Vor ihren Augen sahen sie Gott - Zora Neale Hurston - E-Book

Vor ihren Augen sahen sie Gott E-Book

Zora Neale Hurston

4,8

Beschreibung

Florida 1928. In einer einzigen Nacht erzählt Janie ihrer besten Freundin Pheoby wie sie aufbrach, ein anderes Leben zu führen, den viel jüngeren Tea Cake traf, endlich das Glück fand, und was geschah, als der große Hurrikan kam … Von ihrer Reise kehrt Janie als ein neuer Mensch zurück - und mit ihr alle, die ihre Geschichte hören. Der Klassiker aus den USA, zum 120. Geburtstag der Autorin neu übersetzt, gehört zu den schönsten, traurigsten und herzergreifendsten Liebesgeschichten, die je geschrieben wurden.

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Band 7 der

Zora Neale Hurston

Vor ihren Augen sahen sie Gott

Roman

Ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Möhring

Neuausgabe 2011

© 2011 editionfünf

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing herausgegeben von Karen Nölle und Christine Gräbe

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Hans-Ulrich Möhring

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1937 unter dem Titel Their Eyes Were Watching God bei J. B. Lippincott Company, Philadelphia PA.

In deutscher Sprache erschien der Roman erstmals 1993 im Ammann Verlag unter dem Titel Und ihre Augen schauten Gott.

© 1937 J. B. Lippincott Company

© 1965 John C. Hurston und Joel Hurston

published by arrangement with HarperCollins Publishers, LLC.

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Hamburg

ISBN 978-3-942374-12-5eISBN 978-3942374-79-8

www.editionfuenf.de

Für Henry Allen Moe

1 Schiffe in der Ferne haben jedermanns Wunsch an Bord. Für manche treffen sie mit der Flut ein. Für andere fahren sie immer am Horizont dahin, nie außer Sicht, nie ein in den Hafen, bis der Ausschauer resigniert die Augen abwendet, da ihm an der kalten Schulter der Zeit die Träume gestorben sind. So ist das Männerleben.

Frauen hingegen vergessen alles, was sie nicht behalten wollen, und behalten alles, was sie nicht vergessen wollen. Der Traum ist die Wahrheit. Dann gehen sie hin und handeln danach.

Am Anfang hier war nun eine Frau, und heimgekehrt war sie vom Begraben der Toten. Nicht dahingesiecht und entschlafen waren diese Toten, Freunde zu Häupten und zu den Füßen. Sie war heimgekehrt von den aufgedunsenen Wasserleichen, überrumpelt vom Tod, die richtenden Augen weit aufgerissen.

Die Leute sahen sie alle kommen, denn es war Abend. Die Sonne war schon fortgegangen, doch sie hatte ihre Fußspur am Himmel hinterlassen. Es war die Zeit, wo man am Straßenrand auf der Veranda sitzt. Es war die Zeit, wo man zuhört und sich erzählt. Die da saßen waren den lieben langen Tag zungenlose, ohrenlose, augenlose Nutzgegenstände gewesen. Mulis und anderes Viehzeug hatten in ihren Bälgen gesteckt. Jetzt aber war die Sonne fort und der bossman mit, und die Bälge fühlten sich stark und als Menschen. Sie wurden stimmgewaltig wie sonst was. Sie ließen sich Völker im Mund zergehen. Sie hielten Gericht.

Wie sie die Frau so daherkommen sahen, stieß ihnen der ganze Neid wieder auf, den sie von ehedem angesammelt hatten. Und sie kauten es klein, was sie im Hinterkopf hatten, und schluckten es mit Genuss herunter. Aus Fragen wurden brennende Urteile und aus Lachern Mordwerkzeuge. Es war die reine Herdengrausamkeit. Wiedererwachter Groll. Herrenlos ziehende Worte, alle gestimmt auf die gleiche Tonart, wie in einem Lied.

»Was denkt die sich, hier in so Latzhosen anzukommen? Hat die kein Kleid, was sie anziehen kann? – Wo ist das blaue Seidenkleid hin, wo sie hier mit weg ist? – Und wo ist das ganze Geld von ihrem Mann hin, was sie geerbt hat, wie er gestorben ist? – Was denkt die sich, mit vierzig noch die Zotteln so lang wie’n junges Mädchen? – Wo hat sie den jungen Spund gelassen, mit dem sie hier abgezogen ist? – Wollte sie den nicht heiraten? – Wo hat der sie gelassen? – Was hat er mit ihrem ganzen Geld gemacht? – Wetten, der ist mit ’nem blutjungen Ding ab, dem noch nicht mal Haare wachsen. Was bleibt sie auch nicht in ihrer Klasse? –«

Als sie auf ihre Höhe kam, wandte sie sich den versammelten Lästerzungen zu und grüßte. Alle haspelten laut »good evenin’« und ließen die Münder aufgesperrt und die Ohren erwartungsvoll gespitzt. Ihr Gruß war ja so weit ganz freundlich, doch sie ging einfach schnurstracks weiter zu ihrer Gartentür. Die ganze Veranda war sprachlos vor Gaffen.

Die Männer nahmen ihre drallen Pobacken wahr, wie als hätte sie Pampelmusen in den Gesäßtaschen; die prächtige schwarze Mähne, taillenlang, die sich im Wind plusterte wie ein Federbusch; auch ihre streitbar strotzenden Brüste, die ihr Löcher ins Hemd bohren wollten. Sie, die Männer, ergänzten in der Phantasie, was dem Auge entging. Die Frauen hielten sich an das verschossene Hemd und die schmutzigen Latzhosen und legten beides zur Erinnerung ab. Damit hatten sie etwas gegen sie in der Hand, und selbst wenn sie ihr damit letztlich nichts anhaben konnten, nährte es doch die Hoffnung, dass auch sie eines Tages auf das Maß der andern gestutzt wurde.

Aber niemand rührte sich, niemand sagte etwas, niemand schluckte auch nur die Spucke runter, bis die Gartentür hinter ihr zuknallte.

