Vorübung zu einer Kunst des Sterbens - Martin Dornis - E-Book

Vorübung zu einer Kunst des Sterbens E-Book

Martin Dornis

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Beschreibung

Zeitlebens hat Gustav Mahler mit der Thematik des Todes gerungen. Immer wieder behandelte er sie musikalisch auf neue Weise. Martin Dornis untersucht Mahlers Symphonien in seiner Studie als Vorübungen zu einer Kunst des Sterbens. Philosophie und Musik lehren das Sterben auf gegensätzliche, aber je ungenügende Weise, sprachlich einerseits, musikalisch andererseits. In Mahlers Musik wird hingegen künstlerisch greifbar, wie eine wirkliche Kunst des Sterbens klingen könnte. Sie wäre eine, die die Menschen lehren könnte, mit der Todesgewissheit umzugehen. Zugleich zeigt sie jedoch, dass Musik letztlich nicht in der Lage ist, dem Tod Einhalt zu gebieten. Stattdessen verweist sie auf den ewigen Augenblick des Augustinus: Sie zeigt, was erfüllte Zeit wäre und worin ein singend-sprechendes und sprechend-singendes Leben trotz des Todes und in dessen Angesicht bestünde.

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Martin Dornis

Vorübung zu einer Kunst des Sterbens

Was sich von Mahlers Knochenflöte über die Versöhnung von Musik und Sprache lernen lässt

© 2021 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN Printausgabe 978-3-86674-815-6

ISBN E-Book-Pdf 978-3-86674-915-3

ISBN E-Book-Epub 978-3-86674-916-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zum Geleit von Christoph Türcke

Einleitung: Das Ungenügen der absoluten Musik

1.Das Problem einer Kunst des Sterbens

2.Absolute Musik

3.Das theoretische Konzept der absoluten Musik

4.Form und Inhalt in der absoluten Musik

1.Die Botschaft der Knochenflöte im »Klagenden Lied«

1.1Zur Methodik

1.2Mahlers »Lebensmelodie«

1.3Text und Musik: Die Konzeption des »Klagenden Liedes«

1.4Der singende Knochen als Gesamtkunstwerk

1.5Die Emanzipation des Subjekts im »Klagenden Lied«

Dialektik von Subjekt und Objekt

Die dialektische Konzeption der Knochenflötenmelodie

Die Dramatik des »Klagenden Liedes«

Die Schicksals- und Befreiungskonzeption im »Klagenden Lied«

1.6Die Musik als klagendes Lied –Das Geschichtskonzept des »Klagenden Liedes«

Das implizite Geschichtskonzept im »Klagenden Lied«

Der katastrophische Beginn der Menschheitsgeschichte

Die Entstehung der Trauer, die Flöte als ihr Instrument

Die Entstehung der Musik aus dem Opferschrei

Einspruch des Todes gegen sich selbst

2.Mahlers Sinfonien als Variationen des »Klagenden Liedes«

2.1Mahlers Erste: Der Durchbruch der Quarte

Lyrik und Dramatik in den Sinfonien Mahlers

Erster Satz: Langsam, schleppend – Im Anfang sehr gemächlich

Zweiter Satz: Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell

Dritter Satz: In ruhig fließender Bewegung

Das Finale: Stürmisch bewegt

Durchbruch des Potentials der Quarte als Musikalisierung der Natur zwecks Eingedenken des Todes

2.2Die Zweite Sinfonie: Zwischen Verdammnis und Auferstehung

Der erste Satz – Die »Totenfeier«, Allegro maestoso. Mit durchaus ernstem und feierlichem Ausdruck

Der naive Eingriff – Urlicht. Sehr feierlich, aber schlicht (Choralmäßig)

Das Finale mit dem Auferstehungschoral – Im Tempo des Scherzo. Wild herausfahrend

Affirmation oder Kritik?

2.3Ein klagendes Abbild der Welt: Die Dritte Sinfonie

Einheit in Vielfalt

1. Satz. Kräftig. Entschieden – Ein klagendes Lied des Felsgebirges

2. Satz: Tempo di Menuetto. Sehr mäßig – Ein klagendes Lied der Blumen

3. Satz: Comodo Scherzando. Ohne Hast – Ein klagendes Lied der Tiere

4. Satz: Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp. – Ein klagendes Lied der Menschen

5. Satz: Lustig im Tempo und keck im Ausdruck – Ein klagendes Lied der Engel

6. Satz: Langsam. Ruhevoll. Empfunden – Ein klagendes Lied der Liebe

Die Dritte Sinfonie als instrumentale Antwort auf die Zweite

2.4Die Knochenflöte in der Latenz: Die mittleren Sinfonien

2.5Der verhauchende Gesang im »Lied von der Erde«

Die antagonistische Grundkonzeption

Das Trinklied vom Jammer der Erde. Allegro pesante

Der Einsame im Herbst. Etwas schleichend. Ermüdet

Von der Jugend. Behaglich heiter

Von der Schönheit. Comodo Dolcissimo

Der Trunkene im Frühling. Allegro. Keck, aber nicht zu schnell

Der Abschied. Schwer

Das klagende Lied von der Erde

2.6Dialektik des Zerfalls aus Stärke und aus Schwäche: Die Neunte Sinfonie

Zyklische Organisation als Zerfall

Der erste Satz: Andante comodo

Zweiter Satz. Im Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb

Dritter Satz: Rondo-Burleske. Allegro assai. Sehr trotzig

Das Finale. Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend

Die Neunte Sinfonie als klagendes Lied

2.7Die gesellschaftliche Problematik des musikalischen Zerfalls

3.Der reale Humanismus der Musik

Verwendete Literatur

Mit bibliographischen Abkürzungen zitierte Literatur

Über den Autor

Brief aus der Not

In ihrer Not schrieb Laura einen Brief an die Redaktion der Zeitschrift »Neue philosophische Blätter«. Der Brief hatte folgenden Inhalt.

Liebe Genossen,

seit kurzem bin ich Leser Eurer Zeitschrift. Inzwischen habe ich auch schon die letzten drei Jahrgänge geschafft und werd mich auch noch weiter durcharbeiten, denn ich hatte zwei Todesfälle in der Familie und bin Atheistin. Die »Deutsche Zeitschrift für Philosophie«, die ich abonniert habe, befaßt sich nicht mit solchen Gegenständen, die ich jetzt zu bewältigen habe. Und die Bibel, die sich mit solchen Gegenständen beschäftigt, kann mir nicht helfen. Deshalb dachte ich, Eure »Neuen philosophischen Blätter« bearbeiten das fragliche Gebiet. Aber ich glaube, ich hab falsch gedacht. Und deshalb frag ich Euch, liebe Genossen, wer hilft unsereinem?

