Von Zimtsternen und Zimtzicken - Friederike Schmöe - E-Book

Von Zimtsternen und Zimtzicken E-Book

Friederike Schmöe

3,9

Beschreibung

Bösewichte aller Art, aber auch die lieben Mitmenschen machen den Hauptfiguren dieser vier schlimmen Geschichten den Advent madig: In Franken, Brandenburg, Zürich und Wien wird der vergnügliche Horror angerührt, das wohlige Gruseln zelebriert. Viermal Crimetime vom Feinsten, garniert mit wohlschmeckenden kulinarischen Highlights, verspricht köstliches Genießervergnügen! Und wer die Planung des Weihnachtsmenüs über der spannenden Krimilektüre verpasst, kann sich an unseren Rezepten schadlos halten.

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Friederike Schmöe (Hrsg.)

Von Zimtsternen und Zimtzicken

Ein kriminelles Weihnachtsmenü

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © VICUSCHKA / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5166-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vorwort

Geben Sie es doch zu: Weihnachten geht Ihnen auch nicht immer so leicht von der Hand. Stimmt’s? Da ist die Jagd nach Geschenken, das flaue Gefühl angesichts des bevorstehenden Verwandtenbesuchs, der Impuls, einfach die Flucht nach Süden zu ergreifen, um der überfrierenden Nässe und der Schwiegermutter zu entkommen, und ganz allgemein die Befürchtung, dass es nicht so perfekt werden könnte wie erhofft.

Keine Bange, Sie sind nicht allein! Vier Krimiautorinnen haben sich der Herausforderung gestellt, Ihnen das Weihnachtsfest zu erleichtern. Nicht dass wir Ihnen empfehlen würden, die unliebsame Schwägerin oder den nervenden Lover um die Ecke zu bringen – würden wir ja nie tun! Doch gute Geschichten sind prächtige Unterhaltung, und wenn Sie lieber lesen, anstatt das Weihnachtsmenü zu planen, dann lassen Sie sich in diesem Advent entspannt im Sessel nieder und köpfen Sie die Flasche Médoc, die Sie sich schon lange gönnen wollten. Dieses Buch bietet Ihnen in bewährter Manier kriminelle Unterhaltung, gleichzeitig übernehmen wir vier Autorinnen auch noch die Speiseplanung: Unsere vier Kriminovellen drehen sich nämlich um die vier Bestandteile eines festlichen Menüs, Rezepte inklusive! Die Antipasti serviert Friederike Schmöe, die Vorspeise Isabel Morf, Jennifer B. Wind sorgt für das Hauptgericht und Ella Danz kredenzt das Dessert. Da wird eifrig gepfeffert und gesalzen, aber auch gemordet und gespukt. Sobald alle Übeltäter überführt sind, brauchen Sie das Weihnachtsmenü nur noch nachzukochen. Köstlicher geht Krimi nicht …

Also dann, fröhliche Weihnachten!

Friederike Schmöe, Herausgeberin

Koks und Garnelen – Die Antipasti

Friederike Schmöe

9. September

Luuk drückte die Pille aus dem Blister und warf sie ein. Ein Schluck Rotwein. Herrlich. Gleich noch einer. Nachher trank er die härteren Sachen. Aber er musste erst mal runterkommen. Nach der Sendung war vor der Sendung! Luuk stieß die Faust in die freie Handfläche. Er hatte es wieder geschafft. Denen hatte er es gegeben. Er war gerade im richtigen Maß persönlich geworden, hatte sich exakt ausreichend empört, war im idealen politischen Winkel durch die Diskussion gekurvt. Knapp links. Für die Einsamen, Angemarkerten, für die Flaschen ergriff er Partei. Er kriegte es immer hin. The winner takes it all!

Die Wirkung der Tablette setzte beinahe sofort ein. Der Stress sackte zu den Füßen runter und verpuffte. An seiner Stelle floss Entspannung pur nach. Luuk machte ein paar Tanzschritte. Relax, Luuk, forderte er sich grinsend auf, während er eine Garnele im Speckmantel einwarf und den Zahnstocher achtlos in die Brusttasche seines Button-down-Hemds steckte. Lecker salzig! Sie sparten nicht mit dem Speck bei der Zubereitung, das musste er voller Respekt anerkennen. Und nur hier im Studio bekam er sie so kross gebraten, wie er es liebte. Dank Anela. Er musterte sein Gesicht im Spiegel. Scheiße, er war 27 und ein Star. Milchkaffeebraun, das Aushängeschild des Senders, jung, männlich, farbig und hetero. Er bediente sämtliche Quoten, ohne dass irgendeinem Strohkopf im TV oder in der Politik was erklärt werden musste. Der Redaktionsleiter liebte ihn, und die Redakteurin … feurig, hemmungslos. Einfach genau seine Kragenweite. Keine Woche verging, ohne dass ein Szeneblatt ihm gedruckt oder online seine Referenz erwies. Dazu Zehntausende von Klicks auf Youtube. Für ihn, Luuk Jysten von Voice21. It’s your turn to win, man!

Er legte mit ein paar gegrillten Zucchini nach und drehte sich einige Male um die eigene Achse. Sein Bild im Spiegel verschwamm.

»He, Mann, Pirouetten sind was für Schwule, oder?« Lennart stand im Türrahmen, der Assi der Redakteurin.

»Leck mich!« Luuk zückte sein Smartphone. Scrollte durch seine Facebook-Chats. Massenweise in die Luft gereckte Daumen.

»Like, Luuk!«

»Mal wieder erste Sahne, Luuk!«

»Geht nimmer besser.«

»Ich knuddel dich.«

»Kriegst knusprige Garnelen von mir. Im Speckmantel!«

Manchmal sammelte die Timeline auch allerhand Shit auf. Hassmails und blödes Gequatsche. Sollte Anela sich drum kümmern. Sie und ihr Team scannten schon jetzt die sozialen Netzwerke, um das Feedback auf die Sendung durchzuchecken, wichtige Hinweise für die nächste festzuhalten. Er liebte es, ein Team zu haben. Er musste nur vor der Kamera herumhampeln. Den öden Rest machten die anderen.

»Willst du was trinken?« Luuk hielt Lennart die Flasche Rotwein hin. »Oder eine Garnele?« Im Sender kannten sie seine Schwäche für Antipasti. Er hausierte damit. Auch in den Netzwerken.

