Wächterin der Seelen - Hinera - Loreletta Nox - E-Book

Wächterin der Seelen - Hinera E-Book

Loreletta Nox

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Beschreibung

Seit jeher beäugten sich die Bewohner der unterschiedlichen Ebenen eher mit Ab- als mit Zuneigung, auch wenn die jeweiligen Oberhäupter ebenso lang schon eng miteinander befreundet sind. Streitereien gehörten demnach zur Tagesordnung, Beleidigungen gegeneinander zum guten Ton und mit herrlicher Regelmäßigkeit traf man sich, um sich in diesem ewig währenden Kleinkrieg zwischen den Ebenen gegenseitig gepflegt die Nasen zu korrigieren und bis zum nächsten Mal festzulegen, wer 'besser' ist. Das System funktionierte ganz gut und selbst die Obersten sahen keinen Grund zur Einmischung. Zumindest, bis die Seelenernter tiefe Schneisen in die Reihen der Belegschaften schlugen und zu ungewollter Kooperation führten. Und genau in diesem Chaos wurde der Grundstein für eine der ungewöhnlichsten Verbindungen gelegt: Hinera, eine Eigeborene, und Chainer, ein Anhänger der Ira, welche sich nicht an die althergebrachten Regeln halten, diese sogar brechen und damit, ohne ihr Wissen, eine neue Ära einleiten. Zumindest, wenn dieses doch eher ungewöhnliche Experiment gutgehen sollte…

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Loreletta Nox

Wächterin der Seelen - Hinera

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kleines Vorwort

 

 

Liebe Rollenspieler

– und natürlich auch alle anderen Fantasy-liebenden Leute – habt ihr euch schon einmal gefragt, was mit den geliebten Charakteren passiert, wenn sie ihre Abenteuer nicht mit heiler Haut überstehen und nicht einmal mehr eine Göttliche Intervention ihnen helfen kann?

 

Ja?

 

Dann haltet ihr hier die Antwort in den Händen! Entstanden aus einer alten Rollenspielrunde, die sich dieselbe Frage gestellt hatte, zeigt die Geschichte um Collin und seine Freunde, wie das mögliche Leben der gefallenen Helden aussehen könnte.

 

Eine nicht ganz ernst gemeinte Reise durch das chaotische Leben nach dem Leben diverser Rollenspielcharaktere – und jenen, die das noch vor sich haben.

 

 

 

Bereits erschienene Werke dieser "Nicht-Reihe":

 

Jäger der Seelen – Collin (auch in Englisch erhältlich)

 

Des Todes Tochter - Florana (auch in Englisch erhältlich)

Kurzbeschreibung

 

Seit jeher beäugten sich die Bewohner der unterschiedlichen Ebenen eher mit Ab- als mit Zuneigung, auch wenn die jeweiligen Oberhäupter ebenso lang schon eng miteinander befreundet sind.

 

Streitereien gehörten demnach zur Tagesordnung, Beleidigungen gegeneinander zum guten Ton und mit herrlicher Regelmäßigkeit traf man sich, um sich in diesem ewig währenden Kleinkrieg zwischen den Ebenen gegenseitig gepflegt die Nasen zu korrigieren und bis zum nächsten Mal festzulegen, wer ‚besser‘ ist.

Das System funktionierte ganz gut und selbst die Obersten sahen keinen Grund zur Einmischung.

 

Zumindest, bis die Seelenernter tiefe Schneisen in die Reihen der Belegschaften schlugen und zu ungewollter Kooperation führten.

Und genau in diesem Chaos wurde der Grundstein für eine der ungewöhnlichsten Verbindungen gelegt:

 

Hinera, eine Eigeborene, und Chainer, ein Anhänger der Ira, welche sich nicht an die althergebrachten Regeln halten, diese sogar brechen und damit, ohne ihr Wissen, eine neue Ära einleiten.

Zumindest, wenn dieses doch eher ungewöhnliche Experiment gutgehen sollte…

Prolog

 

Die Luft war zum Schneiden dick und geschwängert vom Gestank nach Schwefel, Tod und Verderben. Dunkle Wolken sperrten das tröstliche Licht der Sonne aus und ersetzten es stattdessen mit drohendem Donnergrollen und wild über den Himmel zuckenden Blitzen.

Schreie mischten sich unter das immer lauter werdende Donnergrollen, ebenso das Klirren aufeinandertreffender Klingen und das Zischen von verbrannt werdendem Fleisch, wenn Stahl – egal ob heilig oder verdorben – sein Ziel fand.

Die Kämpfe zwischen den Ebenen waren seit jeher blutrünstig und brutal gewesen, aber diese Schlacht stellte alle vorangegangenen weit in den Schatten. Blutige Federn steckten ebenso im matschigen Boden wie gesplitterte Hornspitzen und füllten die Räume zwischen den verdrehten Leibern der Besiegten.

Worum genau es dieses Mal ging? Sie wusste es nicht. Sie befolgte nur die Befehle, welche man ihr erteilt hatte: Weise die Bewohner der unteren Ebene in ihre Schranken! Und das tat sie.