Pearl Stone machte den Mund auf und lachte lauthals, weil ihr nichts anderes einfiel. Vor Lachen hängte sie sich Mrs Sumpkins an den Hals. Mrs Sumpkins schnaubte nachdrücklich und schnalzte mit der Zunge.

»Mmh! Ihr lasst euch alle von der kirre machen. Das kann mir nicht passieren. An die verschwend ich doch gar keinen Gedanken – Ah ain’t got her to study ’bout. Wenn die nicht so viel Manieren hat, dass sie anhält und sagt einem, was sie getrieben hat die ganze Zeit, dann lasst sie doch!«

»Lohnt nicht, wegen der ein Wort zu verlieren«, meinte Lulu Moss naserümpfend. »Sie tut wie hoch oben, aber sieht aus wie ganz unten. Das ist meine Meinung über so alte Weiber, die jungen Burschen nachlaufen.«

Pheoby Watson rutschte mit dem Schaukelstuhl vor, ehe sie was sagte. »Also, das kann doch gar niemand wissen, ob’s da was zu erzählen gibt oder nicht. Ich bin ihre beste Freundin, und nicht mal ich weiß was.«

»Kann ja sein, dass wir nicht so den Einblick haben wie du, aber wie sie von hier weg ist, das wissen wir alle, und wiederkommen haben wir sie ja nun auch sehen. Da musst du gar nicht erst versuchen, ’nem alten Weib wie Janie Starks ein Mäntelchen umzuhängen, Pheoby, Freundin hin oder her.«

»Erst mal ist sie nicht so alt wie manche von euch, die ihr hier groß daherredet.«

»Soviel ich weiß, ist sie weit über vierzig, Pheoby.«

»Grade mal vierzig, wenn’s hochkommt.«

»Sie ist viel zu alt für ’n Jungen wie Tea Cake.«

»Tea Cake ist schon lange kein Junge mehr. Der muss selber um die dreißig sein.«

»Ist mir egal wieso, sie hätte anhalten und ein paar Worte mit uns reden können. Die tut so, als hätten wir ihr was getan«, beschwerte sich Pearl Stone. »Dabei ist es umgekehrt: She de one been doin’ wrong.«

»Du ärgerst dich doch bloß, dass sie nicht angehalten ist und hat uns gleich ihr Herz ausgeschüttet. Überhaupt, was hat sie denn so Schlimmes verbrochen, wie ihr alle tut? Das Schlimmste, was ich wüsste, ist, dass sie sich ein paar Jährchen jünger gemacht hat, und das hat noch nie jemand wehgetan. Ehrlich, ihr geht mir auf den Geist. Wenn man euch so reden hört, könnte man meinen, die Leute hier im Ort würden nichts als den Herrgott loben, wenn sie ins Bett gehen. So, und jetzt müsst ihr mich entschuldigen, weil ich ihr nämlich was zu essen bringen will.« Pheoby erhob sich brüsk.

»Lass dich von uns nicht aufhalten«, griente Lulu. »Geh nur zu, wir sehen hier so lange nach dem Rechten. Mein Abendessen ist fertig. Geh du mal kucken, wie’s ihr geht. Dann kannst du es uns ja erzählen.«

»Mein Gott«, schloss sich Pearl an, »ich hab mein bisschen Fleisch und Brot ’ne halbe Ewigkeit brutzeln lassen. Ich kann wegbleiben, solange ich will. Mein Mann ist da nicht kleinlich.«

»Öh, sag mal, Pheoby, wenn du so weit bist, kann ich gern mit dir rübergehen«, erbot sich Mrs Sumpkins. »Es wird schon ziemlich gruselduster, da geht bald der Nachtschreck um. De booger man might ketch yuh.«

»Muss nicht sein, danke. Auf den paar Schritten holt mich gar nichts. Sowieso sagt mein Mann immer, was ein richtiger booger ist, der will mich eh nicht haben. Wenn sie euch irgendwas zu sagen hat, werdet ihr’s zu hören kriegen.«

Mit einer abgedeckten Schüssel in den Händen eilte Pheoby davon. Von der Veranda hagelten ihr unausgesprochene Fragen in den Rücken. Hoffentlich waren die Antworten finster und schrecklich, dachten alle. Am Haus angekommen, ging Pheoby Watson nicht vorn den Palmenweg durch den Garten zur Haustür. Sie bog ums Zauneck und trat mit ihrem randvollen Teller mulatto rice durch das private Pförtchen. Janie musste dort hinten sein.

Sie saß wie erwartet auf den Stufen am Hintereingang, wo sie schon die Lampen frisch gefüllt und die Zuggläser alle geputzt hatte.

»Hallo, Janie, wie geht’s, wie steht’s?«

»Och, ganz gut, ich weich mir grade die Füße ein, gegen die Müdigkeit und den Dreck.« Sie lachte kurz auf.

»Ja, das seh ich. Mädel, du siehst richtig gut aus. Du siehst aus wie deine eigene Tochter.« Sie lachten beide. »Du kannst dich sehen lassen als Frau, selbst mit den Latzhosen an.«

»Nun mach aber halblang! Du denkst wohl, ich hätte dir was mitgebracht. Dabei hab ich nichts weiter mitgebracht als grade mal mich selbst.«

»Das ist ’ne ganze Menge. Deine Freunde würden gar nicht mehr wollen.«

»Von dir lass ich mir so Schmeicheleien gefallen, Pheoby, weil ich weiß, dass es von Herzen kommt.« Janie streckte die Hand aus. »Good Lawd, Pheoby! Willst du denn gar nicht mit dem Häppchen rausrücken, das du mir mitgebracht hast? Das Einzige, was mein Bauch heute bekommen hat, war die Hand außen drauf.« Sie lachten beide fröhlich. »Gib her und setz dich.«

»Wusst ich doch, dass du Hunger hast. Im Dunkeln noch Holz für den Herd sammeln ist kein Vergnügen. Mein Mulattenreis ist diesmal nicht so besonders geworden. Nicht genug Schmalz, aber gegen den Hunger wird er’s tun.«

»Das werden wir gleich sehen«, sagte Janie und lüftete den Deckel. »Mensch, lecker! Den Kochlöffel schwingst du so famos wie deinen Hintern.«

»Aach, das ist doch nichts Dolles, Janie. Aber morgen, verlass dich drauf, werd ich was richtig Leckeres machen, weil du wieder da bist.«

Janie langte tüchtig zu und sagte nichts. Der bunte Wolkenstaub, den die Sonne am Himmel aufgewirbelt hatte, legte sich nach und nach.

