Wachgeküsst - Ruth Gogoll - E-Book

Wachgeküsst E-Book

Ruth Gogoll

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Beschreibung

Es war einmal ... Hadockville, Maine: Avalon Hadock ist die ungekrönte Kö­ni­gin der Stadt. Die neue Polizei­chefin Ryleigh Grant lässt sich jedoch nichts befehlen, vor allem nicht, wenn es um die Aufklärung eines fünfzehn Jahre zurückliegenden Mordes geht, in den die Familie Hadock anscheinend verwickelt war. Während der Ermitt­lungen fühlen Ryleigh und Avalon sich trotz aller Differenzen recht schnell voneinander angezogen - zunächst körperlich, doch Ryleigh verliebt sich, während die Liebe in Avalon erst Wachgeküsst werden muss ...

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Ruth Gogoll

WACHGEKÜSST

Roman

© 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-083-7

Coverillustration: © Rosario Rizzo – Fotolia.com

1

Das ist es nun also. Ryleigh sah sich in dem altertümlichen Hotelzimmer um. So sieht es in der Provinz aus.

Sie war gerade eben angekommen. Mit Schwung stellte sie ihre Reisetasche aufs Bett. Mehr an Gepäck hatte sie nicht. Sie belastete sich nicht mit unnötigem Ballast.

Lässig ließ sie den Zimmerschlüssel mit dem großen Anhänger, der wohl das Verlieren verhindern sollte, neben die Tasche fallen. Die meisten Hotelzimmer in den Städten, die sie kannte, hatten heutzutage elektronische Schlösser, aber in diesem Städtchen sah alles aus, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Sie ging hinüber zu dem kleinen Waschbecken und schaute in den halbblinden Spiegel, der darüber hing. Ihre blauen Augen changierten leicht ins Grüne, was man aber nur bei ganz bestimmten Lichtverhältnissen sah. Die blonden Haare passten perfekt dazu. Sie war groß, und als sie die Jacke auszog, sah man ihre trainierten Muskeln, die unter der angespannten Haut spielten.

Sie warf die Jacke auf einen Stuhl und legte sich rückwärts quer über die Matratze. Die Decke hätte auch mal einen Anstrich vertragen können. Tief atmete sie durch. Das war also ihr neues Zuhause: ein Hotelzimmer in Hadockville, Maine.

Die Tür wurde aufgerissen, und ein junges Mädchen stürmte herein. Der erste Eindruck von ihr war irgendwie – rot. Ein rotes Stirnband bildete einen reizvollen Kontrast zu ihren dunklen Haaren, die lang und wild hinter ihr herwehten, dazu trug sie ein rotes, sehr knappes Top und unter dem nackten Bauchnabel eine ebenso knappe rote Hose. In den extrem kurzen, praktisch nicht vorhandenen Hosenbeinen steckten lange, schlanke, sehr attraktive Beine.

»Oh, sorry, wusste nicht, dass das Zimmer belegt ist«, stieß sie atemlos hervor. »Gerade angekommen?«

Ryleigh erhob sich überrascht vom Bett. »Ja«, sagte sie. »Und Sie sind –?«

»Pacey.« Die junge Frau kam mit ausgestreckter Hand und einem gewinnenden Lächeln auf Ryleigh zu. »Die Enkelin der Besitzerin dieses . . .«, sie machte eine allumfassende Geste, »Grand Hotels.«

Ryleigh musste lachen, nahm die Hand und fühlte den angenehm warmen Druck. Wer sagte, dass ein warmer Händedruck nicht auch sehr nett sein konnte? »Ryleigh«, stellte sie sich vor. »Ryleigh Grant. Meine Freunde nennen mich Leigh.«

»Okay, Leigh.« Pacey strahlte über das ganze Gesicht. »Und was machst du hier?«

»Was kann man denn hier überhaupt machen?«, fragte Ryleigh zurück. »Insbesondere, wenn man so jung und energiegeladen ist wie du?«

»Oh, ich finde immer was. Ich mag die Wälder. Und davon haben wir hier eine Menge. Aber natürlich . . .«, Pacey zog einen Schmollmund, »ist es manchmal auch sehr langweilig. Es kommen nicht oft neue Leute in die Stadt. Ich liebe Fremde!« Sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Wenn du jeden Fremden so enthusiastisch begrüßt, wundert es mich, dass nicht mehr kommen«, erwiderte Ryleigh belustigt. »Aber danke für das herzliche Willkommen.«

»Ich wollte eigentlich nur . . . saubermachen.« Pacey schaute sich mit gerunzelter Stirn im Zimmer um. »Denkst du, das ist nötig?«

Ryleigh schmunzelte. »Nicht wirklich, glaube ich. Mir kommt es nicht sehr dreckig vor.«

Sofort strahlte Pacey wieder. »Dann mache ich es morgen.« Jetzt erst musterte sie Ryleigh genauer. »Bist du mit dem Motorrad gekommen?« Ihr Blick streifte die schwarze Lederjacke auf dem Stuhl und die enge schwarze Hose, die Ryleigh trug.

»Ja.« Ryleigh nickte. »Ich liebe es, uneingeschränkt durch die Landschaft zu gleiten. Autos sind wie Käfige. Die nehmen einem jegliche Freiheit.«

»Cool«, sagte Pacey bewundernd. »Nimmst du mich mal mit?«

»Klar, warum nicht?«

»Ich kann dir die Stadt zeigen, wenn du willst«, bot Pacey im Gegenzug an. »Ich meine, es gibt nicht viel zu sehen außer der Hauptstraße, aber ich könnte dich allen vorstellen. Oh –« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Ich weiß ja gar nicht, ob du länger bleiben willst. Vielleicht willst du hier ja nur übernachten und morgen gleich wieder mit deiner Maschine losdüsen?« Es war ihr deutlich anzusehen, dass dieser Gedanke Enttäuschung in ihr hervorrief.

Ryleigh lächelte. »Ich fahre nicht gleich weiter.«

Das Strahlen in Paceys Gesicht kehrte zurück. »Cool«, wiederholte sie, und dann gleich noch mal: »Cool! Also dann zeige ich dir alles.«

Da alles lediglich ein paar Geschäfte waren, eine Bibliothek mit einem schönen, alten Uhrenturm, ein kleiner Hafen und ein wie aus einem anderen Zeitalter stammendes Postamt, war die Besichtigung schnell beendet. Sie kehrten in das Café ein, das zu dem kleinen Hotel gehörte und ebenfalls von Paceys Großmutter betrieben wurde.

»Wo warst du die ganze Zeit?«, wurden sie nicht sehr freundlich von ihr begrüßt. Das heißt, diese Frage richtete sich an Pacey.

»Ich habe Leigh die Stadt gezeigt«, antwortete Pacey trotzig. »Schließlich ist sie neu hier.«

»Es waren viele Gäste da. Ich musste alle allein bedienen«, schimpfte ihre Großmutter. »Und sind die Zimmer sauber?« Sie funkelte ihre Enkelin ärgerlich an.

»Leigh fand, ihr Zimmer war sauber genug. Und die anderen sind sowieso nicht belegt«, entgegnete Pacey widerborstig.

Ryleigh hob die Hände. »Ich denke, das war meine Schuld. Ich habe ihr gesagt, sie muss mein Zimmer nicht saubermachen. Und ich habe sie gebeten, mir die Stadt zu zeigen.« Sie lächelte die Frau mit den von würdigem Grau durchzogenen Haaren entschuldigend an. »Ich wollte keinen Ärger machen. Tut mir leid.«

Paceys Großmutter zog noch einmal mit einem Blick auf ihre Enkelin die Augenbrauen zusammen, dann entspannte sie sich. »Das tun Sie nicht«, sagte sie zu Ryleigh. »Das schafft meine Enkelin schon ganz allein.« Sie schaute Pacey streng an. »Geh. Mach Kaffee. Es ist keiner mehr da.«

Paceys Augen, die merkwürdig hell strahlten angesichts ihrer dunklen Haarfarbe, schossen Blitze, aber sie begab sich beleidigt hinter die Theke.

