Vordenker der Vernichtung - Götz Aly - E-Book

Vordenker der Vernichtung E-Book

Götz Aly

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Beschreibung

Das Standardwerk über die junge Planungselite des Holocaust Es waren Tausende Professoren, Nachwuchswissenschaftler und Technokraten, die 1933 bis 1945 am Gemeinschaftsprojekt Großdeutschland begeistert arbeiteten. Junge, karrierebewusste Ernährungsfachleute, Ökonomen und andere Vordenker des NS-Staats betrachteten Europa als überbevölkerten, weithin rückständigen Kontinent, der von Deutschland beherrscht und modernisiert werden müsse. Die "Entjudung" nutzten sie als Mittel zur Bereicherung und zur Rationalisierung der Wirtschaft. Die Ingenieure der Neuordnung drängten darauf, Grenzen zu verschieben, viele zehn Millionen Juden und Slawen zu deportieren, um für die übergroße Mehrheit der Deutschen bessere Lebensverhältnisse zu schaffen.

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Götz Aly | Susanne Heim

Vordenker der Vernichtung

Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung

Fischer e-books

Einleitung[1]

Obwohl viele Jahrzehnte vergangen sind, prägt das »Dritte Reich« die Gegenwart noch immer. Sein unblutiges Erbe gehört zu den Selbstverständlichkeiten des deutschen Alltags. Es reicht von der polizeilichen Meldegesetzgebung über den Volkswagen bis zur Marktordnung für landwirtschaftliche Produkte. Dazu gehören die Umbenennung der Hilfsschule in Sonderschule, die Abschaffung der Deutschen Schrift und die Erfindung des Massentourismus. Der nationalsozialistische Staat entwickelte beides: eine bis dahin in Deutschland nicht bekannte Dynamik der Modernisierung und zugleich eine – bis dahin nirgendwo bekannte – Systematik der Zerstörung und Ausrottung. Der Tod und das unsägliche Leid vieler Millionen Menschen sind das blutige Erbe jener zwölf Jahre.

Seit einiger Zeit geraten zwar die Modernisierungsdynamik des Nationalsozialismus und damit jene Institutionen und Personen, die diesen Prozess vorantrieben, ins Blickfeld der Geschichtsbetrachtung, doch macht die Analyse im Allgemeinen dort halt, wo Auschwitz beginnt. In diesem Buch versuchen wir, die Zusammenhänge zwischen der Politik der Modernisierung und der Politik der Vernichtung offenzulegen. Wir beschreiben die Wechselbeziehungen von bestimmten Plänen und Taten, die im damaligen Deutschland entwickelt und begangen wurden. Sie waren darauf gerichtet, dem Deutschen Reich und schließlich dem gesamten europäischen Kontinent neue politische, ökonomische und soziale Strukturen aufzuzwingen, und zwar binnen kürzester Frist. Dies setzte den Krieg ebenso voraus wie die Entrechtung und Enteignung von Millionen Menschen.

Diese Pläne verbanden sich mit der Ideologie des Nationalsozialismus und mündeten in politischer und militärischer Aggression; es folgten – immer schneller – radikalere Vorhaben für eine neue europäische Ordnung, für ein deutsches Europa: Blitzkriege, Strukturmodelle, Vernichtungsfeldzüge, Generalsiedlungspläne, Gaskammern. Das Jahr 1941 – das Jahr der Siegeserwartung und des Rausches, alles und jedes neu gestalten zu können – ist gleichzeitig das Jahr, in dem die deutsche Staatsführung über den Mord an vielen Millionen Menschen entschied.

 

Die Gründe dafür erschließen sich ausreichend weder aus der Person eines Hitler, Himmler oder Goebbels noch aus der Selbstverhetzung und Verhetztheit eines ganzen Volkes, auch nicht aus dem Automatismus einer einmal in Gang gesetzten Ausgrenzungsmaschinerie und ihrer hochgradig arbeitsteiligen, reibungslosen – eben deutschen – Funktionsweise. Das alles hatte seine Bedeutung und gehört zu den Voraussetzungen der von den Deutschen begangenen Massenmorde.

Darüber hinaus aber existierten im Hintergrund Denkmodelle, Konzepte für »Endlösungen«, die die staatlich gesteuerte Massenvernichtung von Menschen – zwar selten ausdrücklich, aber umso häufiger mit sterilen wissenschaftlichen Begriffen – als funktional im Sinne einer langfristigen Erneuerung der gesellschaftlichen Strukturen empfahlen. Sie sind unser Thema. In ihrer Abstraktheit stehen diese Denkmodelle in einem scheinbaren Gegensatz zum Wüten der Vollstrecker. Und doch verfügte das nationalsozialistische Deutschland nicht nur über eine Ideologie, die als minderwertig eingestuften Menschen die Ausrottung zudachte, sondern zugleich über bis ins Detail durchdachte Theorien, wie ganze gesellschaftliche Klassen, Minoritäten und Völker »umgeschichtet« und dezimiert werden sollten. Ideologie und Theorie mussten aufeinandertreffen und ineinandergreifen, um Hadamar, Chełmno, Leningrad, Stukenbrock, Treblinka und Auschwitz ins Werk zu setzen. Und: Mit jedem weiteren Jahr der Existenz des nationalsozialistischen Deutschland wären weitere Millionen von Menschen umgebracht worden: mit dem Instrumentarium des Hungers, der Vertreibung, der Gaskammer und der Vernichtung durch Arbeit.

 

Unsere Überlegungen und Ergebnisse widersprechen einer Meinung, die zum Beispiel Hannah Arendt so formuliert hat: Das Einzigartige am Mord an den europäischen Juden sei nicht die Zahl der Opfer, sondern das Fehlen jeder Nützlichkeits- und Interessenabwägung auf der Seite der Mörder. Die Dokumente, die wir in diesem Buch vorlegen und interpretieren, zeigen, dass diese These nicht aufrechterhalten werden kann. Ebenso wie bei den Massenmorden an deutschen Geisteskranken und an der polnischen, serbischen und sowjetischen Bevölkerung sind bei der Ermordung der europäischen Juden auch utilitaristische Ziele erkennbar. Das macht diese Mordtaten nicht weniger entsetzlich.

Im Zusammenhang mit Auschwitz ist vielfach die Rede von »irrationalstem Rassenhass«, von »Vernichtung um der Vernichtung willen«, vom »Selbstlauf« der deutschen Bürokratie, vom »Rückfall in die Barbarei« und vom »Zivilisationsbruch«. Meist einfach übergangen oder doch relativiert wird dabei, dass die Vordenker der »Endlösung« die Ausrottungspolitik gegen andere Bevölkerungsgruppen, insbesondere in der Sowjetunion und Polen, in einer Linie mit dem Mord am europäischen Judentum sahen, als Bestandteil eines Gesamtkonzeptes negativer Bevölkerungspolitik.

Unsere Analyse zeigt, dass dabei Willkür und Selbstlauf eine untergeordnete Rolle spielten, dass im Gegenteil die Spitzen des damaligen Staates wissenschaftliche Politikberatung in hohem Maße förderten und deren Ergebnisse als wichtige Grundlage auch für die Entscheidungen über den Mord an Millionen Menschen nutzten.

Heinrich Himmler stand nicht nur im Sicherheitsdienst eine durchaus unorthodoxe und äußerst qualifizierte Denkfabrik mit entsprechender Datenbank zur Verfügung, sondern er berief zum Beispiel einen speziellen Inspekteur für Statistik, dessen wichtigste Aufgabe es war, ihn mit empirischem Grundlagenmaterial über die soziale Zusammensetzung der SS und für die Siedlungspläne im Osten zu versorgen. Um über das weitere Schicksal des Warschauer Ghettos zu entscheiden, gab Hans Frank ein Gutachten des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit (RKW) in Auftrag und machte sich dessen Empfehlungen zu eigen. Kurz zuvor hatte der Reichsfinanzminister, um sich ins Bild zu setzen und um für weitere Auseinandersetzungen gerüstet zu sein, das Lodzer Ghetto einer Wirtschaftlichkeitsprüfung durch den Reichsrechnungshof unterziehen lassen. Wehrmachtsführung und Ministerien ließen sich allein vom Kieler Institut für Weltwirtschaft mehr als 1600 Geheimgutachten erstellen, um die wirtschaftsstrategische Seite des Krieges abzusichern. Ein frühes Zeugnis dieser Art von Politikberatung im nationalsozialistischen Deutschland dokumentierte Hermann Rauschning aus dem Jahr 1934:

»Ich berichtete Hitler, was ich von der ›Planungsstelle‹ Kochs (des Gauleiters von Ostpreußen) gesehen hatte. Ein junger Professor v. Grünberg hatte da phantastische ›Planlandschaften‹ der Zukunft entwickelt. Er hatte in seinem Institut Karten entwerfen lassen mit Verkehrslinien, Kraftfeldern, Kraftlinien, Autostraßen, Bahnlinien, Kanalprojekten. Genau geplante Wirtschaftslandschaften erstreckten sich über den ganzen Osten bis zum Schwarzen Meer, bis zum Kaukasus. Auf diesen Plänen waren bereits Deutschland und Westrussland eine riesige wirtschaftliche und verkehrspolitische Einheit. Selbstverständlich nach Deutschland orientiert, von Deutschland geplant und geführt. Es gab in dieser ›Planwirtschaft‹ kein Polen mehr, geschweige denn ein Litauen.«[2]

Die Führung des nationalsozialistischen Staats entschied in der Regel nicht einfach nach Gutdünken, sondern auf der Grundlage umfassender Denkschriften. So bezeichnete sich etwa Hermann Göring bei der entscheidenden Konferenz vom 12. November 1938 »als nicht versiert genug«, um selbst die Konsequenzen einer »Entjudung der Wirtschaft« einzuschätzen. Er bat um Vorschläge, fand sie »wunderbar«, ließ sich Erlasse formulieren, setzte sie in Kraft. An der Konferenz nahmen mehr als 100 Leute teil. Sie repräsentierten ganz überwiegend den in Verwaltungs- und Wirtschaftsfragen äußerst kompetenten Mitarbeiterstab Görings und eine die gesamte damalige Politik beratende Intelligenz, die, wenn von den nationalsozialistischen Verbrechen die Rede ist, allzu leicht im Schatten der prominenten, in zeitgenössischen und späteren Darstellungen schier allmächtig erscheinenden Naziführer verschwindet.

In seinem Buch »Behemoth«[3] spricht der Jurist und Politikwissenschaftler Franz Neumann von Industrie, Bürokratie, Partei und Militär als den vier Säulen der NS-Herrschaft. Diese Säulen konnten das immer monströser werdende imperiale Gebäude des damaligen deutschen Staates nicht zuletzt deshalb so lange tragen, weil sie durch ebendiese wissenschaftliche Beratung miteinander verstrebt und stabilisiert wurden.