Wir haben Gott abgeschafft, schön und gut. Aber die Gegenstände, mit denen sich die Religion beschäftigt, konnten wir nicht abschaffen. Tod, Krankheit, Zufall, Glück, Unglück – wie lassen sich die unerbittlichen Wechselfälle des Lebens eigenverantwortlich meistern? Wer ohne Gott lebt, kann Verantwortung nicht delegieren. Er muß diese Last immer allein tragen. Bei Entscheidungen kann er den Zweifel über deren Richtigkeit nicht loswerden, indem er sich mit der Vorsehung beruhigt. Schwer ist das, liebe Genossen, wenn man nicht vom Glück begünstigt bleibt. Unsere Oberwelt haben wir ganz gut im Blick. Aber die Unterwelt …

Freilich, der Marxismus ist eine noch junge Wissenschaft. Er hat vorerst noch alle Hände voll zu tun mit politischen und gesellschaftlichen Zuständen im engeren Sinne. Auch habe ich den Eindruck, daß unsere Philosophen solche Gegenstände bevorzugen, die die Klassiker schon mal angefaßt oder doch wenigstens berührt haben, und daß Philosophie für Fachleute geschrieben wird von Fachleuten, von »Berufsdenkern« grob gesagt.

Aber wir brauchen auch Philosophie oder etwas, wofür ich bisher keinen Namen weiß, für Nichtfachleute. Über täglich zu bewältigende, unabweisbare, elementare Lebensereignisse. Daß diese Gegenstände außer von Literatur kaum öffentlich behandelt werden, heißt ja nicht, daß sie nur von einigen Schriftstellern bedacht werden. Kein Mensch kann leben, ohne diese Gegenstände irgendwie zu bewältigen. Irgendwie. Ja. Möchtet Ihr nicht auch wissen, wie dieses »irgendwie« aussieht, wie, erstmals in der Geschichte der Menschheit, einfach Leute, deren Leben nicht nur von körperlicher, sondern auch von Bücherlesen und anderer geistiger Arbeit geprägt ist, das Problem Leben bedenken. Und das Problem Tod, mit dem jeder Mensch früher oder später konfrontiert wird. Ich möchte’s wissen, liebe Genossen. Denn ich bin ja nicht die einzige Frau auf der Welt, der liebe Menschen wegsterben. Aber wenn ich mich umseh, kann ich keine Kopflosigkeit entdecken, die meiner gleicht. Oder verstecken die Leute ihren Kummer besser? Oder haben sie das, was gebraucht wird und wofür ich bisher noch keinen Namen weiß, vielleicht schon gefunden?

Mit sozialistischem Gruß

Laura Salman

Triebwagenfahrerin

(Irmtraud Morgner 1984 [1983], 152 f.)

Zum Geleit

von Christoph Türcke

Philosophie ist nach Platon die Kunst, das Sterben zu lernen (ars moriendi). Aber befähigt die Musik als »Einheit von Erklingen und Verklingen« (Peter Gülke) dazu nicht mindestens genauso? Allerdings bleiben Menschen in dieser Kunst lebenslang Lehrlinge. Keiner wird Meister. Dennoch vermag Gustav Mahlers Musik, in der ständig der Tod mitschwingt, in überwältigender Weise hörbar zu machen, was gelungene ars moriendi wäre. Davon handelt das vorliegende Buch in eindrucksvoller Weise.

Der zwanzigjährige Mahler hatte bereits sein Lebensthema gefunden. Er artikuliert es, gleichsam aus dem Stand, in seinem ersten großen Chor- und Orchesterwerk: dem Klagenden Lied. Es vertont das Märchenmotiv vom Knochen des erschlagenen jüngeren Bruders, den ein Spielmann findet. Dieser schnitzt sich daraus eine Flöte, die das Schicksal des Erschlagenen klagt. Als der Spielmann zum Königshof kommt, wo der ältere Bruder Hochzeit mit der Königin hält, und das Lied der Flöte den Bräutigam als Mörder identifiziert, versinken Schloss und Hochzeitsgesellschaft. Die Knochenflöte tut märchenhaft, was die Musik nicht kann: Ihr Klang spricht zugleich. Ihm ist die Sprache innerlich eingesenkt, nicht äußerlich aufgesetzt, wie wenn Menschen Text singen. Die imaginäre Vereinigung von Sprache und Musik zur utopischen Klanggestalt der Versöhnung geschieht aber nur in Form bitterer Klage über den Mord und Anklage gegen den Mörder.

Während Theodor W. Adorno Mahlers großen Erstling lediglich als Vorübung erachtete, noch gar nicht ernstlich als Werk, erweist sich der Vorschlag, »Mahlers Sinfonien als Variationen des Klagenden Liedes« zu verstehen, als verblüffend schlüssig. Martin Dornis macht das Knochenflötenmotiv als roten Faden durch Mahlers OEuvre kenntlich. Er legt dar, wie sich dieser Faden durch das gesamte sinfonische Werk hindurch fortspinnt. Nie allerdings verlässt er bei der Beschreibung von harmonischen, rhythmischen oder klangfarblichen Einzelheiten die musikalische Bedeutungsdimension.

Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den letzten beiden großen Werken Mahlers: dem Lied von der Erde und der Neunten Sinfonie. Im Lied von der Erde wird eine chinesische Flöte zum Gegenstück der Knochenflöte. Ohne Chor, aber dank zweier alternierender Solostimmen, bekommt Vergänglichkeit den Charakter des »Verhauchens«, das Rettung und Erlösung sowohl dementiert als auch hörbar macht. Klage, Anklage, Versöhnung, im Klagenden Lied gelegentlich noch auseinanderdriftend, fallen hier mehr und mehr ineinander, ohne jedoch ganz eins zu werden. Im letzten Satz der Neunten schließlich findet der Schluss des Lieds von der Erde noch einmal ein rein instrumentales Echo, worin Mahler das Verhauchen in eine instrumental komponierte Dekomposition der Sinfonik transponiert. Dieses Ende bleibt paradox. Es wehrt sich dagegen, eines zu sein. Sein Verhauchen ist ein Verklingen, das nicht verklingen will, das sich weder dem Immer-so-weiter schlechter Unendlichkeit noch dem Gedanken des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod noch dem »Stehenden Jetzt« der christlich verstandenen Ewigkeit fügt, sondern Zeit und Ewigkeit in einen buchstäblich unerhörten dissonanten Zusammenhang bringt.

Es gelingt Martin Dornis, Mahlers Sinfonik vom Klagenden Lied her neu zu erschließen. Er setzt damit in der Musikphilosophie um Mahler eine bemerkenswerte Zäsur.