»Unten warten sie auf dich. Sie wollen endlich anstoßen.«

»Bin schon unterwegs.«

»Gibt nur ein Problem.«

»Lass mich in Frieden.«

»Anela schickt mich.«

Wenn Anela ihn schickte …

»Was für ein Problem denn?«, fragte Luuk und bemühte sich um einen geduldigen Tonfall. Gar nicht so einfach, jetzt war er erst so richtig fetzengut drauf. Es gab ein Problem! Gott, wie kindisch. Für einen Luuk Jysten gab es keine Probleme.

»Das Gerücht ist wieder aufgetaucht.«

Lennarts Blick fiel auf den Blister. Grinsend warf Luuk das Alufetzchen in den Papierkorb.

»Das Gerücht?«

»Genau.«

»Nicht wahr.«

»Doch, leider.«

Dagegen gab es Mittel. Beim letzten Mal, als sich jemand Gehässigkeiten erlaubt hatte, traten die Fans, von Anela und ihren Leuten professionell unterstützt, einen breiten Shitstorm los, und Anwälte bereiteten Klagen wegen übler Nachrede und Verleumdung vor. Binnen 14 Tagen hatte man nie wieder etwas gehört oder gelesen.

»Die Sache ist flotte Lotte vom Tisch.« Luuk knöpfte sein Hemd auf. Ihm war heiß.

»Diesmal wohl nicht. Da sind Leute bei der Medienaufsicht aufgeschlagen.« Falten legten sich über Lennarts Gesicht wie ein graues Gitter.

Luuk goss sich mehr Rotwein ins Glas und trank. Nervkram! Nichts, was Anela nicht stemmen könnte. Dieser miese kleine Assistent musste noch viel lernen. Auch die Medienaufsicht war kleinzukriegen. Man brauchte nur die richtigen Partner. Zur Not tat Luuk ihnen in einer der nächsten Sendungen einen Gefallen. Wo also verbarg sich das Problem?

»Das ist deine Arbeit. Klar?« Mit zwei Schritten war Luuk bei Lennart. Er packte ihn am T-Shirt. »Und von Anela lässt du die Finger.«

Lennart zuckte nicht mit der Wimper. Er war einen Kopf größer als Luuk. Hatte Muskeln wie ein Preisboxer. »Unsere Beziehung ist rein beruflich.«

Luuk ließ los. Seine Hände fühlten sich weich und feucht an. Wie Gummi.

PLING. Das Smartphone. Luuk checkte das Display.

Wir müssen dringend reden, Jysten. Nach dem Empfang im ›Drehkreuz‹. Nebenzimmer.

»Scheiße.« Luuk ließ das Telefon auf den Tisch fallen und griff nach einem neuen Garnelenspieß. »Alter Fucker.«

»War das Schuster?«

»Woher weißt du …«

»Er hat Anela schon den ganzen Tag die Hölle heiß gemacht. Aber die wollte dir vor der Sendung nichts sagen.«

Fuck!

Schweiß rann über Luuks Gesicht, sammelte sich neben der Nase, tropfte vom Kinn. Niemand würde ihm was nachweisen können. Er würde sich nicht noch mal auf diese Hölle einlassen. Nie! Und sie konnten sowieso nicht auf ihn verzichten. Bei der Quote, die er ihnen lieferte – ausgeschlossen!

Freitag, 25. November

Schneeregen klatschte gegen die Windschutzscheibe. Romy setzte den Blinker. Dornstadt. Hier war der Name mal nicht Programm. Von einer Stadt konnte keine Rede sein. Maximal ein Dorf, vielmehr ein Weiler. Franken im November. Düsternis und beklemmende Provinz; kalter, widerlicher Niederschlag. Ende Gelände.

Heute Morgen war sie noch neben Ole aufgewacht. Selten genug, dass sie aneinandergeschmiegt einschliefen. Umso mehr hatte sie seinen gleichmäßigen Atem und seine Wärme genossen; jetzt war die Zweisamkeit nur noch eine ferne Ahnung. Dieser neue Auftrag finanzierte sie bis zum nächsten Jahr, eventuell sogar darüber hinaus, und sie hätte mehr als genug Zeit, an ihrer Dissertation zu arbeiten. In Dornstadt würde es keine Ablenkungen geben, so viel war sicher.

Sie stellte die Scheibenwischer auf höchste Stufe und drehte die CD-Lautstärke höher. Tapfer sang der Chor gegen das ruckelnde Geräusch von Gummi auf Glas an. Romys Chor. Sie hatte mitgemacht bei der Aufnahme. Vor zwei Jahren. »Wir sagen euch an den lieben Advent. Sehet, die erste Kerze brennt …« In zwei Tagen war es wieder soweit. Adventskranz, Zimtsterne, Spekulatius, Dominosteine. Romy hatte eine Schwäche für Süßes.

Sie spähte in die frühe Nacht hinaus. Krautige Vorgärten, in einigen leuchteten schon geschmückte Weihnachtsbäume, doch die meisten Häuser umhüllten sich mit Dunkelheit. Auch das Wirtshaus »Zur grünen Linde« mit seinem spärlichen Licht half einer adventlichen Stimmung nicht auf die Sprünge. Wann gingen die hier eigentlich ins Bett? Romy warf einen zweifelnden Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. 16.54 Uhr. Definitiv zu früh, um sich hinterm Ofen zu verkriechen. Trotz der Polarnacht!

»Sehet, die zweite Kerze brennt!«

Sie folgte der Wegbeschreibung durch das Dorf, nahm Kurve um Kurve den Hang hinauf, bis das Kaff endete und kurz darauf eine schmale Einfahrt sichtbar wurde. Ein amerikanischer Briefkasten glänzte für Momente im Lichtkegel auf.

Hier musste es sein. Romy lenkte scharf nach rechts. Der Zufahrtsweg war teuflisch schmal, uneben und voller Pfützen. Angespannt umklammerte sie das Lenkrad. Der übliche Gedankengrusel, wenn sie zu einem neuen Domizil unterwegs war; Geflüster: Du bist ganz allein hier, Romy!

Sie konnte an diesem Ort mit niemandem rechnen. Und mit Ole erst mal auch nicht.

Der Gedanke tat jetzt gerade richtig weh.