Ein Schwarm Fledermäuse zog bedrohliche Kreise am dunklen Himmel, stürzte sich in einer anmutigen Choreografie in die Tiefe und umfing einen ihrer Freunde. Sein schrilles Kreischen drang bis zu ihr, obwohl sie viel zu weit entfernt stand, als dass sie ihm hätte helfen können.

Kläglich wimmernd ging der andere Himmlische zu Boden, während die Fledermäuse sich wieder in den Himmel erhoben, um nach ihrem nächsten Opfer Ausschau zu halten.

 

Zu gerne wäre sie zu ihrem Freund geeilt, um nach ihm zu sehen, aber dafür fehlten ihr die Zeit und die Möglichkeit. Immer wieder musste sie ihren Speer herumreißen, um Angreifer der unteren Ebene abzuwehren, zerschnitt dabei Haut und Fleisch, sodass sich weiterer Gestank und wildes Geschrei in die Kakophonie des Kampfes einreihten.

Verloren war niemand von ihnen. Besiegt und gedemütigt, ja, aber nicht endgültig aus den Liedern des Lebens nach dem Leben getilgt. Zwar tollte die Tochter des Todes zwischen Freund und Feind umher, verteilte Hiebe und Schnitte an jeden, der ihren Weg kreuzte, nutzte dafür aber nicht ihre eigene Waffe. Silbrig, nicht pink, sauste die Klinge des blonden Mädchens durch die Luft und machte keinen Unterschied zwischen den Ebenen.

Ein tröstlicher Gedanke, denn: Für den Tod waren sie alle gleich…

 

Suchend glitt ihr Blick über die Kämpfenden, nachdem sie sich genügend Luft für diesen kleinen Luxus verschafft hatte. Einer, der nicht jedem vergönnt war. Ja, sie hätte sich in den Himmel erheben und von dort Ausschau halten können, aber dort oben kreiste noch immer der Schwarm Fledermäuse und auch der schwarze Greif zog dort seine Bahnen, um alles mit weißem Gefieder zur Landung zu zwingen.

Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht finden wonach sie sucht. Sie ist zu klein, zu viele Köpfe und Körper versperrten ihr die ohnehin spärliche Sicht, welche durch die wild zuckenden Blitze bizarre Auszüge der Kämpfe in ihre Gedanken einbrannte.

Es nutzte nichts, sie muss fliegen, auch wenn es ihr Verderben sein wird. Raschelnd spreizten sich ihre Flügel, streckten sich soweit sie nur können, bevor sie sich mit wenigen Schlägen vom Boden entfernt und zu den wenigen Mutigen aufschließt, die am tobenden Himmel um ihren Standort kämpfen.

Die grotesken Bilder von Bewegungen verbessern sich dadurch kaum, jedoch fällt es ihr leichter Ausschau zu halten.

 

Dort! Inmitten des schlimmsten Knäuels kann sie den hellen Schopf erkennen nach dem sie gesucht hat. Er ist nicht weit entfernt, wenn sie es schafft sich in der Luft zu halten dürfte er sich nur wenige Meter vor ihr befinden.

Erleichterung durchströmte sie und verleitete sie dazu mit kräftigen Flügelschlägen auf den Pulk zuzuhalten.

Weit kam sie jedoch nicht.

Im noch immer an ihre Ohren dringenden Lärm der Schlacht ging das Klirren der Ketten vollständig unter, sodass ihr ein überraschter Schrei entfuhr als diese sich kalt und unnachgiebig um ihr rechtes Bein wickelten.

Befreien kann sie sich nicht, auch wenn sie es noch so sehr versucht. Und dann folgte auch schon ein schmerzhafter Ruck, dem sie nichts entgegensetzen kann. Gegenwind sträubte die Federn ihrer Flügel, die noch versuchen sie oben zu halten, bevor sich eine zweite Kette um diese wickelt und ihren Absturz beschleunigt.

Die Landung ist hart trotz des matschigen Untergrunds, aber wenigstens lösten sich die Ketten von ihrem Körper.

 

Ihre Welt drehte sich und als sie versuchte aufzustehen rutschte sie mehrfach ab und landete erneut im Matsch. Nein! So wird er sie nicht überrumpeln und besiegen!

Der vierte Anlauf war von Erfolg gekrönt, sodass sie wieder aufrecht stehen und ihren Angreifer in Augenschein nehmen konnte. Schwarze Haare, Sonnenbrille, eine glimmende Zigarette im Mundwinkel, welche über einem schwarzen Ziegenbart wippte. Ein ärmelloses Hemd zierte den Oberkörper, sodass man die schwarzen Tattoos erkennen kann. Tribals, welche auf der Haut zu wabern und zu wandern schienen und ihr ein leichtes Schwindelgefühl verschafften.

Schwarze Hose und Stiefel bedecken den Rest seines Körpers, während an seinen Armen und Beinen leise die Ketten klirren, mit welchen er sie vom Himmel geholt hatte.

Nein, dieser Mann gehörte eindeutig nicht zur oberen Ebene und dennoch wartete er darauf, dass sie sich von ihrer erzwungenen unsanften Landung erholte. Aber seine Geduld wirkte begrenzt, wie er sie da beobachtete und einzelne Glieder der Ketten durch seine Finger gleiten ließ.