Die Berater der Macht wirkten in verschieden organisierten und sich verändernden Gremien, die sich aus Staatssekretären, leitenden Ministerialbeamten und Experten unterschiedlichster Couleur und Fachrichtungen zusammensetzten. Später rühmten sich diese Männer selbst, »Krisenmanager im Dritten Reich« gewesen zu sein.[4]

Im Folgenden schildern wir die Arbeit dieser Wirtschafts- und Verwaltungsfachleute, der Raumplaner, Statistiker und Agronomen, Arbeitseinsatzspezialisten und Bevölkerungswissenschaftler. Wir versuchen, ihr Einwirken auf die zentralen Entscheidungen der Jahre 1940 und 1941 zu analysieren. Es geht dabei um konkrete Verantwortlichkeit, um den planend-vorantreibenden Anteil dieser Experten an millionenfachem Mord.

Viele dieser Fachleute standen den neuen Machthabern zunächst durchaus distanziert gegenüber und traten, wenn überhaupt, erst lange nach 1933 der NSDAP bei – weil sie ihre Karriere befördern wollten, aber auch im Bewusstsein, so die Politik besser mitgestalten und beeinflussen zu können. Erst allmählich und dann von 1938 an immer schneller gelangten diese Männer, die sich von den in den »Kampfjahren« geprägten Parteifunktionären gründlich unterschieden, in die politischen Entscheidungszentren, gewannen mehr planende Gewalt über das Schicksal von Tausenden und schließlich vieler Millionen Menschen. Ihr Einfluss wuchs bis Ende 1941 mit jedem Expansionsschritt. Jedes Mal konnten sie ihre Vorschläge und Alternativen weniger eingeschränkt formulieren, jedes Mal brauchten sie weniger Rücksicht zu nehmen auf die widersprüchliche soziale Realität im Deutschen Reich und in den besetzten Ländern. Der Kompromiss galt als Zeichen geistiger Schlappheit, offenkundige Verbrechen wurden zur Notwendigkeit erhoben und »Spesen großer Zeiten« genannt. SS-Offiziere, Beamte, wissenschaftliche Assistenten, Wirtschaftsführer oder Ingenieure zeigten sich von den neu eroberten »Räumen« und scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten ebenso beeindruckt wie von der Größe der Aufgabe und davon, ihre hochfliegenden Pläne ohne nennenswerte bürokratische Hindernisse exekutieren zu können.

Diese jungen aufstiegsorientierten Praktiker und Akademiker, deren Konzepte im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen, betrachteten das dicht bevölkerte, historisch kompliziert gewachsene Europa mit all seinen Unterschieden und Gegensätzen als Reißbrett für ihre Planung. Osteuropa war für sie ein einziges Brachland, das nach »Bereinigung« und »Neuaufbau« verlangte. Sie wollten rationellere Produktionsweisen durchsetzen, Produkte normieren, internationale Arbeitsteilung einführen, die sozialen Strukturen neu und übersichtlich gestalten, die Zahl der »unproduktiven« Menschen möglichst gering halten. Am Ende sollten weite Teile Europas an den Interessen der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Streben nach Vorherrschaft ausgerichtet sein. Dabei setzten die Vordenker dieser Politik, um möglichst billig und schnell zum Ziel zu gelangen, auf ein wissenschaftlich fundiertes Konzept: auf die Bevölkerungsökonomie. Mit Hilfe staatlicher Geburtenförderung und -kontrolle, Umsiedlung und Vernichtung sollten die Zahl und die qualitative Zusammensetzung der Bevölkerung fortlaufend gesteuert werden.

Im Verlauf des Krieges, in dem Nahrungsmittel, Rohstoffe und Kapital immer knapper wurden, war für diese Planer die Bevölkerung bald der einzige ökonomische Faktor, den sie wirklich noch verändern konnten. In ihrer Optik gab es 1941 im Deutschen Reich zwar ein bis zwei Millionen Arbeitskräfte zu wenig, gleichzeitig aber 30 bis 50 Millionen »unnütze Esser« in Europa, Menschen, deren Arbeitskraft nicht ausgenutzt war und sich ohne weitreichende sozialpolitische Eingriffe auch nicht ausnutzen ließ. Also arbeiteten die Vordenker der Neuordnung an einer Konzeption, die das Verhältnis zwischen produktiven und unproduktiven Bevölkerungsgruppen, zwischen arbeitenden und angeblich zu wenig, zu wenig effizient oder gar nicht arbeitenden Menschen korrigieren sollte. In Ost- und Südosteuropa fehlte in den Augen dieser deutschen Intelligenz ein Mittelstand, der stabile soziale Verhältnisse garantierte und den Binnenmarkt entwickelte. Zugleich aber herrschte dort nach diesen Maßstäben Überbevölkerung, lebten auf dem Land zig Millionen Menschen zu viel – arm, genügsam und ohne Gewinnstreben: Sie standen einer modernen Wirtschaftsentwicklung nach deutschem Modell im Wege und mussten entfernt werden, wenn es gelingen sollte, die Verbleibenden ausbeutbar zu machen. So wurden »Umsiedlung«, »Arbeitseinsatz« und »Evakuierung« zu den zentralen Instrumenten deutscher Neuordnung.

Dabei planten die Konstrukteure des europäischen Großraums von vornherein wirtschaftliche Benachteiligung, Hunger und Mord an Minderheiten, später ganzen Völkern ein, um der Mehrheit, insbesondere der deutschen Mehrheit, Vorteile zu verschaffen oder doch wenigstens den sozialen Status quo zu garantieren. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Generation unserer Eltern und Großeltern davon berichtete, in Deutschland erst nach dem Krieg wirklich gehungert zu haben – als nämlich der Staat zusammengebrochen war, der ihre Ernährungs-, Bekleidungs- und Wohnungsprobleme mit Hilfe von Massenenteignung, Krieg und Gaskammern »gelöst« hatte.

In der konkreten Ausgestaltung dieser sozialen Hierarchie, die für viele Millionen Menschen Deportation und Tod bedeutete, ließen sich die strategischen Absichten der Planer und die rassistische Ideologie in Übereinstimmung bringen. Heinrich Himmler formulierte dieses mörderische Konzept einfach und unverhohlen: »Man (kann) die soziale Frage nur dadurch lösen, dass man die anderen totschlägt, damit man ihre Äcker bekommt.«[5]

Den historischen Stoff unserer Darstellung haben wir in drei Komplexe unterteilt. Wir nehmen das Jahr 1938, also das Jahr der Annexion Österreichs und des Sudetenlands, zum Ausgangspunkt und zeigen, wie sich von nun an und im Zusammenhang mit der weiteren territorialen Expansion der Antisemitismus in ein Konzept der »Neuordnung« einfügte und in eine Politik systematischer »Entjudung« umgesetzt wurde. Als zweiter Komplex folgt der Krieg gegen Polen, die Zerschlagung des Landes. Wir stellen die deutschen Projekte dar, die der vollständigen Veränderung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur Polens dienen sollten. Die Planungsexperten benutzten das besetzte Land – die »eingegliederten Ostgebiete« und das Generalgouvernement – als Exerzierfeld: Die »Judenfrage« stellte sich ihnen hier erstmals »als bevölkerungspolitische Massenfrage«, die mit den bis dahin üblichen Mitteln des Terrors, der Enteignung und erzwungenen Auswanderung nicht mehr zu »lösen« war. Wichtig dabei ist, wie sich die Planungsstäbe der SS und der zivilen Verwaltungen auf eine gemeinsame Zielsetzung verständigten.

Als dritte Stufe stellen wir die Perspektiven des Jahres 1941 dar: Im besetzten Polen gerieten Siedlungspolitik einerseits und wirtschaftliche Aufbaupläne andererseits immer mehr in Widerspruch zueinander. Mit dem Krieg gegen Südosteuropa sollten die militärischen Voraussetzungen für eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft unter nazistischen Vorzeichen geschaffen werden. Aber auch hier behinderte nach Ansicht deutscher Ökonomen die Überbevölkerung die Entwicklung einer neuen Wirtschaftsordnung, galten ihnen viele Millionen Menschen als unproduktiv und überzählig. Ebenso sahen die Pläne für die militärische und siedlungspolitische Eroberung der Sowjetunion vor, dort die Bevölkerung zu reduzieren – mit welchen Mitteln auch immer. Hinzu kam, dass sich Schwierigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung abzeichneten, die die Stimmung an der Heimatfront gefährdeten: Um die Ernährung der Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten, die nicht als minderwertig definiert wurden, sollten 30 Millionen sowjetische Kinder, Frauen und Männer verhungern. Diese Pläne standen nicht isoliert. Sie gehörten zum Entscheidungshintergrund der in der zweiten Jahreshälfte 1941 schrittweise beschlossenen »Endlösung der Judenfrage«. Diese Entscheidung förderten deutsche Wirtschaftsfachleute zusätzlich dadurch, dass sie Gutachten erstellten, denen zufolge aus den enteigneten, in den Ghettos hungernden Menschen kein Gewinn mehr herauszupressen war: Sie am Leben zu erhalten war demnach selbst bei härtester Zwangsarbeit unrentabel.

 

Zur Rekonstruktion des Geschehens gehören auch die Biographien der an diesen Planungen beteiligten Wissenschaftler und leitenden Ministerialbeamten. Individuelle Karrieren und personelle Verflechtungen machen sichtbar, wie Ideen und Vorschläge ihren Weg von unten nach oben nahmen, wie durchlässig der nationalsozialistische Staat in dieser Hinsicht war. Darüber hinaus spielen biographische Details und die Darstellung der mittleren Ebenen des institutionellen Gefüges eine wichtige Rolle, wenn es gilt, neue Dokumente ausfindig zu machen und Entscheidungsabläufen auf die Spur zu kommen. Denn zahlreiche Entscheidungen in den zentralen Institutionen wurden mündlich getroffen und angeordnet, aber nie schriftlich festgehalten. In vielen Bereichen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates wurden die wichtigsten schriftlichen Unterlagen teils sofort (»Geheime Reichssache – nach Lektüre vernichten!«), teils in den letzten Monaten des Krieges verbrannt. So geschah es in den meisten Hauptämtern der SS und in den Dienststellen Görings; das gilt für die Meldungen der Sicherheitspolizei aus dem Generalgouvernement, Heydrichs Denkschrift über die »Endlösung der Judenfrage« und viele andere Dokumente. Es ist bezeichnend und gehört zu den spezifischen Schwierigkeiten einer solchen Untersuchung, dass die systematische Politik des Massenmords offensichtlich selbst in den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes tabuisiert wurde.[6]

Nicht zuletzt lenken die biographischen Einzelheiten den Blick auf die Angehörigen einer Intelligenz, von der bislang auch deswegen so wenig die Rede war, weil die Bundesrepublik »beim Wiederaufbau in hohem Maße auf die alten Funktionseliten, die schon dem NS-Regime gedient hatten, zurückgriff«[7] . Die Angehörigen dieser Intelligenz mussten nach 1945 ein fundamentales Interesse daran haben, den Nationalsozialismus als eine Periode deutscher Politik hinzustellen, in der ihre Möglichkeiten der Einflussnahme immer wieder »an den Abgründen des Wahns und der Willkür« scheiterten.