»Wir sagen euch an den lieben Advent. Sehet, die dritte Kerze brennt …« Mit plötzlich aufwallender Wut schaltete Romy den CD-Player aus. Sie musste sich verdammt noch mal konzentrieren. Rechts und links ließen Weiden ihre Zweige über den buckligen Asphalt hängen. Sie schlitterten kratzend über das Autodach. Romy fröstelte. Etwas Schwarzes flitzte vor ihr über den Weg. Eine Katze? Ausgerechnet. Nicht, dass sie abergläubisch gewesen wäre …

Jeder neue Auftrag stellte eine Charakterprüfung dar. Wie würde das Objekt aussehen? Stimmte die Beschreibung der Kunden? Trafen Wörter wie »behaglich«, »romantisch«, »modern« den Kern? Oder verkleideten sie die Wahrheit nur sehr geschickt, eine Art sprachliches Fotoshopping? Hier draußen in dieser Einöde würde sie mehr als einen Monat durchhalten müssen, vielleicht sogar zwei, die Auftraggeberin hatte sich nicht festgelegt. Open end. Romy hoffte, sie würde gleich im Gespräch mit der Dame mehr erfahren.

Unter dem Wagen krachte es dumpf. Verdammt! Der Schneeregen wurde zunehmend wässrig, Sturzbäche rannen über die Scheibe. Erleichtert stellte Romy fest, dass der Weg sich verbreiterte und in einer Art Wendeplatz auslief. Oben am Hang lag das Haus. Beleuchtet. Heimelig.

Wenn sie jetzt einfach so tat, als hätte sie sich verfahren, und den Heimweg antrat? Dumm nur, dass es da kein »heim« gab, kein Zuhause. Da waren nur flüchtige Hotelzimmer und ein Auftrag nach dem anderen. Letztlich sollte sie dankbar sein, einen aufgetan zu haben, der ausreichend lange lief, damit sie nicht nach zwei Wochen schon wieder ihre Zelte abbrechen musste. Sie brauchte wirklich Ruhe, eine gewisse Kontinuität, sonst kam ihr der Fokus auf ihre Doktorarbeit noch weiter abhanden. Dem Schreiben tat das ewige Hin und Her sowieso nicht gut.

Sie stellte den Motor ab. Hier war der Fahrweg zu Ende, nur ein Trampelpfad führte weiter geradeaus ins Dunkel. Schneereste lösten sich gerade im Dauerregen auf. Verdammt, sie hätte Gummistiefel einpacken sollen! Zum Trost gönnte sie sich den letzten Zimtstern aus der Tüte auf dem Beifahrersitz. Der Zimtgeschmack kitzelte angenehm den Gaumen. Die Welt war nun doch nicht ganz schlecht.

Romy blickte halb hoffend, halb verzweifelt zu dem flachen Bau hinauf. Eine Treppe führte den Hang hoch, schwach beleuchtet von kleinen runden Lämpchen auf schmalen Stelen. Vom Garten, den die Eigentümerin so begeistert angepriesen hatte, sah sie nicht viel. Auf Zehenspitzen schlichen Kopfschmerzen herbei. Romy fischte die CD aus dem Player, nahm seufzend ihre Handtasche vom Beifahrersitz und steckte die Scheibe hinein. Irgendwo musste ein Schirm sein. Sie tastete unter den Sitzen herum.

Dann eben nicht. Die Kapuze ihres Mantels tief in die Stirn gezogen, stieß sie die Fahrertür auf. Der erste Schritt war ein Tritt in Matsch und Morast. Eiskaltes Wasser sickerte in ihre Sneakers.

»Mist!« Sie schlug die Autotür zu, hastete um das Auto herum zur Treppe, die in flachen Stufen nach oben führte. In Kaskaden strömte das Wasser Romy entgegen.

»Hallo?«, drang eine Stimme durch das Rauschen.

»Frau Wenzel?«

»Kommen Sie rauf!«

Etwas Helles leuchtete ein paar Meter weiter neben der Treppe auf. Bei, nein, in einem Busch. Romy starrte hin. Es schien, als rieselte Licht zwischen den Zweigen hervor und verlöre sich im nassen Gras. Romy strauchelte auf den ungewohnten Stufen, stützte sich mit der Hand ab.

»Seien Sie vorsichtig!«, ließ sich Anne Wenzel vernehmen. »Die Treppe ist bei Nässe unberechenbar.«

»Ich komme zurecht«, rief Romy zurück. Ratlos blickte sie noch einmal zu dem Busch. Er lag im Dunkeln.

*

»Was für ein grauenvolles Wetter! Ich bin froh, dass Sie heil angekommen sind.«

Die Frau sprach freundlich, aber in ihrem Gesicht parkte ein gehetzter Ausdruck. Ihre Augen zwinkerten unablässig. Sie war groß, trug das volle braune Haar hochgesteckt und hielt sich mit beiden Händen an einem cremefarbenen Schal fest, der ihr nussbraunes Kostüm bürgerlich-ideal ergänzte.

Romy zog sich die Kapuze vom Kopf. »Halb so schlimm. Romy Westphal.«

»Ich bin Anne Wenzel.«

Händeschütteln.

»Sie sind ganz schön durchnässt. Tja, da Sie sich verspätet haben, müssen wir die Einweisung schnell machen. Ich bin in Eile.«

Romy verkniff sich ein »Tut mir leid«. Sie hatte unterwegs angerufen, weil sie im Stau stand, zwei Stunden lahmgelegt wegen eines Lkw-Unfalls, und damit war der großzügig eingerechnete Zeitpuffer verbraucht. Und dann noch der Regen …

»Ich zeige Ihnen rasch das Haus. Nachher haben Sie alle Zeit der Welt, sich trockenzulegen … Ich weiß, es ist nicht höflich, aber …« Zwinker zwinker.

»Kein Problem.« Romy war schon ganz anders begrüßt worden. Eine besonders liebevolle Betreuung erwartete sie ohnehin nicht.