 

Vor und zurück geht es zwischen ihnen. Seine Ketten rasseln, ihr Speer blitzt, sie greifen an, sie wehren ab. Länger und länger dauert ihr Kampf, Freunde, die zu Hilfe kommen wollen, werden abgewiesen. Dies ist ihr gemeinsamer Kampf und sie wollen ihn untereinander austragen. Keine Hilfe, keine Unterbrechungen. Sieg oder Niederlage – nichts anderes gab es mehr für die beiden.

Dass die Erde bebte und die Schreie einen anderen Klang annahmen bemerkten sie erst spät. Beinahe zu spät, rauschte doch ein großer Schatten auf ihren Gegner zu, der in seiner Form nicht zu den vorherigen passte.

„Pass auf!“ Die Warnung floh ihr schneller von den Lippen als sie es eigentlich sollte, aber er rührte sich nicht. Er würde sterben, hier und jetzt, vor ihren Augen.

In ihrer Verzweiflung ließ sie ihren Speer fallen und warf sich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, gegen den Bewohner der unteren Ebene. Der unerwartete Aufprall zwang ihn zu einem rückwärts gerichteten Ausfallschritt, der matschige Untergrund wiederum sorgte für fehlenden Halt und einen weiteren Sturz.

Gemeinsam landeten sie so im Dreck, gerade noch der schwingenden Faust ausweichend, die dicht an ihren Flügeln vorbeizischte.

 

Schwer atmend blieb sie liegen, ihre Sicht begrenzt durch ihre eigenen mit Matsch verklebten Haare. Was sie jedoch erkennen konnte war, dass sie weder die Ersten noch die Einzigen waren, die überrascht wurden.

Andere Kämpfer waren ebenfalls dazu gezwungen auszuweichen, nur um sich danach zusammenzuschließen gegen diesen ihr unbekannten neuen Feind. Wer schnell genug war konnte eigene Treffer verbuchen, wer es nicht war, der…

Groß wurden da ihre Augen als sie mitansehen musste, was mit jenen geschah, die getroffen wurden. Gellende Schrei entfuhren den Getroffenen, bevor deren Körper zerplatzten und die pure Essenz ihrer Seelen schimmernd in der stickigen Luft verharrend schwebten.

Nur, um dann von dem seltsamen Konstrukt, welches den endgültigen Tod herbeigeführt hatte, aufgesogen zu werden!

 

Ein weiteres Mal drehte sich ihre Welt, huschte verschwommen an ihr vorbei als sie sich plötzlich bewegte. Nein, sie bewegte sich nicht selbsttätig. Vielmehr wurde sie bewegt, von jemand anderem, der einen Arm fest um ihren Oberkörper geschlungen hielt.

„Scheiße, Weib, pass doch gefälligst selbst auf!“ Der Ruf des Mannes unter ihr ließ sie zurückblicken und schwer schlucken. Dort, wo sie zuvor noch gelegen hatten, wurde gerade eine geballte Faust aus dem Boden gezogen, einen tiefen Krater dabei zurücklassend.

Das hätten sie sein können, wenn er nicht schnell genug reagiert hätte!

Was war hier nur los?!

 

Wer zuvor noch gegeneinander gekämpft hatte, verbündete sich nun – Ebene und Ränge verloren ihre Bedeutung in diesem Kampf um das nackte Überleben. Auch die Tochter des Todes schwang nun ihre eigentliche Waffe, die Sense, mit welcher sie wirklichen Schaden anrichten konnte und die sie für gewöhnlich bei diesen Kämpfen zwischen den Ebenen nicht führte. Ein unleugbares Zeichen dafür wie ernst die Lage wirklich war.

Der Schwarm Fledermäuse, welcher sich zuvor begierig auf Bewohner der oberen Ebene gestürzt hatte, ging zwar noch immer in den Sturzflug, nutzte diesen aber dazu, um einzelne Personen zu packen und sie außer Reichweite der geschwungen werdenden Fäuste zu bringen.

Auch die wenigen Bewohner der oberen Ebene, die sich noch am Himmel halten konnten, zogen unermüdlich Bahnen, um jeden außer Reichweite dieser seltsamen Wesen zu bringen, die unter den einstigen Gegner wüteten.

Selbst der Greif verlegte sich nun mehr auf das Retten als auf das vom Himmel reißen und begleitete jeden seiner Erfolge mit einem schrillen Schrei.

Aber es gab auch andere, die nicht so viel Glück hatten und von den wenigen Fliegenden nicht mehr gerettet werden konnten.

 

Nie würde sie vergessen können wie das getarnte Orakel ihrer Ebene von einem dieser Wesen gepackt und zerfetzt wurde, schreiend und sterbend als Zeichen des Triumphs in die Höhe gehalten werdend.

Aber auch sie schrie. Lang und schmerzerfüllt beim Anblick des brutalen Sterbens um sie herum, während sie, die sie eigentlich eine Wächterin war, von einem starken Griff vom Helfen abgehalten wurde.

Alles in ihr verlangte danach, dass sie sich losmachen und ihrer Aufgabe nachgehen solle, dass sie gefälligst all jene Seelen zu schützen habe, die vor ihren Augen in ein ungewisses Schicksal verschlungen wurden.