Einleitung: Das Ungenügen der absoluten Musik

1. Das Problem einer Kunst des Sterbens

Das menschliche Leben steht von seinen Anfängen an, sobald jedenfalls es sich seiner selbst bewusst wird, unter dem Banne einer panischen Angst vor dem Tod. Eine Kunst des Sterbens zielt, darauf reagierend, auf ein Philosophieren im Sinne einer Kunst, das Sterben zu lernen (vgl. Gülke 2004, 131 und Cicero 2008, 1,75). In seinem »Phaidon« versucht Platon sich zu vergewissern, dass es keinen Grund gäbe, sich vor dem Tod zu fürchten. Dieser sei vielmehr geradezu herbeizusehnen, weil die Seele bei seinem Eintreten ihr körperliches Gefängnis verlasse. Sokrates, so suggeriert uns zumindest Platon, vermag dank dieser Sichtweise seiner bevorstehenden Hinrichtung heiter und gelassen entgegenzusehen. Angesichts dessen fordert er seine um ihn herum versammelten Freunde dazu auf, seinem und dem eigenen Tod gleichfalls angstfrei, ja sogar freudig zu begegnen.1 (vgl. Platon 1994, 117) Platon reduziert hier den Menschen auf die Seele, d. h. er sieht vom Körperlichen, um das es doch beim Problem des Todes gerade geht, radikal ab. Die Abstraktion vom Sinnlichen, die der Tod am Lebendigen vollzieht, wird auf diese Weise ideell vorweggenommen, der Tod, gegen den eingesprochen werden soll, vorgreifend selbst vollzogen. Aber alles Geistige ist seinerseits dem Körperlichen überhaupt erst entsprungen: keine Seele ohne Körper. Die philosophische Kunst des Sterbens, wie Platon sie konzipiert, erweist sich angesichts dessen als ungenügend. Der griechische Philosoph scheint etwas davon geahnt zu haben, denn sein Sokrates wird in der Nacht vor seiner bevorstehenden Hinrichtung erneut von einem Traum heimgesucht, der ihn sein ganzes Leben über begleitete und der ihm die Botschaft überbrachte, er hätte sein Leben der Musik widmen sollen. »O Sokrates […] mach und treibe Musik« (ebd., 113). Bisher war der Philosoph jedoch stets davon ausgegangen, der Traum ermuntere ihn bloß zu dem, was er ohnehin schon täte: zu philosophieren: »weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musik ist« (ebd.). Nun jedoch beschließt er, der Anweisung des Traumes Folge zu leisten: »Jetzt aber, seit das Urteil gefällt ist […], dachte ich doch, ich müsse, falls etwa der Traum mir doch befähle, mit dieser gewöhnlichen Musik mich zu beschäftigen, auch dann nicht ungehorsam sein, sondern es tun« (ebd.). Philosophie allein scheint somit als Vorbereitung auf den Tod nicht hinzureichen. Allerdings finden sich bei Platon keinerlei Hinweise darauf, warum das so sein sollte. Mehr als eine Ahnung scheint es nicht zu sein. Sokrates indes scheint sie ernst zu nehmen. Dabei ist anzumerken, dass hier nicht Musik in unserem heutigen Verständnis gemeint ist, sondern vielmehr alles Musische im weitesten Sinne. Sokrates brachte der Traumanweisung folgend denn auch Äsop‘sche Fabeln in die Versform. Ob sie als Gesang vorgetragen werden sollten, kann vermutet werden, ist indes nicht nachweisbar. Nichtsdestotrotz stellte Sokrates damit rituelle Strukturen wieder her, indem er das prosaisch vorliegende Textmaterial in die Form von Versen transformierte. Damit vollzieht er einen Rückgang zu einer gebundenen, und wahrscheinlich auch gesungenen, mithin tonunterlegten Sprache. Er entfernt sich also vom reinen Begriff, dem er in seiner philosophischen Praxis stets gefolgt war. Sokrates kehrt also angesichts seines bevorstehenden Todes zu einer rituellen Ausdrucksform zurück. Und auch beim klassischen Chor handelte es sich zunächst um ein Gesangsensemble. Daraus ergibt sich eine in Anderes eingebundene bzw. abstrakte Musik.

Die Musik kommt als Kunst des Sterbens besonderer Art ins Spiel. Sie will es besser machen: Weil sich die philosophischen bzw. sprachlichen Antworten auf den Tod als unzureichend erwiesen (vgl. Gülke 2004, 131). Die Philosophie genügt nicht, um auf ihn zu meditieren: Sie reduziert den Menschen auf sein Denken und ist damit als Antwort auf den Tod unzureichend. Sie ist eine Art, auf den Tod zu reagieren, Musik eine andere. Sie zielt auf den Menschen als Ganzes, als sinnlich-geistiges Wesen. Als dialektische Einheit von Erklingen und Verklingen vermag sie den verfließenden Zeitstrom zu organisieren, zu konzentrieren und auf ein Ziel hin auszurichten. Dergestalt ist sie in der Lage, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vermitteln und das Individuum darin zu stärken, sich mit dem Tode zu konfrontieren. So vermag sie dem einzelnen Moment überhaupt erst Gegenwart zu verleihen. Im Gegensatz zur Sprache, mit ihrer begrifflichen Schärfe, die vom Sinnlichen abstrahiert, umfasst die Musik den ganzen Menschen. Aber sie vermag ihren Gegenstand nicht begrifflich zu erfassen, sondern kann nur diffus auf ihn hindeuten.2 Die Musik verweist auf die Sprache, weil ihr die begriffliche Schärfe fehlt.3

Die Musik intendiert somit etwas, wozu sie sich, gleich der Philosophie, allerdings auf gegensätzliche Weise, als nicht in der Lage erweist. Sprache und Musik streben gleichermaßen, aber auf anderen Wegen, danach, dem Tod Einhalt zu gebieten. Sie können ihn aber weder überwinden noch ungeschehen machen. Ihre Trennung voneinander verweist darauf, dass beide ihr Ziel nicht erreichen können, jedoch unbändig danach streben. Werden sie schlichtweg addiert, könnte also das zerbrochene Ganze schlichtweg (wieder) heil werden, träte auch der Tod erneut ungemildert auf die Tagesordnung. Der auf diese Art wiederhergestellte, angeblich ganze Mensch wäre dem Tode nur noch erbarmungsloser verfallen als der entfremdete. Die Trennung von Musik und Sprache war selbst bereits eine Reaktion auf den Schrecken, von dem sie sich abstießen. Darin besteht das Grundproblem aller auf Entfremdungskritik basierenden Emanzipationsvorstellungen. Jede Befreiung, wie gelungen auch immer sie wäre, gelangt nicht dorthin, wo die Musik hinwill. Diese sehnt sich über die Dinge dieser Welt hinaus. Diesen Gedanken muss Emanzipation in sich aufnehmen, wenn sie nicht scheitern will. Ein verwirklichtes und gelungenes menschliches Leben wiese über gesellschaftliches Handeln hinaus – »Glück wäre über der Praxis« (Adorno 1970, 26).

Der Mensch strebt nach einem Leben ohne Tod, vermag jedoch ein solches nicht zu verwirklichen. Seine Existenz vollzieht sich in diesem Spannungsbogen. Zwischen Intention und Verwirklichung eines Lebens ohne Tod besteht ein Widerspruch. Musik und Sprache versuchen diese als die beiden grundlegenden und gegensätzlichen menschlichen Äußerungen zu bewältigen. Jede der beiden verweist auf ihr Gegenteil und gleichzeitig auf etwas, wovon sie ihrerseits nur ein Teil sind, das nicht begrifflich zu fassen ist, sondern das nur als Gegensatz von sprechend-singend und singendsprechend geahnt zu werden vermag. Musik verweist auf Sprache und Sprache auf Musik und beide auf ein Ganzes, von dem sie selbst nur Momente darstellen.