»Das Haus hat nur ein Erdgeschoss, aber vorne zum Hang gibt es ein Souterrain mit einer kleinen Einliegerwohnung. Die gehört Ihnen, suchen Sie sich das Schlafzimmer aus, das Ihnen am besten gefällt, es gibt zwei.« Sie wies auf eine Wendeltreppe. »Schauen Sie sich dort nachher alleine um. Bettwäsche und so weiter finden Sie in den Schränken.« Sie öffnete eine Tür. »Selbstverständlich können Sie hier das Wohnzimmer genießen, sehen Sie den Kamin? Machen Sie sich Feuer, wenn Ihnen das gefällt, Holz ist draußen in der Lege, hier rechts durch die kleine Tür raus. Die Stereoanlage steht Ihnen zur Verfügung. CDs sind genug da. Genießen Sie den Blick zum Dorf und in den Itzgrund hinunter. Leider bin ich nicht mehr dazugekommen, für Weihnachtsschmuck zu sorgen, aber dieses Jahr brauche ich ja auch keinen …«

Romy trat ans Fenster, während sich Anne Wenzels Wortschwall weiter über sie ergoss. Tatsächlich, weit weg, in der Dunkelheit, schimmerten ein paar verwaschene Lichter. Dornstadt.

Anne Wenzel ging weiter, öffnete Türen, zeigte hierhin und dorthin. »Die Heizung habe ich auf Automatik gestellt. Sobald die Temperatur drinnen unter 20 Grad fällt, schaltet sie hoch. Bitte ändern Sie nichts daran.«

»Nein. Natürlich nicht.« Romy ging ihr nach.

Ein schmuckloses Haus, aber nicht ungemütlich, mit einer ruhigen, angenehmen Ausstrahlung. Parkettboden, cremeweiße Wände. Kein Schnickschnack. Ablenkungsfrei. Hier würde sie gut schreiben können.

Irgendwo schlug eine Tür.

»Das wäre die Küche.« Anne Wenzels Hand auf der Klinke zitterte leicht.

»Wow!«, entfuhr es Romy. Chrom, apricotfarben getünchte Wände. Ein kleiner Bistrotisch, zwei Stühle. Der Blick ging hinaus in den Garten, draußen brannte eine Wandleuchte und warf einen warmen Lichtkegel auf einen gefliesten Freisitz. Unter einer Plane stapelten sich ein Tisch und Stühle.

»Tja, zum Raussetzen taugt die Jahreszeit nicht, und im Sommer bin ich längst zurück.« Sie rückte an ihrem Schal. »Hoffentlich.«

»Wie sieht es mit der Post aus?«, spulte Romy die üblichen Fragen ab. »Muss ich zu bestimmten Uhrzeiten hier sein? Kommt regelmäßig jemand zu Ihnen? Was ist mit dem Müll? Wird Ihnen eine Zeitung zugestellt?«

»Die Post ist abbestellt, ich habe nichts abonniert. Der Plan für den Müll hängt an der Pinnwand hinter der Tür. Sie müssen sich um nichts weiter kümmern, außer darum, dass bei Schnee die Treppe und der Wendeplatz geschippt sind. Die Schaufel finden Sie draußen neben der Haustür. Wegen des Zufahrtsweges machen Sie sich keine Sorgen, da kommt bei Bedarf jemand mit einem Minitraktor.« Anne Wenzel trat wieder in die Diele und deutete auf eine verschlossene Tür. »Dies ist mein Arbeitszimmer. Alle zwei Wochen kommt meine Putzfrau, sie hat den Schlüssel. Ansonsten bleibt es verschlossen.«

»In Ordnung. Internet?«

»Ich habe WLAN, warten Sie …« Sie ging zu einem Rucksack unter der Garderobe und kramte eine Kladde heraus. »Hier …« Sie hielt die Kladde weit weg. »›Drachenglut‹ ist das Passwort. Die Putzfrau kommt dienstags. Marlies hat einen Schlüssel, wie gesagt, und weiß, was zu tun ist. Morgens um acht taucht sie auf und bleibt bis eins. Sie wird Sie nicht stören.«

»Wie kann ich Sie erreichen, wenn …«

»Meine Mailadresse kennen Sie. Aber ich habe eine sehr anstrengende berufliche Reise vor mir und kann nicht versprechen, mich zu kümmern, wenn etwas schiefgeht.« Sie warf die Kladde zurück in den Rucksack, sah auf ihre Armbanduhr. »Dafür habe ich Sie.«

»Falls die Heizung streikt oder ich einen Handwerker brauche …« Bis eben waren die Kopfschmerzen bescheidene und höfliche Gäste gewesen. Jetzt begehrten sie auf. Romy rieb sich die Schläfen.

»Dann rufen Sie Marlies an. Ihre Nummer finden Sie an der Pinnwand in der Küche. Ach ja, unten in der Einliegerwohnung, da gibt es einen Kellerraum. Ich bewahre Wein dort auf und ein paar Vorräte. Bedienen Sie sich. Gar kein Problem.«

»Danke.« Überrumpelt ließ Romy die Arme sinken. Diese Großzügigkeit kannte sie von anderen Kunden nicht.

»Ich bin etwas ungeübt, müssen Sie wissen. Ich habe noch nie eine Haussitterin beauftragt. Schade, dass wir nun keine Zeit mehr haben, uns näher kennenzulernen. Mein Flug geht in drei Stunden, ich muss wirklich los.« Sie griff nach ihrem Mantel. »Unten in der Einliegerwohnung ist auch ein kleines Bad, aber Sie können gern oben das Bad benutzen. Neben meinem Arbeitszimmer.« Anne Wenzel warf einen raschen Blick in den Spiegel, fuhr mit beiden Händen über ihre Frisur, griff nach ihrer Laptoptasche.

»Kann ich Ihnen helfen, Ihr Gepäck …«

»Ist alles schon im Wagen. Danke. Passen Sie auf das alles hier auf. Es hat mir mal viel bedeutet.«

»Selbstverständlich.« Romy hatte das Gefühl, Anne Wenzel mit einem Lächeln aufmuntern zu müssen. »Gute Reise. Wann kann ich wieder mit Ihnen rechnen?«

»Nun, wie gesagt, mein Rückflug ist für den 5.1. geplant, aber es könnte sein, dass ich länger bleiben muss. Spätestens Ende Januar will ich zurück sein. Meine Kanzlei wartet auf mich. Es war ohnehin schwierig genug, mich für so lange loszueisen.«

»Kann ich verstehen. Reisen Sie wenigstens in die Sonne?«

Anne Wenzel schlüpfte in den Mantel und warf sich den Rucksack über die Schulter.