Aber egal wie sehr sie auch zog und zerrte, der Mann ließ sie nicht los, sondern zerrte sie von einer Seite zur anderen, um ihr dasselbe Schicksal zu ersparen. Dass er es für sie tat wurde ihr erst später bewusst, denn es bestand einfach nicht die Notwendigkeit, dass er bei ihr blieb. Er könnte einfach gehen, sie allein lassen und sich selbst in Sicherheit bringen. Aber er tat es nicht.

Vielmehr schleifte er sie zum nächsten wabernden Portal, welches zur Evakuierung dienen sollte, und stieß sie grob in dieses hinein.

Das Letzte was sie daher vom einstigen Schlachtfeld zwischen Himmel und Hölle sehen konnte, war das Gesicht des Mannes mit der Sonnenbrille, der ihr dreckig nachgrinste und sich erneut ins Getümmel stürzte.

 

Wie jedes Mal, wenn sie ruhte, schreckte Hinera zeitgleich zum Sturz in das Portal auf. Die Schlacht mochte schon eine geraume Weile her gewesen sein, dennoch war ihr jedes Detail so tief ins Gedächtnis gebrannt, dass ihr Herz auch nun ebenso schmerzhaft raste wie zu jener Zeit.

Es hatte Opfer gegeben – auf beiden Seiten und durch die fremden Angreifer verschuldet – und jedes einzelne lastete schwer auf ihrem Gewissen. Kriege waren nie etwas Gutes, aber bei solchen Scharmützeln wie es vor der Einmischung eines gewesen war, wurde meist nur das Ego beschädigt, nicht aber die Seele selbst.

Nein, sie wusste nicht, wie viele Bewohner der unteren Ebene auf diese Art und Weise zerstört worden waren. Das ging sie nichts an, dementsprechend hätte es auch wenig Sinn gemacht nach dem seltsamen Mann mit der Sonnenbrille und den Ketten zu fragen. Denn ob sie eine Auskunft bekommen würde war fraglich.

 

Mit einem leisen Seufzen richtete sie sich endgültig auf und ließ den Blick über das sanfte Blau des Himmels gleiten. Letzte zarte Tupfen von rosa verrieten ihr, dass der Morgen noch jung war und ein neuer Tag auf sie wartete.

Ein weiterer Tag, an welchem sie neue Seelen in Empfang nehmen und begrüßen oder noch jungen Eigeborenen – Menschen pflegten sie ‚Engel‘ zu nennen – Kampfunterricht geben würde, während sie die Erinnerungen wieder zurückdrängen und bis zur Nachtruhe zum Schweigen bringen würde. Und egal, wie gerne sie auch wüsste, ob er überlebt hatte oder nicht, sie musste akzeptieren, dass sie es niemals erfahren würde.

Anstatt sich also weiter mit dem noch immer in ihren Gedanken spukendem Bild des Mannes zu beschäftigen, stand sie lieber auf und bereitete sich für den Tag vor. Er würde lang werden, so wie all die anderen Tage davor auch, aber sie würde sich nicht beschweren. Wenn sie dank eines Höllenbewohners noch lebte, dann wäre sie auch dankbar für jeden neuen Tag – egal, wie langweilig und lang dieser auch sein mochte.

 

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie so ein Morgen in der Hölle wohl aussehen mochte. Machten sich die Bewohner der anderen Ebene ebenso frisch, wie sie selbst es gerade tat? Wuschen sie sich, aßen etwas und zogen dann los, um ihr Tagwerk zu vollbringen? Was tat man eigentlich als Bewohner der unteren Ebene?

Versunken in ihren eigenen Überlegungen vollzog Hinera ihre eigene morgendliche Routine, bevor sie aus ihrer Behausung trat. Frische Morgenluft umfing sie und ließ die hellen Federn ihrer Flügel leise rascheln, aber beides schaffte es nicht ihre Gedanken einzufangen, die weiterhin bei all den ungeklärten Fragen hingen.

Die fröhlichen Morgengrüße, die sie auf ihrem Weg erhielt, erwiderte sie mit einem eigenen Gruß und einem Lächeln, aber wie all die Male zuvor nahm sie diese nicht gänzlich wahr. Grüßte man sich dort auch so oder gänzlich anders? Oder überhaupt nicht? Fragen über Fragen auf die sie keine Antworten finden konnte. Aber wem sollte sie diese Fragen stellen? Jamal und Melina wären wohl die beste Wahl, aber man stahl den beiden Herrschaften nicht die Zeit wegen solcher lächerlichen Spinnereien.

 

„Hinera!“ Der Ruf ihres Namens zog an ihr vorbei, während sie ihren Platz nahe der Himmelsmitte einnahm, um auf die Ankunft neuer Seelen zu warten. „He, Hinera!“ Ob vielleicht eine dabei sein würde, die ihn gesehen hätte? Nein, darauf zu hoffen war absurd. Die Seelen trafen meist nur den Gevatter oder dessen Tochter, die Jäger und den Archivar, bevor sie durch eine der beiden Pforten schritten.

„Hinera!!“ Überrascht zuckte sie zusammen als ihr Name so nachdrücklich gerufen wurde und ließ suchend den Blick schweifen. Ein eigeborener Bote versuchte bereits seit geraumer Zeit ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und nun, da sie ihn endlich beachtete, konnte er auch wieder ein Lächeln zeigen.