Unser Thema sind hingegen die Abgründe eines planenden, praxisorientierten Rationalismus, dessen Vertreter von sich aus dazu tendierten, moralische Bindungen abzuschütteln und dafür im Nationalsozialismus ideale Bedingungen fanden.

Die Politik der »Entjudung«

Pogrom und Rationalisierung

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten Reichskristallnacht, fanden im ganzen Deutschen Reich Pogrome und Plünderungen statt. Als Vorwand dafür diente der Mord eines jungen Juden an einem deutschen Botschaftssekretär in Paris.

Die Ergebnisse des 9. November sind paradox: Der Höhepunkt des Radau-Antisemitismus war sein Ende und zugleich der Beginn von etwas Neuem, nämlich einer einheitlichen staatlichen Politik zur »Lösung der Judenfrage«. Mehr als 100 Tote, ungezählte Verletzte, 25000 Verhaftete, mehr als 1000 zerstörte Synagogen, 7500 zerschlagene und ausgeraubte Geschäfte markierten den Beginn einer neuen Ära. An die Stelle von Boykott und Pogrom trat nun eine Politik, die immer konsequenter auf die »Endlösung« zusteuerte: Verfolgung und Diskriminierung wurden zur Aufgabe staatlicher Institutionen. Drei Tage danach, am 12. November, erörterten in einer entscheidenden, von Göring in aller Eile einberufenen Sitzung etwa 100 Minister und Experten bereits wesentliche Elemente der späteren Vernichtungspolitik: Dazu gehörten Enteignung, gesteuerte Verarmung, Ghettoisierung, das Tragen des gelben Sterns, Hungerpolitik, Zwangsauswanderung, Zwangsarbeit – und am Ende verwies Göring auf die Möglichkeit »einer großen Abrechnung«. Das Ergebnis dieser Sitzung war die »Generallinie der künftig einzuschlagenden Politik«.[8] Der vorgeblich spontane Volkszorn, der sich eine Nacht lang in Zerstörungslust, Plünderei und Mord hatte austoben können, wurde in ein langfristiges staatliches Konzept transformiert.

Dass Göring diese Sitzung einberief, war kein Zufall. Seit 1936 oblag ihm als Beauftragtem für den Vierjahresplan die Koordination der wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung. Zu diesem Zweck hatte er die Vierjahresplanbehörde eingerichtet, die aus einem kleinen hochqualifizierten Stab von Mitarbeitern bestand und in den Jahren 1937 bis 1941 eines der wichtigsten Machtzentren des nationalsozialistischen Staates war. Schon am 14. Oktober 1938 hatte Göring gefordert, »die Judenfrage müsse jetzt mit allen Mitteln angefasst werden, denn sie (die Juden) müssten aus der Wirtschaft raus«.[9]

Die Sitzung vom 12. November leitete er mit folgenden Worten ein: »Da das Problem in der Hauptsache ein umfangreiches wirtschaftliches Problem ist, wird hier der Hebel angesetzt werden müssen.« Weiteren Aufruhr und Krawall lehnte er ausdrücklich ab: »Meine Herren, diese Demonstrationen habe ich satt.« Schließlich würden sie nicht nur die Juden, sondern auch die Wirtschaft schädigen, die er – Göring – »in letzter Instanz« zusammenfasse.[10] Er und die anderen Teilnehmer wollten auf dieser Sitzung endlich Taten sehen. Die Phase der Kompetenzabgrenzung und des Zögerns hatte ihres Erachtens lange genug gedauert. Göring: »Ich bitte die Ressorts inständig, nun aber Schlag auf Schlag die notwendigen Maßnahmen zur Arisierung vorzunehmen.« Beginnen sollten die regionalen Wirtschaftsverwaltungen mit dem, was der Bevölkerung die Absichten der Regierung am deutlichsten vor Augen führte, mit der Stilllegung und Arisierung der Einzelhandelsgeschäfte: »Zunächst«, so Göring, »gibt der Wirtschaftsminister bekannt, welche Geschäfte er überhaupt stilllegen will.« Es waren die meisten. Sie sollten bei der Arisierung von vornherein »ausscheiden«, also liquidiert werden. Nach demselben Prinzip sollte auch bei den kleineren und mittleren Fabriken verfahren werden. Zunächst galt es, so forderte Göring, folgende Fragen zu beantworten: »Welche Fabrik brauche ich überhaupt nicht? Welche kann man stilllegen? Kann man nichts anderes daraus machen? – Dann wird sie möglichst rasch abgeschrottet.« Arisierung bestand nicht in erster Linie in der Zwangsübereignung jüdischer Firmen an profitsüchtige »arische« Kapitalisten, sondern wesentlich in staatlich gesteuerter Stilllegung und Rationalisierung.[11] So konnte die Krise dieser Jahre im mittelständischen Sektor der Wirtschaft – allein 1937 mussten im Deutschen Reich 90000 »arische« Handwerksbetriebe Bankrott anmelden oder wurden geschlossen[12]  – in ihren sozialpolitischen Folgen abgemildert werden. Der Nutzen der »Arisierung« war so gesehen vor allem volkswirtschaftlich struktureller Natur. Göring forderte den Wirtschaftsminister denn auch auf, »in der Stilllegung der Geschäfte von vorneherein sehr weit, außerordentlich weit zu gehen«, denn es handele sich dabei um eine Aktion, die »sowieso« in der nächsten Zeit durchgeführt werden müsse, nämlich die »Umwandlung von nicht lebensnotwendigen Produktionsstätten in lebenswichtige«.

Das Stilllegungs- und Rationalisierungsprogramm verfolgte Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan mit dem alleinigen Ziel, die deutsche Wirtschaft für den kommenden Krieg vorzubereiten. Die Methoden allerdings, wie das im Einzelnen geschehen sollte, entwickelten die zuständigen Experten. Sie hatten im vorangegangenen Halbjahr einschlägige Erfahrungen in Wien gesammelt. Dort war nämlich seit Mai 1938 – nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland im März – die Rationalisierung der Wirtschaft unter ständiger Beteiligung der Vierjahresplanbehörde in Angriff genommen worden: Das wichtigste Mittel war die Enteignung Zigtausender Juden und deren Verdrängung aus nahezu allen Wirtschaftssektoren. Diesen Prozess lenkten nicht etwa aggressive Antisemiten, sondern etablierte Wirtschaftsprüfer.

Im Sommer 1938 hatten die Wirtschaftsfachleute in Wien ein Konzept entwickelt, das die massive Rationalisierung der »rückständigen« österreichischen Wirtschaft mit der Liquidierung jüdischer Unternehmen verband. Politischer Repräsentant dieser Linie war der Wiener Minister für Wirtschaft und Arbeit, Hans Fischböck. Göring hatte ihn in den hektischen Stunden vor dem Anschluss Österreichs am 11. März 1938 höchstpersönlich eingesetzt[13] und ebenfalls nach Berlin zitiert.

Dort entspann sich am 12. November der folgende, hier leicht gekürzte Gedankenaustausch:

»Funk (Reichswirtschaftsminister): Die entscheidende Frage ist: Sollen die jüdischen Geschäfte wieder aufgemacht werden müssen oder nicht?

Göring: Das hängt davon ab, wieweit diese jüdischen Geschäfte einen verhältnismäßig großen Verkehrsumsatz haben.

Fischböck: Wir haben darüber in Österreich schon einen genauen Plan, Herr Generalfeldmarschall (d.i. Göring)! Von den 12000 Handwerksbetrieben sollten 10000 endgültig gesperrt und 2000 aufrechterhalten werden. Von den 5000 Einzelhandelsgeschäften sollten 1000 aufrechterhalten, d.h. arisiert, und 4000 geschlossen werden. Das ist aufgrund von Untersuchungen für jede einzelne Branche nach den örtlichen Bedürfnissen abgestimmt, mit allen zuständigen Stellen erledigt und kann morgen hinausgehen, sobald wir das Gesetz bekommen, das wir im September erbeten haben, das uns ermächtigen soll, ganz allgemein ohne Zusammenhang mit der Judenfrage Gewerbeberechtigungen zu entziehen. Das wäre ein ganz kurzes Gesetz.

Göring: Die Verordnung werde ich heute machen!

Fischböck: Auf diese Weise könnten wir bis Ende des Jahres die gesamte nach außenhin sichtbare (jüdische) Geschäftswelt beseitigt haben.

Göring: Das wäre hervorragend!

Fischböck: Dann wären von 17000 Geschäften 12000 oder 14000 geschlossen und der Rest arisiert oder an die Treuhandstelle übertragen, die dem Staat gehört.

Göring: Ich muss sagen: Der Vorschlag ist wunderbar. Dann würde in Wien, einer der Hauptjudenstädte sozusagen, bis Weihnachten oder Ende des Jahres diese ganze Geschichte wirklich ausgeräumt sein.

Funk: Das können wir auch hier machen.«

 

Mit »hier« meinte der Reichswirtschaftsminister das Altreich, vor allem Berlin. Bereits sechs Tage später, am 18. November, tagten die Spitzen der Berliner Wirtschaft in der Industrie- und Handelskammer, »um zu dem vordringlichen Problem des Ausschlusses der Juden aus dem Berliner Einzelhandel Stellung zu nehmen«.[14]

Die von den in Wien tätigen Wirtschaftsexperten geforderte Verordnung erschien am 23. November 1938 im Reichsgesetzblatt. Titel: »Verordnung zur Durchführung der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben.« Absichtsvoll nannte der Text nicht die Arisierung als Ziel, sondern die Stilllegung. Paragraph 1, Absatz 1 lautete: »Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäfte oder Bestellkontore von Juden sind grundsätzlich aufzulösen und abzuwickeln.« Alle Ausnahmen bedurften besonderer Genehmigung.[15]

In der zweiten Phase der Konferenz vom 12. November 1938 setzten sich die Teilnehmer mit den sozialen Folgen auseinander, die das nun »verschärfte Tempo« der wirtschaftlichen Existenzvernichtung mit sich bringen würde. Hier erst griff Reinhard Heydrich in die Debatte ein. Auch er konnte auf Wiener Erfahrungen zurückgreifen, genauer: auf die seines Mitarbeiters Adolf Eichmann, der ebenfalls an der Konferenz teilnahm[16] und der es geschafft hatte, innerhalb von vier Monaten Zehntausende Wiener Jüdinnen und Juden zur Auswanderung zu zwingen:

 

»Heydrich: Bei allem Herausnehmen der Juden aus dem Wirtschaftsleben bleibt das Grundproblem letzten Endes immer, dass der Jude aus Deutschland herauskommt. Wir haben in Wien auf Weisung des Reichskommissars[17] eine Judenauswanderungszentrale eingerichtet, durch die wir in Österreich immerhin 50000 Juden herausgebracht haben, während im Altreich in der gleichen Zeit nur 19000 Juden herausgebracht werden konnten.

