Wahlanalyse 2017 - Jan Böttger - E-Book

Wahlanalyse 2017 E-Book

Jan Böttger

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Beschreibung

Merkels Versuch einer asymmetrischen Demobilisierung sei ein Anschlag auf die Demokratie. Mit diesem Vorwurf eröffnete SPD-Kandidat Schulz die heiße Wahlkampfphase. Der Wahlkampf sei langweilig, urteilten viele Medien. Nun, wenige Wochen nach dem Wahltag kann man sagen: Die Bundestagswahl 2017 war alles andere als langweilig. Sie war sowohl im Wahlkampf als auch im Ergebnis geprägt von Innovation und Neuerungen sowie Überraschungen und Verschiebungen. Historisch schlechte Ergebnisse der Volksparteien, der Einzug der AfD, der Wiedereinzug der FDP, der erste richtige Digital-Wahlkampf in den sozialen Medien, ein datengestützter Tür-zu-Tür-Wahlkampf, die Debatte über Social Bots und Manipulationen, ein TV-Wahlkampf mit ungeahnten Dynamiken im Wahlendspurt, massives Negative Campaigning und Fragen zur Verantwortung der Medien beim Agenda Setting, all das sind nur einige der Stichworte zum diesjährigen Bundestagswahlkampf. Gemeinsam mit Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis wollen wir den Bundestagswahlkampf 2017 betrachten und erste Diskussionsbeiträge liefern. Dafür nehmen wir die unterschiedlichen Dimensionen der Kampagnen in den Fokus, werfen Fragen auf, geben aber auch erste Antworten. Die Mischung unterschiedlicher Fachrichtungen und Erfahrungen erlaubt einen möglichst breiten Zugang.

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Seitenzahl: 163

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Wahlanalyse 2017

VorwortDas Ding heißt WahlkampfNeugierde statt Stabilität – die Lehre aus der Bundestagswahl 201757% – Wie Deutschland nach rechts rückte, seine Bürger aber nicht. Ein kritischer Rückblick. Und fantastischer Ausblick.Nach 27 Jahren deutscher Einheit: vereint und doch gespaltenVorerst geschlossenes Zeitfenster für Rot-Rot-Grün„Wer, wie was – wieso, weshalb, warum…“ – von der „Ausschließeritis“ zu „(Almost) Anything Goes“ im deutschen ParteiensystemDer Wahlkampf der CDU/CSU zur Bundestagswahl 2017 – Eine kurze StrategieanalyseProbleme sind dornige Chancen: Wie sich die FDP mit Christian Lindner zurück in den Bundestag gekämpft hatWoran lag es? Rückschau auf die Bundestagswahl und Vorschau auf die AfD im BundestagWie lassen sich die Wahlerfolge der AfD erklären? Eine doppelte Erklärung aus der Perspektive der politischen KommunikationsforschungAgenda Setting im Wahlkampf 2017: Drei BeobachtungenDas TV-DuellDie Plakatkampagnen zur Bundestagswahl: Zwischen politischer Unschärfe und populistischem ProtestNegative Campaigning in DeutschlandDer Einfluss von Social Media auf das Wahlverhalten von ErstwählernKlick-Populismus: AfD und Die Linke gewinnen Facebook-WahlkampfSocial Bots – die unberechenbare Armee im WahlkampfWenn die Politik an der Haustür klingelt - Theorie und Praxis in der Wählerkommunikation Tür-zu-TürDer datengestützte Tür-zu-Tür-Wahlkampf bei der Bundestagswahl 2017. Mit Daten, Technologien und Wahlkampfhelfern im direkten Wählerkontakt.Die Zukunft des datengestützten Haustürwahlkampfs entscheidet sich jetzt„Ein Menschheitstraum wird wahr“ – die vollmundigen Versprechen von Big DataDie Antwort auf Populisten ist nicht das, was sie erwarten. Oder: warum nicht Parteien, sondern die Demokratie an sich sexy sein sollteDie Kampagne ist nicht vorbeiDie Jamaika-Koalition als Ausweg aus einer GesprächsstörungAutoren