»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte Ryleigh. »Ich wusste nicht, dass Pacey hier so viel zu tun hat. Ich dachte –« Sie schaute sich in dem kleinen Café um, in dem jetzt kaum etwas los war.

»Sie dachten, hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht?« Paceys Großmutter lachte und erschien jetzt sehr sympathisch. Sie war gar nicht so alt, wie man sich eine Großmutter im Allgemeinen vorstellte. Ihre Augen wirkten jung und funkelten verschmitzt.

Ryleigh zuckte die Schultern. »So ungefähr. Ich komme gerade aus New York.«

»Dann haben Sie wohl Recht. Verglichen mit dem großen Apfel ist hier wirklich nicht viel los.« Paceys Großmutter streckte Ryleigh die Hand hin. »Ich bin übrigens Elaine.« Dann legte sie fragend den Kopf zur Seite. »Möchten Sie etwas essen? Unsere Küche ist vielleicht nicht so abwechslungsreich wie die in einer Großstadt, aber ich glaube, wir müssen uns trotzdem nicht dafür schämen.«

Ryleigh legte eine Hand auf ihren Magen. »Sie erinnern mich da an was. Ich habe tatsächlich Hunger.« Sie lächelte Elaine an.

»Dann setzen Sie sich.« Elaine wies auf einen Tisch in der Ecke, der in einem kleinen, verglasten Erker stand. Man konnte von dort die Straße von oben bis unten entlangschauen. »Pacey bringt Ihnen gleich die Karte.«

Ryleigh saß eine Weile da und beobachtete das Treiben innerhalb und außerhalb des Cafés, während sie aß. Es schien so, als ob sich alle Leute kannten. Wie in vielen kleinen Dörfern und Städten. Jeder begrüßte jeden auf der Straße, blieb stehen, hielt ein Schwätzchen. Leute kamen ins Café, wurden mit ihrem Namen begrüßt, bekamen Kaffee oder etwas zu essen, ohne dass sie es extra bestellen mussten. Pacey und ihre Großmutter wussten genau, was jeder wollte. Anscheinend hingen die Einwohner dieses abgelegenen Fleckens sehr an ihren Gewohnheiten.

Es war so friedlich hier. Ryleigh konnte sich kaum vorstellen, dass in dieser Idylle irgendetwas passieren konnte.

»Großmütter sind genauso schlimm wie Mütter . . .« Pacey stellte sich neben Ryleigh an den Tisch und warf einen unwilligen Blick zu Elaine an der Theke hinüber.

»Sei froh, dass du eine hast«, sagte Ryleigh.

»Hast du keine?«, fragte Pacey erstaunt.

»Nein.« Ryleigh schüttelte den Kopf. »Ich bin in Kinderheimen und Pflegefamilien aufgewachsen. Glaub mir, ich hätte gern eine Mutter oder Großmutter gehabt, die mich ausschimpft, weil sie sich um mich sorgt.«

»Ich darf überhaupt nichts.« Pacey verzog die Lippen. »Aber ich bin doch kein kleines Kind mehr!«

Ryleighs Blick fuhr rasch über Paceys lange Beine und den Rest ihrer hochgewachsenen Gestalt. »Nein, das bist du tatsächlich nicht«, bestätigte sie. »Aber Mütter und Großmütter machen sich eben immer Sorgen . . . habe ich gehört.«

»Wieso hast du keine Familie?«

Pacey wollte sich gerade zu ihr setzen, als ein paar Jugendliche hereinstürmten. Sie waren offensichtlich betrunken und auf Ärger aus.

»He, Granny, gib uns was zu trinken!«, rief der Anführer laut und fordernd. In seiner Hand glitzerte etwas, aber es war kein Geld.

»Von mir kriegt ihr keinen Alkohol«, erwiderte Elaine ruhig. »Das wisst ihr doch.« Sie schaute dem halbwüchsigen Jungen, der nun vor ihr stand, direkt in die Augen.

Es schien fast, als wollte er zurückweichen, aber seine Kumpels drückten ihn nach vorn.

»Gib schon!«, sagte er barsch. »Oder willst du, dass wir alles hier zu Klump schlagen?«

»Hier schlägt niemand irgendetwas zu Klump.«

Die Jungs fuhren herum.

Ryleigh war aufgestanden und ging langsam auf sie zu. »Ihr hattet genug, Jungs. Geht nach Hause und schlaft euren Rausch aus.«

Der Anführer hob drohend das Messer in ihre Richtung. »Was mischst du dich ein? Ich hab dich hier noch nie gesehen. Das geht Fremde nichts an.«

»Ich mag es nicht, wenn Leute mit Messern rumfuchteln, die nicht damit umgehen können«, sagte Ryleigh. »Gib es mir.« Sie streckte die Hand aus.

»Wer sagt, dass ich nicht damit umgehen kann?« Der Junge warf einen selbstbewussten Blick auf seine Kumpels. Die grinsten. »Probier’s besser nicht aus. Mach dich vom Acker!«

Ryleigh atmete tief durch. »Wenn du mir das Messer gegeben hast.«

»Das kannst du haben!«, brüllte der Junge. »In deinem Bauch!« Er machte einen Schritt nach vorn und stieß zu.

Ryleigh wich ohne große Anstrengung aus, hielt seinen Arm fest und schlug ihm aufs Handgelenk. Das Messer fiel zu Boden.

Plötzlich waren alle still im Raum.

Ryleigh bückte sich nach dem Messer und ließ den Jungen los. »Und nun ab! Verschwindet hier. Sonst zeige ich euch, was ich mit einem Messer machen kann.«

Der Anführer hielt sich seinen Arm, starrte sie wütend an, aber dann ging er zur Tür, und seine Anhänger folgten ihm. »Das war nicht das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben«, knurrte der Junge Ryleigh an, sie schlichen hinaus, und das Glöckchen an der Tür bimmelte ihnen harmlos hinterher.

»Wow!« Pacey musterte Ryleigh bewundernd. »Du bist ja mutig. Das hätte ich mich nie getraut.«

Ryleigh schaute auf das Messer. »Er hatte keine Ahnung. Er wusste noch nicht einmal, wie man ein Messer richtig hält, wenn man damit kämpfen will. Keine große Sache.«

»Und woher weißt du das?«, fragte Pacey. Auch alle anderen im Café starrten Ryleigh immer noch entgeistert an. »Du hast ihn entwaffnet, als ob es nichts wäre. Wo hast du das gelernt?«

»Hier und dort«, sagte Ryleigh. »Aber bevor mich jetzt alle für die erwachsene Version der Jungs da halten . . .« Sie schaute sich im Café um. »Ich stehe auf der anderen Seite. Ich bin der neue Polizeichef.«

»Du bist –?« Pacey war sprachlos.

Dafür fand ihre Großmutter ihre Sprache nun endlich wieder. »Danke, Chief«, sagte sie. »Das ist ja eine Überraschung. Wir hatten einen Mann erwartet.«

»Das wiederum«, Ryleigh grinste, »ist keine Überraschung. Passiert mir oft. Kein Problem. Wo die Polizeistation ist, weiß ich dank Paceys Führung«, sie lächelte Pacey zu, »ja nun auch schon. Ich denke, ich werde mich mal da hinbegeben und mich vorstellen. Eigentlich geht mein Dienst ja erst in ein paar Tagen los.«

»Unser jetziger Sheriff wird sich freuen, dass Sie früher gekommen sind.« Elaine kam lächelnd auf Ryleigh zu. »Er ist froh, dass er endlich in Rente gehen kann.«

»Bis eben dachte ich noch, dass man sein Geld praktisch ohne Arbeit verdient, wenn man in dieser Stadt für Recht und Ordnung sorgen soll, aber ein bisschen was passiert ja anscheinend doch hier«, bemerkte Ryleigh tatsächlich etwas überrascht.