2. Absolute Musik

Musik ist der Versuch, eine Kunst des Sterbens zu sein, dazu ist sie prädestiniert durch ihr Zugleich von Er- und Verklingen. Die absolute erhebt das zu ihrem Prinzip: Indem es ihr ausschließlich um sich selbst geht. Erst sie strebt wirklich danach, nur Musik, und nichts sonst, zu sein. Abgrenzend lässt sie sich zunächst als eine textlich, programmatisch oder zwecklich nicht gebundene, nicht außermusikalisch definierte, selb- und eigenständige Musik beschreiben. Nach Hanslick handelt es sich bei ihr um »reine absolute Tonkunst […] die keinen anderen Zweck als sich selber hat.« (Honegger/Massenkeil 1976, 6)

Jene Musik, die wir heute »klassisch« nennen, tritt mit dem Anspruch auf, nur Musik zu sein. Man rezipiert sie in abgedunkelten Konzertsälen im Sitzen, ohne zu tanzen, zu essen oder zu trinken, zu beten oder sich zu unterhalten, d. h. nur als Kunst. Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht eine Musik, die deshalb die absolute heißt, weil sie von Programm, Funktion und Text, mit denen die Klangkunst einst verbunden war, gelöst erscheint. Darin besteht das ästhetische Paradigma einer von allem außermusikalischen Inhalt abstrahierenden und in diesem Sinne absoluten Musik. Musik als absolute muss in sich selbst sinnvoll organisiert sein, folgerichtig vonstatten gehen. Die Musik versucht dergestalt, den zeitlichen Verlauf in sich sinnvoll zu organisieren. (vgl. Stephan 1985, 43 f.) Sofern ihr dies gelingt, kann sie als eine Antwort auf die Sterblichkeit des Menschen, seine innere Zerrissenheit und Abhängigkeit von der Natur verstanden werden, indem sie der verfließenden Zeit Sinn und Bedeutung verleiht, das Sinnliche, den kontingenten Sinnesstrom der Erkenntnis, sublimiert.

Dabei bekommt sie es allerdings mit einigen schwerwiegenden Problemen zu tun. Ihre Formen, der Marsch, der Tanz und das Lied, bleiben dem sinnlichen Leben, dem Alltag der Menschen und dem Kultus verbunden, also dem, wovon sie sich gerade zu emanzipieren trachtet. Hierbei handelt es sich – wie bei jeder wirklichen Abstraktion – stets um eine von etwas. Auch die Musik kommt, dem Vorurteil von ihr als der geistigsten aller Künste zum Trotz, nie vollständig von dem los, wovon sie abstrahiert. Ihr Absehen vom Sinnlichen drückt sich höchst sinnlich aus, in Tönen bzw. in deren Zusammenhang. Ihr angeblich ungegenständlicher Charakter manifestiert sich ausgesprochen gegenständlich: in Schwingungen von Luftsäulen, die vom menschlichen Gehör in physiologische Reize übersetzt und in dieser Form vom Gehirn verarbeitet werden.

In dieser doppelten Hinsicht bleibt auch die absolute Musik stets dem Sinnlichen verbunden, sosehr sie davon abzusehen gedenkt. Mehr noch: Die Konzentration auf einen besonderen Sinn, das Hören, wird in ihr geradezu auf die Spitze getrieben. Um des absoluten Charakters der Musik willen hat das Werk als Ganzes in sich sinnvoll und gelungen zu verlaufen, sich logisch aus voneinander unabhängigen Momenten zu ergeben. Entweder jedoch erweisen sich diese Momente als nicht wirklich autonom oder das Ganze wird in sich brüchig. (ebd., 43 f.) An dieser Problematik laboriert die absolute Musik seit ihren Anfängen. So absolut, wie sie sein möchte, vermag sie nicht zu sein. Mit ihrem Ungenügen verweist die absolute Musik auf das einer Kunst des Sterbens, damit auf das der Musik als solcher, darauf, dass sie dem Außermusikalischen entsprungen ist und auf dieses zielt.

3. Das theoretische Konzept der absoluten Musik

Absolute Musik zielte auf die Aufhebung von Endlichkeit, Abhängigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins. Dazu ist sie als Musik, die ausschließlich solche zu sein trachtet, gezwungen. Das Sinnliche galt diesem ästhetischen Konzept zufolge als etwas, das »überwunden« werden müsse. Die klingende Kunst solle zum Ewigen, Absoluten streben. Bei ihr handelt es sich, Carl Dahlhaus zufolge, zunächst um ein »ästhetisches Paradigma«, das auf einen fundamentalen Umbruch dessen zielt, was unter Musik überhaupt zu verstehen ist (Dahlhaus 1978, 12): als eine ernste Sache, vollzogen um ihrer selbst willen, getrennt vom Lebensalltag, in eigens dafür errichteten Konzerträumen konsumiert: Res severa verum gaudium (was meist falsch übersetzt wird: Nicht »die wahre Freude ist eine ernste Sache«, sondern vielmehr: »Das Ernste ist die wahre Freude«).

Eine von Arbeit und Leben abgetrennte Musik ohne Worte betrachtete der marxistische Komponist Hanns Eisler als typisch für die kapitalistische Gesellschaft und bringt damit ihr Ungenügen auf den Punkt. Sie gelange, so der Komponist, nicht zu jenen, denen sie doch zum Ausdruck verhelfen möchte: den Menschen, namentlich den Produzierenden, den Arbeitern, weil sie ihre Probleme nicht behandele. (vgl. ebd., 8) Sie müsse inhaltlich Ausbeutung und widrige Lebensbedingungen, den Kampf der Arbeiter für den Sozialismus thematisieren. Als instrumentale mache sie das per se nicht, weshalb diese Eisler als bürgerlich gilt. Dahlhaus hält Eisler entgegen: Die absolute Musik kontrastiert von Anbeginn scharf den Wertvorstellungen des Bürgertums. Sie ziele auf eine »abgesonderte Welt«, provoziere gegen das ausschließlich auf Nützlichkeit verengte bürgerliche Denken. Der angebliche Mangel, die Abstraktion vom Gegenstand, wurde von den Vertretern des Konzepts zum Vorteil erhoben. (vgl. ebd., 12)

Beide Autoren sind gegeneinander im Recht. Einerseits Eisler gegen Dahlhaus: Obwohl die absolute Musik bürgerlichen Werten widerspricht, korrespondiert sie der kapitalistischen Produktionsweise. In dieser verselbständigt sich die Zirkulation gegenüber der Produktion und dadurch der Produktionsprozess in seiner Einheit in Bezug auf die Produzenten. Musik als absolute und Gesellschaft als bürgerliche ähneln sich darin, dass sie autonomen, das heißt von den sie hervorbringenden Individuen verselbständigten Gesetzen folgen, weil sie nur klingende Kunst, und nichts sonst zu sein bestrebt ist. Keineswegs jedoch entspricht die Musik dabei der Zirkulationssphäre. Deren Verselbständigung korrespondiert ihr vielmehr. Der Komponist vollzieht ohne es zu wissen gesellschaftliche Prozesse.

Auf der anderen Seite ist Dahlhaus gegen Eisler im Recht: Die absolute Musik geht keineswegs in der bürgerlichen Gesellschaft auf. Ihr kommt durchaus Autonomie zu. Bereits dem Musikkritiker Eduard Hanslick galten die »Form in der Musik« als »Geist« und Beethovens späte Streichquartette »als Paradigma der Idee der absoluten Musik«. In ihnen drücke sich aus, dass die »Musik […] gerade dadurch, daß sie sich vom Anschaulichen […] lossagt, Offenbarung des Absoluten« sei (Hanslick 1982 (1854), 95–104; vgl. Dahlhaus 1978, 23). Entscheidend ist der Anspruch, sich vom konkreten Inhalt lossagen zu wollen, was sie jedoch niemals einzulösen vermag und die Einlösung wäre auch nicht wünschenswert. Absolute Musik als ästhetisches Paradigma ist deshalb innerlich ungenügend.