»Nun ja, in den Sommer zumindest.« Sie lachte. Kein Lachen, das Vorfreude signalisierte. »Aber Sie kennen das vielleicht, wenn man beruflich viel verreisen muss, ist das meist kein Vergnügen.«

»Sicher nicht.«

Anne Wenzel sah sich in der Diele um, hob kurz die Hand und beschrieb drei kleine Kreise in der Luft. Sie ließ die Hand sinken.

»Machen Sie es gut.«

Bevor Romy auch nur »auf Wiedersehen« sagen konnte, hatte die Frau die Haustür hinter sich zugezogen.

*

Romy hastete durch den Regen zu ihrem Auto. Schnell den Koffer und die Tasche mit dem Laptop geholt! Seit sie einen Auftrag nach dem anderen als Haussitterin absolvierte, hatte sie gelernt, mit kleinem Gepäck zu reisen. Es hatte etwas Befreiendes, alles, was man brauchte, mit sich zu führen; wie ein Nomade, der die Kamele bepackt, um weiterzuziehen.

Der Regen hatte nachgelassen. Dennoch spürte Romy die Gänsehaut auf ihren Armen und Beinen, als sie die glitschigen Treppen hinunterlief. Wind kam auf und rüttelte an im Finstern kaum auszumachenden Bäumen und Büschen. Die Lämpchen neben den Stufen warfen milchiges Licht in die Nacht. Es reichte gerade aus, um zu sehen, wo man hintrat.

Am Wagen blieb sie einen Moment stehen und atmete tief die kalte, feuchte Luft ein. Hier also würde sie Weihnachten und Sylvester verbringen. Ein seltsames Gefühl. Eigentlich hatte sie gerade die Vorweihnachtszeit immer sehr genossen, aber seit sie mit Ole zusammen war, verschoben sich zunehmend die Bedürfnisse. Mit ihrer Doktorarbeit hatte sie allerdings mehr als genug zu tun. Und vom 19. bis 22. Dezember hatte sich Ole angesagt. Ganze vier Tage würden sie zusammen sein. Bis dahin musste sie noch drei Wochen alleine aushalten. Vorher konnte er sich ja nicht abkoppeln von seiner Bilderbuchfamilie. Eine Tochter, ein Sohn, eine Frau, ein Golden Retriever. Romy schnaubte. Wenn sie daran dachte, dass sie Ole am ersten Tag ihres Studiums noch grauenvoll unsympathisch gefunden hatte. Wäre es nur dabei geblieben! Dummerweise hatte sie ihre Meinung über ihn schnell geändert. Sie hatten es ja auch schön miteinander. Leider zu selten, aber dafür war Ole ein hervorragender Liebhaber und ihr gegenüber voller Wertschätzung. Es gab niemanden, der sie so zu ermutigen vermochte wie Ole.

Ein Zweig knackte irgendwo. Romy zuckte zusammen. Der Zufahrtsweg lag im Dunkeln. Sie war das einzige menschliche Wesen im Umkreis von vielen Kilometern, wenn man den Weiler nicht mitrechnete. Doch selbst wenn: Dornstadt lag einen guten Kilometer weiter den Hang hinunter, und an einem solchen Abend schickte man keinen Hund vor die Tür …

Danke, sie brauchte keine Gesellschaft. Nachher würde sie Ole anrufen. Aber erst mal das Gepäck ins Haus tragen. Sie hängte sich die Laptoptasche über die Schulter und hievte den Koffer aus dem Wagen. Die schicken Schnelllaufrollen halfen ihr jetzt gar nichts. Sie schlug den Kofferraumdeckel zu. Der Knall echote von irgendwo zurück. Für Sekunden hob sie den Kopf und lauschte in die Nacht.

Im Sommer musste es traumhaft sein. Aber für ihren Geschmack einfach zu einsam.

Sie schleppte die Sachen ins Haus. Schlug die Tür, die sie einen Spalt offen gelassen hatte, hinter sich zu. Schloss zweimal ab. Sie schaltete alle Lichter ein, in der Diele, im Wohnzimmer, in der Küche. Die Helligkeit floss durch die Zimmer. Romy atmete auf. Ein wirklich schönes Haus. Sie hatte schon halb verfallene Hütten gesittet, Wohnungen, in denen die Tapeten von den Wänden sackten und mit Koks geheizt wurde. Erleichtert schlüpfte sie aus den durchweichten Sneakers. Fußbodenheizung! Ihre nassen Socken hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Parkett.

Neugierig öffnete sie die Tür zum Bad. Herrlich, ein Badezimmer mit Fenster. Sie kämpfte kurz mit der Mechanik des Rollos. In der Scheibe spiegelte sich ihr eigenes Gesicht. Müde und abgekämpft von der langen Fahrt. Sie zupfte das fransige blonde Haar aus der Stirn. Ole fand es gut, dass sie sich getraut hatte und die schulterlangen Haare zu einem kurzen Bob hatte schneiden lassen. Lächelnd bewunderte sie die neue Frisur. Und da war noch etwas. Hinter ihr. Über der Schulter … wie eine Seifenblase sah das aus. Oder war es nur ein Lichtreflex? Einen Augenblick lang stand Romy starr da vor Schreck. Zögernd drehte sie sich um. Da war nichts.

Kopfschüttelnd löste sie sich aus ihrer Bewegungslosigkeit. Verdammt! Sie brauchte jetzt ein heißes Bad und einen Rotwein, sie hatte immer eine Flasche dabei, als Gesellschaft an langen einsamen Abenden. Außerdem noch ein paar Sandwiches und einen Brie. Und für das dringende Bedürfnis nach etwas Süßem eine Tüte Zimtsterne.

Das würde ein Fest! Der erste Advent vorgefeiert. Warum auch nicht.

Sie beschloss, erst das Gepäck hinunter in die Einliegerwohnung zu bringen. Mal sehen, wo sie schlafen würde.

Ihr Handy klingelte.

Der Klingelton verstummte in dem Moment, als Romy das Telefon aus der Laptoptasche fischte.

Ole!

Sie drückte auf »Rückruf«.

»Hallo Romy.« Seine Stimme klang gedämpft, als müsste er darauf achten, nicht belauscht zu werden.