»Ach die.« Elaine winkte ab. »Eine Bande von Halbstarken. Sie kommen sich sehr toll vor, aber eigentlich sind sie harmlos. Und du, Pacey«, sie wandte sich in einem scharfen Tonfall an ihre Enkelin, »weißt jetzt hoffentlich, dass ich nicht umsonst nicht will, dass du dich mit denen rumtreibst.«

»Ja, schon gut.« Pacey brummelte unzufrieden vor sich hin. »Hank ist nicht so schlimm, wie er tut. Er will nur angeben.«

Ryleigh steckte das Messer ein. »Das darf er«, sagte sie, »aber wenn er dabei ein Messer in der Hand hat, muss leider die Polizei eingreifen. Ich hoffe, das hat er begriffen.«

»Bisher weiß er noch nicht, dass du die Polizei bist«, bemerkte Pacey, momentan offensichtlich zwischen ihren Gefühlen für Hank und für Ryleigh hin und her gerissen.

»Bald wird er es wissen«, sagte Ryleigh. Sie lächelte Pacey an. »Und ich hoffe, du bist mir nicht böse.«

Pacey begann zu grinsen. »Solange du dein Versprechen hältst und mich auf deinem Motorrad mitnimmst . . .«

Ryleigh lachte. »Ich halte meine Versprechen immer.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Pacey ging sehr zufrieden hinter die Theke zurück.

2

Eine Woche später saß Ryleigh zum ersten Mal allein im Büro des Sheriffs, man hätte auch sagen können: dem Polizeipräsidium von Hadockville.

Mit dem, was man in New York so bezeichnete, hatte das Gebäude allerdings nicht viel zu tun. Es war nur ein kleiner Bau mit zwei Gefängniszellen, die – wenn überhaupt – lediglich einmal für die Ausnüchterung von Leuten benutzt wurden, die einen über den Durst getrunken hatten. Es kam nicht allzu oft vor, und es waren immer dieselben Insassen, wie der alte Sheriff Ryleigh erklärt hatte: Arbeiter, die zum Ende der Woche ihren Lohn erhielten und ihn dann sofort in Alkohol umsetzten.

Das erste Wochenende hatten sie noch gemeinsam bewältigt, aber Ryleigh traute sich durchaus zu, das auch allein zu tun. Die Männer waren nicht wirklich gewalttätig, sie wollten nur ein bisschen Spaß haben nach einer Woche harter Arbeit. Dass dabei manchmal etwas zu Bruch ging oder ein wenig Blut floss bei einer Schlägerei nahmen sie in Kauf. Und den darauf folgenden Gefängnisaufenthalt auch. Er war ohnehin nach einer durchgeschlafenen Nacht beendet. Am nächsten Morgen waren die Raufbolde wieder die Gutmütigkeit in Person.

Ryleigh lehnte sich mit ihrem Kaffeebecher auf dem Stuhl des Sheriffs zurück, der jetzt ihrer war. Durch die Glaswände ihres Büros hatte sie alles im Blick. Allerdings war da im Moment nichts, was sie im Blick haben musste. Die Zellen waren leer, der Schreibtisch des Hilfssheriffs, an dem sie bisher gesessen hatte, auch. Sie war allein und nun verantwortlich für die Sicherheit im Örtchen Hadockville.

Sie schüttelte den Kopf und schmunzelte. Es gab nicht viele Gelegenheiten, an denen diese Sicherheit gefährdet war. Die jugendlichen oder auch erwachsenen Raufbolde waren fast die einzige Abwechslung bei einem Job, der sich großzügig Polizeichef nannte, den Namen aber kaum verdiente, denn Ryleigh war die ganze Polizei, und mehr brauchte es auch nicht.

Da sie nicht so recht wusste, was sie tun sollte, stand sie auf, um sich noch einen Kaffee zu holen. Sie musste aufpassen, dass sie hier vor lauter Langeweile nicht zum Kaffee-Junkie wurde. Aber sie hatte diesen Job ja gewollt. Nur hatte sie sich das Ganze etwas anders vorgestellt. Nein, eigentlich hatte sie sich gar nichts vorgestellt, wenn sie ehrlich war. Sie hatte nur –

Sie brach ihre eigenen Überlegungen ab und goss sich Kaffee aus der Kaffeekanne ein, die neben dem Schreibtisch des Hilfssheriffs stand, als sie hörte, wie jemand die Polizeistation betrat.

Ein gestohlenes Fahrrad? Ryleigh lachte in Gedanken. Das wäre wahrscheinlich ein großes kriminelles Ereignis hier.

Eine Frau betrat den Raum. Und als sie hereinkam, schnappte Ryleigh unwillkürlich nach Luft, denn es schien, als ob die plötzlich knapp geworden wäre. Die eintretende Person hatte sie hinausdrängt, weil kein Platz neben ihr war.

Die Frau mit den halblangen, schwarzen Haaren schaute Ryleigh interessiert an. In der Tat musterte sie Ryleigh von oben bis unten und wieder zurück. »Sie müssen der neue Polizeichef sein«, sagte sie mit einer angenehm tiefen, etwas rauen Stimme, die Ryleigh sofort eine Gänsehaut bescherte.

Ryleigh räusperte sich. Sie musste sich zusammenreißen. »Ja«, bestätigte sie so unbeeindruckt wie möglich. »Der bin ich.« Sie hob fragend die Augenbrauen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Hadock«, sagte die Frau. »Avalon Hadock.« Sie schaute Ryleigh an, als ob sie nicht mehr sagen müsste.

Musste sie auch nicht, denn der alte Sheriff hatte Ryleigh alles über die Hadocks erzählt, deren Namen die Stadt trug.

Ryleigh nickte leicht. »Ryleigh Grant«, sagte sie.

»Ich weiß«, erwiderte Avalon Hadock lächelnd.

Dieses Lächeln ließ Ryleigh gleichzeitig das Blut in den Adern gefrieren und es kochen. Unmöglich, aber so fühlte es sich an. So ein Lächeln hatte sie noch nie gesehen. Reiß dich zusammen! Die Frau ist nichts für dich!

Als würde sie das alles nicht berühren, machte Ryleigh ein paar Schritte auf ihr Büro zu, neben dem die Besucherin stehengeblieben war. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie.

»Im Moment nicht.« Avalon Hadocks Lächeln wurde aus einem nicht erkennbaren Grund leicht ironisch. »Ich wollte nur wissen –« Ihre schwarzbraunen Augen wanderten wie ein Laserstrahl über Ryleighs Gesicht. »Den alten Sheriff kannte ich seit Jahren«, fuhr sie währenddessen fort, »und unsere Zusammenarbeit war immer unkompliziert. Wir sind hier nicht so förmlich wie in der Stadt.«

Ryleigh lächelte nun auch. »Es waren Ihre Arbeiter, die ich am Wochenende eingesperrt habe, ich weiß.«

Avalon Hadock lachte leise. »Deswegen komme ich nicht. Das ist jedes Wochenende so. Hauptsache, sie sind am Montag wieder bei der Arbeit.«

Ryleigh hätte am liebsten tief durchgeatmet. Avalon Hadocks Stimme fuhr ihr durch Regionen ihres Körpers, die sie lieber nicht benennen wollte. Und das war absolut unangebracht. Sie versuchte sich zu beherrschen. »In dieser Hinsicht wird sich wohl kaum etwas ändern«, sagte sie. »Ich sehe jedenfalls keinen Anlass dazu.«

»Das ist gut.« Die schwarzen Brauen über den dunklen Augen hoben sich. »Meine Leute sind in Ordnung. Sie sind nur ein bisschen rau.« Avalon lächelte wieder. »Liegt wohl an unserem Klima hier.«

»Die Wälder sind wunderschön«, sagte Ryleigh. »Kam mir fast wie ein Märchenwald vor, als ich durchgefahren bin.«

»Mit dem Motorrad«, ergänzte Avalon.