»Da hast du deinen Teller wieder, Pheoby. Für leeres Geschirr hab ich keine Verwendung. Aber was zu futtern, das kam grade recht.«

»Du verrücktes Huhn, du.« Pheoby lachte über die schnodderige Art ihrer Freundin. »Youse just as crazy as you ever was.«

»Gib mir doch den Lumpen da am Stuhl neben dir, honey. Ich will mir mal eben die Füße schrubben.« Sie nahm den Waschlappen und rubbelte kräftig. Von der großen Straße schallte Gelächter herüber.

»Na, das allmächtige Maul lästert ewiglich, wie es klingt. Und ich hab den Verdacht, im Moment werde ich durchgekaut.«

»Das darfst du annehmen. Wenn du an Leuten vorbeigehst und redest nicht mit ihnen, wie’s ihnen recht wär, dann hecheln die dein ganzes Leben durch und nehmen sich alles vor, was du je gemacht hast. Die wissen mehr über dich, wie du selber weißt. Neidisch Herz macht tückisch Ohr. Die haben dann genau die Sachen über dich ›gehört‹, die sie gern gehört hätten.«

»Wenn Gott sich nicht mehr um die schert wie ich, dann sind sie so verloren wie ’ne Nadel im Heuhaufen.«

»Ich hör, was sie reden, weil sie sich immer auf meiner Veranda zusammenrotten, weil die an der Straße liegt. Mein Mann kriegt sie manchmal so was von über, dass er sie alle nach Hause scheucht.«

»Da hat Sam ganz recht. Die sitzen bloß eure Stühle durch.«

»Eben. Sam sagt, die meisten von denen gehen bloß in die Kirche, damit sie am Jüngsten Tag auch todsicher auferstehen. Da werden ja jedem seine ganzen Geheimnisse aufgedeckt, sagt man. Das wollen sie sich um keinen Preis entgehen lassen.«

»Sam hat’n Knall! Wenn der loslegt, muss man sich immer kringelig lachen.«

»Nn-hn. Er sagt, er will zusehen, dass er auch hinkommt, damit er rauskriegt, wer ihm seine Maiskolbenpfeife geklaut hat.«

»Pheoby, dein Sam kann’s einfach nicht lassen! So ein Knallkopf!«

»Die meisten von diesen Senfnegern sind so was von aus dem Häuschen wegen dir, die werden noch das Jüngste Gericht stürmen vor lauter Neugier, wenn sie nicht bald was erfahren. Mach lieber dalli und erzähl ihnen, was nun mit der Heirat von dir und Tea Cake ist und ob er dir dein ganzes Geld abgeluchst hat und mit ’ner Jungen ab ist und wo er jetzt steckt und wo deine ganzen Sachen geblieben sind, dass du hier in Latzhosen ankommen musst.«

»Ich denk gar nicht dran, denen irgendwas zu erzählen, Pheoby. Da ist jedes Wort zu viel. Von mir aus kannst du ihnen weitersagen, was ich dir erzähle. Das ist genauso wie von mir selbst, da spricht dann meine Zunge aus dem Mund meiner Freundin.«

»Wenn du das möchtest, dann sag ich ihnen halt, was du sagst, dass ich ihnen sagen soll.«

»Nur vorweg: so Leute wie die verplempern viel zu viel Zeit damit, sich über Sachen das Maul zu zerreißen, wo sie keine Ahnung von haben. Jetzt müssen sie unbedingt dahinterkommen, wie ich Tea Cake geliebt hab und ob das alles rechtens zugegangen ist oder nicht. Dabei wissen sie nicht mal, ob das Leben mehr ist als ein Teller Maisklöße und die Liebe mehr als ’ne warme Bettdecke.«

»So lange, wie sie was haben, was sie bekakeln können, ist es ihnen ganz egal, um wen es geht und was Sache ist, vor allem wenn sie es schlechtmachen können.«

»Wenn sie wirklich was wissen wollen, warum kommen sie dann nicht offen her und wir herzen und küssen uns? Dann könnte ich mich hinsetzen und ihnen allerlei erzählen. Ich bin vom Schicksal zum großen Kongress des Lebens geschickt worden. Yessuh! In der Großloge, der Vollversammlung von allem, was lebt, da war ich die anderthalb Jahre, wo ihr mich nicht gesehen habt.«

Dicht beieinander saßen sie da in der frischen jungen Dunkelheit. Pheoby begierig, durch Janie mitzufühlen und mitzutun, aber sehr besorgt, ihre Gespanntheit nicht zu verraten, damit die bloß nicht für blanke Neugier gehalten wurde. Janie erfüllt vom ältesten menschlichen Bedürfnis überhaupt: sich mitzuteilen. Pheoby hielt lange die Zunge im Zaum, doch ihre Füße konnte sie einfach nicht ruhig halten. Da ergriff Janie das Wort.