Göring: Wie war das möglich?

Heydrich: Wir haben das in der Form gemacht, dass wir den reichen Juden, die auswandern wollten, bei der jüdischen Kultusgemeinde eine gewisse Summe abgefordert haben. Mit dieser Summe und Devisenzuzahlungen konnte dann eine Anzahl der armen Juden herausgebracht werden. Das Problem war ja nicht, den reichen Juden herauszukriegen, sondern den jüdischen Mob.

Devisen

Um in anderen Staaten Aufnahme zu finden, brauchten diejenigen, die emigrieren wollten, Devisen, deren Ankauf aber streng begrenzt war. Obwohl die Auswanderung in dieser Phase staatlicherseits forciert wurde, war sie zugleich über die Devisenpolitik erschwert. Einer der Betroffenen schilderte dies so: »Die Geldfrage ist diese: für Kenia oder für Fidschi braucht man ›nur fünfzig Pfund‹. Der Kurs steht: Kenia zirka dreizehn, Fidschi zirka zehn. Man würde also ›normal‹ zum Kauf der Devisen brauchen: 650 oder 500 Mark. Diese Beträge wären aufzubringen, aber wenn man in Deutschland keine Devisen kaufen kann, muss man den Auslandskurs der Reichsmark anlegen: acht Pfennig! Dann kommt heraus: Kenia fünftausendzweihundert, Fidschi viertausend. Und wenn man gar diesen entweder ersteren oder letzteren Kurs nicht anlegen kann, weil man von der Behörde den Betrag nicht freibekommt, so kann man damit rechnen, ›nur acht Prozent vom Vermögen bewilligt‹ zu bekommen.

Man kann also noch zweiundneunzig Prozent mehr rechnen, die der deutsche Staat einstreicht!!! Also: ohne ein Bankkonto im Ausland oder ohne ausländische Gönner mit fünfzig Pfund Sterling ist eine Auswanderung so gut wie ausgeschlossen.« (Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933–1940, Berlin 19772, S. 157f.) Die Möglichkeit, Devisen einzutauschen, wurde zusätzlich infolge Konferenz vom 12. November verringert, da dort beschlossen wurde, der jüdischen Bevölkerung Deutschlands eine »Sühneleistung« von einer Milliarde Mark aufzuerlegen. Das waren 15 Prozent des geschätzten Gesamtvermögens der deutschen Juden, bezogen auf das liquide Vermögen aber weit mehr.

Göring: Aber, Kinder, habt ihr euch das einmal überlegt? Es nützt doch auch nichts, dass wir vom jüdischen Mob Hunderttausende herauskriegen. Habt ihr euch überlegt, ob dieser Weg nicht letzten Endes so viele Devisen kostet, dass er auf die Dauer nicht gangbar ist?«

 

Heydrich schätzte daraufhin, dass die Zahl derer, die auf diese Weise noch zur Auswanderung gezwungen werden könnten, schnell auf maximal 8000 bis 10000 Menschen jährlich zurückgehen werde. »Es bleibt also«, fuhr er fort, »eine Unzahl Juden drin. Durch die Arisierungen und sonstigen Beschränkungen wird natürlich das Judentum arbeitslos. Wir erleben eine Verproletarisierung des zurückbleibenden Judentums.« Die Konferenzteilnehmer debattierten darüber, wie diese Menschen überhaupt leben sollten: ohne Existenzgrundlage und weitgehend isoliert, was »praktisch-organisatorisch zu einem Ghetto führen« und neue Probleme der Kontrolle und Ernährung aufwerfen würde. An diesem Punkt meldete sich der nationalkonservative Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk zu Wort:

»Das muss doch immer das Entscheidende sein, dass wir nicht das Gesellschaftsproletariat hierbehalten. Es wird immer eine Last sein, sie zu behandeln, die fürchterlich ist. Infolgedessen muss das Ziel sein, was Heydrich gesagt hat: heraus, was herausgebracht werden kann.«

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings schon fest, dass die Devisen, mit denen die Auswanderung finanziert werden müsste, nie aufzubringen wären. Der deutsche Export deckte weder die militärisch erwünschten Einfuhren wichtiger Rohstoffe noch die Lebensmitteleinfuhren, die 17 Prozent des deutschen Bedarfs betrugen. Um trotz dieser außenwirtschaftlichen Lage so viele Juden wie möglich aus Deutschland zu vertreiben, beauftragte Göring am 24. Januar 1939 Heydrich damit, die Reichszentrale für die jüdische Auswanderung zu bilden. Sie vereinigte alle beteiligten Behörden unter einem Dach und war nach Eichmanns Wiener Modell ein Instrument, das die Zwangsauswanderung verstärken und deren bürokratischen Ablauf steuern und vereinfachen sollte. Dabei war strikt auf »eine bevorzugte Auswanderung der ärmeren Juden« zu achten. Über die Arbeit der neuen Reichszentrale hatte Heydrich laufend an Göring zu berichten und »vor grundsätzlichen Maßnahmen« dessen Entscheidung einzuholen.[18]

Zu Beginn der Konferenz vom 12. November hatte Göring gesagt, es komme darauf an, »den Juden aus der Wirtschaft heraus und in das Schuldbuch hineinzubringen«. Damit meinte er, den Juden die Verfügungsgewalt über ihre Vermögen zu entziehen und diese – ohne formelle Enteignung – in deutschen Staatsanleihen anzulegen. Klar war auch, welche Probleme für den Sozialetat beziehungsweise die Devisenbilanz sich daraus ergaben, wenn mehreren hunderttausend Menschen jede wirtschaftliche Existenz entzogen würde. Mit der Formulierung ihrer Ziele waren die Teilnehmer der Konferenz zunächst in neue Schwierigkeiten geraten. In dieser Situation deutete Göring eine »Lösung« an, die Perspektive der späteren Vernichtung: Wenn es in absehbarer Zeit zu einem außenpolitischen Konflikt, also zum Krieg, komme, so sei dies auch die Zeit, um »eine große Abrechnung an den Juden zu vollziehen«.

Es ist nur scheinbar widersinnig, dass Göring sich noch einmal Demonstrationen und Pogrome verbat und die Konferenzteilnehmer darauf einschwor, »ein für alle Mal jede Sonderaktion endgültig (zu) beseitigen«. Die Alternative zur »Aktion der Straße« war beschlossen: denn nun habe »das Reich die Sache in die Hand genommen«. Anfang 1939 zog der Stadtpräsident von Berlin Bilanz: In der Reichshauptstadt sei die Arisierung des Einzelhandels »erfreulich flott« vorangegangen. Obwohl nach dem 12. November ein »verschärftes Tempo« in der Arisierung eingesetzt habe, sei es seiner Behörde gelungen, die Bewerber auf ihre fachliche Eignung hin zu überprüfen und branchenunkundige Nutznießer fernzuhalten. Die Industrie- und Handelskammer habe ihn dabei beraten. »Wenigstens hoffe ich«, so heißt es in dem »Sonderbericht über die Entjudung des Einzelhandels in Berlin« weiter, »dass die Ausschaltung von 2/3 aller jüdischen Einzelhandelsgeschäfte (…) den alten deutschen Einzelhandel entlasten wird.«[19] Für jedes zur »Arisierung« zugelassene Geschäft habe es drei bis vier arische Bewerber gegeben. Auch in anderen Regionen des deutschen Reichs erzielten die zuständigen Wirtschaftsbehörden ähnliche Ergebnisse: In Düsseldorf wurden von 64 in Frage kommenden Geschäften zwei zur »Arisierung« zugelassen; von den 5822 Handwerksbetrieben, die im Altreich Juden gehörten, wechselten 345 den Besitzer: Alle anderen wurden geschlossen.[20]

Infolge von Enteignung und Berufsverboten und der Auswanderung jüngerer Familienangehöriger gerieten immer mehr Juden in die Abhängigkeit von öffentlicher Fürsorge. Das geschah auch deshalb, weil die jüdischen Wohlfahrtsvereine und -stiftungen ebenfalls enteignet wurden, also immer weniger in der Lage waren, für den Lebensunterhalt der zunehmend verarmten Menschen aufzukommen.

Drei Tage nach der Konferenz im Luftfahrtministerium kommentierte die Zeitung Nieuwe Rotterdamsche Courant: »Bei dem Mangel an Arbeitskräften dürfte es nicht lange dauern, bis man die auf Rente gesetzten Juden ›feiernde‹ Juden und Parasiten der deutschen Volksgemeinschaft nennt. (…) Nach dem Muster des russischen Bolschewismus werden dann die Feinde des herrschenden Regimes zu Zwangsarbeitern des Staates in besonderen Lagern gemacht werden.«[21]

In seinem Jahreslagebericht resümierte der SD: »Im Berichtsjahr 1938 fand die Judenfrage in Deutschland, soweit sie auf dem Gesetzes- und Verwaltungswege zu regeln ist, ihren Abschluss. (…) Den Juden (bleibt) zur Sicherung der Existenz nur die Auswanderung.«[22] Das Auswärtige Amt sprach vom »Schicksalsjahr«[23] für das deutsche und österreichische Judentum.

Modell Wien

Als Beauftragter für den Vierjahresplan hatte Göring am 28. März 1938 für das annektierte Österreich angeordnet, »in aller Ruhe Maßnahmen zur sachgemäßen Umleitung der jüdischen Wirtschaft zu treffen«.[24] Die Betonung lag auf den Wörtern »Ruhe« und »sachgemäß« und war gegen österreichische Nazis und Antisemiten gerichtet, die sich im Durcheinander des Anschlusses rasch und unkompliziert bereichern wollten. Österreichs Wirtschaft lag darnieder, jedenfalls wenn man sie mit der im Rüstungsboom florierenden deutschen verglich: Die Produktionskapazitäten waren mangelhaft ausgelastet, die Arbeitslosigkeit betrug 30 Prozent,[25] die Arbeitsproduktivität war vergleichsweise gering. Nachdem die Zollschranken zwischen Deutschland und Österreich gefallen waren und die reichsdeutsche Konkurrenz massiv nach Südosten drängte, wurde die Wirtschaft des halb freiwillig, halb gezwungen angegliederten Landes weiter geschwächt. Deshalb sollte binnen kurzer Zeit gründlich rationalisiert und das allgemeine deutsche Produktionsniveau erreicht werden.