Vorwort

Merkels Versuch einer asymmetrischen Demobilisierung sei ein Anschlag auf die Demokratie. Mit diesem Vorwurf eröffnete SPD-Kandidat Schulz die heiße Wahlkampfphase. Der Wahlkampf sei langweilig, urteilten viele Medien. Nun, wenige Wochen nach dem Wahltag kann man sagen: Die Bundestagswahl 2017 war alles andere als langweilig. Sie war sowohl im Wahlkampf als auch im Ergebnis geprägt von Innovation und Neuerungen sowie Überraschungen und Verschiebungen. Die gute wirtschaftliche Lage gab Raum für andere Debatten, insbesondere rund um Sicherheit und Flüchtlinge. Der Klassiker „Arbeitslosigkeit“ spielte keine Rolle, was neue, aber vielleicht auch alte – bisher verdrängte – Konfliktlinien in der Gesellschaft deutlich machte. Die so oft thematisierte Spaltung der Gesellschaft war vordergründig keine wirtschaftliche, sondern eine kulturelle. Dadurch entfaltete sich ein kontroverser und im Ton harscher Wahlkampf. Nicht zuletzt war die gestiegene Wahlbeteiligung ein Ergebnis davon.

Auf der Ebene der Kampagnen-Instrumente gab es zentrale Weiterentwicklungen. Die systematische Integration neuer Technologie in die Organisation und Kommunikation haben dazu geführt, dass wahrscheinlich mehr persönlicher Kontakt mit dem Wähler entstand als je zuvor. Der datengestützte Tür-zu-Tür-Wahlkampf war sicherlich eine der interessantesten Neuentwicklungen. Aber auch das mittlerweile standardmäßige TV-Duell der Spitzenkandidaten gepaart mit neuen Townhall-Formaten, dem Fünfkampf der „kleinen“ Parteien bis hin zum demonstrativen Verlassen Weidels’ einer TV-Debatte, hat dem TV-Wahlkampf eine besondere Rolle für den Wahlkampfendspurt verliehen. Und klar: Auch die Kampagnen über facebook und Co. sorgten dafür, dass der Wahlkampf deutlich anders war, als der zuvor. Wir haben den ersten richtigen Digital-Wahlkampf erlebt. Die Digitalbudgets sind deutlich gestiegen, die Parteien haben sich wahrnehmbar professionalisiert, die Ansätze und Instrumente waren so vielfältig wie noch nie. Aber auch Debatten um „Manipulation“ und Social Bots haben dem Social-Media-Wahlkampf eine neue Dimension gegeben. Auch die Rolle der Medien, angefangen bei der thematischen Schwerpunktsetzung des TV-Duells bis hin zum Agenda-Setting der letzten Wahlkampfwochen, wird deutlicher als je zuvor hinterfragt.

Die historisch schlechten Ergebnisse der CDU, CSU und SPD sind flankiert durch den Einzug der AfD und Wiedereinzug der FDP in den Deutschen Bundestag. In dem neuen „Bundestag XXL“ mit über 700 Abgeordneten und sieben Parteien ist das Schmieden einer stabilen Regierungskoalition nicht nur aufgrund der Mehrheitsverhältnisse schwierig, sondern vor allem wegen der Entscheidung der SPD, sich nicht an einer Regierung zu beteiligen. Neue Optionen haben sich aufgetan, leichter wird es dadurch aber nicht – im Gegenteil. Diese Situation wird die deutsche Parteienlandschaft für die kommenden Jahrzehnte prägen. Auch das ist ein Resultat dieser Bundestagswahl.

Gemeinsam mit Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis wollen wir den Bundestagswahlkampf 2017 betrachten und erste Diskussionsbeiträge liefern. Dafür nehmen wir die unterschiedlichen Dimensionen der Kampagnen in den Fokus, werfen Fragen auf, geben aber auch erste Antworten. Die Mischung unterschiedlicher Fachrichtungen und Erfahrungen erlaubt einen möglichst breiten Zugang.

Sicher: Die Parteien müssen diesen Wahlkampf für sich aufarbeiten. Das Gleiche gilt jedoch auch für die Wissenschaft und Gesellschaft, denn es war alles andere als trivial oder langweilig. Diese Bundestagswahl wird noch lange nachwirken.

Jan Böttger, Ralf Güldenzopf, Mario Voigt 

Das Ding heißt Wahlkampf

Peter Radunski, Senator a.D.