»Die müssen sich wegen mir und meinen Latzhosen keine grauen Haare wachsen lassen, solange ich noch neunhundert Dollar auf der Bank habe. Ich hab sie wegen Tea Cake angezogen – als ich mit arbeiten gegangen bin. Tea Cake hat kein Geld von mir verprasst, und er hat mich auch nicht wegen ’ner Jungen sitzenlassen. Er war mein Ein und Alles auf der Welt. Das würde er ihnen auch selber sagen, wenn er hier wäre. Wenn er nicht abgetreten wäre.«

Pheoby platzte beinahe vor Ungeduld. »Abgetreten?«

»Ja, Pheoby, Tea Cake ist abgetreten. Und ganz allein deshalb bin ich wieder hier – weil es nichts mehr gibt, was mich glücklich macht, da wo ich war. In den Everglades unten, auf der Marsch – down on the muck.«

»Ich versteh nicht ganz, was du sagen willst, so wie du’s erzählst. Aber ich bin manchmal auch ein bisschen schwer von Kapee.«

»Nein, es ist anders, als wie du vielleicht denkst. Darum hat es gar keinen Taug, dass ich dir irgendwas erzähle, wenn ich dir nicht das ganze Drum und Dran mit dazu liefere. Ohne den Pelz hat der Nerz auch keine andere Haut wie der Waschbär. Sag mal, Pheoby, wartet Sam auf dich wegen seinem Essen?«

»Das steht längst für ihn bereit. Wenn er nicht so schlau ist, es sich zu nehmen, hat er Pech gehabt.«

»Na schön, dann können wir einfach sitzen bleiben, wo wir sind, und reden. Ich hab im Haus alles aufgerissen, damit es mal richtig durchzieht.

Pheoby, wir sind seit zwanzig Jahren Herzensfreundinnen, deshalb verlass ich mich auf deinen guten Geist. Das ist meine Einstellung, wenn ich mit dir rede.«

Die Zeit macht alles alt, und so wurde, während Janie erzählte, aus der küssenden jungen Dunkelheit eine monstropolöse Alte.

2 Janie sah ihr Leben wie einen großen Baum, an dem alles Erlittene und Genossene, alles Geglückte und Missglückte grünte. Aufgang und Untergang hing in den Zweigen.

»Ich weiß genau, was ich dir erzählen will, aber wo anfangen, das ist die Schwierigkeit.

Meinen Papa hab ich nie gesehen. Und wenn, wusst ich nicht, dass er’s war. Meine Mama auch nicht. Sie war längst auf und davon, ehe ich groß genug war, um was mitzukriegen. Aufgewachsen bin ich bei meiner Oma. Bei ihr und der weißen Familie, wo sie gearbeitet hat. Sie hatte ein Haus hintenraus im Garten, und da bin ich zur Welt gekommen. Feine Leute waren das, diese weiße Familie da oben in Westflorida. Washburn haben sie geheißen. Die Frau hatte vier Enkelkinder im Haus und alle haben wir zusammen gespielt, und darum hab ich zu meiner Oma nie was anderes gesagt als Nanny, weil sie nach den Kindern gekuckt hat und weil darum alle so zu ihr gesagt haben. Wenn Nanny uns beim Unfugmachen erwischt hat, hat sie uns Gören allesamt tüchtig verdroschen, und Mis’ Washburn hat’s genauso gemacht. Ah reckon dey never hit us a lick amiss – die Dresche werden wir verdient haben, denn die drei Jungs und wir zwei Mädels, wir waren bestimmt ’ne ziemliche Landplage.

Ich war so viel mit den weißen Kindern zusammen, dass ich erst mit ungefähr sechs überhaupt gemerkt hab, dass ich selber gar nicht weiß bin. Und da hätte ich auch nichts gemerkt, wenn nicht dieser Mann gekommen wäre, der Fotos gemacht hat, und Shelby, das war der älteste Junge, hat ihm ohne zu fragen gesagt, er soll eins von uns machen. Eine Woche später so hat der Mann Mis’ Washburn das Foto gebracht und Geld dafür haben wollen, und das hat er dann auch bekommen und wir eine ordentliche Tracht Prügel.

Und wie wir uns dann das Bild ansehen und auf jeden wird mit dem Finger gezeigt, da ist am Ende bloß noch ein ganz dunkles kleines Mädchen mit langen Haaren neben Eleanor übrig. Eigentlich hätte ich da stehen müssen, aber dass ich das sein soll, das dunkle Kind da, das hab ich nicht erkannt. Da hab ich gefragt: ›Wo bin ich denn? Ich seh mich gar nicht.‹

Alle haben gelacht, sogar Mister Washburn. Miss Nellie, die Mutter von den Kindern, die wieder heim ist, als ihr Mann gestorben war, die hat auf das kleine Dunkle gezeigt und gesagt: ›Das bist du, Alphabet, kennst du dich selber nicht?‹

So haben mich alle genannt, Alphabet, weil so viele Leute mir schon ganz verschiedene Namen gegeben hatten. Ich hab das Bild lange angeschaut und gesehen, dass es mein Kleid war und meine Haare, und da hab ich gesagt:

›Aw, aw! Ah’m colored!‹

Weil ich doch nicht wusste, dass ich farbig war. Da haben sich alle kaputtgelacht. Aber bis ich das Bild gesehen hatte, dachte ich, ich wär so wie alle andern.