Am 23. April 1938 wurde der saarpfälzische Gauleiter Josef Bürckel zum Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich ernannt. Das geschah aus wirtschaftlichen Erwägungen, denn Bürckel hatte schon einmal, 1935 bei der »Rückgliederung« des Saarlandes, das bis dahin unter französischer Verwaltung gestanden hatte, erfolgreich die Aufgabe bewältigt, eine noch von der Weltwirtschaftskrise zerrüttete Region schnell und umstandslos auf das Niveau der im Aufschwung begriffenen Wirtschaft des Reiches zu heben. Die dafür notwendigen Rationalisierungspläne hatte ihm seinerzeit Dr. Rudolf Gater ausgearbeitet. Gater hatte 1935 in Zürich über die Konjunkturprognose des Harvard-Instituts promoviert und war gleich danach vom Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) nach Saarbrücken geschickt worden. Bürckel zeigte sich mit den Leistungen des jungen Rationalisierungsexperten zufrieden und nahm dessen Dienste in Wien abermals in Anspruch. Bereits Anfang Mai 1938 errichtete das RKW in der Wiener Handelskammer eine Dienststelle Österreich – wichtigster Mitarbeiter: Rudolf Gater.

Da sich Bürckel in allen wirtschaftlichen Fragen von seinem Freund, dem Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann, beraten ließ, arbeiteten noch einige Hamburger Wirtschaftsfachleute an dem Programm mit. Darunter der Senatssyndikus Dr. Walter Emmerich, der in Bürckels Abteilung »Staat und Wirtschaft« Dienst tat. Über die »Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft«, so schrieb Emmerich, sollte für Hamburger Im- und Exportfirmen Wien als »Tor zu Südosteuropa« geöffnet werden. Als erklärter Vertreter hamburgischer Interessen organisierte er eine möglichst reibungslose Arisierung der Exportfirmen. Doch vorerst erschien Emmerich die gerade vereinnahmte Stadt als völlig rückständig. Seine Mitstreiter und er bemängelten einen Export »ohne die nötige Stoßkraft«, eine hoffnungslos veraltete Donau-Flotte, Zersplitterung von Handel, Gewerbe, Industrie und Bankwesen. Von Handelsfirmen war dort aus hanseatischer Sicht gar nicht zu reden, bestenfalls von »Vermittlern« für »die Einkäufer der großen angelsächsischen Warenhäuser«. »Groß war nur die Zahl kleiner und kleinster Handelsfirmen mit geringem Gelegenheitsexport in die Nachbarschaft.« Das alles lag »natürlich überwiegend in jüdischer Hand«. Diese Situation gründlich zu verändern schien Emmerich, Gater und vielen anderen eine zwar nicht einfache, aber lohnende Aufgabe.[26]

Im Juni 1938, einen Monat nach seiner Ankunft in Wien, verfasste Gater im Namen des RKW »Vorschläge für das Vorgehen bei der Arisierung der Schuheinzelhandelsgeschäfte«. Von 380 Geschäften in Wien waren etwa 250 im Besitz von Juden. Um den Schuheinzelhandel zu »bereinigen«, mussten nach Gaters vorläufiger Schätzung etwa 80 der jüdischen Geschäfte geschlossen werden. Die Zeit drängte. Die fraglichen Geschäfte wurden sowohl von Käufern als auch von Lieferanten boykottiert. »Arische« Österreicher bewarben sich mit »einer erheblichen Anzahl von Arisierungsanträgen« um den Besitz dieser Geschäfte. Also schlug Gater vor, die Anträge auf Übereignung »unter Federführung des RKW« zu bearbeiten. Nachdem er sich bereits Rückendeckung bei Fischböck und bei der Vierjahresplanbehörde geholt hatte, schrieb er an den Vertreter Bürckels: »Betrifft: Arisierung des Schuheinzelhandels (…). Sollten wir von Ihnen nichts Gegenteiliges hören, so werden wir die von uns vorgesehenen Arbeiten in dieser Richtung nunmehr unverzüglich in Angriff nehmen.«[27]

Die zur Stilllegung oder »Arisierung« vorgesehenen Geschäfte wurden dabei – und bald auch in allen anderen Branchen – vom RKW nach folgenden Gesichtspunkten geprüft: »a) Umsätze, Genre; b) Lebensfähigkeit, Lage, Konkurrenz; c) Gefolgschaft; d) Lageraufnahme, -bewertung; e) Status, Vermögen, Verbindlichkeiten (Lieferanten, Steuern, Mieten, Löhne, soziale Abgaben usw.); f) Kosten (jährliche Miete usf.); g) Verdienstspanne (unter Beachtung der erfolgten oder noch erfolgenden Herabsetzung); h) Mindestumsätze für wirtschaftliches Arbeiten; i) Mindestkapital, das zur Führung des Geschäftes notwendig ist.«[28]

Auch der Interessent für ein Geschäft, das das RKW der Arisierung für würdig befand, musste sich eine eingehende Begutachtung seiner fachlichen Qualifikation und seiner finanziellen Möglichkeiten gefallen lassen.

Diese ersten Ansätze Gaters zur »Gesundschrumpfung« des Wiener Einzelhandels und Handwerks mit Hilfe rassenpolitischer Methoden und eindeutiger volkswirtschaftlicher Ziele sind vor dem Hintergrund eines rapiden Zuwachses von Macht und Einfluss des RKW insgesamt zu verstehen. Am 9. Juni 1938 legte der Reichswirtschaftsminister einen Erlassentwurf »über den Einsatz des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit« vor, der quasi eine Verstaatlichung des bis dahin überwiegend privat von der Industrie getragenen Kuratoriums vorsah. Das RKW, hieß es in diesem Entwurf, werde vom Reichswirtschaftsministerium »stärker als bisher für eine zielhafte, planvolle Ausrichtung aller für die Leistungssteigerung der deutschen Wirtschaft wesentlichen Gemeinschaftsarbeiten herangezogen«. Ein Elf-Punkte-Programm legte die Richtung fest, in der die »Arbeitsbestgestaltung«, Ziele der Wehrwirtschaft und Rohstoffsteuerung erreicht werden sollten: Die »große Reserve menschlicher Arbeitskraft« liege »in der Vielzahl von Kleinbetrieben«; insbesondere sei zu überprüfen, wie gerade dort »weitere Leistungssteigerungen« durchgesetzt werden könnten.[29]

Mit Hilfe eines Erhebungsbogens verschaffte sich das RKW nicht nur die gewöhnlichen Betriebsdaten, sondern auch detaillierte Auskünfte über die Besitzverhältnisse und die »bevölkerungspolitische Lage«: die »rassische« und nationale Zusammensetzung der Belegschaft und der Eigentümer.[30] Gater war stolz darauf, dass entsprechend den Betriebs- und Branchenanalysen des RKW mehr als 80 Prozent der Betriebe von Juden stillgelegt worden waren und nur ein kleiner Rest – die wirtschaftlich gesündesten Unternehmen – an deutsche und österreichische Interessenten übereignet worden war.[31]

Das RKW überprüfte in Österreich alle wesentlichen Branchen in Handel, Gewerbe und Industrie. Schon Mitte Mai war es an der Gründung der sogenannten Vermögensverkehrsstelle beteiligt, einer Behörde, deren 460 Mitarbeiter die »Arisierung« beziehungsweise Liquidierung jüdischer Betriebe innerhalb der gesamtwirtschaftlichen Konzeption betrieben. Die Vermögensverkehrsstelle leitete der Ingenieur Walter Rafelsberger, der ein Jahr später stellvertretender Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft wurde.[32]

Die Zahl aller Einzelhandelsgeschäfte in Wien sank innerhalb weniger Monate auf die Hälfte. Im Handwerk wurden 83 Prozent der Betriebe, die Juden gehörten, stillgelegt, in der Industrie 26 Prozent, im Wirtschaftssektor Verkehr 82 Prozent. Von insgesamt 86 Banken blieben acht übrig. Bei den Stilllegungen berücksichtigten die Mitarbeiter der Vermögensverkehrsstelle, des RKW und der Revisions-Treuhand-Gesellschaft nicht nur die Rentabilität und die ökonomische Zukunft der einzelnen Branchen. Sie ermittelten auch Standortverdichtungen, berücksichtigten »künftige Änderungen des Stadtbildes« und geplante »Straßenführungsbereinigungen«. Darüber hinaus versuchte man, die Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe »verbrauchsorientiert (…) nach den Bevölkerungsdichten gleichmäßig im Raum zu verteilen«.[33]

Die »Entjudung« der österreichischen Wirtschaft ging schnell und plangemäß vonstatten. Von August 1938 an war es die Aufgabe Adolf Eichmanns, die um Arbeit, Besitz und soziale Rechte gebrachten Menschen möglichst umstandslos außer Landes zu treiben. Eichmann unterstand die neu geschaffene Wiener Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Hier begann seine Karriere als Experte für Deportationen.

Allerdings zeichnete sich nach kurzer Zeit ab, dass die ärmeren unter den sozial und ökonomisch ausgegrenzten Juden in der Stadt blieben – nicht zuletzt jene, die am wenigsten mobil waren, also alte Leute und Frauen mit Kindern. Sie blieben aus finanziellen Gründen oder aber weil sie die Einwanderungsbedingungen anderer Länder nicht erfüllen konnten oder aus lebensgeschichtlichen Motiven. So zählte Wien Mitte des Jahres 1939 noch 110000 jüdische Einwohner, mit denen sich die Vermögensverkehrsstelle befasste. Ihr oblag die Pflicht »zur Unterstützung des jüdischen Proletariats«, und zwar mit den Geldern aus den staatlichen Gewinnen der »Arisierung«. Aus diesem Fonds wurden auch »Darlehen an bewährte nationalsozialistische Kaufwerber« für jüdische Unternehmen gegeben, deklariert als Wiedergutmachung für die von den NS-Kämpfern in der »jüdisch-sozialistischen Zeit Wiens« angeblich erlittene Unbill.[34] Der Darlehensfonds fungierte als Instrument der Strukturpolitik, und natürlich wurde damit auch die Geldgier der nichtjüdischen Käufer befriedigt. Für beide Zwecke standen umso mehr Gelder zur Verfügung, je mehr man bei der Unterstützung der arm gemachten jüdischen Minderheit einsparte.