So kann‘s kommen. Ein langweiliger Wahlkampf trotz gelegentlicher Veranstaltungsstörungen – das war die allgemeine Meinung. Aus dem normalen Wahlkampf erwuchs ein ungewöhnliches Ergebnis. Hohe Verluste der Regierungsparteien Union und SPD, hohe Gewinne für FDP und AfD. Die CDU-Strategie war zu kurz gedacht: Es fehlte eine Schlussphasenstrategie. In den letzten beiden Wochen fehlten Inhalte und Themen bei der Union. Aus 37/38 Prozent in Umfragen wurden 33 Prozent, die stärkste Partei mit einem Knacks.

Dabei war Merkels Wahlkampf so gut angelaufen. Guter Auftritt im TV-Duell, relativ gute Figur in den TV-Publikumsbefragungen. Viele gute Bilder von Auftritten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dieser PR-Teil lief hervorragend – solche Bilder hat es bei Helmut Kohl sehr selten gegeben. Alles sah nach einem Merkel-Triumph aus, jetzt muss ein schwaches Ergebnis analysiert werden.

Die Plakatkampagne, der aufwendigste und erkennbarste Teil deutscher Wahlkampagnen, ist der Union und der SPD nur bedingt gelungen. Sie waren kaum zu unterscheiden. Entweder konnte die CDU-Agentur nicht wie sie wollte. Oder sie ist in die politische Kommunikation nicht wirklich eingestiegen. Sauberes Handwerk, aber keine Funken. FDP, Linke und AfD klebten interessantere Plakate. Das Schlussplakat der CDU mit einem überzeugenden Merkel-Bild zeigt, wie sicher man offensichtlich seines Sieges war. Neben dem Bild nur eine kurze Zeile „Erfolgreich für Deutschland“. Das sollte der Wähler wohl nur noch ratifizieren. Lindners Model-Kampagne, die verspielten Links-Thesen und die fast leichten AfD-Plakate machten einen weit stärkeren Eindruck.

Die Leichtigkeit im Auftritt der Union in 2009 und 2013 hat offensichtlich 2017 nicht mehr gezogen. Auf Attacken wurde wiederum verzichtet, während alle anderen Parteien kämpferisch aggressiv agierten. Das war wohl der letzte Wahlkampf der Union ohne Angriff.

Attack Strategies und Negative Campaigning gehören zur Wähleransprache, zumal die Wähler „für etwas“ oder „gegen etwas“ motiviert werden können. Die asymmetrische Demobilisierung ist als Gedanke nun Wahlkampfgeschichte.

Auch personell wird es wohl nicht mehr die einmalige Dominanz einer Kanzlerin wie Angela Merkel im Wahlkampf geben. Politikerinnen und Politiker müssen durchaus für bestimmte Themen oder Regionen (Ministerpräsidenten!) eine wichtige Nebenrolle spielen.

Im Netz war was los. Es war wohl der erste wirkliche Social Media-Wahlkampf in Deutschland. Von Linkfluence Media wurden vom 1. Juni bis 20. September 64.500 Beiträge im Netz mit potentieller Reichweite von 33,7 Millionen Kontakten analysiert. Hier lohnt sich für alle künftigen Wahlkämpfer die genaue Analyse. Das begehbare Programm und #fedidwgugl werden sicher noch Trends in kommenden Wahlkämpfen setzen.

Die CDU hat auf Merkel gesetzt, die persönlich einen überragenden Wahlkampf geführt hat und praktisch auch das Programm der CDU war. Aber der Eindruckt täuscht wohl nicht, dass Viele in der Partei mehr zusahen, wie die Kanzlerin wahlkämpfte, als dass sie die Kanzlerin kräftig unterstützt haben. Überhaupt muss die Partei wieder ein wichtiges Wahlkampfinstrument der CDU werden. Der erste Schritt der Mobilisierung von Tür zu Tür in Verbindung mit der App von connect17 scheint erfolgreich gewesen zu sein.

Die Mobilisierung der Partei insgesamt muss in der Strategie der Partei eine wesentliche Rolle spielen. Die Partei muss dann in der Wählerschaft spürbar bemerkt werden. Dann entgeht der Union auch kein Wählertrend, denn eine Partei die am Wähler ist, weiß auch besser, wie die Meinungen laufen. Das ist eine wesentliche Ergänzung zu Umfragen.

