur als solcher, notwendigerweise, zugeschrieben werden muß, untersucht21. In der frühen Philosophie nehmen die Pythagoreer insofern einen besonderen Platz ein, als ihr Auftreten den Durchbruch des Bewußtseins, daß die Natur mathematisch beschrieben werden kann, markiert. Es ist eine entscheidende Voraussetzung der modernen Physik. Platon ist weniger an Fragen der Kosmologie, der Naturphilosophie und der Naturwissenschaft interessiert als an ontologischen, anthropologischen und ethischen Problemen. Für ihn ist das Materielle ontologisch zweitrangig, und ihm kann somit nicht das primäre Interesse des Menschen gelten.

Alles in allem sehen wir im voraristotelischen griechischen Denken wenig Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes, d.h. im Sinne des Versuchs, ausgehend von konkreten physikalischen Ereignissen und Fakten, die physikalischen Antezedenzien, die zu ihnen führten und sie „erklärten“, aufzuspüren. Das entspricht der Tatsache, daß die fraglichen Denker primär am Wesen der Wirklichkeit und der Dinge interessiert sind, also an der Frage, was Dinge „an sich“ oder „als solche“ sind. Manche Denker berühren nichtsdestotrotz einige formale Aspekte moderner Naturwissenschaft. Wir denken besonders an die Versuche der Milesier und Demokrits, das Komplexe aufs Einfache zurückzuführen, und an das Bewußtsein der Pythagoreer vom mathematischen Aspekt der Natur.

2 Aristoteles

Als Galilei die moderne Naturwissenschaft entwickelte, nahm er ausdrücklich Abstand von der aristotelischen Naturerkenntnis. In den nächsten Jahrhunderten nahm die Beliebtheit der ersteren stetig zu, während die der letzteren proportional dazu abnahm. Es mag sein, daß die moderne Physik die aristotelische in einigen wichtigen Punkten korrigierte; aber es ist nicht so, daß die moderne Physik die aristotelische Naturphilosophie und ihre charakteristischen Denkmuster zur Gänze als wesentlich falsch entlarvte. Tatsächlich verkörpern die moderne Physik und die aristotelische Naturphilosophie zwei grundverschiedene Denkformen. Eben wegen dieser grundsätzlichen Heterogenität brauchen die beiden einander nicht auszuschließen; es ist durchaus möglich, daß sie im Prinzip beide legitim sind. Das korrekte Verständnis des Aristotelismus ist für unsere Untersuchung jedenfalls unabdingbar. Es hilft uns nicht nur, uns der besonderen Merkmale der modernen Naturwissenschaft zu vergewissern, sondern auch, die Beziehung zwischen moderner Wissenschaft und Theologie zu klären. Denn schließlich hat die Theologie – besonders im Thomismus – vom Aristotelismus charakteristische Denkmuster übernommen.

2.1 Die Grundbegriffe der Naturphilosophie – der Hylemorphismus

Aristoteles unterscheidet zwischen der Substanz, die in sich selber steht, und dem Akzidenz, das nicht in sich selbst, sondern in etwas anderem ist. Die Substanz zeichnet sich durch „substanzielle Einheit“ aus.

Die aristotelische Naturphilosophie versteht das materielle Seiende im Sinne des Hylemorphismus. Jedes Seiende ist „zusammengesetzt“ aus „Materie“ und „Form“. Es gibt keine Materie ohne Form und keine Form ohne Materie. Für Platon steht die Idee über dem Materiellen; für Aristoteles hingegen besteht die Form nur in Materie und nicht außerhalb ihrer. Materie und Form bestehen nicht jeweils an und für sich, sondern nur in ihrer gegenseitigen Einheit. Die Beziehung zwischen Materie und Form kann verstanden werden als die Beziehung zwischen Potenz und Akt. Materie ist Potenz für eine Form; durch die Form ist etwas nicht bloß in Potenz, sondern in actu. Jedes physikalische Seiende, obwohl Akt, ist potenziell etwas anderes. Wo es einen Übergang von Potenz in Akt gibt, gibt es Veränderung. Veränderung ist der Übergang von dem, was potenziell ist, in den Akt.