„Verzeih, ich war in Gedanken“, entschuldigte sie sich dennoch, was mit einem Nicken beantwortet wurde. Inzwischen wusste jeder, dass die Wächterin seit den traumatischen Erlebnissen der Schlacht Schwierigkeiten mit dem fokussieren ihrer Gedanken hatte – zumal sie auch meist zitternd und bebend die Arme um sich selbst schlang, wenn sich doch eine Erinnerung in den Vordergrund drängte. „Was ist denn los?“

„Es gibt Schwierigkeiten“, lautete die prompte Antwort, begleitet von Händeringen, „auf dem Sandplatz.“

 

1

 

Der Sandplatz war der Ort, an welchen die von den Jägern eingesammelten Seelen gebracht wurden, um über deren Schicksal zu entscheiden. Jeder kannte diese Zwischenebene in welcher der Archivar residierte und dort die Zugänge zu den anderen Ebenen bewachte. Zumindest gestanden ihm dies die Bewohner der oberen Ebene zu.

Wenn dort also Schwierigkeiten auftraten, dann bedeutete dies meist Gefahr für die noch nicht geprüften Seelen. Also ein durchaus berechtigter Grund, um die Wächterin zu alarmieren.

„Verstehe. Ich werde mich sofort darum kümmern“, lautete daher auch ihre direkte Antwort, „Danke.“ Und damit verließ sie mit offizieller Erlaubnis ihren Posten, um sich selbst vom wirbelnden Sog der Pforte erfassen und zum Sandplatz bringen zu lassen.

Es kam selten vor, dass sie auf diese Art reiste, das letzte Mal war dabei die unangenehmste Erfahrung von allen gewesen. Denn es machte durchaus einen Unterschied, ob man willentlich in den Sog trat oder in diesen gezwungen wurde.

 

Das leise Rascheln ihrer Flügel, mit welchen sie das wilde Umhergeworfen werden der Reise ausglich, ging in dem Tosen des sie umgebenden Strudels unter, welcher sie direkt zu ihrem Ziel leitete.

Ein definitiv seltener Anblick für die anwesenden Jäger, wie sich da die Pforte zum Himmel weit öffnete, ihr warmes goldenes Licht verbreitete und eine Eigeborene auf den Sandplatz entließ. Dass es sich tatsächlich um eine auf der oberen Ebene Geborene handelte, bewiesen die prächtigen weißen Schwingen, mit welchen sie ihre Landung abfederte, ebenso sehr wie das reinweiße schulterfreie Kleid. Lange Handschuhe hielten die Arme bedeckt, das Kleid selbst reichte ihr bis zu den Knöcheln und das wenige an freiliegender Haut wurde von langen dunkelblauen Haaren zu neugierigen Blicken entzogen. Zuletzt verriet wohl auch das etwas dunklere Lila ihrer Augen, dass es sich nicht um eine Seele der mittleren Ebene handeln konnte – solche Farben waren dort einfach nicht zu finden.

Normalerweise bekam man Eigeborene nur selten zu Gesicht, am wahrscheinlichsten während einer der Schlachten zwischen den Ebenen, aber sonst konnte man gut und gerne an einem Finger abzählen wie hoch die Chance war auf jemanden von oben zu treffen.

Tja, nun konnte jeder von ihnen behaupten, dass er auch einmal außerhalb einer Schlacht dieses seltene ‚Glück‘ gehabt hatte. Nicht, dass sie sich wirklich darüber freuen würden, wichen sie doch bereits von selbst ein gutes Stück zurück, um dem potenziellen Zorn dieser ihnen gefährlich werden könnenden Gattung von Lebewesen zu entgehen.

 

Hinera und potenzieller Zorn waren ungefähr so weit voneinander entfernt, wie die Sonne vom Pluto, aber das galt nicht für jeden ihrer Art. Es gab durchaus auch ‚Engel‘, die rächend durch gegnerische Linien fuhren und ihren Zorn im Namen Jamals entfesselten – dazu gehörte die Wächterin aber eindeutig nicht.

Zumal diese auch damit beschäftigt war sich einen Überblick über den Ernst der Lage zu verschaffen.

Die Jäger mochten zurückgewichen sein, auch viele der Seelen hatten sich dementsprechend aus der Schusslinie verkrochen, aber das hieß nicht, dass auch wirklich alle auf die Ankunft der Himmlischen reagiert hatten.

Ungewollt musste sie bei dem sich ihr bietenden Bild ein wenig lachen. Hochrot tobte dort der Archivar um seinen zerschmetterten Schreibtisch herum und versuchte einige brennende Akten zu löschen, während sich ineinander verknäult mehrere andere Wesen über den Boden wälzend herumbewegten und nicht mit dem Einsatz ihrer Kräfte geizten.

Da knisterte die Luft, da entlud sich etwas, Blitze zuckten und Fäuste wurden geschwungen, soweit es möglich war.