Also wurden Mittel und Wege gesucht, diejenigen, denen es an Geld fehlte oder die nicht auswandern wollten, möglichst billig loszuwerden. Dabei verfielen die Beteiligten auf ein zukunftsträchtiges Projekt – die Errichtung von Lagern. Im Namen des Beirats der Vermögensverkehrsstelle verfasste deren Leiter Rafelsberger im Oktober 1938 »Vorschläge für eine wirkungsvolle Durchführung der Entjudung«. Er regte an, drei Lager für je 10000 Juden zu errichten.[35] Sie sollten die Baracken selbst bauen, weil so die Gesamtkosten bei rund 10 Millionen Mark gehalten und die »bereits vorhandenen etwa 10000 jüdischen Arbeitslosen« beschäftigt werden könnten. Die Barackenlager sollten in menschenleeren Regionen, Sand- oder Sumpfgebieten errichtet werden. Zuständig für die Realisierung dieser Pläne war Ernst Dürrfeld, der mit Bürckel aus der Saarpfalz gekommen war und wenig später Dezernent in der Stadtverwaltung von Warschau wurde. Schwierigkeiten bereitete vor allem die Beschaffung von Stacheldraht für die Umzäunung der Lager. »Die gesamte Leitung der Aktion« sollte der Vermögensverkehrsstelle obliegen. Rafelsberger dachte bereits an so etwas wie eine »Selbstverwaltung« der Lager, wie sie 1940 für die Ghettos im besetzten Polen eingeführt wurde: »Träger, d.h. Besitzer und Verwalter des Lagers selbst soll eine Genossenschaft werden, die aus den jüdischen Lagerinsassen besteht.« Auch der »Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk«, wie er später in Warschau amtierte, war schon erfunden, denn es hieß: »Die Leitung dieser Genossenschaft wird einem Kommissar unterstellt.« Rafelsberger wollte »die Arbeitskraft der Juden, solange sie im Lande sind, ausnutzen« und sie für »gemeinnützige Vorhaben« einsetzen. Für »die Beaufsichtigung der Insassen in Sammellagern« seien »im Einvernehmen mit der Gestapo Parteiformationen heranzuziehen«.

Aus diesen Plänen wurde fast nichts. Aber fünf Tage nach Kriegsbeginn wandte sich der Wiener Bürgermeister Hermann Neubacher an den Reichswirtschaftsminister und verlangte »einschneidende Maßnahmen« gegen die jüdischen Arbeitslosen in Wien. Er regte die Arbeitspflicht an, erklärte sich aber gleichzeitig außerstande, »diese Judenmassen einzusetzen«. Er schlug vor, dass sie »in Arbeitslagern über das ganze Reich verteilt werden müssen«. »Eine solche Aktion würde«, so fuhr er fort, »auch den besonders in Wien schwierigen Wohnungsmarkt entlasten«. Rafelsberger sekundierte am selben Tag mit einem Brief an Göring. Er verlangte das Gleiche, nur in schärferem Ton: Er sprach von »Zwangsarbeitslagern«, »Straßenbauten« und »Juden in geschlossenen Abteilungen«.[36] Dem waren bereits Verhandlungen zwischen der Direktion der Reichsautobahnen, der SS und dem Wirtschaftsministerium vorausgegangen, die sich ohne greifbares Ergebnis hinzogen.[37]

 

In Wien gelang es in kurzer Zeit, einen Planungs- und Rationalisierungsschub auf Kosten einer Minderheit durchzusetzen, um auf diese Weise die »arische« mittelständische Basis zu beruhigen und zu konsolidieren. Hatte diese auch nicht in dem Maße von der »Entjudung« profitiert, wie sie sich das in Form von »Wiedergutmachung« erhofft hatte, so musste sie in dem Anpassungsprozess der österreichischen an die deutsche Wirtschaft doch nicht allzu viele Härten hinnehmen. Allerdings, so kündigte Rafelsberger fast drohend an, sollte sich die Rationalisierung nur »zunächst« auf den »jüdischen Sektor« beschränken. Später sollte »auch eine Planung und Bereinigung des arischen Sektors erfolgen«.[38] Als Ergebnis resümierte er am 1. Februar 1939: »Der große Liquidationsansatz und die Umlagerungen (Standortverlegungen im Zuge der Arisierung) beseitigten in vielen Sparten die Übersetzung[39] restlos und schafften in den übrigen bessere Bedingungen. Eine restlose Berufsbereinigung konnte nicht durchgeführt werden, da diese Planungen den arischen Sektor in der Wirtschaft nicht erfassen konnten.« Allerdings habe die »Entjudung der gewerblichen Wirtschaft in der Ostmark Voraussetzungen geschaffen, die (…) auch wesentlich zur Stärkung der ostmärkischen Wirtschaft beitragen« und damit die »wirtschaftliche Eingliederung« Österreichs »in den großdeutschen Raum« fördern würden.[40]

Ein Modell macht Schule

Dass dieses Vorgehen als Modell für andere besetzte Länder begriffen und später angewandt wurde, zeigt sich zunächst an den Karrieren derjenigen, die das Konzept entwickelt hatten: Hans Fischböck avancierte im Juni 1940 zum Wirtschaftskommissar in den besetzten Niederlanden, Eichmann wurde – eben wegen seiner Wiener »Erfolge« – zur zentralen Figur des Sicherheitsdienstes für alle Angelegenheiten der Zwangsauswanderung, Umsiedlung und »Evakuierung«. Im Beirat der Vermögensverkehrsstelle saßen neben Rafelsberger der Gauleiter von Wien, Diplom-Ingenieur Odilo Globocnik, später SS- und Polizeiführer in Lublin; der Wiener Bürgermeister Hermann Neubacher, später Sonderbeauftragter für Wirtschaftsfragen in Südosteuropa; und Hans Kehrl, der sich selbst als Krisenmanager im Dritten Reich verstand und sowohl das Reichswirtschaftsministerium als auch Görings Vierjahresplanbehörde in dieser Runde vertrat.[41] Walter Emmerich wechselte im Mai 1940 als Wirtschaftsminister (»Leiter der Hauptabteilung Wirtschaft«) ins Generalgouvernement, also ins besetzte Polen. Einen Monat später folgte ihm Gater: als Leiter der neu gegründeten Dienststelle Generalgouvernement des RKW. Im Februar 1941 beauftragte Emmerich das RKW mit einem Gutachten besonderer Art. Thema: »Die Wirtschaftsbilanz des jüdischen Wohnbezirks in Warschau.« Gater berechnete in diesem Gutachten, wie wir noch darstellen werden, »den Wert eines Juden«. Um die »Wirtschaftsbilanz« des Warschauer Ghettos auszugleichen, schlug er als eine Möglichkeit vor: »Es tritt Unterversorgung ein, ohne Rücksicht auf die Folgen.« Das RKW heißt heute: Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft, und Dr. Gater hatte bis zu seinem Tod 1989 als herausragender Rationalisierungsexperte der Bundesrepublik im Who is Who seinen Platz.

 

Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die Niederlande. In der kurz darauf installierten Besatzungsverwaltung arbeiteten überwiegend Österreicher, allen voran der Reichskommissar für die besetzten Niederlande Arthur Seyß-Inquart – zuvor Reichsstatthalter in Wien. Als Generalkommissar für Wirtschaft und Finanzen holte er sich Hans Fischböck nach Amsterdam. Wie schon in Österreich, so trat Fischböck auch in den Niederlanden dafür ein, dass die »Entjudung der Wirtschaft« nicht in erster Linie der Bereicherung einzelner Deutscher diente, sondern eine ökonomische Ordnungsfunktion erfüllte. Er wollte verhindern, dass – wie noch in Österreich geschehen – die Unternehmen von Juden primär nach politischen Kriterien, also an einheimische oder deutsche Nationalsozialisten, vergeben wurden. Die Interessenten sollten nicht nur einen angemessenen Preis für die Betriebe zahlen, sondern für deren Leitung auch qualifiziert sein. Kontrolliert wurde dies von einer eigens eingerichteten Wirtschaftsprüfstelle. Vom 22. Oktober 1940 an mussten dort alle jüdischen Betriebe angemeldet werden. Die »Arisierung« erfolgte dann – nach einiger Vorbereitung – vom März 1941 an.

Ebenfalls nach Wiener Vorbild richtete Erich Rajakowitsch, ein Mitarbeiter Eichmanns, eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung ein. Dennoch konnten nur wenige niederländische Juden emigrieren. Da die Deutschen bemüht waren, bei der »Arisierung« den Anschein von Legalität zu wahren, sollten vor allem jüdische Unternehmer auswandern, die man anders vorerst nicht zum Verkauf ihrer Betriebe zwingen konnte. Die SS schlug vor, Ausreisevisa speziell an die Inhaber jener Betriebe zu vergeben, an denen »im Rahmen der Wirtschaftsverflechtung der Vierjahresplan und die sonstigen beteiligten Stellen größtes Interesse haben«.[42]

Anders als in Österreich stand die niederländische Wirtschaftsproduktivität der deutschen nicht nach. Deshalb rückte bei der »Arisierung« das Interesse an der Kapitalverflechtung (also der Beteiligung deutschen Kapitals an niederländischen Unternehmen) in den Vordergrund, die Rationalisierung stand an zweiter Stelle. Zu diesem Zweck hatte Göring den »Befehl zur Kapitalverflechtung mit den besetzten Westgebieten« erlassen, um »sobald wie möglich im Hinblick auf die zu schließenden Friedensverträge vollendete Tatsachen zu schaffen«.[43] Das Reichswirtschaftsministerium richtete in der von Gustav Schlotterer geleiteten Sonderabteilung »Vorbereitung und Ordnung« ein spezielles Referat »Kapitalverflechtung« ein.[44] Sowohl für die Niederlande als auch vor allem für Belgien galt dabei die Devise, sich »auf wirklich interessante und volkswirtschaftlich lohnende Projekte (zu) konzentrieren«.[45] Dazu zählten in den Niederlanden vor allem die vier Weltkonzerne Shell, Philips, Unilever und die Algemeene Kunstzijde Unie, aber auch Schwerindustrie- und Rüstungskonzerne wie die Flugzeugwerke Fokker.[46]

Die »Arisierung« war nicht die einzige Methode zur »Durchdringung der holländischen Wirtschaft mit deutschem Kapital«, zumal von den genannten Konzernen nur Unilever als jüdisches Unternehmen galt. Aber sie diente – ähnlich wie später im Protektorat Böhmen und Mähren und in Südosteuropa – deutschen Unternehmern als Einstieg in die niederländische Wirtschaft und bot die Möglichkeit zur »Durchdringung auf breiterer Grundlage« (durch »Arisierung« der mittleren Betriebe). Dem Reichswirtschaftsministerium war nämlich daran gelegen, dass niederländische und belgische Unternehmer einer Kapitalverflechtung positiv gegenüberstanden. Eine solche Stimmung ließe sich umso leichter erzeugen, wenn die »Durchdringung des Wirtschaftsraums«[47] auf Kosten jüdischer Unternehmer vonstattengehen würde.

Darüber hinaus wussten Fischböcks Fachleute die »Arisierung« selbst in den Niederlanden mit wirtschaftlicher Rationalisierung zu kombinieren. Von den 21000 Betrieben und Geschäften, die die Wirtschaftsprüfstelle erfasst hatte, wurden 11000 an neue Besitzer übereignet, 10000 aufgelöst, Inventar und Lagerbestände an »arische« Konkurrenten verkauft.