Wir hatten ein lustiges Leben dort, bis die Kinder in der Schule anfingen, mich zu hänseln, weil wir hintenraus bei den Weißen wohnten – in de white folks’ back-yard. Ein so’n Mädchen mit filzigen Haaren, Mayrella hieß sie, hat sich jedes Mal aufgespielt, wenn sie mich gesehen hat. Mis’ Washburn hat mir immer die ganzen Sachen vermacht, die ihre Enkelkinder nicht mehr gebrauchen konnten, was immer noch besser war, wie was die andern farbigen Kinder hatten. Und sie hat mir Schleifen ins Haar gebunden und die hab ich dann tragen dürfen. Das hat Mayrella mächtig gefuchst, und sie hat ständig auf mir rumgehackt und auch von den andern welche gegen mich aufgehetzt. Die haben mich dann beim Ringelreihen immer weggeschubst und angegeben, sie könnten mit niemand spielen, der so wo wohnen würde. Und sie haben gesagt, ich soll mir bloß nichts drauf einbilden, wie ich rausgeputzt wäre, denn ihre Mama hätte ihnen das mit meinem Papa erzählt, wie ihn die ganze Nacht die Hunde gejagt hätten. Wie Mr Washburn und der Sheriff die Bluthunde auf meinen Papa gehetzt hätten wegen dem, was er mit meiner Mama gemacht hat. Wie er später versucht hat, an meine Mama irgendwie ranzukommen, weil er sie heiraten wollte, davon haben sie nichts gesagt. Kein Wort haben sie davon gesagt, gar nichts. Es sollte sich bloß richtig scheußlich anhören, weil sie mir die Flügel stutzen wollten. Nicht einer von denen wusste überhaupt noch, wie er hieß, aber das mit den Bluthunden, das konnten sie alle singen. Nanny hat das gar nicht sehen mögen, wenn ich so den Kopf hängen ließ, deswegen hat sie sich gedacht, es wäre besser für mich, wenn wir ein eigenes Haus hätten. Sie hat den Grund besorgt und so weiter, und dann hat Mis’ Washburn noch mit allem Möglichen massig geholfen.«

Pheobys gespannte Aufmerksamkeit half Janie, ihre Geschichte zu erzählen, und sie ließ die Gedanken weiter in ihre Jugend zurückschweifen und schilderte sie ihrer Freundin in leisen, schlichten Sätzen, während rings um das Haus die Nacht Fleisch und Schwärze zulegte.

Nach etwas Überlegen wollte ihr scheinen, dass ihr bewusstes Leben an Nannys Gartentür begonnen hatte. Eines Nachmittags spät hatte Nanny sie ins Haus gerufen, weil sie beobachtet hatte, wie Janie sich von Johnny Taylor über den Türpfosten hinweg küssen ließ.

Es war an einem Frühlingsnachmittag in Westflorida. Janie hatte den größten Teil des Tages im Garten unter einem blühenden Birnbaum verbracht. In den letzten drei Tagen hatte sie jede Minute, die sie von ihren Pflichten abknapsen konnte, unter diesem Baum verbracht. Das heißt, seit die erste winzige Blüte aufgegangen war. Er hatte sie gerufen, zu kommen und ein Wunder zu schauen. Von kahlen braunen Zweigen zu glänzenden Blattknospen; von den Blattknospen zu schneeweißer Blütenjungfernpracht. Es wühlte sie ungeheuer auf. Wie? Warum? Es war wie ein Flötenlied aus einem anderen Leben, vergessen und plötzlich wieder erinnert. Was? Wie? Warum? Das Singen, das sie hörte, hatte nichts mit den Ohren zu tun. Die Rose der Welt atmete Duft aus. Es verfolgte sie in jedem wachen Moment und liebkoste sie im Schlaf. Es verband sich mit andern dunkel gefühlten Dingen, die durch die äußere Wahrnehmung eingedrungen waren und sich ihr ins Fleisch gegraben hatten. Jetzt stiegen sie auf und rührten an ihr Bewusstsein.

Sie lag lang auf dem Rücken unter dem Birnbaum und saugte den Altgesang der anfliegenden Bienen, das Gold der Sonne und das Hecheln der Brise in sich auf, als auf einmal die unhörbare Stimme des Ganzen sie ansprach. Sie sah eine pollenbeladene Biene in das Allerheiligste einer Blüte eintauchen, sah die tausend Schwesterkelche sich der Liebesvereinung entgegenspannen, sah den in jeder Blüte saftenden und vor Lust schäumenden Baum von der Wurzel bis ins winzigste Zweiglein ekstatisch erschauern. Das also hieß heiraten! Freien und sich freien lassen! Sie war geladen worden, eine Offenbarung zu schauen. Da verspürte Janie reuelos süß einen Schmerz, vor dem sie butterweich zerschmolz.

Nach einer Weile erhob sie sich von ihrem Liegeplatz und ging den ganzen kleinen Garten ab. Sie suchte nach Bestätigung der Stimme und des Gesichts, und überall sah und erkannte sie Antworten. Alle andern Schöpfungen außer ihr bekamen ihre ureigene Antwort. Sie fühlte, wie eine Antwort sie suchte, aber wo? Wann? Wie? Sie gelangte an die Küchentür, trat taumelnd ein. Im Zimmer schwirrten und surrten Fliegen durch die Luft, freiten und ließen sich freien. Als sie in den schmalen Flur kam, erinnerte sie sich, dass ihre Großmutter mit Kopfweh und Übelkeit im Haus war. Sie lag auf dem Bett und schlief, und so schlich Janie wieder zur Haustür hinaus. Oh, ein Birnbaum sein – irgendein Baum in Blüte! Mit küssenden Bienen, die von der Entstehung der Welt sangen! Sie war sechzehn. Sie hatte schimmernde Blätter und platzende Knospen und sie wollte das Leben zu fassen bekommen, doch es schien einen Bogen um sie zu machen. Wo waren ihre singenden Bienen? Nichts auf dem Grundstück und nichts in Omas Haus gab ihr Antwort. Auf der obersten Treppenstufe ließ sie ihren forschenden Blick so weit wie möglich über die Welt schweifen, dann ging sie zur Gartentür und lehnte sich darüber, schaute links und rechts die Straße hinunter. Schaute und wartete, kurzatmig, ungeduldig. Wartete drauf, dass die Welt entstand.

Durch die pollenschwere Luft sah sie ein strahlendes Wesen die Straße langkommen. In ihrer früheren Blindheit hatte sie in ihm den schlaksigen Bummelanten Johnny Taylor gesehen. Das war, bevor der goldene Blütenstaub seine Lumpen und ihre Augen beglänzt hatte.