Ryleigh lachte leicht. »Haben Sie Erkundigungen über mich eingezogen?«

»Das musste ich gar nicht. So etwas spricht sich hier schnell herum.« Avalon betrachtete Ryleigh, als ginge ihr etwas durch den Kopf, aber sie sagte es nicht.

»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«, fragte Ryleigh und deutete auf die Kaffeemaschine. »Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann?«

»Nein, danke.« Avalon lächelte erneut, diesmal allerdings, als hätte sie einen Sieg errungen. Bei was auch immer. »Ich trinke keinen Kaffee. Ich wollte nur mal reinschauen und mich bekanntmachen. Seit mein Urgroßvater diese Stadt gegründet hat, sorgt meine Familie dafür, dass es allen hier gutgeht. Wir möchten nicht, dass sich das ändert.«

War das eine Drohung? dachte Ryleigh. Weshalb? Habe ich irgendwas gesagt? Sie nickte. »Das ist auch in meinem Interesse. Je weniger Ärger, desto besser.«

»Dann sind wir uns ja einig.« Avalon Hadock griff an das Revers der Jacke, die sie lässig über ihre Schultern geworfen hatte. »Das war eigentlich alles.« Sie nickte Ryleigh zu und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Schönen Tag noch, Chief. Und zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn meine Leute Ihnen Ärger machen.« Sie lächelte und verließ die Polizeistation.

Ryleigh hob die Augenbrauen. Das war alles. Wie ein Chef, der einen Angestellten entlässt. Obwohl Avalon Hadock das Büro verlassen hatte und nicht Ryleigh, fühlte Ryleigh sich so, als wäre es umgekehrt gewesen. Avalon Hadock schien hier der Boss zu sein. Jedenfalls führte sie sich so auf.

Und nach allem, was Ryleigh erfahren hatte, wohl zu Recht. Die Hadocks waren die Herren der Stadt, ihnen gehörte alles, sie gaben allen Arbeit. Es gab kaum einen Job, der nicht von einer Firma vergeben wurde, die den Hadocks gehörte oder auf dem Grund und Boden der Hadocks betrieben wurde.

Das hier war keine Stadt, das war ein kleines Königreich.

Und Avalon Hadock war die Königin.

3

»Sind Sie der Sheriff?« Eine junge Frau blickte fordernd auf Ryleigh hinunter, die an ihrem mittlerweile Stammplatz, dem Tisch in dem kleinen Erker, im Hadockville Café saß und frühstückte.

Ryleigh schaute hoch. »Ja?«

»Sie müssen einen Mord untersuchen.« Die junge Frau setzte sich ihr gegenüber.

»Wie bitte?« Ryleigh legte überrascht ihren Löffel zur Seite. »Mir ist kein Todesfall gemeldet worden.«

»Das war vor fünfzehn Jahren«, sagte die junge Frau.

»Oh. Ach so.« Ryleigh lehnte sich zurück. »Da war ich noch nicht hier. Das hat der damalige Sheriff untersucht.«

»Der?« Die junge Frau lachte hohl auf. »Der hat gar nichts untersucht! Hätte ja die Hadocks betreffen können. Und nichts, was die Hadocks betrifft, wird untersucht.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Sie tun das bestimmt auch nicht.«

»Langsam, langsam.« Ryleigh lächelte die junge Frau besänftigend an. »Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, worum es geht und wer Sie sind.«

»Lynn Mullally.« Sie schob etwas über den Tisch. »Meine Karte.«

Ryleigh warf einen Blick darauf. »Sie sind Anwältin.« Sie hob fragend die Augenbrauen. »Sind Sie hier, weil jemand Sie beauftragt hat?«

Lynn Mullally schüttelte den Kopf. »Niemand hat mich beauftragt. Es war mein Vater, der ermordet wurde.«

Ryleighs Brauen wanderten noch weiter nach oben. »Ihr Vater?«

»Ich stamme aus Hadockville«, erklärte Lynn Mullally. »Mein Vater hat hier im Sägewerk gearbeitet. Er starb vor fünfzehn Jahren bei einer Explosion – oder dem Brand. Noch nicht einmal das wissen wir genau.«

»Klingt nach einem Unfall«, sagte Ryleigh.

»Ja, sicher.« Lynn Mullally gab ein abschätziges Geräusch von sich. »Hier ist alles ein Unfall, was den Hadocks nicht in den Kram passt.« Sie beugte sich vor, und ihre Augen glühten. »Aber warum haben sie dann so eine hohe Entschädigung gezahlt? So hoch, dass ich weggehen und meine ganze Ausbildung damit finanzieren konnte? Ohne das Geld wäre ich heute nicht Anwältin.«

»Sollten Sie da nicht eher dankbar sein?«, fragte Ryleigh.

»Dankbar?« Lynn Mullally explodierte fast. »Dafür, dass sie meinen Vater umgebracht haben?«

Ryleigh hob die Hände. »Ja, schon gut. Das war falsch formuliert. Aber wie ich hörte, kümmern die Hadocks sich um alle Leute hier in der Stadt. Könnte es nicht einfach sein, dass das der Grund für die hohe Entschädigung war?«

»Von wem haben Sie das gehört?«, fragte Lynn Mullally mit mahlenden Kiefern.

»Avalon Hadock erwähnte so etwas«, erwiderte Ryleigh.

»Avalon?« Lynn Mullally warf den Kopf zurück und lachte. Dann beruhigte sie sich wieder. »Sie haben Avalon kennengelernt?« Sie lachte erneut, bitter. »Das ist wohl unvermeidlich. Sie bezahlt Sie ja. Ich verschwende hier nur meine Zeit.« Sie stand auf.

Ryleigh blickte zu ihr hoch. »Ich vertrete das Gesetz. Die Stadt bezahlt mich.«

»Die Hadocks sind die Stadt.« Lynn Mullallys Mundwinkel verzogen sich geringschätzig. »Sie sind genauso wie der alte Sheriff. Sie werden keinen Finger rühren gegen die Hadocks.«

»Beruhigen Sie sich.« Ryleigh stand ebenfalls auf. »Wenn Sie wollen, dass ich etwas untersuche, müssen Sie mir Anhaltspunkte bieten. Kommen Sie doch in mein Büro. Es muss ja eine Akte zu dem Fall geben.«

Lynn Mullally wiegte resigniert den Kopf. »Das glaube ich kaum«, sagte sie. »Und sowieso . . . Sobald ich weg bin, rufen Sie Avalon an, und sie sagt Ihnen, was Sie zu tun haben. Was unterhalte ich mich noch mit Ihnen?« Sie drehte sich weg zum Ausgang.

»Niemand . . .«, Ryleigh vertrat ihr den Weg, »sagt mir, was ich zu tun habe. Avalon Hadock ist eine Bürgerin dieser Stadt wie jede andere. Ich mache keine Unterschiede. Und genauso wie jeder andere Bürger hat sie das Recht, als unschuldig betrachtet zu werden bis zum Beweis des Gegenteils.«

»Ja, natürlich.« Lynn Mullally musterte sie, als wäre sie ein Käfer. »Und wer soll das Gegenteil schon beweisen?« Sie ging wütend durch die Tür hinaus.