Der widersprüchliche Charakter der absoluten Musik drückt sich bereits in ihrem Begriff aus. Dieser stammt von dem Komponisten und Musikphilosophen Richard Wagner (1813–1883), der damit pejorativ reine Instrumentalmusik bezeichnete. (vgl. Dahlhaus 1991, 24) Der Begriff selbst artikuliert bereits ihr Ungenügen, verweist darauf, dass jegliches als absolut erscheinende stets nur »relativ absolut« ist, also absolut nur in Beziehung zu etwas Anderem. Die »von ihren Wurzeln in Sprache und Tanz losgerissene und darum schlecht abstrakte Musik« erscheint Wagner seinem Gesamtkunstwerk gegenüber als defizitär.4 (ebd., 25 f.) Die Musik soll an die Einheit der Künste, aus der sie einst geboren wurde, zurückgebunden werden. Wagners Musikdrama verdammt jedoch keineswegs den absoluten Charakter der Musik schlichtweg, sondern war vielmehr bestrebt, ihn bestimmt zu negieren. Wagner wollte die absolute Musik im Sinne der Kritik Feuerbachs an Hegel auf eine höhere Stufe heben und so den Geist mit dem Sinnlichen verschmelzen und blieb so ihrem Paradigma verbunden.

Wagners Kontrahent Eduard Hanslick nahm den Begriff der absoluten Musik von Wagner auf, wendete ihn jedoch ins Positive (ebd., 32). Was Wagner als unvollkommen erachtet, erklärt Hanslick zur Stärke: eine Musik rein instrumentalen Charakters, ohne unmittelbare inhaltliche Aussage. Die Tonkunst ziele durch die von ihr formulierte Loslösung von den menschlichen Leidenschaften auf eine von aller dinglichen Realität. Sie ziele auf das Absolute, und zwar im umfassenden philosophischen Sinn. (vgl. ebd., 32 f.) Der Streit zwischen Wagner und Hanslick verweist auf das Ungenügen der absoluten Musik, auf einen Bruch im Konzept selbst. Das Konzept der absoluten Musik intendiert, Endlichkeit, Abhängigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins aufzuheben. Sie strebt nach dem Absoluten.

Die Vergeistigung, zentraler Aspekt der absoluten Musik, soll besonders in ihrem Sprachcharakter, der Formulierung musikalischer Gedanken, deutlich werden. Die Theorie der Instrumentalmusik musste das erklingende Tonmaterial erst umdeuten. Dazu war es nötig, dass die Musik der Theorie von selbst entgegenkommt: durch ihre immanente Logik als Kunst. (vgl. ebd., 105 f.)

Die motivisch-thematische Arbeit wird damit zum Ansatzpunkt, die Musik als sprachähnlich zu fassen. Die musikalischen Themen werden darin entfaltet, bekräftigt, modifiziert und einander entgegengesetzt, gleich dem Vorgehen in einer philosophischen Darlegung: Hegel bringt das in seinen Vorlesungen zur Ästhetik auf den Punkt, indem er bezüglich des musikalischen Gedankens von der

Art und Weise [spricht], wie ein Thema sich weiterleitet, ein anderes hinzukommt und beide nun in ihrem Wechsel oder in ihrer Verschlingung sich forttreiben, verändern, hier untergehen, dort wieder auftauchen, jetzt besiegt scheinen, dann wieder siegend eintreten […]. [E]in Inhalt in seinen bestimmten Beziehungen, Übergängen, Verwicklungen und Lösungen. (Hegel 1965 [1835–38], 267)

Hanslick charakterisiert die Musik als »tönende Form«. Als solche ist sie ihm geistigen Wesens und immanentes gestaltendes Prinzip. Die Töne sind als musikalischer Inhalt bereits geformt. In ihnen kondensieren sich schon Idee, Geist, Wesen, Prinzip. Die musikalische Form besteht laut Hanslick ihrerseits aus Tönen. Das musikalisch Konkrete ist geformt und jede musikalische Form stets inhaltlich bestimmt.5 (vgl. Dahlhaus 1978, 112 f.)

Für Theodor W. Adorno macht diese musikalische Form den Sprachcharakter der Musik aus. Er vereint die hier dargestellten Positionen von Wagner, Eisler und Hanslick. Mit Wagner besteht er auf der Einheit von Musik und Sprache, hält dessen Form, sie zu verwirklichen, jedoch nicht für gelungen. Mit Eisler geht er davon aus, dass die Musik die Sache der Elenden und Entrechteten zu vertreten hat. Das ist jedoch nicht möglich, indem sie unmittelbar Themen der Arbeiter, etwa die Ausbeutung, problematisiert, sondern nur immanent musikalisch. Mit Hanslick hält er Form in der Musik für zentral, geht aber davon aus, dass diese selbst bereits von Außermusikalischem zehrt: Ihre Formen selbst werden als gesellschaftlichen Charakters dechiffriert. Das ist das Programm einer Musik, die absolut ist, das Sinnliche einbegreift und auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten steht. Adorno bestimmt die Musik als eine besondere sprachliche Form, die auf das in der alltäglichen Sprache stets Ungenannte zu verweisen vermag. Die klingende Kunst bezeichnet die Dinge, ohne sie damit zu beherrschen und zuzurichten, also ohne zwanghaft bedeuten zu wollen. Damit zielt sie auf eine andere Sprache jenseits der kommunikativen: »Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt und zugleich verborgen. Ihre Gestalt ist die des göttlichen Namens. Sie ist der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutung mitzuteilen.« (Adorno, 1978 [1956], 252 f.) Das jedoch gelingt allein weder der Musik noch der Sprache. Erstere »verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging auf die meinenden Sprachen« (ebd., 252 f.). Die Musik ist für Adorno eine Sprache, die die Dinge bei ihrem wirklichen Namen nennen kann, ohne sie begrifflich zurechtzuquetschen – aber sie vermag im Gegensatz zur Sprache nicht klar und distinkt zu sein. Musik geht aufs Ganze. Aber es mangelt ihr an begrifflicher Schärfe.

Adorno kritisiert die sich gewaltförmig vollziehenden Identitätslogik der meinenden, auf Kommunikation ausgerichteten, Sprache, durch die die mannigfaltigen Dinge auf das Prokrustesbett der Begriffe zurechtgeschnitten werden. Zwar ist die Musik keineswegs in der Lage, die Identitätslogik aufzusprengen und Begriffe zu formulieren, die den Dingen gerecht werden – sie vermag allenfalls auf Derartiges zu verweisen: »Die meinende Sprache möchte das Absolute vermittelt sagen, und es entgeht ihr in jeder einzelnen Intention, lässt eine jede als endlich hinter sich zurück. Musik trifft es unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich.« (ebd., 254; vgl. Dahlhaus 1978, 116) Das zu Sagende »blitzt« vielmehr in ihr lediglich sporadisch auf (ebd., 117).