In der letzten Phase ihres Schlafs träumte Nanny von Stimmen. Fern, aber anhaltend die Stimmen, und mählich näher kommend. Janies Stimme. Fetzen eines flüsternden Zwiegesprächs mit einer männlichen Stimme, die sie nicht recht zuordnen konnte. Im Nu war sie hellwach. Sie fuhr kerzengrade hoch und spähte aus dem Fenster und sah, wie Johnny Taylor sich mit einem Kuss an ihrer Janie verging.

»Janie!«

In der Stimme der alten Frau lag so wenig Schärfe und Tadel und so viel Gebrochenheit, dass Janie halb glaubte, Nanny hätte sie nicht gesehen. Sie streckte sich aus ihrem Traum hinaus und ging ins Haus hinein. Das war das Ende ihrer Kindheit.

Nannys Kopf und Gesicht sah aus wie der Wurzelstock eines alten Baumes, den ein Sturm aus dem Boden gerissen hatte. Grundstock uralter Macht, die nichts mehr vermochte. Die kühlenden Christuspalmblätter, die Janie ihrer Oma mit einem weißen Stoffstreifen um den Kopf gewickelt hatte, hatten sich gelöst und hingen welk herab, wie mit der Frau verwachsen. Ihre Augen blickten nicht scharf und stechend. Vor ihnen verwuschen und verschmolzen Janie, das Zimmer und die Welt in eine einzige Erkenntnis.

»Janie, du bist eine Frau jetzt, darum –«

»Naw, Nanny, naw Ah ain’t no real ’oman yet.«

Nein, sie war noch keine richtige Frau, nein. Der Gedanke war Janie zu neu und zu schwer. Sie stieß ihn von sich.

Nanny schloss die Augen und nickte viele Male ein langsames, müdes Doch, bevor sie es in Worte fasste.

»Doch, Janie, an dir ist alles dran, was zu ’ner Frau gehört. Da will ich dir auch endlich sagen, was ich schon ’ne ganze Weile mit mir rumtrage. Ich will, dass du auf der Stelle heiratest.«

»Ich, heiraten? Nein, Nanny, bloß nicht, ma’am! Was soll ich mit ’nem Mann anfangen?«

»Was ich grad eben gesehen hab, reicht mir völlig, honey, ich will nicht, dass so ein lumpiger Nigger, so ’ne halbe Portion wie Johnny Taylor sich an deinem Körper die Füße abtritt.«

Auf einmal sah Janies Kuss am Türpfosten wie ein Misthaufen nach dem Regen aus.

»Sieh mich an, Janie. Lass nicht so bockig den Kopf hängen. Sieh deine alte Oma an!« Ihre Stimme verhakte sich an den Spitzen ihrer Gefühle. »Es macht mir keinen Spaß, so mit dir zu reden. Wie oft hab ich meinen Schöpfer auf den Knien angefleht – er soll bitte, bitte die Last nicht zu schwer machen, die er mir aufpackt.«

»Nanny, ich hab doch bloß … ich hab mir nichts Böses dabei gedacht.«

»Und genau das macht mir Angst. Du denkst dir nichts Böses. Du merkst es nicht mal, wenn wo was Böses dran ist. Ich bin alt. Ich kann dich nicht immerzu vor allem Bösen und Gefährlichen bewahren. Ah wants to see you married right away.«

»Wen soll ich denn heiraten, so hopplahopp? Ich kenn doch gar niemand.«

»Der Herrgott wird’s geben. Er weiß, ich hab die Last getragen in der Hitze des Tags. Schon vor längerem hat mich jemand angesprochen wegen dir. Ich hab nichts dazu gesagt, weil ich was anderes mit dir im Sinn hatte. Ich wollte, dass du die Schule fertig machst und dir dann ’ne süßere Beere pflückst von höher oben. Aber du willst das gar nicht, das sehe ich jetzt.«

»Nanny, wer … wer war das, der wegen mir gefragt hat?«

»Brother Logan Killicks. Ein guter Mann, das muss man sagen.«

»Naw, Nanny, no ma’am! War das deswegen, dass er sich hier immer rumgedrückt hat? Der sieht aus wie so’n oller Totenkopf auf dem Friedhof.«

Die alte Frau setzte sich kerzengrade hin, stellte die Füße fest auf den Boden und wischte sich die Blätter aus dem Gesicht.

»Ach, du willst dich also nicht anständig verheiraten, was? Du willst bloß poussieren und knutschen und erst mit dem einen rummachen und dann mit dem andern, hn? Du willst mir noch mal denselben Kummer zu löffeln geben, wie’s deine Mama gemacht hat, ja? Mein alter Kopf ist dir noch nicht grau genug. Mein Buckel ist noch nicht krumm genug für deinen Geschmack!«

Die Vorstellung von Logan Killicks entweihte den Birnbaum, aber Janie wusste nicht, wie sie Nanny das sagen sollte. Sie krümmte sich bloß zusammen und schmollte den Fußboden an.

»Janie.«

»Yes, ma’am.«

»Gib Antwort, wenn ich mit dir rede! Sitz nicht so da und schmoll mich an, nach allem, was ich für dich durchgemacht hab!«

Sie gab dem Mädchen eine kräftige Ohrfeige und riss ihr den Kopf zurück, so dass ihre Blicke sich kreuzten wie Klingen. Die Hand zum zweiten Schlag erhoben sah sie die große Träne, die aus Janies Herz emporquoll und in beiden Augen stand. Sie sah den schrecklichen Schmerz, sah die zusammengepressten Lippen den Schrei zurückhalten, und sie ließ ab. Sie stand bloß da, strich Janie das schwere Haar aus dem Gesicht und litt und liebte und weinte innerlich um sie beide.