Ryleigh schaute ihr kurz nach, dann setzte sie sich wieder, um ihr Frühstück zu beenden.

Pacey kam zu ihr herüber. »Wer war das denn?«

Ryleigh schob ihr die Karte über den Tisch. »Keine Ahnung. Eine Anwältin.«

»Mullally?«, sagte Pacey überrascht. »Den Namen kenne ich. Der ist tot. Mein Vater hat geholfen, den Brand zu löschen, dabei ist er selbst gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Pacey atmete tief durch. »Ich kannte ihn praktisch nicht. Ich war damals noch nicht einmal zwei Jahre alt. Nachdem mein Vater tot war, wollte meine Mutter nicht mehr hierbleiben. Sie lebt jetzt in Boston. Glauben wir jedenfalls. Wir haben lange nichts mehr von ihr gehört.«

»Und ich erzähle dir was über Mütter«, bemerkte Ryleigh mit schief verzogenen Mundwinkeln.

»Ach, macht nichts.« Pacey winkte ab. »Meine Mutter stammte aus der Großstadt. Granny sagt, sie hat sich hier nur gelangweilt. Sie hat die ganze Zeit auf meinen Vater eingeredet, dass wir hier weggehen sollen.« Sie hob die Augenbrauen. »Dann hätte ich jetzt ein weniger langweiliges Leben.«

»Großstädte sind nicht unbedingt das Pflaster, das ich für junge Mädchen empfehlen würde«, sagte Ryleigh. »Da kannst du später noch hingehen.«

»Das sagt Granny auch immer.« Pacey seufzte. »Wenn ich volljährig bin, werde ich das bestimmt machen. Dann hält mich hier nichts mehr.«

Ryleigh trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Ich muss rüber. Ist zwar nichts los, aber die Polizeistation sollte besetzt sein.« Sie nahm die Karte und steckte sie ein. Diese Frau hasst Avalon Hadock, dachte sie. So sehr, dass sie sie am liebsten umbringen würde.

Kurz darauf suchte sie im Büro nach der Akte Mullally. Sie fand sie auch. Sie enthielt nur ein Blatt. Unfall. Keine weiteren Untersuchungen. Ryleigh stülpte nachdenklich die Lippen vor. Vielleicht steigerte diese Lynn Mullally sich da in etwas hinein. Schon seit Jahren. Sie war damals praktisch noch ein Kind gewesen, genauso wie Avalon Hadock.

Avalon Hadock . . . Ryleigh setzte sich an ihren Schreibtisch. Diese Frau war ganz sicher eine, die starke Gefühle auslöste. Auch bei Ryleigh. Diese Stimme, die ganze Haltung, der Gang . . . alles an Avalon Hadock strahlte Macht aus, Selbstbewusstsein, Arroganz. Sie hatte garantiert noch nie Zweifel an irgendetwas gehabt, das sie tat.

Ryleigh mochte starke Frauen, denn Stärke bedeutete Leidenschaft. Allerdings schien diese Leidenschaft in Avalon Hadock gezügelt, als ob eine Schicht von Eis sie umgab und kühlte. Die Frage war: Konnte man das Eis durchbrechen?

Der altertümlich aussehende Telefonapparat auf Ryleighs Schreibtisch klingelte. Sie nahm ab.

»Kommen Sie sofort her!«, überfiel sie eine Stimme.

Ryleigh brauchte eine Sekunde, um sie zu erkennen. »Ms. Hadock?«, fragte sie.

»Kommen Sie schon!«, schnappte Avalon Hadock. »Wir haben einen Eindringling hier.«

»Einbruch?«, fragte Ryleigh, aber Avalon hatte schon aufgelegt.

Ryleigh runzelte die Stirn. Etwas genauere Angaben wären hilfreich gewesen. Avalon hatte noch nicht einmal gesagt, wo sie war. Vermutlich nahm sie an, dass das jeder wusste. Ryleigh rief die zentrale Nummer von Hadock Enterprises an, da das alte Telefon keine Rückruffunktion hatte. »Ms. Hadock hat mir gerade einen Einbruch angezeigt«, sagte sie, als die Telefonzentrale sich meldete. »Können Sie mir sagen, wo?«

»Einbruch?« Die Telefonistin schien verwirrt. »Moment, ich frage nach.« Die Leitung wurde stummgeschaltet. Kurz darauf erklang die Stimme der Telefonistin wieder. »Es ist jemand in Ms. Hadocks Büro«, sagte sie. »Sie sollen kommen.«

»Hauptverwaltungsgebäude?«, fragte Ryleigh sicherheitshalber nach.

»Ja«, sagte die Telefonistin. »Kommen Sie schnell.« Sie legte auf.

Ryleigh griff nach dem Lederholster, in dem sie ihre Dienstwaffe trug, und schnallte es um. Dann zog sie ihre Uniformjacke darüber, lief hinaus und sprang in den Wagen mit der Aufschrift Sheriff. Sie düste mit lautem Sirenengeheul die Hauptstraße hinunter und war kaum zwei Minuten später bei dem großen Gebäude angekommen.

Es schien merkwürdig ruhig zu sein, niemand stand herum, es war keine Aufregung zu spüren. Ryleigh ging hinein. In der Eingangshalle saß hinter einem großen Tresen nur ein einsamer Pförtner. Ryleigh steuerte ihre Schritte schnell in seine Richtung. »Wo ist der Einbruch?«

»Einbruch?« Er wirkte überrascht.

»In Ms. Hadocks Büro ist ein Eindringling, wurde mir mitgeteilt«, fuhr Ryleigh ungeduldig fort. Was war denn hier los?

»Oh, Ms. Hadocks Büro.« Er nickte. »Oben im ersten Stock. Ganz am Ende des Ganges.«

Es gab einen Aufzug, aber Ryleigh stürmte die Treppe hinauf und den Gang hinunter. Je näher sie der hinteren Tür kam, desto lauter wurden die Stimmen, die sie hörte. Sie zog ihre Waffe und verlangsamte ihre Schritte, versuchte herauszukriegen, woher genau die Stimmen kamen, um zu entscheiden, wie sie das Büro betreten sollte, damit niemand gefährdet wurde.

»Ich glaube, die brauchen Sie nicht, Sheriff«, sagte eine Stimme von rechts.

Ryleigh fuhr angespannt herum.

Eine junge Frau lächelte sie unsicher an. »Ich bin Ms. Hadocks Sekretärin. Molly Connors.«

»Was ist mit dem Einbrecher?«, fragte Ryleigh verwirrt.

Molly schüttelte den Kopf. »Nur eine ungebetene Besucherin, aber sie will nicht gehen. Sie hatte keinen Termin, ist einfach reingestürmt.«

Ryleigh atmete tief durch und steckte die Waffe wieder ins Holster. Das war allerdings eine andere Situation als die, die sie erwartet hatte. »Danke, Molly«, sagte sie.

Molly wies auf die Verbindung, die von ihrem Büro in das nächste führte. »Kommen Sie hier entlang.«

Ryleigh folgte ihr, und durch die offene Tür sah sie Avalon Hadock hochaufgerichtet hinter ihrem Schreibtisch stehen. Es war ein großes Büro und ein großer Schreibtisch.

»Der Sheriff ist da«, sagte Molly und ließ Ryleigh vorbei.

Ryleigh trat ein paar Schritte in das Büro hinein, und nun sah sie auch, wer die ungebetene Besucherin war: Lynn Mullally.