 

Erleichterung durchströmte sie, welcher direkt Scham und Schuldgefühlte folgten. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bewohnern der Ebenen konnte eine Gefahr für die Seelen darstellen, vor allem wenn die Möglichkeit bestand, dass der Gevatter oder seine Tochter in der Nähe waren und schlechte Laune hatten. Aber wenigstens war es keine von diesen grässlichen Maschinen, welche sie zu Recht noch immer fürchtete.

Mit einem leisen Seufzen ließ Hinera die Pforte hinter sich und näherte sich mit ruhigen Schritten der tobenden Auseinandersetzung. Erst einmal musste sie eruieren wer sich da gerade versuchte gegenseitig die eigene Meinung einzuprügeln, bevor sie zu entsprechenden Maßnahmen der Trennung griff.

 

Es musste sich um mindestens vier Personen handeln, wobei sich das Zählen durch das Zappeln und Herumwälzen schwierig gestaltete.

Oh, Himmel, nein! Da liefen die Wangen vor Scham doch rötlich an als sie in dem Knäul am Boden ein paar gerupfte Schwingen erkennen konnte, welche nicht genügend Platz zum Schlagen hatten. Das erklärte zumindest einen Satz an Armen und Beinen in dem wilden Durcheinander vor ihren Augen.

Nun gut, für mehr würde sie eingreifen müssen. Dementsprechend räusperte Hinera sich und wartete mit eher mäßigem Erfolg darauf, dass sie beachtet wurde. Geduld war eine ihrer Tugenden, sodass sie erst nach dem zehnten Räuspern zu drastischeren Mitteln gegen die Ignoranz gegenüber ihrer Anwesenheit griff.

„Auseinander mit euch!“ Viel brachte es nicht, außer dass kurz zu ihr nach oben gesehen wurde, sodass sie zumindest die Gesichter erkennen konnte. Oh, wie sehr sie sich doch gerade wünschte, dass sie sich geirrt hätte…

„Hennes! Schämen solltest du dich!“ Denn natürlich hatte sie sich nicht geirrt: Da steckte der ‚Ernannte‘ mitten im Knäuel aus Leibern!

 

Schadenfrohes Gelächter lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die anderen drei Delinquenten um, welche mit einem ebenso enttäuschten Blick wie der zuvor genannte Freund bedacht wurden. „Ihr euch übrigens auch. Und jetzt auseinander mit euch.“

„Sonst was?“

Wagte da tatsächlich einer von ihnen schnippisch zu werden? Tatsächlich… Sie hatte sich nicht verhört. Bevor sie jedoch antworten konnte, wurde dem frechen Kerl ungebremst eine Faust ins Gesicht gerammt. „Alter!“

Das war der Startschuss für die Fortsetzung des gegenseitigen Verprügelns, aus welchem auch Hennes nicht mehr entkommen konnte – es war ja immerhin seine Faust gewesen, die da nachdrücklich verdeutlicht hatte, dass man eine Lady nicht unterbrechen sollte.

Und Hinera? Die stand irritiert blinzelnd neben dem erneut tobenden Kampf und brauchte einen Moment, um tief durchzuatmen.

 

„Nun gut, ihr habt es nicht anders gewollt… Ich habe euch höflich darauf hingewiesen es zu beenden“, seufzte sie letztlich aus und hob mit der sprichwörtlichen Engelsgeduld eine Hand an. Als wolle sie ein Schwert ziehen, griff sie nach hinten zwischen ihre Schultern, fasste etwas und zog es heraus. Ähnlich der Todestochter und deren Sense fabrizierte Hinera so einen reinweißen langen Stab, der immer länger zu werden schien, bis er in einer silbrig und golden schimmernden Speerspitze endete.

Eine hübsche, wenn auch für Bewohner der unteren Ebene höchst schmerzhafte, Waffe, die ein erschrockenes Schnappen nach Luft durch das Kollektiv der anwesenden Jäger gehen ließ. Nein, mit einer Himmlischen legte man sich nicht an und schon gar nicht, wenn sie ihre gesegnete Waffe zog.

Aber vorerst wollte sie damit nicht zuschlagen. Stattdessen ließ sie den Knauf des Stabs mehrfach auf den roten Sandboden treffen, was ein hellklingendes Geräusch verursachte. Und eben jenes Geräusch sorgte dafür, dass sich das Knäul auflöste, da die Herren der unteren Ebene damit beschäftigt waren sich zischend die schmerzenden Ohren zuzuhalten.

 

„Habe ich nun eure ungeteilte Aufmerksamkeit?“, folgte es mit wesentlich angenehmerem Tonfall, begleitet von einem sanften Lächeln und einem entschuldigenden Blick in die staubige Runde, „Verzeihung, dass ich zu solch drastischen Mitteln greifen musste. Aber ihr habt mich dazu gezwungen.“

Da sie in einer Hand ihren Speer hielt, blieb nur noch die andere, um mit sachten Gesten des Zeigefingers zu verdeutlichen, dass die Herren in rotem Staub sich doch bitte voneinander trennen mochten. Und zwar weiter voneinander entfernt als nur eine knappe Armlänge.

Mit einem Knurren und Murren leisteten die vier Streithähne der Aufforderung folge und trennten sich, sich den Staub vom Körper klopfend und sich gegenseitig böse Blicke zuwerfend.