Materie und Form sind zwei der vier „Ursachen“ oder Prinzipien (archai), die nach Aristoteles ein physikalisches Seiendes als solches umfassend erklären. Als seine vier Ursachen nennt er die Materialursache, die Formursache, die Wirkursache und die Zweckursache. Die Materialursache ist das, aus dem ein Seiendes ist, die Formursache das, was ein Seiendes ist, die Wirkursache das, durch das ein Seiendes ist, und die Zweckursache das, für das oder um dessentwillen ein Seiendes ist. Als Übergang von Potenz in Akt ist Veränderung die Verwirklichung einer inneren Finalität oder Tendenz des fraglichen Seienden. Ein physikalisches Seiendes in actu ist etwas Bestimmtes, aber in Potenz etwas anderes; Veränderung ist eben die Verwirklichung der inneren Tendenz des fraglichen Seienden zum Akt dessen, was es in Potenz ist. In der Regel ist ein bestimmtes physikalisches Seiendes kraft seiner Form die Potenz zum Akt verschiedener anderer Seiender, aber nicht alles Vorstellbaren. Durch die Form ist die Potenz für etwas anderes begrenzt. In der physikalischen Welt sind sowohl Substanzen als auch Akzidenzien der Veränderung unterworfen.

Der Zweck eines Lebewesens, d.h. das, wozu es kraft seiner inneren Finalität tendiert, besteht in seinem eigenen Sein bzw. Wohlsein – das Wohlsein ist nichts anderes als die volle Entfaltung des Seins – und in der Existenz der Spezies, zu der das fragliche Lebewesen gehört. Bei Lebewesen fallen Formursache und Zweckursache zusammen; die Form eines Lebewesens ist sein Zweck. Der Zweck des menschlichen Daseins ist die volle Entfaltung des Menschseins22. Analoges kann vom Dasein von Tieren und Pflanzen gesagt werden. Für Aristoteles ist die volle Entwicklung des Menschseins die Entwicklung des Menschen als eines vernünftigen Wesens, d.h. die Betrachtung der Wahrheit oder des göttlichen Seins bzw. das Leben in der polis („politischen Gemeinschaft“). Das Seinsstreben kann verstanden werden als das Streben nach Teilhabe am Sein selbst, also am Göttlichen; es ist der „unbewegte Beweger“, der sich unter heutigen christlichen Theologen geringer Beliebtheit erfreut.

Im Falle eines zusammengesetzten Seienden, das nichtsdestotrotz eine substantielle Einheit ist, ist das Ganze dessen, was das Seiende ist, seine Form und seiner Teile Zweck. Das ist offensichtlich der Fall bei einem Organismus. Seine verschiedenen Organe dienen seinem Sein. Ihre Bedeutung für den Organismus als solchen erklärt ihr Sein und ihr Funktionieren. Das Prinzip des Lebens eines Lebewesens ist die Seele. Sie ist die Form und der Zweck (der Akt) des Leibes qua Materie (Potenz). Seele und Leib können nicht voneinander getrennt werden. Es gibt sie nicht an und für sich. Als das Ende des Lebewesens ist der Tod das Ende sowohl der Seele als auch des Leibes. Wie jedes andere physikalische Seiende sind die Überreste des Hingeschiedenen als eine Einheit von Materie und Form zu denken, doch haben wir es nicht länger mit einem (menschlichen) Leib und einer (menschlichen) Seele zu tun, da es den Menschen, der als Einheit von Leib und Seele existiert, nicht länger gibt. Da es drei Arten von Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen – gibt, gibt es drei Arten von Seele: die vegetative, die tierische und die menschliche Seele. Die erste zeichnet sich aus durchs Vermögen der Selbsterhaltung und Selbstreproduktion, die zweite durchs Vermögen der Ortsbewegung und Sinnlichkeit und die dritte durchs Vermögen rationalen Denkens. Die vegetativen Funktionen werden im tierischen Leben behalten, und die vegetativen und tierischen Funktionen im menschlichen Leben. Im Tiere ist das tierische Leben die Form und somit der Zweck des vegetativen, und im Menschen ist das menschliche Leben die Form und somit der Zweck des tierischen.

Bisher haben wir den Hylemorphismus mit Beispielen aus der lebendigen Natur erläutert. Er gibt uns jedoch ein begriffliches Schema, das auf ein jegliches physikalisches Seiendes nicht nur in der organischen, sondern auch in der anorganischen Natur angewandt werden kann, an die Hand. So kann im Falle des Atoms – um bei einer in der heutigen Naturwissenschaft bekannten und diskutierten Entität zu bleiben – von den subatomaren Partikeln gesagt werden, daß sie kraft des ihnen inhärenten Determinismus gerichtet sind auf die Bildung des Atoms als einer (relativ) stabilen Struktur. Ähnliches kann von einer chemischen Reaktion gesagt werden. Die Reagenzien sind kraft des ihnen inhärenten Determinismus auf die Bildung bestimmter Produkte ausgerichtet. In diesen Fällen ist das Endprodukt der Interaktion zwischen den Komponenten eine mehr oder weniger stabile Struktur. Diese Struktur ist das Ganze, das seine Teile erklärt, ihr Zweck und ihre Form. Wie bereits gesagt, hat ein bestimmtes physikalisches Seiendes kraft seiner Form die Potenz für den Akt verschiedener anderer Seiender. In welches von ihnen wird es übergehen? Das hängt ab von den Seienden, denen es begegnet.