Ryleigh zog die Stirn kraus. »Sollte das hier nicht ein Einbruch sein?«

»Ist es auch.« Avalon Hadocks dunkle Augen blitzten. »Sie ist ohne Erlaubnis in mein Büro eingedrungen.«

Ryleigh schaute Lynn Mullally an. »Stimmt das?«

Lynn verzog das Gesicht. »Sie wollte mir keinen Termin geben. Sie hat es abgelehnt, überhaupt mit mir zu sprechen.«

»Ich habe viel zu tun«, sagte Avalon. »Ich kann mich nicht mit jeder unwichtigen Kleinigkeit beschäftigen.«

»Unwichtige Kleinigkeit?« Lynns Augen blitzten mindestens ebenso wie Avalons. »Du nennst den Tod meines Vaters unwichtig? Die Hadocks sind dafür verantwortlich, und die Hadocks werden dafür bezahlen!«

Avalons Mundwinkel verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. »Haben wir das nicht schon? Ihr habt eine großzügige Entschädigung bekommen, deine Mutter und du.«

»Geld wiegt doch kein Menschenleben auf!« Es sah aus, als wollte Lynn Avalon an die Gurgel springen.

»Ruhig, ruhig.« Ryleigh hielt Lynns Arm fest. »So löst man keine Probleme.«

Lynn starrte Ryleigh an, dann entspannte sie sich ein wenig, so dass Ryleigh ihren Arm loslassen konnte. »Sie ist das Problem!«, fauchte Lynn. »Das sollte mal jemand lösen!«

»Entfernen Sie diese Frau aus meinem Büro, Sheriff – und aus der Stadt. Ich will, dass sie Hadockville sofort verlässt«, forderte Avalon mit einem befehlsgewohnten Blick auf Ryleigh.

Ryleigh hob die Augenbrauen. »Ms. Mullally muss selbstverständlich Ihr Büro verlassen, wenn Sie sie dazu auffordern, aber es gibt kein Gesetz dagegen, dass sie sich in der Stadt aufhalten darf.«

»Wie bitte?« Avalon schien für einen Moment verblüfft. »Dann sperren Sie sie ein«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Unerlaubtes Betreten von Privatbesitz. Hausfriedensbruch. Das werden Sie ja wohl können.«

»Wenn Sie Anzeige erstatten, ja«, sagte Ryleigh. »Aber finden Sie das nicht ein bisschen übertrieben? Ich nehme Ms. Mullally jetzt mit. Damit sollte die Sache erledigt sein.«

Avalon Hadocks Lippen öffneten sich zu einem erstaunlichen Lächeln, so süß, dass man kaum glauben konnte, wie wütend sie eben noch ausgesehen hatte. »Übertrieben? Sie finden es übertrieben, einen Kriminellen für seine Taten zu bestrafen? Als Vertreterin des Gesetzes?« Sie hob die Augenbrauen. »Dann sollten Sie vielleicht noch einmal über Ihre Berufswahl nachdenken. Die Bürger dieser Stadt legen sehr viel Wert auf die Einhaltung der Gesetze. Dafür werden Sie von ihnen bezahlt.«

Jetzt ist es keine Frage mehr, das war eindeutig eine Drohung, dachte Ryleigh. Wenn du nicht tust, was ich sage, Sheriff, bist du deinen Job los. Sie nickte. »Ja, so habe ich das auch verstanden.« Sie warf einen Blick auf Lynn neben sich. »Ich denke, wir sollten gehen. Ich will Sie nicht in Handschellen abführen.«

Lynn verzog abschätzig die Mundwinkel. »Ich wusste es. Sie tun nichts gegen die Hadocks. Genau wie alle anderen.«

»Ms. Mullally, ich fordere Sie nicht noch einmal auf, mit mir mitzugehen«, erwiderte Ryleigh mit der ganzen Autorität ihres Amtes. »Seien Sie vernünftig. Sie sind Anwältin. Sie wissen, dass Sie kein Recht haben, hier zu sein, wenn es Ihnen nicht erlaubt wird.«

»Recht!« Lynn spuckte das Wort fast aus. »Das hat die«, sie streckte ihren Arm aus und zeigte mit dem Finger auf Avalon, »noch nie geschert!«

»Kommen Sie.« Ryleigh ergriff Lynns Arm und zog sie mit sich zur Tür.

»Es ist gut, Sheriff«, sagte Avalons süffisante Stimme hinter ihr, »dass Sie wissen, wo Sie stehen.«

Ryleigh warf kurz einen Blick zu ihr zurück. »Ja, das weiß ich«, sagte sie. Ihr Blick kreuzte sich mit Avalons, und sie sah den Triumph in den Augen der anderen. »Auf der Seite des Gesetzes«, fügte sie ruhig hinzu.

Dann verließ sie mit der immer noch leicht widerstrebenden Lynn das Büro.

»Ich werde das nicht zulassen! Nicht noch einmal!«, fauchte Lynn Ryleigh an, als sie zusammen im Polizeiwagen saßen.

Ryleigh legte den Gang ein und fuhr los. »Ich habe mir die Akte angesehen«, erläuterte sie dabei. »Es steht nichts drin.«

Lynn stieß geringschätzig die Luft aus. »Überraschung!«

Neugierig warf Ryleigh einen Blick auf sie. »Warum denken Sie, dass es kein Unfall war?«

»Weil ich es einfach weiß!« Lynn rauchte wie ein Kamin, der mit Gewalt geschlossen gehalten wurde.

»Das reicht aber nicht, Frau Anwältin. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Lynn. »Mich einsperren, wie Avalon es Ihnen befohlen hat?«

»Sie hat mir nichts befohlen, weil sie mir nichts befehlen kann«, sagte Ryleigh. »Aber Sie haben eindeutig Hausfriedensbruch begangen, und dafür könnte ich Sie in der Tat einsperren, das stimmt.«

»Und Sie werden mich so lange schmoren lassen, wie es Avalon passt.« Lynn lachte hohl.

»Es gibt Gesetze für so etwas«, sagte Ryleigh.

»Ja, richtig. Gesetze. Und das Gesetz in dieser Stadt heißt Avalon Hadock.«

»Das Gesetz heißt Gesetz«, korrigierte Ryleigh. »Es ist genau das Gesetz, das Sie studiert haben, und ich vertrete es.«

Lynns Mundwinkel zuckten. »Dann werden Sie Mittel und Wege finden, es so zu verdrehen, dass Avalon damit zufrieden ist.«

»Das klingt sehr persönlich.« Ryleigh warf einen Blick zu ihr auf den Beifahrersitz. »Was haben Sie gegen Ms. Hadock? Außer dass sie jetzt gerade eben nicht sehr nett zu Ihnen war?«

»Wir sind zusammen aufgewachsen«, erwiderte Lynn. »Das reicht.«

»Sie sind verwandt?«, fragte Ryleigh erstaunt.

»Nein.« Lynn schüttelte den Kopf. »Aber wir sind gleich alt. Als Kinder haben wir zusammen gespielt. Manchmal.«

»Und Sie mochten sich nicht«, vermutete Ryleigh.

»Im Gegenteil. Wir waren beste Freundinnen.«

Ryleigh schaute sie verdutzt an. »Nach besten Freundinnen sah das eben aber nicht aus.«

»Wir sind ja auch keine Kinder mehr«, sagte Lynn.

Leicht verwirrt schüttelte Ryleigh den Kopf, während sie vor der Polizeiwache anhielt. »Ich muss Ihre Personalien aufnehmen«, kündigte sie an, als sie ausstieg. »Wo wohnen Sie in Hadockville?«

»Im Haus meiner Mutter.« Lynn folgte ihr in die Wache hinein. »Jetzt ist es wohl meins. Aber ich war seit der Beerdigung nicht mehr hier.«

Ryleigh ging zu einem Ablagekorb und nahm ein Formular heraus. Sie legte es auf den Tisch. »Könnten Sie das bitte ausfüllen?«

Während Lynn sich an den Tisch setzte, zog Ryleigh ihre Uniformjacke aus und hängte sie an den Garderobenständer, dann schnallte sie das Holster ab und legte es mit der Waffe in eine Schublade ihres Schreibtischs. Sie setzte sich Lynn gegenüber.