Neugierde statt Stabilität – die Lehre aus der Bundestagswahl 2017

Prof. Dr. Udo Zolleis

An der Oberfläche ist alles stabil

Angela Merkel ist weiterhin der Stabilitätsanker Europas: Auch nach der Bundestagswahl 2017 bleibt das bundesrepublikanische Parteiensystem im europäischen Vergleich ein Unikat. Trotz aller Wahlverluste von CDU, CSU und SPD gilt das Parteiensystem als vergleichsweise stabil und die Bevölkerung ist in überwiegenden Teilen positiv gegenüber der Zukunft wie auch den politischen Institutionen eingestellt. Ebenfalls wirtschaftlich ist dieses Land von keinen Erschütterungen bedroht: weder Arbeitslosigkeit noch sinkender Wohlstand waren im Wahlkampf große Themen. Selbst die Wähler der AfD waren zu 73 Prozent mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage zufrieden. Die Regierungschefin wurde so auch von keinem Wählerfrust weggespült, sondern muss sich lediglich ein wenig gerupft neue Koalitionspartner suchen, da der bisherige die Lust am Regieren verloren hat. Auch gibt es im Gegensatz zu den meisten europäischen Parteiensystemen in Deutschland keine Partei, die die EU vollkommen abschaffen will. Das fordert (bis jetzt) nicht einmal die sich zunehmend radikalisierende AfD. Der bundesrepublikanische Grundkonsens ist durch die Wahl (zunächst) nicht erschüttert worden. Von außen sieht alles nach „business as usual“ aus. So ließen Kommissionsmitarbeiter via Twitter ihre Freude auf ein mögliches Jamaika-Bündnis freien Lauf und europäische Parteifreunde schauten etwas verdutzt auf die hängenden Köpfe aus Deutschland, als sie am Montag nach der Wahl nach Brüssel zurückkehrten. Die deutschen Politiker spürten: 2017 war keine „Weiter-so“ Wahl. Das Beunruhigende an diesem Wahlergebnis war weniger eine mögliche schleppende Regierungsbildung. Am Beunruhigstem war, dass auch in Deutschland die Bindefähigkeit gerade von Volksparteien abnahm. Trotz einer enorm guten Wirtschafts- und Finanzbilanz verloren alle Volksparteien zusammen mehr als 3, 5 Mio. Wähler an andere Parteien. Alle drei Volksparteien rutschten auf ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 überhaupt ab. Ein Ergebnis, das nur bedingt mit der großen Koalition erklärt werden kann; zulange existiert jetzt schon der Trend, der sich 2017 lediglich nochmals verschärfte. Dabei verkörpern die drei Volksparteien den bundesrepublikanischen Grundkonsens. Die Volksparteien sind bis heute das beste Mittel, damit der in vielen europäischen Ländern bereits vorhandene Konflikt zwischen Kosmopoliten und „Natives“ nicht prägend für unser Parteiensystem wird, mit all den negativen Auswirkungen auf die politische Kultur und Richtungsentscheidungen. In ihren guten Zeiten haben sie stets Innovation und Stabilität garantiert.

Ohne Volksparteien wäre Deutschland ein anderes Land

Bei der Bundestagwahl 2017 erreichten Christ- und Sozialdemokraten zusammen nur noch 53,2% Stimmen und nähern sich damit an ihre schwächelnden europäischen Schwesterparteien an. Gerade das Ergebnis der Sozialdemokraten ist erschreckend: Die SPD ist nicht nur mit ihren knapp 20 Prozent aufgrund der Wählerarithmetik her kaum noch eine Volkspartei. Auch in den Tagen nach der Wahl rüttelten die führenden Sozialdemokraten ganz grundsätzlich an der Volksparteiidee, indem sie nicht nur Regierungsverantwortung rundweg ablehnten, sondern auch einer zunehmenden Polarisierung das Wort redeten. Aber sind wirklich Flucht vor der Verantwortung und eine programmatische Polarisierung Kernelemente von Volksparteien? Der umfassende Volksparteitypus bildet doch gerade einen Gegenkonzept gegen ideologische Massenparteien und egoistischen Honoratiorenparteien. Er orientiert sich nicht an den Rändern, sondern stärkt die Klammern innerhalb der politischen Spektren. 