»Ja, ich bin’s. Hi, Ole. Ich kam nicht schnell genug ans Handy.«

»Bist du noch unterwegs?« Sie hörte, wie sein Feuerzeug klickte.

»Gerade angekommen an meiner neuen …«

»Deiner neuen Stelle. Ich weiß«, spöttelte er.

»Ich vermisse dich.«

»Ich dich auch.« Nach einer kurzen Pause: »Ich habe viel zu tun. Wie immer.«

Korrigieren, Vorlesungen vorbereiten, Kinder zum Sport fahren. Immerhin hatte der Mann eine Stelle mit einem regelmäßigen Gehalt. Er war Professor, er war ganz oben angekommen. Lamentieren war in seiner Lage nicht glaubwürdig.

»Hör mal, Romy.« Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette. Blies den Rauch in den Hörer. »Ich habe nachgedacht. Wir sollten Schluss machen. Wir haben ohnehin keine Zukunft.«

Romy setzte sich auf den Boden. Unter ihr schwankte das Parkett.

Die Worte hallten in ihrem Kopf wie Schläge. Wie lange war es her, dass sie in Oles Armen aufgewacht war? Keine zwölf Stunden.

»Du solltest frei sein für eine Beziehung, die dir mehr bietet.«

»Ole, ich …«

Er sagte irgendwas. Fabrizierte eine kleine Ansprache. Vermutlich in Stichpunkten schriftlich vorbereitet. Worte, Silben, abgefeuert wie aus einem Maschinengewehr. Knatternd trafen sie Romys Herz.

Keine Zukunft. Frei sein. Ich, Ole, setze mein Ansehen und meine Familie nicht aufs Spiel. Nicht für dich. Für eine Affäre mit einer ehemaligen Studentin. Such dir doch einen anderen.

»Du musst das verstehen, Romy. Es fällt mir nicht leicht, ich hätte es dir lieber persönlich gesagt, nicht am Telefon. Schließlich hatten wir eine längere Beziehung.«

Romy würde es immer noch »Liebe« nennen.

»Es war auch immer sehr schön mit dir«, fügte er hinzu.

Ihr Mund war ganz trocken. Sie wollte etwas sagen, aber ihre papierne Zunge war außerstande, Laute zu produzieren.

»Romy? Bist du noch dran?«

Sie krächzte etwas, das wie »Ja« klang.

»Es hat nichts mit dir persönlich zu tun.«

Das glaubte sie unbesehen. Entscheidungen, die Professor Ole van Anthal traf, hatten stets nur mit ihm selbst zu tun.

»Das heißt, mit unseren Plänen für den Dezember wird es nichts werden«, fügte er hinzu, hörbar erleichtert, den komplizierten Part hinter sich gebracht zu haben.

»Nein.« Vielfach echote das Wort in ihrem Kopf.

»Du warst mir immer sehr viel wert, Romy.«

Hieß soviel wie: aber jetzt nicht mehr. Sorry, ist vorbei. Romys ganzer Körper verkrampfte sich. Sie holte tief Atem. Das tat weh, aber der Schmerz setzte Energie frei.

»Leb wohl, du verdammter Pharisäer!« Romy legte auf, schaltete das Handy aus. Stellte sich vor, wie Ole verdutzt sein Telefon betrachtete und es dann befreit weglegte. Problem gelöst. Geliebte abgestoßen.

Sie war nicht die einzige Geliebte gewesen. Aber die einzige Langzeitgeliebte. Soweit sie wusste. Sie blieb auf dem Parkett liegen, bis ihr kalt wurde und die Kopfschmerzen erneut Meldung machten.

Dann nahm sie ein Bad in Anne Wenzels Badewanne, aß die Sandwiches und ein gutes Stück von dem Brie und trank die Flasche Rotwein leer, ohne irgendetwas zu schmecken. Zimtsterne als Nachtisch. Auf dem Wohnzimmersofa schlief sie ein. Sie hatte die Rollos nicht heruntergelassen. Deswegen war es für die Person, die kräftig ausschreitend aus Richtung Dornstadt gekommen war, ein Leichtes, sich einen ersten Eindruck von der neuen Bewohnerin des flachen Hauses am Hang zu machen.

Samstag, 26. November

Am nächsten Morgen, als Romy aufwachte, lag eine papierdünne Schicht Schnee über Wiesen und Feldern. Das dem Rotwein gedankte selige Vergessen löste sich mit den ersten Sonnenstrahlen auf, die sich durch das Panoramafenster stahlen. Es war warm im Zimmer. Unwillig streifte Romy die Wolldecke ab, blickte an die Decke. Die Erinnerung sickerte langsam aber stetig in ihr Bewusstsein.

Anne Wenzels Haus. Das miese Wetter. Der Rotwein. Ole.

Ole!

Die Erinnerung an Oles Lebewohl traf sie wie ein Stromschlag. Romy schoss hoch. Sie hatte sich gleich an ihrem ersten Abend in einem neuen Haus so dermaßen die Kante gegeben, dass sich jetzt noch alles drehte. Schließlich stand Romy Westphal nicht gerade in dem Ruf, besonders viel zu vertragen. Was für ein Tag war heute? Samstag. Morgen war der erste Advent. Gut. Wann kam noch mal die Putzfrau? Dienstags. Okay. Memory reboot successful.

Ihr Hals fühlte sich rau an, die Zunge wie Leder. Romy räusperte sich und versuchte es mit einem kleinen Soundcheck. Die Stimme war heiser, aber funktionsfähig.

Tatsächlich war sie in ihren Jeans und dem dicken Winterpulli eingeschlafen. Auf dem Couchtisch standen die leere Flasche, ein Teller mit einem Sandwichrest, das Rotweinglas …

Ole. Hat. Schluss. Gemacht.

Später würde sie sagen: wie gut. Es hatte keinen Sinn mehr. Mit ihm und seinen familiären Verpflichtungen. Mit den Wochenenden in Hotels, von denen er die meisten Stunden in Konferenzen und bei Abendveranstaltungen mit wichtigen Leuten verbrachte, die seine Karriere fördern würden. Aber Tatsache war auch, dass sie, Romy, sonst niemanden hatte.