»Komm zu deiner Oma, honey. Setz dich auf ihren Schoß, wie du’s früher immer gemacht hast. Deine Nanny würde dir doch kein Härchen krümmen. Und wenn sie’s verhindern kann, soll das auch sonst keiner tun. Schätzchen, nach meiner ganzen Erfahrung ist der weiße Mann der Herr über alles. Vielleicht gibt’s irgendwo weit draußen im Ozean ein Fleckchen, wo der schwarze Mann die Macht hat, aber wir können nur das kennen, was wir sehen, sonst nichts. Darum ist es so, dass der weiße Mann den Bettel hinschmeißt und sagt dem Niggermann, er soll ihn aufheben. Der hebt ihn auf, weil er muss, aber tragen tut er ihn nicht. Er lädt ihn seinem Weibervolk auf. Nach meiner Erfahrung ist die Niggerfrau der Muli der Welt – de nigger woman is de mule uh de world. Und ich hab so gebetet, dass es bei dir mal anders kommt. Lawd, Lawd, Lawd!«

Lange schaukelte sie hin und her, das Mädchen fest an die eingefallene Brust gedrückt. Janies lange Beine baumelten über eine Stuhllehne und auf der andern Seite hingen ihr lang die Zöpfe herunter. Nanny sang halb, halb schluchzte sie eine Gebetsleier über den Kopf des weinenden Mädchens hinweg.

»Lawd have mercy! Lang hat’s gedauert, aber irgendwann hat es wohl kommen müssen. O Jesus! Mach du, Jesus! Ich hab getan, was ich konnte.«

Schließlich beruhigten sich beide.

»Janie, wie lange lässt du dich schon von Johnny Taylor küssen?«

»Nur das eine Mal, Nanny. Ich lieb ihn kein bisschen. Gekommen ist das bloß, weil ich – ach, ich weiß es nicht.«

»Thank yuh, Massa Jesus.«

»Ich will’s auch bestimmt nicht wieder tun, Nanny. Bitte sag, dass ich Mr Killicks nicht heiraten muss.«

»Von mir aus müsste es nicht Logan Killicks sein, baby, aber einer, der dich beschützt, das muss sein. Es ist ja nicht so, dass ich alt werde, Schätzchen. Ich bin alt. Der Tag kommt, und er kommt bald, da wird der Engel mit dem Schwert hier vor der Tür stehen. Tag und Stunde ist mir verborgen, aber lang ist es nicht mehr hin. Wenn ich dich als Kind auf dem Arm hatte, hab ich zum Herrn gebetet, dass er mich am Leben lässt, bis du erwachsen bist, und er hat mich den Tag erleben lassen. Jetzt ist mein täglich Gebet, dass er diese goldenen Stunden noch um ein paar Tage verlängert, bis ich dich sicher an den Mann gebracht hab.«

»Lass mich noch warten, Nanny, bitte, bloß noch ein klein wenig.«

»Du darfst nicht denken, ich hätte kein Herz für dich, Janie. Das hab ich doch. Ich könnte dich nicht mehr lieben, und wenn ich dich selbst unter Schmerzen geboren hätte. Ich sag dir eins, ich lieb dich ein ganzes Ende mehr als deine Mama, und die hab ich geboren. Aber du darfst nicht vergessen, dass du kein gewöhnliches Kind bist wie die meisten andern. Du hast keinen Papa und ’ne Mama im Grunde auch nicht, jedenfalls keine, von der du was hast. Du hast gar niemand außer mir, und mein Kopf ist alt und neigt sich zum Grab. Und allein auf eigenen Füßen stehen kannst du auch noch nicht. Dass du rumgeschubst und ausgenutzt wirst, der Gedanke tut mir zu weh. Mit jeder Träne, die du weinst, wird meinem Herzen ein Becher Blut abgepresst. Ich muss zusehen, dass du versorgt bist, bevor ich ausgeschnauft hab.«

Janie entrang sich ein schluchzender Seufzer. Die alte Frau tätschelte sie begütigend.

»You know, honey, us colored folks is branches without roots – Zweige ohne Wurzeln sind wir Farbigen, und da kommen komische Sachen bei raus. Du ganz besonders. Ich bin noch in der Sklaverei geboren, da war gar nicht dran zu denken, dass ich meine Träume wahr machen konnte, davon was eine Frau sein soll und machen soll. Da hat schon die Sklaverei den Riegel vorgeschoben. Aber das Wünschen kann einem keiner verbieten. Und wenn du einen noch so tief auf den Boden drückst und knüppelst, den eigenen Willen kannst du ihm nicht nehmen. Ich wollte nicht als Arbeitsochse und Zuchtsau rangenommen werden, und für meine Tochter wollte ich das genauso wenig. Dass es dann so kam, wie es gekommen ist, das hab ich ganz bestimmt nicht gewollt. Schon dass du so auf die Welt kommen musstest, was hab ich das gehasst. Aber trotzdem hab ich mir gesagt, Gott sei’s gedankt, da hab ich ’ne zweite Chance. Ich wollte eine große Predigt halten über farbige Frauen und wie sie obenan sitzen sollen, aber es hat keine Kanzel für mich gegeben. Als die Freiheit kam, hatte ich eine kleine Tochter im Arm, also hab ich mir gesagt, gut, jetzt nehm ich mir Besen und Kochtopf und bau für sie eine Straße durch die Wildnis. Dann kann sie der Welt verkünden, was ich mir denke. Aber irgendwie ist sie von der Straße abgekommen, und ehe ich richtig kucken konnte, warst du auf der Welt. Na schön, hab ich mir gesagt, wenn ich dich nachts versorgt hab, dann heb ich mir die Predigt für dich auf. Ich hab lange gewartet, Janie, aber was ich durchgemacht hab, war alles nicht zu viel, wenn du nur obenan zu sitzen kommst, wie ich’s mir erträumt hab.« Die alte Nanny schaukelte Janie wie ein kleines Kind und dachte weit, weit zurück. Mit den inneren Bildern kamen die Gefühle, und die Gefühle zerrten aus den hintersten Winkeln ihres Herzens die Dramen hervor.

»Auf der großen Plantage bei Savannah war’s, da kam einen Morgen ein Reiter angaloppiert mit der Meldung, Sherman hat Atlanta genommen. Master Roberts Sohn war am Chickamauga gefallen. Da nimmt er sein Gewehr und steigt auf sein bestes Pferd und reitet mit den noch übrigen grauhaarigen Männern und Jungen los, um die Yankees zurück nach Tennessee zu treiben.