Den nun von Schulz, Nahles & Co propagierten Linkstrend, den bereits die französischen Sozialisten unter Holland das Wort redeten, ist im Grunde eine programmatische Bankrotterklärung der heutigen Sozialdemokratie. Polarisierte Antworten können kurzfristig erfolgreich sein, untergraben aber langfristig die politische Glaubwürdigkeit und das sozialdemokratische Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Linkspopulisten. Schulz Wahlkampf war nicht zu „mittig“, sondern zu ideenlos. Martin Schulz Problem bestand nicht darin, sozialdemokratischen Kernthemen ausgelassen zu haben, sondern für sie keine konkreten politischen Vorschläge entwickelt und kampagnenmäßig aufbereitet zu haben. Sein Wahlkampf stotterte, weil er weder von einer politischen Erzählung noch konkreten Projekten angetrieben wurde. Der Unterschied zu den drei Schröder-Wahlkämpfen war dabei augenfällig. Während der eine zugespitzt für einen besseren Kündigungsschutz oder gegen den Irak-Krieg stritt, philosophierte der andere in seinem Wahlkampfspott, wie Kindern soziale Gerechtigkeit besser vorgelebt werden könne. Beides war filmisch gut gemacht, beides an Lebensrealitäten orientiert, aber nur der von Schröder war wirklich politisch. 

Mit einem ähnlichen Problem war der Merkel-Wahlkampf konfrontiert. Merkels Regierungsbilanz und -ansehen waren beeindruckend, ihre Plakate hübsch anzusehen, aber zündende Zukunftsideen fanden sich auch bei ihr bestenfalls im Kleingedrucktem. Anders als 2013 reichte ihre Regierungskunst allein nicht mehr aus. Dabei war eine offene rechte Flanke wohl nicht das Hauptproblem, andernfalls wären die Liberalen nicht die Hauptprofiteure des Unionswahlkampfes geworden. Nein, sowohl Sozial- und Christdemokraten hatten versäumt, rechtzeitig programmatisches Profil zu entwickeln. Programmatik ist der Kitt von Volksparteien und programmatisches Profil ist kein billiger Abklatsch faktenfreier Marktschreier. „Klartext reden“ heißt nicht, andere zu diffamieren oder populäre Irrwege aufzuzeigen, sondern überzeugende Lösungswege zu erarbeiten. Nicht ohne Grund reagieren Facharbeiter derzeit am Empfindlichsten auf politische Untätigkeit. Sie spüren als Erste die wachsende Unsicherheit und Ungleichheit, die die wirtschaftlichen und technologischen Umbrüche weltweit mit sich bringen. Sie erwarten von der Politik zurecht Zukunftsantworten. 

Sozial- und Christdemokraten konnten gerade in politisch hoch aufgeladenen Zeiten Wahlen für sich entscheiden, weil sie ein ansprechendes Narrativ entwickelte, das Gräben innerhalb der Lager zuschüttete und einen ansprechenden Politikmix für breite Bevölkerungsschichten anbot. Diese Übung ist nicht zuletzt durch die Idee des asymmetrischen Wahlkampfes und einer oftmals proklamierten Alternativlosigkeit der Politik ausgehebelt worden. Wenn nicht mehr Wählermaximierung, sondern Koalitionsbildung im Vordergrund steht, verlieren Volksparteien ihr Lebenselixier: der Wettkampf um möglichst viele und breite Wählergruppen. Möglichst viele Wählergruppen durch Themenbündel zu binden, ist die eigentliche Aufgabe von Volksparteien.

Sprachlosigkeit der Volksparteien überwinden

Dabei sichert eine erfolgreiche Wählerbindung nicht nur den Machterhalt. Lebendige Volksparteien sind auch für die Stabilität des politischen Systems entscheidend, da ihr Ansatz inklusiv, nicht spaltend ist. Es zwingt die Funktionärsschicht, sich mit der Bevölkerung auseinanderzusetzen und anders als in Massenparteien oder Honoratiorenparteien nur Politik für eine bestimmte Klientel zu betreiben. 