„Ich weiß nicht, was euch dazu veranlasst hat euch so aufzuführen“, fing sie dann auch mit ihrem Tadel an, „und ehrlich gesagt, möchte ich es auch gar nicht wissen. Aber ich hoffe, dass jedem von euch klar ist, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckt.“

 

Vielsagend wanderte da der Blick zum ersten Höllenbewohner, der mit skeptischem Blick ihren Speer im Auge behielt. „Nicht nur habt ihr euch gegenseitig verletzt,“ Da wanderte der Blick zum nächsten Delinquenten. „Sondern behindert damit auch noch die wichtige Arbeit des Archivars und,“ Noch einmal wanderte der Blick, dieses Mal zu Hennes. „Bringt damit all die Seelen um euch herum in Gefahr. Was auch der Grund ist, warum ich hier bin.“

Ihr Blick glitt zum letzten in der Reihe, welchen sie bisher am wenigsten beachtet hatte. Hätte sie das bloß lieber gelassen! Der Atem stockte ihr, die leichte Röte auf ihren Wangen verwandelte sich in besorgniserregende Blässe und beinahe wäre ihr sogar ihr Speer aus der Hand geglitten.

Ihrem Gegenüber ging es nicht wesentlich besser bei der Erkenntnis, wer da vor der jeweiligen Nase stand und mit großen Augen starrte.

Die Sonnenbrille hing ihm schief auf der Nase, er war über und über mit dem roten Sand des Platzes bedeckt und sah mindestens ebenso ramponiert aus wie die anderen drei – inklusive dekorativ in den Gliedern seiner Ketten feststeckenden dreckigen Federn, die von Hennes stammten.

Er lebte? Er lebte!

 

Als Wächterin war Hinera einiges gewöhnt. Sie war seit dem Tag an welchem sie geschlüpft war darauf vorbereitet worden zu kämpfen und hatte seit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Kampfausbildung auch keine einzige Schlacht verpasst. Sie hatte Freunde wie Feinde zu Boden gehen und wieder aufstehen sehen, wie es bei den Kämpfen zwischen den Ebenen üblich war.

Aber sie hatte auch gesehen, dass weder Freund noch Feind es konnte als diese unsäglichen Maschinen unter ihnen gewütet hatten. Maschinen, von denen sie bisher gedacht hatte, dass sie auch den Mann mit den Ketten erwischt haben könnten. Und der nun – für die jeweilig herrschenden Verhältnisse – quicklebendig vor ihr stand und sie ebenso überrascht, vielleicht sogar entsetzt, anstarrte wie sie es bei ihm auch tat.

„Du…?“ Zwei Dumme, ein Gedanke, wie das überrascht ausgehauchte Wort vermuten ließ.

 

Vermutlich hätte sie ihn bis in alle Ewigkeit so anstarren können, ungläubig, überrumpelt und verunsichert, hätte Hennes sich nicht vorsichtig zu Wort gemeldet: „Hinera…?“

Ihr Name von der vertrauten Stimme – die nun reichlich in Schwierigkeiten steckte – zu hören, riss sie aus ihrer seltsamen Trance und half ihr dabei sich wieder auf das zu konzentrieren, weswegen sie eigentlich hier war: Die vier Streithähne, welche noch immer auf ihre Standpauke wartend, vor ihr standen und sie abwartend ansahen, teilweise sogar anstarrten.

„Mir geht es gut“, versicherte sie daher in Richtung ihres Freundes, gönnte sich einen tiefen Atemzug und setzte dann fort als wäre nichts geschehen: „Jeder von euch weiß, dass diese Seelen geschützt sind. Wer eine von ihnen verletzt oder sie vernichtet wird zu einer langen Strafe verurteilt und nicht eher wieder entlassen bis genügend Abbitte für die Missetat geleistet wurde. Ihr könnt von Glück reden, dass mich die Nachricht über euer unmögliches Verhalten erreicht hat bevor etwas Schlimmeres passieren konnte.“

 

War sie wirklich davon ausgegangen, dass alle vier den Tadel klaglos über sich ergehen lassen würden? Ja, war sie, denn zumindest Hennes besaß den Anstand zerknirscht auf seine Schuhspitzen zu schauen, mit welchen er betroffen Kreise in den Sand malte.

Ganz anders sah das aber bei den drei Kompagnons von unten aus: „Was soll denn schlimmer sein als sich mit euch Suppenhühnern abgeben zu müssen?`“

Der Sprecher der ach so erfreulichen Worte war auch zügig gefunden: der Kerl mit der Sonnenbrille und den Ketten! Dieser hatte sich, während Hinera mit ihnen geschimpft hatte, eine Zigarette die schon mal bessere Tage gesehen hatte in den Mundwinkel geklemmt und die Arme vor der Brust verschränkt, während er nun so provozierend vor sich hin paffte.

„Hab gefälligst ein bisschen mehr Respekt!“, brauste es da auch gleich aus Hennes‘ Ecke los, sehr zu Hineras Missfallen. Denn dass er da versuchte einen neuen Streit zu provozieren war definitiv nicht zu übersehen.

Ganz ruhig bleiben… Ihr war von Anfang an bewusst gewesen, dass Bewohner der unterschiedlichen Ebenen niemals würden Freunde sein können – wo käme man denn da auch hin, wenn man sich mit dem vermeintlichen Feind verbrüdern würde?! Dennoch war sie gerade als Wächterin hier und nicht als Privatperson.