Alle haben gejohlt und geschrien und den Männern zugejubelt, die da losritten. Ich konnte nichts sehen, weil deine Mama erst eine Woche alt war und ich platt auf dem Rücken lag. Aber es dauert nicht lange, da sagt er, er hätte noch was vergessen, und kommt zu mir in die Hütte gelaufen und ich muss noch ein letztes Mal mein Haar für ihn aufmachen. Er wickelt so die Hand rein, zupft mich am großen Zeh, wie er’s immer gemacht hat, und dann ab wie der Blitz hinter den andern her. Ich hab noch den letzten Juchzer gehört, den sie ihm hinterhergeschickt haben. Dann ist es ernst und still geworden im Herrenhaus und in den Hütten.

Es war schon kühl geworden am Abend, als die Mistress zur Tür reinkam. Sie reißt die Tür sperrangelweit auf und steht da und kuckt mich an mit solchen Augen und so einem Gesicht. Kuckt wie hundert Jahre Januar und nicht einen Tag Frühling im Leben. Dann hat sie sich an mein Bett gestellt.

›Nanny, ich will das Baby sehen, das du gekriegt hast.‹

Ich hab versucht, den Eishauch von ihrem Gesicht nicht zu fühlen, aber es wurde so kalt da im Zimmer, dass ich fast erfroren wär unter den Decken. Deshalb hab ich nicht gleich spuren können, wie ich eigentlich wollte. Aber ich wusste, ich muss mich beeilen und ihr gehorchen.

›Sieh zu, dass du die Decke von dem Balg wegnimmst, und zwar dalli!‹, schnauzt sie mich an. ›Du weißt wohl nicht, wer die Herrin hier auf der Plantage ist, Madam. Aber ich werd’s dir schon zeigen.‹

Da hatte ich dann mein Baby endlich so weit aufgedeckt, dass sie den Kopf und das Gesicht sehen konnte.

›Jetzt verrat mir mal, Nigger, wieso dein Baby graue Augen und blonde Haare hat!‹ Und los ging’s mit Backpfeifen links und rechts, ever which a’way. Die ersten hab ich gar nicht gespürt, weil ich so damit zu tun hatte, dass ich mein Kind wieder zugedeckt krieg. Aber der letzte Schlag brannte wie Feuer. Ich hatte so viele Gefühle durcheinander, dass ich keinem davon folgen konnte, deshalb hab ich gar nicht geweint und gar nichts. Aber sie hört nicht auf und fragt immer wieder, wieso sieht mein Baby weiß aus? Fünfundzwanzig- oder dreißigmal hat sie mich das gefragt, wie wenn sie nicht anders könnte und müsste das ständig sagen. Da hab ich zu ihr gesagt: ›Ich mach doch bloß, was ich gesagt bekomme, ’cause Ah ain’t nothin’ but uh nigger and uh slave.‹

Statt dass sie das beruhigt, wie ich dachte, wird sie nur noch böser. Nigger! Sklavin! Aber wahrscheinlich war sie müde und erledigt, denn sie hat mich nicht weiter geschlagen. Sie ist ans Fußende vom Bett gegangen und hat sich die Hände an ihrem Taschentuch abgewischt. ›Ich mach mir doch an dir nicht die Hände schmutzig. Aber morgen in aller Frühe kommt dich der Aufseher holen und bindet dich auf den Knien an den Geißelpfahl und zieht dir das Fell von deinem dreckigen Mulattenrücken. Einhundert Hiebe mit der Peitsche auf den nackten Rücken. Ich lass dich auspeitschen, bis du mit den Füßen im Blut stehst! Die Hiebe werd ich persönlich zählen. Und wenn du dabei draufgehst, na, den Verlust kann ich verschmerzen. So oder so, sobald das Balg einen Monat alt ist, wird es verkauft.‹

Sie walzte ab und ließ ihr Winterwetter bei mir zurück. Ich wusste, dass mein Körper noch nicht geheilt war, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. In stockfinsterer Nacht hab ich mein Baby eingewickelt, so gut es ging, und so bin ich bis zum Sumpf am Fluss gekommen. Ich wusste, dass es da nur so wimmelt von Mokassinottern und andern bissigen Schlangen, aber noch mehr Angst hatte ich davor, was hinter mir war. Tag und Nacht hab ich ich mich da verkrochen und die Kleine jedes Mal sofort gestillt, wenn sie zu weinen anfing, damit nur ja niemand sie hört und mich findet. Ich will nicht behaupten, ein oder zwei Freunde hätten mir in meiner Not nicht beigestanden. Und der liebe Gott hat auch dafür gesorgt, dass ich nicht geschnappt wurde. Ich weiß wirklich nicht, warum meine Milch mein Kind nicht vergiftet hat, so voll von Angst und Sorgen, wie ich die ganze Zeit war. Die Eulen haben mir Angst gemacht mit ihren Rufen, die Zypressenäste sind lebendig geworden und rumgekrochen, wenn es dunkel wurde, und zwei-, dreimal hab ich einen Puma rumstreichen gehört. Aber mir ist nie ein Leid geschehen, ’cause de Lawd knowed how it was.

Da hör ich eines Nachts die Kanonen böllern wie Donner. Die ganze Nacht ging das durch. Und am nächsten Morgen seh ich ein großes Schiff in der Ferne und ’nen großen Menschenauflauf. Da hab ich Leafy in Moos eingepackt und fest in einen Baum gehängt und bin zur Anlegestelle geschlichen. Die Männer waren ganz in Blau, und ich hab die Leute sagen hören, Sherman würde die Schiffe in Savannah empfangen und wir Sklaven wären alle frei. Da bin ich los und hab mein Baby geholt und bin mit Leuten in Diskurs gekommen und hab was gefunden, wo ich unterkommen konnte.