Aristoteles’ Begriff der Veränderung kann sowohl auf Substanzen als auch auf Akzidenzien angewandt werden. Ein Beispiel substantieller Veränderung ist die Veränderung eines Lebewesens zu einem Kadaver. Ein Beispiel akzidenteller Veränderung ist die räumliche Bewegung. Sie kann wie jede andere Art von Veränderung verstanden werden als Übergang von Potenz in Akt. Die räumliche Bewegung wird von einer inneren Richtung gekennzeichnet. Die Idee „richtungsloser“ räumlicher Bewegung (Bewegung im engeren Sinn des Wortes) ist unmöglich und absurd. Dementsprechend muß der räumlichen Bewegung notwendigerweise Finalität zugeschrieben werden. Die Finalität der räumlichen Bewegung ist natürlich anders zu verstehen als z.B. die Finalität von Organen, die auf das Sein des Organismus gerichtet sind. Finalität ist kein univoker, sondern ein analoger Begriff.

Die aristotelische Teleologie wurde im modernen Denken oft kritisiert. U.a. Aristoteles’ Begriff der räumlichen Bewegung begegnete strenger Kritik. Ihm zufolge ist ein Körper in räumlicher Bewegung auf seinen „natürlichen Ort“ gerichtet. Da kommt der Körper zur Ruhe. Der „natürliche Ort schwerer Körper“ ist die Erde, und der „natürliche Ort leichter Körper“ liegt in den Himmeln. Aus der Perspektive der modernen Physik betrachtet, sind sowohl Aristoteles’ Begriff des natürlichen Ortes als auch Aristoteles’ Unterschied zwischen leichten und schweren Körpern überholt. Das bleibt aber ohne Folgen für Aristoteles’ philosophische Lehre über die Finalität (Gerichtetheit) der räumlichen Bewegung. Diese Lehre ist in keiner Weise widerlegt. Jedwede Bewegung, und somit auch eine eventuelle gleichförmige Bewegung, ist zu jedem Zeitpunkt gerichtet auf ein zu erreichendes „Ziel“, ohne welches es überhaupt keine Rede von räumlicher Bewegung geben könnte.

2.2 Aristotelische Naturphilosophie und moderne Naturwissenschaft

Aus heutiger Perspektive erscheint der Hylemorphismus nicht so sehr als eine naturwissenschaftliche als vielmehr als eine naturphilosophische Konzeption. Das ist so, weil er im Gegensatz zur modernen und zeitgenössischen Naturwissenschaft nicht versucht, spezifisch konkrete, bestimmte Phänomene (oder „Spezies“ derselben) zu beschreiben und zu erklären, sondern vielmehr von der Natur als solcher spricht. Der Hylemorphismus versucht, Rechenschaft abzulegen von der Tatsache der Veränderlichkeit und der Veränderung, die unleugbar die Natur als solche und jede natürliche Erscheinung kennzeichnet. Er beschreibt die ontologische Struktur, die das physikalische Seiende haben muß, um Subjekt der Veränderung sein zu können. Aber er gibt keine detaillierte Beschreibung bzw. Erklärung spezifischer Phänomene, und besonders spezifischer Veränderungen (oder Arten derselben), wie des Falles eines Körpers, des Treibens eines Körpers auf Flüssigkeit usw. Eine solche Beschreibung bzw. Erklärung, die die Deduktion eines späteren konkreten Ereignisses aus einem früheren erlaubte, ist typisch für die moderne Naturwissenschaft. Der Hylemorphismus kann jegliche vorstellbare Veränderung im Physikalischen beschreiben, sagt aber nichts über die je spezifische Struktur der je besonderen materiellen Seienden und ihre jeweils eigene, besondere Art von Interaktion. Er ist unfähig, spezifische, bestimmte Phänomene von anderen spezifischen, bestimmten Phänomenen abzuleiten oder aufgrund gewisser Phänomene zu sagen, zu welchen anderen Phänomenen sie führen werden, und somit vorauszusagen, was geschehen wird. Dies ist genau das, worauf die moderne Naturwissenschaft zielt; und genau weil die aristotelische Naturphilosophie das nicht leistet, bezichtigten die Modernen sie der „Sterilität“, der theoretischen und praktischen Unfruchtbarkeit. Dieser Vorwurf ist jedoch nicht ganz berechtigt23. Mit A. van Melsen kann man der Naturphilosophie die Aufgabe, die Merkmale, die der Natur oder dem physikalischen Seienden als solchem notwendigerweise beigelegt werden müssen, zu explizieren, zuweisen. Nach Van Melsen setzt die Naturwissenschaft notwendigerweise bestimmte Aspekte des physikalischen Seienden voraus, ohne sie zu explizieren und kritisch zu analysieren. Die fraglichen Aspekte sind Determinismus und Finalität, Raum und Zeit usw. Da die Naturwissenschaft sich auf besondere Phänomene oder Arten derselben konzentriert, ignoriert sie die erwähnten Aspekte. Sie sind das, was die Wissenschaft über die Natur voraussetzt. Diese Aspekte ans Licht zu bringen und ihre Bedeutung und Relevanz zu untersuchen, ist eine bedeutsame Aufgabe und von alters her eine Aufgabe der Philosophie. Van Melsen sieht einen der Aspekte, die die Naturwissenschaft, und das Denken überhaupt, dem physikalischen Seienden zuschreibt, in der Struktur von Spezies und Individuum. Jede Entität, jedes Phänomen in der Natur und jeder ihrer Aspekte ist ein Individuum – eine individuelle Instanziierung oder ein individueller Repräsentant, ein Exemplar – einer bestimmten Spezies. Eine Nachtigall ist ein individueller Repräsentant der Spezies der Nachtigallen, ein Körper von 25 Kilogramm ist ein individueller Repräsentant der Spezies der Körper von 25 Kilogramm usw. Daß die Natur die Struktur von Spezies und Individuum hat, ist eine grundlegende Voraussetzung der Naturwissenschaft, sagt Van Melsen. Er fügt aber hinzu, daß die Wissenschaft als solche ihre Voraussetzungen nicht explizit reflektiert. Indem die Philosophie diese Struktur ans Licht bringt, sagt die Philosophie etwas, was die Wissenschaft nicht sagt. Die Struktur von Spezies und Individuum entspricht der Struktur, die der Hylemorphismus dem physikalischen Seienden zuschreibt, der Struktur von Form und Materie.