Die Flüchtlingspolitik ist daher sicherlich eher ein Symptom, denn die Ursache für das schlechte Abschneiden der Volksparteien. Sicherlich war im Bezug zur Flüchtlingskrise der Kurs der Kanzlerin zu umstritten, zu tief war der Riss zwischen den Unionsschwerstern schon gegangen und zu unklar war bei alldem, was eigentlich die Sozialdemokraten wollten, als dass das Thema keinen Effekt auf den Wahlerfolg gehabt haben hätte können. Überraschend war jedoch, dass die Regierungspolitik nicht programmatisch abgefedert wurde. Nicht nur wurden politische Forderungen sofort von einer Sach- zu einer Machfrage hochgezoomt, auch wurde sie programmatisch nicht flankiert. Zwar gab es diverse Regierungsprogramme auf den unterschiedlichen politischen Ebenen, die meist äußerst erfolgreich anliefen, aber eine umfassende Debatte, was dieses Großereignis für das Land bedeutet und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien, fand nicht statt. Aus einer linken oder rechten Politik wurde eine gute bzw. böse. Ein verbindendes Element innerhalb des eigenen Lagers wurde kaum gesucht, geschweige denn durchbuchstabiert. Ein umfassender programmatischer Neuansatz von CDU und SPD zur Integrationspolitik blieb dabei aus. Er fehlt bis heute. Weniger ihre Regierungspolitik, sondern ihre eigene programmatische Sprachlosigkeit fiel den Volksparteien am Wahltag auf die Füße. 

Diese Sprachlosigkeit ist eine Folge der organisatorischen Richtungslosigkeit, da die Parteitage allein routinierte Antragsberatungen kennen, aber keinen Programmaufbruch mehr zulassen. Dabei haben Formelkompromisse noch nie einen besonderen Sexappeal auf die Wählerschaft ausgelöst. Innovationen wurden in den Parteien aber immer durch neue Anhänger ausgelöst. Diese neuen Ideenlieferanten fehlen den heutigen Volksparteien. Die Volksparteien sind organisatorisch in die Jahre gekommen. Gerade wenn der Volksparteiidee erhalten werden soll, müssen sich die Volksparteien organisatorisch erneuern. Die wirklich erfolgreichen Wahlkämpfe wurden in den vergangenen Jahren, bspw. in Frankreich, aber auch in den USA, mehr durch Wählerallianzen, denn durch etablierte Parteistrukturen erzielt. Die lange verkannte Frage in deutschen Volksparteien lauten nicht, wie bekomme ich in meinen Ortsverband mehr Mitglieder, sondern wie binde ich neue oder bereits verlorene Wählerklientele ein. Volksparteien müssen sich daher von Mitgliederparteien hin zu Wählerallianzen öffnen. Dafür gibt es nicht den einen Weg: Am radikalsten ist sicherlich Macron vorgegangen, der sich schlicht seinen eigenen Apparat schuf. Aber auch Tony Blair in den 1990er Jahren oder heute Sebastian Kurz haben mit Wählerallianzen, die eine Volkspartei jeweils als zentralen Kern beinhalte, ihre Wählerschaft verbreitert. Bestimmend dabei war, Neugierde für programmatische Innovationen zu wecken. Deutschland braucht keinen weiteren Mehltau. Deutschland braucht Neugierde statt Stabilität. Das ist die Lehre aus 2017.

57% – Wie Deutschland nach rechts rückte, seine Bürger aber nicht. Ein kritischer Rückblick. Und fantastischer Ausblick.

Jana Faus / Rainer Faus

57% der Deutschen sehen sich laut der Bertelsmann-Studie ‚A Source of Stability‘ vom Juli 2017 politisch als Teil des Mitte-links Spektrums, lediglich 43% als Teil des Mitte-rechts Spektrums. Vor die Wahl gestellt, stimmen ebenfalls 57% nach einer unveröffentlichten pollytix-Studie vom September 2017 zu: „Deutschland sollte ein tolerantes und weltoffenes Land sein, in dem sich jeder frei entfalten kann, egal wo er herkommt, an was er glaubt oder wie er lebt.“ Nur 39% stimmen eher zu: „Deutschland sollte sich wieder auf seine traditionellen Werte zurückbesinnen und aufpassen, dass unsere christlich-abendländische Kultur nicht verloren geht.“1

Gibt es etwa in der Bevölkerung gar keinen Rechtsruck?