Zwar hatten sich Männer für sie interessiert, nicht allzu oft, aber es gab welche; stets hatte sie sich abweisend gegeben. Im Hintergrund waren ja immer Ole und die stille Hoffnung, er würde ihr den Vorzug vor seiner Familie geben. Wie blöd konnte man sein …

Nein, sie war ungerecht. Es hatte gute Zeiten gegeben. Damals in Sankt Gallen, auf der Tagung in der weltberühmten Stiftsbibliothek. Nachdem sie den ganzen Tag lang mittelalterliche Handschriften autopsiert hatten, war Ole später mit ihr in eine Bar gegangen, auf einen Swimming Pool. Das blaue Gesöff aus Wodka, Blu Curaçao, Ananassaft, Kokosmilch und Sahne war ihr Lieblingscocktail. Sie hatte keinen Schimmer mehr, wie viele von diesen süßen Drinks er ihr damals spendiert hatte. Nur mit ihr hatte er diesen Abend verbracht. Gescherzt, geflirtet. So hatte alles angefangen.

Romy stand auf und kippte das Fenster. Blauer Winterhimmel, nur zarte Federwolken am Horizont. Dornstadt lag glänzend in der Sonne, leicht von Schnee bestäubt. Fachwerkhäuser, rote Dächer, Gärten, drumrum Wiesen. Aus den Kaminen stiegen vereinzelt dünne, weiße Rauchsäulen auf. Richtung Süden folgte ihr Blick der Itz, die durch das weiß bezuckerte Tal mäanderte. Traumhaft. Der Kontrast zu Romys desolatem Zustand konnte nicht härter sein.

Ein Lachen rang sich aus ihrer Kehle, nackt und hässlich. »Endlich. Gut so!« Sie wusste es ja: Ole hatte sie immer nur als Spaß gesehen, als eine Frau, die jünger und straffer war als seine Gattin. Eine junge Geliebte, die ihm nicht auftrug, er solle das Waschbecken putzen oder die Tochter zum Basketball fahren und den Hund zum Tierarzt, die ihn stattdessen anhimmelte und ihm ansonsten keinen Stress machte. Zumindest in der Anfangszeit. Allmählich allerdings hatte Romy mehr Aufmerksamkeit und Verantwortung von Ole verlangt – was ihm wiederum auf den Wecker fiel. Sie schluchzte auf. Das Fiese an der Geschichte war: Mit Ole gab es für sie tatsächlich keine Zukunft. Sie wäre immer die Zweitfrau gewesen, und dass der Herr Professor bei Konferenzen und Auslandsdozenturen nichts anbrennen ließ, war auch bekannt. Sie hätte längst die Reißleine ziehen sollen. Nur seinetwegen machte sie den Haussitterjob: Sie hatte ihre Wohnung untervermietet, weil sie Ole sonst einfach zu oft über den Weg gelaufen wäre. Oder seiner Frau und seinen Kindern. Sie wohnten im gleichen Viertel. Da traf man sich beim Einkaufen, beim Zahnarzt im Wartezimmer. Das war auf Dauer kompliziert geworden – so zu tun, als wäre nichts, wo doch überall Augen sein konnten. Die der Dekanatssekretärin, des Hausmeisters, der Langzeitstudentin. Außerdem stellten die Häuser, die Romy hütete, ideale Treffpunkte dar, die Ole einmal, zweimal in Anspruch nahm, um dann nie wieder aufzukreuzen.

Romy ließ sich wieder auf das Sofa sinken. Freiwillig hatte sie sich heimatlos gemacht. Ihr soziales Leben verkümmern lassen. Hatte es versäumt, Freundschaften zu pflegen und selbst ihren geliebten Chor sausen lassen. Ihre früheren Sängerfreunde probten jetzt bestimmt für das Weihnachtsoratorium. Letztes Weihnachten hatte Romy noch mitgesungen. Sie saß da, während ihre Gefühle in ihr randalierten, und sah den Sonnenstrahlen zu, die sich aus dem Wohnzimmer in die Diele tasteten. Irgendwo knarrte etwas. Sie würde sich an die Geräusche des Hauses gewöhnen müssen. Aber jetzt noch nicht. In ihrer Handtasche fand sie die CD ihres Chores. Sie legte sie in Annes Stereoanlage ein und drückte auf »Play«.

Endlich kamen die Tränen. Sie flossen, bis die Chorstimmen das sanfte Moll von »Maria durch ein Dornwald ging« ausklingen ließen. Romy rutschte in einen unruhigen Schlaf.

*

Kaffee! Romy brauchte nicht lange, um die chromblitzende Maschine in der Küche in Betrieb zu setzen. Der erste Kaffee des Tages, zusammen mit ein paar Zimtsternen, brachte ihre Lebensgeister zurück. Sie würde nachher weiterheulen, aber jetzt galt es, das Haus zu erkunden und sich richtig einzurichten. Und dann zu schreiben.

Wobei …

Wenn sie es recht bedachte, konnte sie auch gleich die nächste heilige Kuh schlachten: ihre Dissertation. Es wurde Zeit, von der Uni Abschied zu nehmen und sich ins richtige Leben aufzumachen. Was, besser wer hatte sie denn dazu bewogen, sich mit einem furztrockenen Thema auseinanderzusetzen, das sich mit der deutschen Sprache im 17. Jahrhundert befasste und weniger als null Relevanz für die Wirklichkeit hatte? Ole, na klar. Die Sehnsucht, in seiner Nähe zu sein. Legitimiert durch die Wissenschaft.

Schon wieder kitzelten die Tränen. Romys Finger schlangen sich fester um den Kaffeebecher. Nicht heulen. Nicht jetzt.

Eine Tür quietschte. Von irgendwo zog es. Romy fröstelte. Entschlossen trank sie den Kaffee aus. Jetzt würde sie sich erst mal im Haus orientieren. Sie schloss das Wohnzimmerfenster und schleppte ihren Koffer die Treppe hinunter.

Vom unteren Treppenabsatz führten drei Türen weg. Die erste links war ein Bad. Kein Fenster. Schade. Romy zog die Tür gleich wieder zu. Die anderen beiden Räume waren Schlafzimmer. Beide hatten je ein Fenster. Der Ausblick war weniger sensationell als oben. Aber was hieß das schon! Immerhin war Dornstadt nichts weiter als ein Dorf in der fränkischen Pampa.