»Ich werde Sie nicht einsperren«, sagte sie. »Das ist nicht nötig. Sie haben eine feste Adresse, und auch wenn Anwälte nicht den besten Ruf haben«, sie grinste leicht, »glaube ich Ihnen, dass Sie nicht versuchen werden zu fliehen.«

Lynn schaute von dem Formular auf und hob die Augenbrauen. »Was wird Avalon dazu sagen?«

Ryleigh schüttelte den Kopf. »Es ist meine Entscheidung. Sie wissen selbst, wie das Gesetz lautet. Wenn keine Fluchtgefahr besteht, gibt es bei einer solchen Bagatelle keinen Grund für eine Festnahme. Sie bekommen eine Anzeige, und Sie zahlen eine Strafe, das ist alles.«

»Eine Strafe dafür, dass ich mit Avalon reden wollte. Toll.« Lynn verzog das Gesicht.

»Sie können sie nicht dazu zwingen, mit Ihnen zu reden, das ist nun einmal so«, sagte Ryleigh. »Und das wissen Sie.«

»Ja.« Lynn nickte. »Das war schon immer das Problem. Die Hadocks kann man zu nichts zwingen. Sie tun einfach, was sie wollen, und niemand hindert sie daran.«

»Das Gesetz gilt für alle«, sagte Ryleigh.

»Für die einen mehr, für die anderen weniger«, berichtigte Lynn. »Und für manche gar nicht.«

»Nicht in meiner Stadt«, sagte Ryleigh.

»Oho!« Lynn lachte auf. »Lassen Sie das bloß nicht Avalon hören! Für sie ist das hier ihre Stadt!«

Ryleigh lächelte leicht. »Sie kann es gern hören. Ich sehe keinen Grund, warum nicht. Sie meinen zu wissen, dass der Tod Ihres Vaters kein Unfall war. Warum?«

»Jeder in der Stadt weiß, dass es kein Unfall war«, erwiderte Lynn abschätzig. »Aber sollte jemand versuchen, herumzufragen und etwas darüber herauszufinden, kann er sich darauf gefasst machen, ebenfalls auf dem Friedhof zu landen. Niemand wird etwas beweisen können, wenn er unter der Erde liegt.«

»Sie haben davor anscheinend keine Angst«, stellte Ryleigh fest.

»Mein Vater hatte keine Angst vor den Hadocks, und ich bin nicht Anwältin geworden, um Angst zu haben.« Lynn schaute Ryleigh entschlossen an. »Avalon ist die letzte der Hadocks. Bis jetzt. Sollte sie heiraten und Kinder haben, wird es ewig so weitergehen. Hadockville heißt nicht umsonst Hadockville. Es ist Privateigentum der Hadocks. Jeder, der den Namen Hadock trägt, ist unangreifbar. Das darf einfach nicht sein.«

Ryleigh nickte nachdenklich. »Da haben Sie Recht. Vor dem Gesetz ist jeder gleich, ohne Ansehen der Person. Und jedes Verbrechen sollte aufgeklärt und gesühnt werden.« Sie hob die Augenbrauen. »Die Frage ist nur: Liegt überhaupt ein Verbrechen vor? Dafür habe ich bisher noch keinen Anhaltspunkt.«

»Selbst wenn Sie hundert hätten, würden Sie nichts tun«, bemerkte Lynn verächtlich. »Niemand hier tut etwas. Avalon würde sie in den Boden stampfen. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

Ryleigh lehnte sich zurück und breitete fragend die Arme aus. »Was soll ich tun? Ohne einen einzigen Hinweis? ›Ich weiß, dass es kein Unfall war‹ ist leider keine Aussage, die eine Untersuchung rechtfertigt – geschweige denn vor einem Richter Bestand hätte. Und fünfzehn Jahre, nachdem etwas geschehen ist, kann man kaum mehr den Tatort nach Spuren absuchen und Beweise sichern.«

»Ich weiß, dass mein Vater einen Anruf bekam an jenem Abend«, erklärte Lynn. »Er sagte, es wäre einer seiner Gewerkschaftskumpels gewesen, aber ich habe meiner Mutter angesehen, dass sie ihm nicht geglaubt hat – auch wenn sie das nie öffentlich gesagt hätte.« Sie atmete tief durch. »Ich habe meinen Vater sehr geliebt, aber jetzt, wo ich erwachsen bin, weiß ich, dass er . . . den Frauen nicht abgeneigt war. Und seine Freunde in der Gewerkschaft haben ihn gedeckt, wenn er mal ein Alibi brauchte. Meine Mutter wusste es, aber sie liebte meinen Vater. Es war nicht einfach für sie.«

»Das tut mir leid«, sagte Ryleigh. »Sie denken also, dass eine Frau angerufen hat und ihr Vater zu ihr ging?«

Lynn nickte. »Und ich denke, dass ich weiß, wer diese Frau war.«

»Selbst wenn Sie das wissen, was hat das mit dem Unfall zu tun?«

»Ich denke – nein: ich weiß«, Lynn beugte sich vor, »dass es Avalons Mutter war, Christine Hadock.«

»Wollen Sie damit sagen, Avalons Vater hätte den Unfall inszeniert? Aus Eifersucht?«

»Oder Christine selbst. Sie war eine ehrgeizige Arbeitertochter, genau wie ich. Als sie heiratete, war sie bettelarm und musste einen Ehevertrag unterschreiben, der sie zur Treue verpflichtete. Sie hätte alles verloren, wenn es herausgekommen wäre.«

Ryleigh atmete tief durch. »Nichts davon können Sie beweisen. Sie wissen noch nicht einmal genau, ob es so war.«

»Doch.« Lynn nickte. »Ich habe nach dem Tod meines Vaters einen Brief gefunden, von Christine Hadock. Der ist ziemlich eindeutig.«

»Das ist«, Ryleigh hob die Hände, »möglicherweise ein Beweis für Untreue, aber noch lange nicht für einen Mord.«

Lynn schaute zur Seite auf den Boden. Nach einer Weile hob sie den Blick. »Das weiß ich auch«, sagte sie resigniert. »Aber ich weiß ebenso, dass der Sheriff damals etwas gefunden hat. Es ist nur nie in die Akte eingegangen. Doch es war genug, um Brandstiftung zu vermuten.«

Ryleigh stand auf und nahm die Akte aus dem Schrank. »Das ist alles, was ich habe.« Sie legte die Akte vor Lynn auf den Tisch. »Und da steht nichts von Brandstiftung.«

»Weil die Versicherung dann nicht gezahlt hätte. Weil vielleicht jemand vermutet hätte, es wären die Hadocks selbst gewesen, um die Versicherungssumme zu kassieren.« Lynn klopfte mit einem Finger auf den Tisch. »Die Geschäfte gingen damals nämlich nicht gut. Deshalb wurde es als Unfall hingestellt. Es wurde behauptet, mein Vater hätte geraucht und damit Lösungsmittel entzündet, die im Sägewerk gelagert waren. Er hätte eine Explosion verursacht, die ihn tötete und das darauf folgende Feuer entfachte, das die halbe Stadt niederbrannte. Die Sache wurde so schnell wie möglich zu den Akten gelegt.« Sie schüttelte den Kopf. »Danach ging es den Hadocks wieder prächtig. Sie konnten investieren, und alles nur wegen des Geldes, das sie von der Versicherung bekommen haben.«

Ryleigh schaute auf Lynn hinunter. »Das sind alles nur Spekulationen. Können Sie mir nicht wenigstens einen einzigen handfesten Beweis liefern?«

»Doch.« Lynn blickte zu Ryleigh auf und schürzte die Lippen. »Mein Vater hat nicht geraucht.«

4

Wenn Ryleigh morgens aufstand, verließ sie ihr Hotelzimmer und ging ins Café hinüber, wo Pacey oder Elaine schon auf sie warteten. Ebenso wie die alteingesessenen Bewohner der Stadt wurde Ryleigh nicht mehr gefragt, was sie wollte, es wurde ihr einfach serviert. Da sie nicht sehr viel Wert auf Abwechslung beim Frühstück legte, fand sie das sehr angenehm.