Indem Adorno den Grundgedanken der absoluten Musik, den einer Musik, die sich selbst genügen soll, die nur solche und nichts sonst zu sein beansprucht, immanent über sich hinaustreibt (ebd. 116), entbindet er das revolutionäre und sprengende Potential der Tonkunst, das stets untergründig in ihr wirkte: So vermag gerade absolute Musik zu zeigen, dass sie nicht um ihrer selbst willen da ist, sich nicht selbst genügt. Sie verweist vielmehr auf ihr Gegenteil, die Sprache. An den (musikalischen) Begriffen selbst verdeutlicht Adorno, dass es reine Identität, auf die der Begriff seinem Wesen nach zielt, nicht wirklich geben kann, und bringt damit die in ihnen verborgene materialistische Wahrheit der Musik auf den Punkt: Sie vergeistigt nicht lediglich das Sinnliche, sondern macht vielmehr auch den angeblich reinen Geist als sinnlich kenntlich.6 Der Sprachcharakter der klingenden Kunst sollte deren Eigengesetzlichkeit, ihre Trennung von Welt und Gesellschaft verdeutlichen. Adorno zeigt unter der Hand das Gegenteil, ihren gesellschaftlichen Charakter. Seine Argumentation ist vom jüdischen Verbot bestimmt, den Namen Gottes auszusprechen. Dessen Erklingen wäre eines mit der Verwirklichung der Utopie vom Himmelreich auf Erden. Musik verweist auf diese Utopie, vermag aber gleichfalls den Namen nicht auszusprechen, sie also nicht zu realisieren.

4. Form und Inhalt in der absoluten Musik

Die erklingende bzw. komponierte Musik muss, um dem Konzept der absoluten Musik zu genügen, in sich folgerichtig sein. Die Sonatenform war der entsprechende Weg, dies zu erreichen. Beethoven übernahm sie von Mozart und Haydn und gestaltete sie grundlegend um. Ihre Struktur besteht in der Abfolge von Exposition, Durchführung und Reprise. Die Durchführung war vor Beethoven nur ein kleiner Zwischenteil, in der Mitte zwischen dem streng komponierten Anfangs- und Endteil der Sonate gelegen. Erst bei ihm entwickelte sie sich zum bevorzugten Ort kompositorischer Freiheit und Subjektivität. Sie wird, jetzt als wirkliche Durchführung mit eigenständigem Charakter, zum Zentrum der Sonatenform. Damit erst wird der Anfang der Sonate zu einer wirklichen Exposition, ihr Ende tatsächlich zu einer Reprise. Das ganze Werk soll durchgehend organisiert sein und sich so als werdendes Ganzes erst entfalten. Darin besteht die musikalische Verwirklichung von Beethovens ästhetisch-politischem Konzept des Weges zum neuen Menschen:

Als Napoleon der Musik wollte er die Kunst des Komponierens beherrschen wie dieser die Strategie des Kriegführens. Im Sinne der Aufklärung davon überzeugt, daß […] nicht nur die Gewalt der Waffen, sondern auch die Macht des Geistes vonnöten sei, um die Höherentwicklung der Menschheit durchzusetzen, gab er alles dafür, um der Feldherr im Reich des Geistes zu werden. (Geck 2000, 2)

Über enharmonische Verwechslung7 sagte er, sie ziele auf eine Wesensveränderung des Menschen (vgl. ebd.). Mit dem ersten Ton einer Sinfonie ist man bei ihm schon mittendrin. Aus wenigen Grundgestalten entsteht ein sich entfaltendes musikalisches Ganzes. Das Klopfmotiv der Fünften steht dafür paradigmatisch. (vgl. ebd., 20) Bei dieser Vorgehensweise differieren jedoch von Anbeginn das Musikalisch-Allgemeine und das Musikalisch-Besondere, die Gesamtdisposition, die sich in den Tonarten und ihrer Modulation auskristallisiert, und die einzelnen Themen. Dem streng durchkomponierten Hauptsatz gesellt sich ein bereits in geringerem Maße streng angelegter Seitensatz hinzu. Dazwischen vermitteln zumeist noch weniger autonome Überleitungen, die sich häufig aus dem Hauptsatz ableiten. Radikale und verwirklichte Freiheit regiert nur in der Durchführung. Beethoven beschränkte ihr Walten mit Grund auf diese bestimmte Partie. Die Kräfte der Subjektivität sollten so daran gehindert werden, die Einheit des Ganzen von innen zu unterminieren. Gerade um die proklamierte Emanzipation zu verwirklichen, erwies sich ein ordnender Rahmen als notwendig, innerhalb dessen sich Freiheit entfalten kann. Preis dafür war die Einschränkung der individuellen Spontaneität. Beethovens Spätstil weist einen möglichen Ausweg aus dieser Problematik: die Gegensätze werden dort schroff nebeneinandergestellt. (vgl. Stephan 1985, 45 ff.)

Auch Brahms folgte scheinbar der strengen Form des Sonatensatzes. Bei ihm entspringt das Geistige gleichfalls unmittelbar dem Sinnlichen. Er hält im Gegensatz zu Wagner und den »Neudeutschen« wie Liszt und Berlioz äußerlich an der herkömmlichen Form fest, radikalisiert dieses Prinzip jedoch durch immer stärkeren Ausdruck der Subjektivität. Damit erfasst das durchführende Prinzip schließlich die gesamte Sonate. Subjekt und Objekt werden von Anbeginn vermittelt. Schönberg spricht diesbezüglich von Brahms als »dem Fortschrittlichen«8. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, zeigt sich am Anfang des Klavierquintetts op. 34, in dem nach wenigen Takten Anfangsmelodie eine Sechzehntel-Figur den Fortgang erzwingt. Diese Gestalt erweist sich jedoch sofort als doppelte Verkleinerung der ersteren Melodie. Thematische Arbeit setzt unmittelbar ein, augenblicklich wird durchgeführt, was wenige Takte zuvor exponiert wurde. In dieser zeitlichen Verdichtung zeigt sich ein extremes Bedürfnis nach Integration angesichts der dynamischen Tendenzen. Der musikalische Prozess kann nicht mehr bis zur Durchführung warten sich zu verdichten. Geist und Sinnlichkeit überlagern sich, weil Form und Expressivität an dieser Stelle nahezu ununterscheidbar zusammentreffen. Die gesamte Form wird dergestalt in eine objektive Ordnung gezwungen, in der alles Erklingende bis ins letzte Detail subjektiv durchdrungen ist. Das klassische Schema von Exposition, Durchführung und Reprise äußerlich festhaltend, beginnt Brahms unter der Hand von Anbeginn mit durchführungsartiger Gestaltung, der sogenannten entwickelnden Variation: Ein Werkzeug der (scheinbar) objektiven Musik, die Variation, verwirklicht dabei ihr gerades Gegenteil, radikale Subjektivität. Es gibt nichts Unthematisches, keine bloß abgeleiteten Themen mehr. Die Musik streift hier alle »konventionellen Floskeln, Formeln und Rückstände« (Kühn 1998, 82) ab. Diese Art zu komponieren betont den Akt des Hervorbringens: »Alles wächst heraus aus Einem« (ebd.).

Ziel ist ein strenger Satz, die »vollständige Integration aller musikalischen Dimensionen, ihre Indifferenz gegeneinander Kraft vollkommener Organisation« (ebd.). Das kündigt sich bereits in Brahms‹ erster Klaviersonate, op.1 an:

Je energischer aber Durchführungstechnik in die Exposition eindringt und diese damit selbst bereits zur ›Durchführung‹ macht, desto fragwürdiger wird ein eigener Durchführungsteil. Der ursprüngliche Formverlauf beginnt seinen inneren Sinn zu verlieren, die Radikalisierung der ›Durchführung‹ läßt die Sonatensatzform an sich selbst vergehen.9 (ebd., 143 f.)