Aristoteles’ Lehre von den vier Ursachen („Prinzipien“) mündet in Teleologie24. Die Zweckursache kann insofern als die wichtigste der vier Ursachen angesehen werden, als von der Zweckursache gesagt werden kann, daß sie eine wirksame, befriedigende Erklärung dessen, was geschieht, gibt. Die Zweckursache tut das in der Tat insofern, als die Antwort auf die Frage, zu welchem Zweck etwas geschieht, die Bedeutung des fraglichen Geschehens offenbart. Etwas hat Bedeutung, wenn es gut genannt werden kann; die Frage, zu welchem Zweck etwas geschieht, ist die Frage, wofür das fragliche Geschehen gut ist; und wenn einmal gezeigt ist, daß etwas effektiv gut ist (oder dem Guten dient), hat die Frage, warum es das gibt, eine befriedigende Antwort erhalten. Der Unterschied zu Erklärungen, die die moderne Naturwissenschaft von Ereignissen gibt, springt ins Auge. Sie stellt nicht die Frage, zu welchem Zwecke Dinge da, oder wofür sie gut sind. Stattdessen versucht die moderne Naturwissenschaft Tatsachen von ihren Antezedenzien abzuleiten. Wenn in dieser Weise eine Antwort gegeben wird auf die Frage, warum Dinge da sind, handelt es sich nicht um eine letzte Antwort. Denn sobald Gegebenes auf seine Antezedenzien zurückgeführt werden kann, erhebt sich die Frage nach den Antezedenzien der Antezedenzien; sobald diese Frage beantwortet ist, erhebt sich die Frage nach den Antezedenzien der Antezedenzien der Antezedenzien, usw. Aus aristotelischer Perspektive könnte man insofern sagen, daß die moderne Naturwissenschaft versucht, die Wirkursachen dessen, was ist, zu identifizieren, als von ihr gesagt werden kann, daß sie die Frage nach dem, was Ereignisse „hervorbringt“, stellt. Man könnte aber ebenso sagen, daß die moderne Naturwissenschaft – um die Terminologie Wittgensteins zu verwenden – „Sachverhalte“ beschreibt, daß sie das tut durch „Gesetze“, die die Form mathematischer Gleichungen haben, und daß diese Gesetze als die „Form“ der fraglichen „Sachverhalte“ verstanden werden können25. Dementsprechend könnte die moderne Naturwissenschaft in einem platonischen Sinne verstanden werden, als die Identifikation der „Idee“, an der das Materielle „teilhat“26, und in einem aristotelischen Sinne, als die Identifikation der „Formursache“ des Materiellen (oder, um mit Wittgenstein zu reden, dessen, „was der Fall ist“).

Die aristotelische Naturphilosophie würde allerdings nie eine mathematische Gleichung als die Formursache von etwas identifizieren27