Während sie an ihrem Tisch im Glaserker saß, blätterte sie in der Zeitung und überflog die Meldungen. Nicht dass sie sehr interessant gewesen wären. Schon der Diebstahl eines Fahrrades war – wie Ryleigh vermutet hatte – ein lokales Ereignis, über das berichtet wurde. Das war wirklich nicht zu vergleichen mit New York, wo sie jeden Tag bereits von Mord und Totschlag gelesen hatte, bevor sie überhaupt ihren Dienst antrat und dann in der Realität damit konfrontiert wurde.

Sie hob ihre Kaffeetasse an und nahm sie in beide Hände. Nachdenklich schaute sie über den Rand, ohne zu trinken. New York. Das erschien jetzt fast schon wie eine andere Welt. Genauso weit weg wie alles, was dort passiert war.

»Wie war Ihr Gespräch mit Ihrem Vorgänger?« Als wäre sie gerade aus dem Nichts aufgetaucht, stand Avalon Hadock plötzlich vor ihr. Sie lächelte süß. »Ja, Sie vermuten richtig. Ich weiß über alles Bescheid, was in der Stadt vorgeht.« Mit einem eleganten Hüftschwung setzte sie sich gegenüber von Ryleigh an den Tisch.

Ryleigh hob die Augenbrauen. »Hat er es Ihnen erzählt?«

»Nun ja, da es mich betraf . . .« Avalon lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Schöne Beine in hochhackigen Schuhen.

»Es betraf nicht Sie«, entgegnete Ryleigh, während sie ihren Blick nur mit Mühe von diesen höchst attraktiven Beinen in dem wenig bedeckenden Rock abwandte.

»Es betraf meine Familie, das ist dasselbe«, sagte Avalon, immer noch lächelnd, aber jeder, der in diesem Lächeln Freundlichkeit vermutet hätte, wäre wohl fehlgegangen. »Ich möchte Sie bitten, alles, was meine Familie betrifft, in Zukunft zuerst mit mir zu besprechen.« Ihr Tonfall war von dem einer Bitte weit entfernt. Es war ein Befehl.

Ryleigh nippte an ihrem Kaffee. »Das wäre dann wohl so ziemlich alles, was hier passiert«, erwiderte sie. »Haben Sie überhaupt so viel Zeit?«

Avalon beugte sich irritiert vor. »Versuchen Sie, witzig zu sein?«

»Aber nein, das liegt mir fern. In so etwas war ich noch nie gut.« Ryleigh stellte ihre Tasse ab. »Ich versuche nur, die Realitäten zu erfassen, Ereignisse ins richtige Verhältnis zu setzen. Schließlich bin ich neu in der Stadt.«

»Deshalb«, Avalon lächelte wieder dieses unglaublich zweischneidige Lächeln, »erkläre ich Ihnen jetzt, was die Realitäten sind: Sie berichten mir und machen sich keine Gedanken über meine Zeiteinteilung. Das können Sie ruhig mir überlassen. Ist das klar?« Ihre Augen schienen Ryleigh zu durchbohren.

Ryleigh hielt dem Blick stand und wartete eine Sekunde. »In welcher Funktion berichte ich Ihnen?«, fragte sie dann. »Sind Sie die Bürgermeisterin?«

Als hätte sie die Frage gar nicht gehört, lehnte Avalon sich zurück und betrachtete ihre Fingernägel. »Wie Sie soeben richtig festgestellt haben«, bemerkte sie nach einer Weile gelassen, »habe ich wenig Zeit. Ein öffentliches Amt würde mir zu viel davon rauben. Aber die Interessen dieser Stadt sind auch meine Interessen. Da gibt es keinen Unterschied.«

»Ist das so.« Ryleigh lächelte entschuldigend. »Sie müssen verzeihen, wenn ich mich erst an diese Dinge gewöhnen muss. Ich habe noch nie in einer Kleinstadt gewohnt. In Großstädten decken sich die Bedürfnisse der Stadt kaum je mit den Bedürfnissen von Einzelpersonen.«

»Ich bin nicht so sehr eine Einzelperson, sondern die Präsidentin von Hadock Enterprises«, erklärte Avalon süß. »Der Firma, die praktisch allen Leuten in der Stadt Arbeit gibt. Wenn es Hadock Enterprises gutgeht, geht es der Stadt gut.« Sie machte eine wirkungsvolle Pause. »Und umgekehrt. Geht es der Firma schlecht, sind viele Arbeitsplätze gefährdet, genauso wie das Wohlergehen der Stadt selbst.«

Mit Drohungen ist sie immer schnell bei der Hand, dachte Ryleigh. Das scheint ihr Spezialgebiet zu sein. »Ich verstehe«, sagte sie. »Aber ich stehe nicht auf Ihrer Gehaltsliste. Das ist jetzt für mich ein bisschen ein Problem, was die Zuständigkeit betrifft.« Ihre blauen Augen wirkten unschuldig, als sie auf Avalons dunklen Blick trafen.

»Entfernen Sie Lynn Mullally aus der Stadt und legen Sie den Fall ihres Vaters wieder zu den Akten – wo er hingehört«, entgegnete Avalon scharf. »Versuchen Sie nicht, etwas herauszufinden, wo es nichts herauszufinden gibt. Es war ein Unfall. Niemand hat das je bezweifelt.«

Da habe ich aber etwas anderes gehört, dachte Ryleigh. Sie nickte. »Wenn es so war, kann ich ja auch nichts herausfinden«, sagte sie. »Und ich habe so wenig zu tun hier. Auf diese Art kann ich mich etwas mit den Gegebenheiten in der Stadt vertraut machen.«

Avalon stand abrupt auf. »Meine Familie«, zischte sie, »hat genug gelitten, als sie die halbe Stadt wieder aufbauen musste. Suchen Sie sich einen anderen Spielplatz, um zu üben!« Sie drehte sich um und rauschte aus dem Café hinaus.

Ryleigh lachte leise. »Das war ein klares Statement.«

Elaine kam zu ihr herüber und räumte den Tisch ab. »Sei vorsichtig«, bemerkte sie mit besorgtem Blick. Mittlerweile hatte sie Ryleigh quasi in die Familie aufgenommen, und sie duzten sich. »Sie war schon als Kind ziemlich aufbrausend, und das ist nicht besser geworden, seit sie erwachsen ist.«

Ryleigh schaute die Straße hinunter, wo Avalon mit ihrem schwarzen Mercedes Coupé verschwunden war. »Sie ist schon ein ganz besonderes Kaliber«, schmunzelte sie.

»Nimm das nicht zu leicht.« Immer noch klang Elaines Stimme besorgt. »Unterschätz sie nicht. Sie ist auf keinen Fall harmlos. Sich mit ihr anzulegen kann unvorhersehbare Folgen haben.«

»Ach, Elaine . . .« Ryleigh lächelte sie beruhigend an. »Ich bin Drogendealer gewöhnt, Mörder, Totschläger – das hier kommt mir dagegen wie Disneyland vor. Sie kann nicht so schlimm sein wie das ganze organisierte Verbrechen von New York.«

»Wenn du dich da nicht mal irrst . . .«, erwiderte Elaine zweifelnd und ging mit dem Geschirr in die Küche.