Romy entschied sich für das größere Zimmer. Sie durchforstete den Schrank nach Bettwäsche. Es gab eine reiche Auswahl an bunten Bezügen, außerdem Tennisrackets, Pingpongschläger und Bälle. Anne schien sportlich zu sein. Romy bezog ihr Bett. Packte ihre Kleider aus.

Oben knarzte das Parkett. Sie sah auf.

Tapp tapp tapp.

Unsinn. Sie konnte keine Schritte hören. Sie war alleine in diesem Haus. Die Putzfrau kam erst am Dienstag.

Spontan beschloss sie, fürs Erste das Bad oben zu benutzen. Sie brachte ihr Waschzeug hinauf und stellte den Kulturbeutel auf das Tischchen neben der Badewanne.

Das Wohnzimmer würde bis auf weiteres Romys Cockpit sein. Sie baute den Laptop auf dem Esstisch auf, schloss das Ladekabel an und fuhr den Rechner hoch. Kurze Zeit später hatte sie eine Verbindung zum Internet hergestellt und ihre Mails gecheckt. Das war Gewohnheit und tat gut.

Während sie am Tisch saß, schlich ein zarter Luftzug um ihre Füße. Trotz der Fußbodenheizung war ihr plötzlich kalt. Sie fuhr den Computer herunter. Es war Samstag, sie musste einkaufen. Zunächst würde sie den Kellerraum überprüfen, dessen Vorräte Anne Wenzel ihr so großzügig angeboten hatte.

Auf Socken lief Romy die Treppe hinunter. Tatsächlich gab es noch eine vierte Tür, versteckt hinter dem auslaufenden Schwanz der Wendeltreppe. Der Schlüssel steckte von außen. Romy öffnete. In dem Raum war es finster und roch muffig. Sie tastete nach einem Lichtschalter.

KLICK.

Eine funzelige Kellerleuchte flammte auf. Das vergitterte Kellerfenster stand halb offen. Vielleicht kam daher dieser beständige Luftzug! Romy wollte es schließen. Es klemmte. Sie drückte mit aller Kraft. Endlich. Ein Knarren in den Angeln, dann schlug es mit einem Knall zu. So heftig, dass die schmutzige Scheibe sprang.

»Verflixt!« Romy stöhnte. Schon musste sie sich um die erste Reparatur kümmern. Sie hatte Glück, das Glas hielt noch im Rahmen. Am Dienstag würde sie die Putzfrau um die Adresse eines Glasers in der Nähe bitten.

Sie drehte sich um. Drei Wände des Raumes waren mit Regalen zugestellt. Marmeladen- und Honiggläser standen da, eingemachtes Gemüse, Dosen mit Wurst und Fleisch, Heringen und Sardinen. Neben der Tür stapelten sich Getränkekästen. Limonade, Mineralwasser, Apfelsaft. Und dann war da noch das Weinregal. Durstig würde sie hier nicht bleiben.

Es klopfte.

Irgendwo oben.

Es musste doch eine Klingel geben. Klopften die Leute hier, statt zu klingeln?

Romy löschte das Licht, schloss die Tür. Blieb lauschend auf der untersten Stufe stehen.

Nocknocknock.

Energisch stieg sie nach oben. »Ich komme«, rief sie.

Sie ging zur Haustür und lugte durch den Spion. Da war niemand. Ihre Hand legte sich auf die Klinke. Nichts tat sich. Die Tür sprang nicht auf.

Romy stutzte. Hatte sie gestern abgeschlossen? Vermutlich. Wo war der Schlüsselbund?

Sie fand ihn im Wohnzimmer, flitzte zurück zur Haustür und sperrte auf. Draußen schepperte etwas. Als Romy die Tür aufriss, fegte ein eisiger Wind herein. Die Schneeschaufel lag quer über dem Treppenabsatz.

»Hallo?« Sie sah sich nach allen Seiten um.

Es war niemand zu sehen. In den Windböen duckten sich die Büsche an den Hang, peitschten die Äste der Bäume.

Schulterzuckend hob Romy die Schaufel auf und schloss die Tür.

Irgendwie war es ihr sogar so vorgekommen, als käme das Klopfen aus dem Arbeitszimmer. Der einzige Raum, den sie nicht betreten sollte. Skeptisch drückte sie die Klinke. Verschlossen. Außerdem war da doch noch eine weitere Tür, neben dem Bad. Romy probierte sie aus. Sie öffnete sich. Anne Wenzels Schlafzimmer.

Ein Kingsize-Bett. Bedeckt mit einer Patchworkdecke in Marineblau und Grau. Ein Schrank, eine Wäschekommode. Bücher stapelten sich auf dem Boden. Romy nahm das oberste in die Hand. »Recht gegen Gerechtigkeit«. Uff! Klar, Anne war Anwältin. Darunter ein dicker Band: »Antipasti für jeden Geschmack«. Romy legte das Buch zurück. Eine Postkarte fiel heraus. Romy hob sie auf. Von einem gewissen Jan, aus Irland. »Du fehlst mir!« Der kurze liebevolle Satz brachte ihr ihre eigene Misere wieder ins Gedächtnis. Dass Ole Schluss machen würde, darauf wäre sie im Leben nicht gekommen. Er hatte doch, was er wollte! Einen Job, eine Familie, einen Freundeskreis, während sie, Romy, in immer anderen fremden Häusern festsaß. Ole hingegen bekam jeden Tag Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ein bitterer Geschmack stieg ihr in den Mund. Sie liebte ihn doch …

Entschlossen ging Romy zur Tür. In diesem Zimmer schien ihr die Hauseigentümerin ungewöhnlich präsent. Romy machte, dass sie rauskam.

*

Zwei Stunden später schleppte Romy Vorräte für mehrere Tage und ein paar weihnachtliche Accessoires über die Treppe zum Haus. Sie schloss auf, stellte eine Tüte in den Türspalt und eilte zum Auto zurück. Die Dämmerung brach herein, obwohl es kaum später als drei Uhr war. Verdammter Winter, dachte Romy. Die Polarnacht würde noch lange andauern. Sie zog den Schal enger um den Hals und hievte den letzten Karton mit Obst aus dem Kofferraum.

Wolken rollten von Osten auf den Itzgrund zu. In Dornstadt gingen die Lichter an. Vereinzelt sah man mit Lichterketten behängte Weihnachtsbäume. Erste Sterne richteten sich am Himmel ein.