Die Einnahmen aus dem Verkauf der »arisierten« Firmen, Häuser und Grundstücke gingen zum überwiegenden Teil an die Vermögensverwaltungs- und Rentenanstalt (VVRA). Fischböck und Seyß-Inquart sahen die VVRA als den »großen Topf«[48] an, in dem das gesamte Vermögen der niederländischen Jüdinnen und Juden gesammelt werde – insgesamt 350 Millionen Gulden.[49] Aus diesem Etat stammten auch die Gelder, mit denen die Judenverfolgung finanziert wurde: Die VVRA erstattete der Sicherheitspolizei die Ausgaben für ihre »Arbeit auf dem Gebiet der Judenverfolgung«. Sie zahlte Kopfgelder für die Denunziation untergetauchter Verfolgter[50] und finanzierte den Ausbau des »Judendurchgangslagers« de Vught, des Lagers Westerbork und dessen Eisenbahnanschluss. Das Material dafür brauchte allerdings nur gemietet zu werden, denn schon als im Juli 1942 der Bauauftrag erteilt wurde, stand fest, dass die Schienen ein Jahr später, wenn voraussichtlich alle niederländischen Juden deportiert sein würden, wieder abgebrochen werden sollten.[51] Für die Einrichtung des KZ in Ommen zahlte das Bankhaus Lippmann & Rosenthal 150000 Gulden aus dem Vermögen der aufgelösten jüdischen Vereine und Stiftungen. Aus dem Fonds von 11 Millionen Gulden erhielt der Amsterdamer Judenrat Zuschüsse in Höhe von 40000 Gulden. Insgesamt wurde die Judenverfolgung in den Niederlanden »von Anfang bis Ende aus jüdischen Geldern finanziert«.[52]

Während jüdische Aktionäre und Unternehmer, Handwerker und Kaufleute durch die »Arisierung« ihrer Betriebe enteignet wurden, verloren die jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Regel ihre Anstellung. Entweder wurden sie durch die Betriebsstilllegungen arbeitslos oder von den neu eingesetzten Treuhändern entlassen. Im Oktober 1941 erließ Seyß-Inquart eine Verordnung, die die Beschäftigung jüdischer Arbeitskräfte generell nur mit Sondergenehmigung erlaubte.[53]

Zu diesem Zeitpunkt wurden die Deportationen deutscher, tschechischer, österreichischer und luxemburgischer Juden bereits organisiert.

Der Vierjahresplan

Am 31. Juli 1941 erteilte Hermann Göring an Heydrich den Auftrag, eine »Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa« vorzubereiten. Das Schreiben trug den Briefkopf des Vorsitzenden des Reichsverteidigungsrates und des Beauftragten für den Vierjahresplan. Gewöhnlich wird darauf hingewiesen, Heydrich habe selbst die Initiative ergriffen, den Auftrag von Eichmann formulieren und von Göring unterschreiben lassen. Auch wenn sich dies laut Eichmanns späterer Aussage in Jerusalem so verhalten haben mag, so waren die Überlegungen zur »Endlösung der Judenfrage« auch in der Vierjahresplanbehörde Görings diskutiert worden. Die Vierjahresplanbehörde war in den Jahren 1938 bis 1941 an allen zentralen Entscheidungen über die antijüdische Politik, die Kriegführung, die Vertreibungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa beteiligt. Ihre Mitarbeiter verstanden sich als koordinierender Stab, als intelligentes Zentrum, als eine Elite, die Pläne entwarf, Impulse gab – die Ausführung der dort entwickelten Ideen und die Verwaltungstätigkeit aber möglichst an andere Behörden delegierte. Die Vierjahresplanbehörde war im Oktober 1936[54] mit dem Ziel gegründet worden, Deutschland militärisch und wirtschaftlich auf den Krieg vorzubereiten und damit »in die politische Auseinandersetzung über die Großraumlösung ein(zu)treten«.[55] Grundlage dafür war eine von Hitler 1936 eigenhändig ausgearbeitete Denkschrift, in der er »folgende Aufgabe« stellte: »I. Die deutsche Armee muss in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muss in 4 Jahren kriegsfähig sein.«[56]

Den Kern des neu geschaffenen wirtschafts- und sozialpolitischen Führungsstabes Vierjahresplan bildete ein »kleines Zentralbüro« mit kaum mehr als hundert Planstellen. Von dort sollten die Arbeiten der einzelnen Wirtschaftsressorts beobachtet und Göring gegebenenfalls Vorschläge »zur Abstimmung der Einzelarbeiten, Beseitigung von Mangellagen und Gefahrenpunkten gemacht werden«.[57] Hier – und nicht etwa von Göring selbst – wurden die grundlegenden Erlasse für die deutsche Kriegswirtschaft formuliert. Göring war einer der mächtigsten Männer im nationalsozialistischen Staat und dennoch, so der Historiker Dietrich Eichholtz, »völlig abhängig von Rat und Politik der ›Fachleute‹ und ›Berater‹«.[58] Auf der Konferenz vom 12. November 1938 hatte er sich selbst als »nicht so versiert« bezeichnet, als es darum ging, wirtschaftliche Pläne im Detail zu beurteilen.[59]

Görings Funktion bestand darin, moralische Hemmungen und normativ-juristische Grenzen leichter überwindbar zu machen, um politische Ziele zu realisieren. Wie das im Einzelnen zu geschehen hatte, welche Prioritäten zu setzen und welche Verfahren anzuwenden waren, darüber entschieden seine Fachleute und Staatssekretäre aus verschiedenen Ressorts, die im Generalrat des Vierjahresplans zusammengeschlossen waren.

Der Vierjahresplan sollte die Voraussetzungen für »eine Ausdehnung des deutschen Einflussbereiches« schaffen, »um die eigenen Wirtschaftskräfte im notwendig bleibenden Umfang von außen her zu ergänzen«.[60] Die Vordenker der Vierjahresplanbehörde setzten dabei die den »Staatsraum vergrößernde politische Tat« voraus. Ihnen kam es nicht darauf an, »mit Zirkel und Lineal« Einzelentscheidungen zu treffen. Vielmehr koordinierten sie die großen Linien und garantierten bei den »oft sprunghaft wechselnden Anforderungen der obersten politischen Führung« die notwendige »Elastizität der Programme«.[61]

Die Vierjahresplanbehörde sollte die deutsche Wirtschaft auf den geplanten Krieg vorbereiten, sie entsprechend rationalisieren, für genügend Devisen und Arbeitskräfte sorgen und das Verhältnis zwischen Löhnen und Preisen steuern.[62] Sie sollte die Zusammensetzung der Bevölkerung kontrollieren, und zwar hinsichtlich ihrer Berufsqualifikation und ihrer Fähigkeit zum Arbeitseinsatz. Schließlich hatte sie darauf zu achten, dass die »Soziallasten« nicht steigen, sondern fallen würden.

In der Vierjahresplanbehörde zählten Effizienz und Sachkenntnis mehr als Beamtenhierarchie und Dienstalter. So ist es nicht erstaunlich, dass viele der Manager im Zentrum der Macht noch sehr jung waren. Bei Kriegsende gerade 30 Jahre alt, gelang den meisten von ihnen mühelos der Sprung in die zweite Karriere. Sie begeisterten sich noch zehn Jahre nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland derart für ihr gescheitertes Werk, dass einer von ihnen anlässlich eines nostalgischen Wochenendtreffens ehemaliger Mitarbeiter schwärmte: »Es beseelt mich nur der eine Wunsch, dass unseren nachfolgenden Generationen wieder solche Aufgaben gestellt werden, wie wir sie einstens mit aufrichtigem Herzen, mit beseeltem Schwung und in mühseligem Schaffen leisten durften. Es war für unser liebes, so arm gewordenes Volk. Wohl allen denen, die wieder dafür wirken dürfen.«[63]

Den meisten wurde dieser Wunsch, wieder für ihr »armes deutsches Volk« zu wirken, rasch erfüllt. Teilnehmer des Veteranentreffens zu Pfingsten 1955 waren: Dr. Fritz Klare, zuständig für Ernährungsfragen im Planungsamt der Vierjahresplanbehörde, nach dem Krieg für die Einfuhr- und Vorratsstelle damit beschäftigt, durch staatliche Aufkäufe die Fleischpreise zu stützen und Lebensmittelreserven für Westberlin zu horten; Max Bergbohm, inzwischen tätig im Bundesrechnungshof, zuvor bei Göring Generalreferent für polnische Fragen, Empfänger der für Göring bestimmten Verschlusssachen, zuständig für »Feindvermögen«, 1938 nach fünfjähriger Mitgliedschaft als »Vierteljude« aus der NSDAP ausgeschlossen, bei gleichzeitig ungebrochener Fortsetzung seiner Karriere als Berater Görings;[64] Robert Hallwachs, inzwischen im Niedersächsischen Landesamt für Ernährungswirtschaft, zuvor Verwaltungsdirektor des Vierjahresplans; Dr. Joachim Bergmann, unter anderem Leiter des Referats 6 (»Angelegenheiten der besetzten sowjetrussischen Gebiete«), nach dem Krieg Rechtsanwalt in Frankfurt am Main; Dr. Friedrich Gramsch, im Vierjahresplan als Ministerialdirektor zuständig für die Haupttreuhandstelle Ost, also für das enteignete jüdische und polnische Vermögen, Vertreter Görings bei wichtigen Sitzungen, war später Mitarbeiter des Ostministeriums unter Rosenberg.[65] Er starb 1955, noch nicht voll rehabilitiert, als Ministerialdirektor zur Wiederverwendung und Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages. Ins Bonner Auswärtige Amt gelangt war Dr. Otto E. Heipertz. Er arbeitete unter anderem als Legationsrat und Leiter der bundesdeutschen Handelsmission in Prag. Seine Stellenbeschreibung beim Vierjahresplan hatte gelautet: »zuständig für wirtschaftliche Fragen des Protektorats Böhmen und Mähren und des Generalgouvernements«. Dr. Wilhelm Marquart und Dr. Hans Langelütke, beide im Planungsamt des Vierjahresplans für Wirtschaftsstatistik zuständig, hatten in der Zwischenzeit zusammen das IFO-Institut für Wirtschaftsinformation und -forschung in München aufgebaut, das sich mit Wachstums- und Strukturforschung beschäftigt, »langfristige Projektionen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« pflegt und dem es erklärtermaßen auf die Zusammenschau aller wirtschaftlichen Faktoren ankommt. In den 1960er-Jahren befasste sich das IFO-Institut im Interesse der deutschen Wirtschaft bereits wieder mit der Nutzung und Ausbeutung ökonomischer Ressourcen anderer Länder – diesmal via Entwicklungshilfe. Es baute eine Afrikastudienstelle auf und lud gelegentlich auch einen weiteren ehemaligen Mitarbeiter der Vierjahresplanbehörde als Vortragsredner ein: Professor Donner aus Washington.