Gustav Mahler erwies sich als Brahms’ getreuer Schüler, indem er stets von Anbeginn variiert, Original und Variation regelrecht verschwimmen lässt. Die Modifikation der Sonatenform wird ihm geradezu programmatisch: der Inhalt sucht sich bei ihm seine ihm entsprechende Form selbst.10 Mahler revoltiert gegen die absolute Musik auf ihrem eigenen Boden und erhebt damit Einspruch gegen ihr Ungenügen.

Das Subjekt erscheint bei ihm als naturhaft, abhängig und sterblich, weist jedoch von Anbeginn über dies hinaus.

Die Musik ist keine Kunst des Sterbens. Sie zeigt vielmehr, dass es eine solche überhaupt nicht geben kann. Aber desto mehr zeigt sie die Notwendigkeit einer solchen. Dem wird im Folgenden anhand Mahlers Sinfonik nachgegangen.

1. Die Botschaft der Knochenflöte im »Klagenden Lied«

Mahlers musikalische Produktion beginnt mit dem »Klagenden Lied«. An diesem Stück ist seine Stellung zur absoluten Musik ausführlich zu erörtern.

1.1 Zur Methodik

Wissenschaftlichen Arbeiten werden gemeinhin sogenannte methodische Überlegungen vorangestellt, in denen der Autor darlegt, nach welcher spezifischen wissenschaftlichen Vorgehensweise er sich seinem Stoff widmet, etwa »positivistisch« oder »hermeneutisch«. Darauf wurde hier bewusst verzichtet. Stattdessen erfolgte in diesem Buch mit dem ersten Satz der Sprung ins kalte Wasser. Dieses Vorgehen folgt der Hegel‘schen Einsicht, derzufolge das Schwimmen ausschließlich im Wasser gelernt werden könne. Vorgeschaltete theoretische Überlegungen gleichen dem Trockenschwimmen, denn Inhalt und Methode können nicht getrennt werden. Die jeweilige Art des Vorgehens muss aus dem behandelten Stoff selbst resultieren. Das entspricht Mahlers Kompositionsweise, die keinen starren Konventionen, wie etwa der herkömmlichen Sonatensatzform folgt. Die Form erwächst bei ihm aus dem Inhalt: »Daß ich sie Symphonie nenne, ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich an die herkömmliche Form. Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimmt sich seine Form selbst.« (NBL, 35) Der in dieser Arbeit favorisierte Zugang (griechisch: methodos) zu Mahlers Werk besteht im Unbehagen am Konzept der absoluten Musik und deren zwischenzeitlich erstarrten Formen. Diese antimethodische Methode entspringt ihrem jeweiligen Gegenstand, schmiegt sich dem sich artikulierenden Inhalt an. Aus der Problematik des Ungenügens der absoluten Musik ergibt sich der Spannungsbogen, das »Klagende Lied« als Mahlers erstes Werk, mit dem er seinen eigenen Weg ging, angemessen diskutieren zu können. Die in diesem Werk sich artikulierende Melodie der Knochenflöte, also das klagende Lied i. e. S., stellt insofern absolute Musik dar, als sie tatsächlich von einem Instrument vorgetragen wird, der Knochenflöte. Sie stellt jedoch insofern das gerade Gegenteil instrumentaler Musik dar, als dieses Instrument durch den Gesang einer Knabenstimme ausgedrückt wird. Die absolute Musik beklagt darin sich selbst, ihr Ungenügen. Aber singend. Mithin gerade nicht absolut. Als Gesang verweist sie darauf, dass ihr zum Ganzen etwas fehlt: die Musik. Als absolute Musik zeigt sie, dass der Gesang aussteht. Beide vertreten sich wechselseitig und zeigen dabei, dass das jeweils andere fehlt. Das Ganze klagt darüber, dass es kein solches zu sein vermag. Die Klage der Musik über sich selbst theoretisch reflektiert nachzuvollziehen, darin besteht meine, sich aus der Sache selbst ergebende, Methode. Dieses Konzept unterscheidet sich von anderen möglichen Blicken auf Mahler, denen gleichfalls ihr Recht zukommt11.

1.2 Mahlers »Lebensmelodie«

Das Problem des Ungenügens der absoluten Musik stellte sich Mahler frühzeitig als Lebensaufgabe: Den Bruch, den sie artikuliert, zu kitten und die Kunst erneut mit der Lebenspraxis zu vereinen, Musik und Gesang zu fusionieren – darauf zielt sein Lebenswerk. Dem Komponisten und Musikschriftsteller Dieter Schnebel zufolge schuf Mahler wirklich ein Gesamtwerk, ein OEuvre, was sich in den zahlreichen Verquickungen der einzelnen Sinfonien und Lieder zeigt. (vgl. Schnebel 1966, 157)

Ein seltsamer Traum, den der spätere Komponist bereits als fünfjähriger Knabe träumte, nimmt seinen künftigen Weg vorweg und soll hier als Einstieg in Mahlers Biographie dienen. Dieser Traum soll hier als Keimzelle seiner Lebensmelodie verstanden werden. Mahler erzählte ihn 35 Jahre später seiner Freundin und damals engsten Vertrauten Natalie Bauer-Lechner, die ihn notierte. (vgl. Fischer 2010, 336 f.) Wir haben hier also den Traum eines Kindes vor uns, den derselbe Mensch als Erwachsener dreieinhalb Jahrzehnte später erinnert und der wiederum von einer anderen Person zu Papier gebracht wird. Damit geht eine doppelte Brechung einher. Hier der Traum:

Die Mutter, mein Bruder Ernst und ich standen eines Abends am Fenster des Setzzimmers, als erstere rief: ›Gott, was geschieht!‹ Der Himmel ward von gelben Dämpfen erfüllt; die Sterne bewegten sich, folgten einander oder verschlangen einander wie bei einem Weltuntergang. Plötzlich aber bin ich auf dem Marktplatz unten. Die feurigen Dünste verfolgen mich, und aus ihnen sehe ich, als ich mich umschaue, eine ungeheure Gestalt – den ewigen Juden – sich erheben. Sein Mantel, vom Winde aufgebläht, ragt wie ein riesiger Höcker über seinen Schultern; die Rechte hat er auf einen hohen Wanderstab gestützt, der in ein goldenes Kreuz ausläuft. Ich fliege in rasender Angst vor ihm her, aber mit wenigen Schritten hat er mich eingeholt und will MIR seinen Stab (gleichsam als Symbol seiner ewig ruhelosen Wanderschaft) aufzwingen: da erwache ich mit einem Schrei der schrecklichsten Angst. (NBL, 185, vgl. Fischer 2010, 336 f.)

Zerlegen wir den Traum in seine Elemente, ergibt sich folgendes Bild: Der Träumende steht abends mit seiner Mutter und dem Bruder Ernst am Fenster. Anfangs erfahren wir noch nicht, was sich draußen vollzieht. Aber es muss fürchterlich sein, denn die Mutter ruft: »Gott, was geschieht!« Die höchste Macht wird vergebens um Beistand angerufen.