„Ich weiß nicht, was für dich schlimmer wäre als Zeit mit uns verbringen zu müssen“, setzte sie daher an, einen scharfen Blick gen ihres Freundes werfend, der ihm noch eine private Schimpftirade versprach, „aber was auch immer es in deinem Fall sein dürfte, dass Hohe Gericht wird es aussprechen. Wenn du also wirklich vor dieses treten möchtest, dann setze dich trotz Warnung über die Regeln hinweg, die für jeden von uns gelten, und finde es heraus.“

 

Eines musste man der Eigeborenen definitiv lassen: Sie beherrschte es meisterhaft trotz sanftem Lächeln und ruhiger Stimme ihm deutlich das unausgesprochene ‚Fick dich‘ mitzuteilen, welches andere ihm unverblümt ins Gesicht gebrüllt hätten.

Aber so war Hinera einfach nicht. Nett und sanft, vielleicht ein bisschen naiv und dennoch durchaus in der Lage Beleidigungen rauszuhauen, die man im ersten Moment nicht als solche erkannte. So, wie sie es gerade eben getan hatte.

Und da das Thema kettentragender Sonnenbrillenkerl nun für sie abgeschlossen war, wanderte der Blick auch zu den anderen Delinquenten, die da noch abwartend herumstanden. „Betrachtet es als letzte Warnung. Werdet ihr noch einmal dabei erwischt wie ihr kostbare Seelen in Gefahr bringt werde ich gezwungen sein euch ans Hohe Gericht verbringen zu lassen.“ Ein sachtes Nicken mit dem Kopf folgte, wohl als entlassende Geste für die Bewohner der unteren Ebene. „Und wir zwei unterhalten uns später“, ging es wiederum an Hennes, der sich ebenfalls davon machen wollte.

 

Glücklich sah dieser definitiv nicht aus. Sie würde mit ihm auf die ihr eigene Art und Weise schimpfen. Nicht, dass sie dabei laut oder ausfallend werden würde, aber Himmel nochmal, wie sollte er ihr in die lila Augen sehen können, wenn sie diese vorwurfsvoll auf ihn richten würde?! Das war jedes Mal zu viel für ihn.

Besagte lila Augen wanderten ein letztes Mal über die drei Höllenbewohner, begleitet von einem tiefen Durchatmen und dem langsamen Wegpacken ihres Speers. „Jeder von uns dürfte noch einiges zu tun haben. Ich schlage daher vor, dass wir uns jetzt unseren eigentlichen Aufgaben widmen.“

Unter dem wachsamen Blick der Eigeborenen wagte es vorerst keiner zu widersprechen, während sich die kleine Gruppe zerstreute und auf die jeweilige Pforte zuhielt, welche sie nach Hause bringen würde. Drei zogen nach rechts, zwei nach links, wobei Hineras Blick weiterhin wachsam vom einen zum anderen huschte.

 

„Hinera, ich…“, setzte Hennes an etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, wurde aber von der anderen Seite direkt unterbrochen: „He, Hühnchen!“

Die Stimme ließ bei ihr keinerlei Zweifel daran aufkommen, wer genau da nach ihnen rief. Eigentlich besaß sie kein gesteigertes Interesse daran zu reagieren, aber ihre eigene Höflichkeit zwang sie dazu den Blick zur andere Pforte zu wenden und fragend den Kopf ein wenig zur Seite zu neigen.

Hätte sie das doch lieber nicht getan! Wie sie erwartet hatte, war es der Mann mit der Sonnenbrille, der da in ihre Richtung grinste und zwei Finger in die Höhe hielt: „Zwei von drei. Nächstes Mal bist du dran.“

Offenbar erwartete er, dass sie verstand was er damit meinte. Nur musste sie ihn da enttäuschen: Hinera verstand solche menschlichen Redewendungen einfach nicht, weswegen sie den Kopf einfach nur ein wenig zur anderen Seite neigte und ihn betrachtete. Was sollte das nur heißen?

Letztlich – in Ermangelung einer besseren Reaktion – winkte sie ihm einfach nur lächelnd zum Abschied zu.

 

Nein, das war definitiv nicht die Antwort, die er darauf erwartet hatte, wanderten doch die Augenbrauen erkennbar in die Höhe, während sich die beiden Bewohner der oberen Ebene in die Obhut des Sogs begaben, der sie nach Hause bringen würde. Sie würde später eine der jüngeren Seelen fragen, was dieser ominöse Satz zu bedeuten hatte, aber vorerst war nur wichtig, dass sie ein Unglück verhindert hatte.

Zudem war es aus Hineras Sicht sehr unwahrscheinlich, dass man sich noch einmal wiedersehen würde. So selten wie sie ihre Ebene, ihre Heimat, verließ, würde es schon an ein Wunder grenzen. Wenigstens hatte sie nun aber die Gewissheit, dass er noch lebte und diesen seltsamen Maschinen eben nicht zum Opfer gefallen war.

Das sollte doch dafür sorgen, dass sich ihre Gedanken und Ängste nicht mehr ständig darum drehen würden, richtig?