Otto Donner, Jahrgang 1902, war am Berliner Institut für Konjunkturforschung und am Weltwirtschaftsinstitut in Kiel ausgebildet worden. Von April 1940 bis 1943 arbeitete er als Persönlicher Referent und engster Vertrauter des Staatssekretärs Erich Neumann, des Mannes also, der als Stellvertreter Görings an der Wannseekonferenz teilnahm. Parallel dazu leitete Donner die Forschungsstelle für Wehrwirtschaft beim Vierjahresplan, von der noch die Rede sein wird. In dieser Funktion erarbeitete er unter anderem eine langfristig angelegte Strategie, mit deren Hilfe Südosteuropa in die ökonomische Abhängigkeit getrieben werden sollte. Donner war der wichtigste finanzwirtschaftliche Experte des Vierjahresplans. Spätestens im Oktober 1945 trat er in die Dienste der amerikanischen Besatzungsbehörden; er wurde dort Leiter der Personal- und Verwaltungsabteilung der Economic Division, 1947 Staatsbürger der USA und Professor in Washington. Von 1952 an war Donner stellvertretender Exekutivdirektor für die Bundesrepublik und Jugoslawien beim Internationalen Währungsfonds und von 1954 bis 1968 deutscher Exekutivdirektor bei der Weltbank.

 

Aufgaben und Bedeutung des Vierjahresplans wuchsen mit den Blitzkriegen bis zur Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion und versetzten die Großraumökonomen ins Schwärmen. So schrieb Donner 1941: »In überragendem Schwung hat uns die Wehrmacht Bewegungsfreiheit und Spielraum geschaffen und uns Verfügungsfreiheit über den größten Teil des europäischen Kontinents gegeben.« Allerdings sei daraus »teils eine Erleichterung, teils eine Erschwerung« der wirtschaftspolitischen Aufgaben erwachsen.[66]

Schwierigkeiten sahen die Experten – in diesem Fall Otto Donner – vor allem in einer Verschlechterung der Ernährungslage: Die deutschen Kriegsplaner rechneten von vornherein mit der britischen Seeblockade. Die Intensiv-Landwirtschaften Deutschlands, Dänemarks und der Niederlande waren stark von Futtermittelimporten aus Übersee abhängig. Gleichzeitig hielt es Donner für unmöglich, den Fehlbedarf mit Hilfe der rückständigen, unrationellen Landwirtschaft Südost- und Osteuropas zu decken. Die dort »rein theoretisch« vorhandenen Ernährungsreserven könnten im Krieg wegen des »erheblichen Arbeits- und Materialeinsatzes, dessen Früchte erst nach Jahren reifen« würden, nicht genutzt werden. Gleichzeitig zwinge der Krieg in den Regionen Europas mit intensiver Landwirtschaft zu einer immer extensiveren Wirtschaftsweise. Auf längere Sicht müssten so selbst aus Überschussgebieten zwangsläufig Zuschussgebiete werden.[67] Diese Analyse war, wie wir noch darstellen werden, eine der wirtschaftspolitischen Grundlagen für die Kriegspläne gegen die Sowjetunion.

Mit Beginn des Krieges weitete die Vierjahresplanbehörde ihre Macht aus und stutzte die Kompetenzen des Reichswirtschaftsministeriums weiter. Damit aber war der Führungsanspruch der im Generalrat für den Vierjahresplan zusammengeschlossenen Staatssekretäre formuliert, wohlgemerkt Staatssekretäre aller wirtschafts- und sozialpolitisch wichtigen Ressorts, nicht Minister. Sie begründeten ihre Machterweiterung mit der Notwendigkeit, »alle Kräfte auf einen länger dauernden Krieg auszurichten«.[68] Dem Generalrat gehörten neben Göring acht Staatssekretäre an, der Reichskommissar für Preisbildung, Wehrwirtschaftsgeneral Georg Thomas für das Oberkommando der Wehrmacht und ein Vertreter für die NSDAP. Soweit nötig, konnten führende Experten und leitende Beamte aus dem Finanzministerium und der Reichsbank hinzugezogen werden. Diese Struktur etablierte die Herrschaft der Staatssekretäre, die sich, anders als die Mehrzahl ihrer vorgesetzten Minister, als sachbezogene Technokraten verstanden: Sie berichteten im Generalrat laufend über interne Vorgänge in ihren Ministerien und waren zugleich als Gremium ermächtigt, »erforderliche Maßnahmen« zu veranlassen. Als Mitglieder des Generalrates waren die Staatssekretäre ihren Ministern vorgesetzt.[69]

Dem Generalrat des Vierjahresplans gehörten folgende Staatssekretäre an: Herbert Backe (Ernährung und Landwirtschaft), Friedrich Landfried (Wirtschaftsministerium); Friedrich Syrup (Arbeitsministerium), Wilhelm Kleinmann (Verkehrsministerium), Friedrich Alpers (Reichsforstamt) und Wilhelm Stuckart (Innenministerium). Paul Körner und Erich Neumann vertraten als Staatssekretäre die Vierjahresplanbehörde selbst.

Backe, Landfried, Syrup, Kleinmann und Stuckart leiteten außerdem in der Vierjahresplanbehörde jeweils eine »Geschäftsgruppe«, die dem Arbeitsgebiet ihres Ministeriums entsprach. Auf diese Weise hatten sie sich in die Lage versetzt, unter ihren eigenen Ministerialbeamten Experten für die Vierjahresplaninteressen zu rekrutieren. Sie konnten so ihre Unabhängigkeit gegenüber den Ministern auch personell absichern und die ministerielle Hierarchie aushebeln.

Faktisch führte Paul Körner, der engste und vertrauteste Mitarbeiter Görings, den Vorsitz des Generalrats. Er wurde 1893 in Sachsen geboren und trat 1926 der NSDAP bei. Als Göring 1933 zum Preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, folgte ihm Körner als Staatssekretär. Er amtierte seit dieser Zeit in allen wichtigen Funktionen als Stellvertreter Görings, als der eigentliche Moderator der Vierjahresplanbehörde und ihres Generalrats. Körner war es, der von Januar 1941 an auf die schnelle Modernisierung der deutschen Industrie drang. Schließlich, so argumentierte er, sei die Zahl der Arbeitskräfte begrenzt und darum »in der weiteren Rationalisierung und Technisierung der deutschen Wirtschaft eine besonders wichtige Aufgabe zu sehen«. Das setzte Forschung und Schulung voraus, zugleich aber auch »eine großzügige neue Sozialpolitik (…), um die Arbeitskraft jedes einzelnen Deutschen zu erhalten und zu steigern«. Im Generalrat betrieb Körner die »verständnisvolle Abgleichung verschiedenartiger Interessen« mit Umsicht und Fleiß.[70]

Körner delegierte, was er irgend delegieren konnte, und war immer bereit, »die Ausführung der großen, den Gedanken Hermann Görings entsprungenen Pläne aber den einzelnen Ressorts selbst (zu) überlassen«. Vor allem jedoch stand er für die Verbindung von Wirtschafts- und Sozialpolitik. So heißt es in einem Artikel der Zeitschrift »Der Vierjahresplan«: »Stets auch hat er die sozialen Rückwirkungen aller Maßnahmen richtig erkannt und eingeschätzt. Ein tiefes Verständnis für die sozialen Zusammenhänge und die sozialpolitischen Notwendigkeiten haben ihn stets ausgezeichnet.« Nach 1939 nahmen Körners Aufgaben rasch »kontinentaleuropäische Ausmaße« an: »Seit dem Sommer 1941 erwuchsen dazu im Osten wirtschaftliche Aufgaben größten Stiles, an deren grundlegender Planung und Durchführung mit Hilfe des neu gebildeten Wirtschaftsstabes Ost der Staatssekretär maßgeblichen Anteil hatte.«[71] Unter Körners Leitung wurde dort von Februar 1941 an eine militärwirtschaftliche Strategie entworfen, die bewusst den Hungertod von vielen Millionen Menschen in der Sowjetunion anvisierte. Körner und nicht der eigentlich zuständige Arbeitsminister unterzeichnete am 3. Oktober 1941 – also wenige Tage vor den ersten Deportationen deutscher Juden »nach Osten« – jene im Reichsgesetzblatt veröffentlichte »Verordnung über die Beschäftigung von Juden«. Damit war all jenen, die zum Zweck der Zwangsarbeit und Vernichtung deportiert werden sollten, endgültig der Schutz des allgemeinen Arbeitsrechts entzogen worden.[72]1943 besuchte Körner auch das Vernichtungslager Auschwitz.[73] Noch im Jahr 1944, als der Vierjahresplan längst an Bedeutung verloren hatte, nannte der in die USA emigrierte Politikwissenschaftler Franz Neumann »Paul Körner, Staatssekretär im Amt für den Vierjahresplan«, einen der Nationalsozialisten, die »ungeheure Macht besitzen, weil sie das Bindeglied zwischen der Partei und den übrigen Teilen der herrschenden Klasse darstellen«.[74] Das amerikanische Militärtribunal in Nürnberg verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft. 1951 wurde er begnadigt und erhielt bis zu seinem Tod 1957 eine Pension ausbezahlt.

Der zweite Mann hinter Göring, der ihn auch am 20. Januar 1942 auf der Wannseekonferenz vertrat, war Staatssekretär Erich Neumann. Neumann wurde 1892 geboren und trat 1933 sowohl der NSDAP als auch der SS bei. Von Hause aus Jurist und Volkswirt, hatte er im Preußischen Handelsministerium Erfahrungen gesammelt und galt als »zurückhaltender Arbeiter«.[75]1938 zum Staatssekretär und Vertreter Körners ernannt, bearbeitete er innerhalb des Vierjahresplans Devisenangelegenheiten und »besondere Aufträge allgemeiner wirtschaftlicher Art«. Damit war auch seine spezielle Kompetenz für »Judenangelegenheiten« – also für alle Devisen- und Wirtschaftsfragen im Zusammenhang mit der erzwungenen Auswanderung – umschrieben.

Im März 1938 erteilte der Beauftragte für den Vierjahresplan für das annektierte Österreich die Weisung, dass »die Juden auch aus der Wirtschaft so schnell wie möglich ausgeschieden werden« sollten.[76] Am 26. April erließ Göring in derselben Funktion die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden.[77] Am 16. Dezember 1938, fünf Wochen nach der bereits erwähnten Konferenz im Reichsluftfahrtministerium, fand im Innenministerium eine Sitzung »in Angelegenheit der Judenfrage« statt. Ihr Ziel war, alle Ebenen der deutschen Staatsverwaltung auf die Ergebnisse der Konferenz vom 12. November einzuschwören. Dazu wurde angemerkt, dass »der Beauftragte für den Vierjahresplan« die Judenpolitik nun »zentral angepackt«, die »Verdrängung der Juden aus der aktiven Wirtschaft und ihre Umwandlung in Rentenempfänger« und »die großzügige Förderung einer Auswanderungsaktion« in die Wege geleitet habe.[78]

Zwei Tage nach der Kapitulation Polens, am 19. September 1939, berieten der Ministerrat für die Reichsverteidigung und die Spitzenfunktionäre des Vierjahresplans, die Staatssekretäre, Heydrich und führende Vertreter der Reichsministerien unter Vorsitz von Göring »die Frage der Bevölkerung des zukünftigen polnischen Protektoratsgebietes und die Unterbringung in Deutschland lebender Juden«.[79]