Der Himmel wird von gelben Dämpfen verhüllt. Dämonisch wirkend zeigen sie die Situation als mit dem Teufel assoziiert. Schließlich bewegen, verfolgen und verschlucken sich die Sterne. Wie beim Weltuntergang, so Mahlers eigene Interpretation dieser auch ohne diesen Hinweis apokalyptisch anmutenden Situation12.

Plötzlich jedoch, verbunden mit einem Wechsel der Zeitform von Präteritum zu Präsens, befindet sich der Träumende unten (!) auf dem Marktplatz. Die gelben Nebel, jetzt sogar als »feurige Dünste« benannt, verfolgen nun ihn: Der Träumende ist mit einem Schlag aus einer beobachtenden in die beteiligte Position versetzt: auf den Marktplatz, dem Ort der Konfrontation, Mischung und Palaver gegensätzlicher politischer, religiöser und philosophischer Standpunkte und ökonomischer Turbulenzen. (vgl. Türcke 2000) Dort erblickt der Träumende eine riesige Figur, die Mahler später als den »Ewigen Juden« deutet: als Ahasver, das antisemitische Bild von den Juden. Ebenfalls an ein judenfeindliches Bild gemahnt dessen Darstellung auf dem Marktplatz.

Die Juden wurden in Europa seit Jahrhunderten mit Geld und Warentausch assoziiert und ihnen unterstellt, eine die Gemeinschaft unterminierende und zersetzende Gruppierung zu sein. Angeblich würden sie auf dämonisch-teuflische Art gesellschaftliche Krisen auslösen und so die »ehrlichen« Produzenten ruinieren.

Ahasver ist die Unsterblichkeit, eine grundlegende menschliche Sehnsucht, als Fluch auferlegt. Er changiert zwischen Leben und Tod, dazu verurteilt, seine Leben in aufgezwungener, nie endender Rastlosigkeit, dem »Fliegenden Holländer« gleich, zu verbringen. Als unheimliche Gestalt erscheint er dem kleinen Mahler im Traum mit einem vom Winde aufgeblähten Mantel, einem Höcker gleich über den Schultern: mit dämonischen Zügen. Ahasver stützt sich auf einen Wanderstab mit goldenem Kreuz. Diese Figur jedoch verkörpert nichts Geringeres als die Ferula, jene dem Papst vorbehaltene Insignie der kirchlichen Macht. Diese scheint hier jedoch in die Hand des »Ewigen Juden« geraten zu sein. Ein für Mahler grundsätzliches Moment wird hier deutlich: das Füreinander-Einstehen von Gegensätzen, ihr wechselseitiges Aufeinander-Verweisen. Gegensätzliche Kräfte durchdringen und vertreten sich wechselseitig, stehen füreinander ein. (vgl. ebd.) Die eine handelt im Sinne der jeweils anderen – auf diese Weise eröffnet sich eine vollkommen neue Perspektive.

Der Träumer flieht fliegend in panischer Angst vor der unheimlichen Gestalt, wird jedoch von dieser mit bloßen Schritten eingeholt und soll den Stab aufgezwungen bekommen. Mahler deutet ihn selbst als Zeichen ewiger Wanderschaft und Unruhe. Der Träumende versucht, der ihm aufgezwungenen Tradition zu entfliehen. Er nimmt das Zeichen Ahasvers nicht an, sondern erwacht stattdessen in Angst und Schrecken.

In diesem kindlichen Traum bzw. der späteren Interpretation durch den Träumenden selbst, verschränken sich schroffe Gegensätze, die Mahler nie wieder loslassen werden: Im Mittelpunkt stehen diesbezüglich Katastrophe und Neugeburt, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Leben und Tod, Spiritualität und Weltlichkeit, Judentum und Assimilation, Schicksal und Emanzipation. Im Traum prallen die weltliche und spirituelle Sphäre schroff aufeinander, und das wiederholt sich später in seinen Werken. Auch der Wanderstab mit dem goldenen Kreuz repräsentiert diese beiden gegensätzlichen, sich verquickenden Welten. Die Figur des Ahasver war damals eine in christlichen Kreisen verwendete, antijüdische Symbolisierung der Juden. Musikalisch zielt der Komponist später darauf, diese Gegensätze zusammenzubringen. Das Thema der Apokalypse taucht in Mahlers Werken in den aufeinander folgenden Zusammenbrüchen immer wieder auf. In ihnen offenbart sich der krisenhafte Zustand des bearbeiteten Materials. Im »Klagenden Lied« versinkt das Schloss und die Musik bricht ab. Der Markt taucht in Mahlers Musik v. a. in den Scherzi als jenes »weltlich Getümmel« auf, das Mahler gleichzeitig als banal verabscheut, dem er sich aber auch gern bedingungslos hinzugeben scheint.

Der Papststab mit dem goldenen Kreuz in der Hand des Ahasver symbolisiert dieselbe Problematik wie die Figur der Knochenflöte des »Klagenden Liedes«. Die in ihr sich artikulierende, gebrochene Einheit äußerster Extreme wie Leben und Tod wird später die sinfonischen Werke und die Lieder des Komponisten bestimmen. Aus drei Gründen korrespondiert der Wanderstab der Knochenflöte des »Klagenden Liedes«. 1) Wie die Flöte aus dem Knochen des Ermordeten geschnitzt ist, so steht auch das Kreuz als Mord- bzw. Folterinstrument sowohl für den gewaltsamen Tod als auch für die Sehnsucht nach Erlösung von allem Leid. 2) Sowohl der Spielmann des »Klagenden Liedes« als auch Ahasver durchziehen die Welt. 3) Jeder, der sich die Knochenflöte an den Mund setzt, muss deren Geschichte berichten, unabhängig von seinem Willen. Auch dem jungen Mahler bleibt keine Wahl. Der Stab soll ihm kurzerhand aufgedrängt werden. Jedoch nimmt er ihn nicht an. Stattdessen erwacht er mit panischem Entsetzen.

Die zu äußersten Gegensätzen stilisierten Religionen (jüdisch und christlich) verschränken sich in diesem Traum als Cliché im Stab des Ahasver, umherwandernd und sesshaft, erlöst und unerlöst. Die Ferula befindet sich in der Hand der Juden, allerdings in jener verschrobenen Gestalt des Ahasver erscheinend: Eine gebrochene Einheit der Gegensätze, die deutlich macht, dass diese zwar zusammengehören aber sich keineswegs bruchlos ineinanderfügen. Die eine Seite handelt vielmehr im Sinne der anderen. Die christliche Macht agiert so, wie die Antisemiten sich die Juden vorstellen: destruktiv und umstürzend. Die herrschende Macht wird von den Beherrschten annektiert. Sie verfolgen mit ihr ihre eigenen, der Herrschaft selbst zuwiderlaufenden Intentionen. Mahler eignet sich in diesem Traum antisemitische Clichés dergestalt an, wie er später die Kunstmusik kapert, um sie im Sinne ihr konträrer Interessen walten zu lassen: die sogenannte »hohe« Musik soll im Sinne des Niederen, Unteren agieren, die Randständigen aufnehmen. Im Traum wird der Antisemitismus gegen sich selbst in Stellung gebracht: mit seinen eigenen Mitteln ihm der Boden entzogen.13