Letztere Werte sind im Übrigen erstaunlich stabil: Schon im Oktober 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, stimmten 56% für Weltoffenheit, 37% für Tradition. Auf dieser Dimension hat sich also nichts bewegt. Und diese Dimension ist für die Wähler eine ganz entscheidende Dimension. Sie bestimmt, in welchem Land wir leben wollen. Sie wirft die große Frage, wie wir unsere Gesellschaft in Zukunft wünschen. Aber dazu später mehr.

Interessant ist dabei aber vor allem, dass sich Wähler der SPD, Linken (je 73%) und Grünen (90%) mit deutlicher Mehrheit zu Weltoffenheit und Toleranz bekennen und Wähler der AfD als Gegenpol fast uniform zu Tradition und abendländischer Kultur (88%). Spannend sind die Wähler der CDU/CSU sowie der FDP: Wähler dieser Parteien sind ungefähr mittig zwischen Weltoffenheit und Tradition gespalten. Es sind also nicht nur die politischen Lager gespalten, sondern die Spaltung geht mitten durch die bürgerlichen Parteien.

Wir haben in Deutschland also eine Bevölkerung, die sich mehrheitlich als mitte-links oder links davon bezeichnet und die mehrheitlich für Toleranz und Weltoffenheit plädiert. Gleichzeitig haben wir ein Wahlergebnis, bei dem gut 56% auf mitte-rechts oder rechts entfallen (so man dazu CDU/CSU, FDP und AfD zählt, was wir für den Zweck dieser Übung einfach mal tun) und nur knapp 39% auf mitte-links oder links (so man dazu SPD, Grüne und Linke zählt, was wir für den Zweck dieser Übung wiederum einfach mal tun). 

Außerdem müssen wir beobachten, dass sich der politische Diskurs nach rechts verschiebt und Dinge sagbar werden, die vor einiger Zeit noch undenkbar waren. Wie passt das zusammen?

Die Kanzlerin hat sich für einen Mitte-Kurs entschieden, der ihr bald den Job kosten wird.

Die Strategie der Kanzlerin ist seit langem klar: Gestützt vom CDU-Strategen und ZDF-Demoskopen Matthias Jung fährt Angela Merkel einen dezidierten Mitte-Kurs und befriedet dabei Themen, die potentiell ‚heiß‘ werden könnten. Solche Themen könnten der Kanzlerin gefährlich werden und das weiß sie. Seit Beginn ihrer Amtszeit ist sie gut damit gefahren, den politischen Diskurs, den offenen Streit zu unterbinden und Deutschland in einen politischen Dämmerschlaf zu legen. Das ist sie, die oft zitierte asymmetrische Demobilisierung. Asymmetrisch demobilisiert werden durch diese Strategie vor allem Wähler der SPD, da der Partei Mobilisierungsthemen fehlen. 

Manches SPD-Herzensthema wird in der öffentlichen Wahrnehmung gar als Erfolg der Kanzlerin zugeschrieben. Selbst der Mindestlohn wird von bestimmten Wählersegmenten fälschlicherweise der Kanzlerin zugeschrieben. Damit, aber auch dank ihrer wahrgenommenen starken Haltung in der Flüchtlingspolitik, genießt die Kanzlerin hohes Ansehen bis weit ins linke Spektrum rein und bindet hier Wähler, die zwar Merkel gut finden, unter ‚normalen‘ Umständen aber nicht unbedingt CDU wählen würden. Eine Wählerin sagte uns im Tiefeninterview: „Ich mache beinahe unter körperlichen Schmerzen mein Kreuz bei der CDU. Dabei wähle ich eigentlich nur Frau Merkel.“ 

So wie diese Wählerin innerlich gespalten ist, ist es auch die CDU. Nur wird diese interne Spaltung oftmals übersehen. Einerseits weil sie von der noch viel größeren Differenz mit der bayrischen Schwester CSU überschattet ist, andererseits, weil Merkel eben auch diese interne Spaltung geschickt wegschweigt. Und die CDU professionell genug ist, interne Differenzen in Wahlkampfzeiten nicht öffentlich auszutragen. 

Aber ab und an wird er aber eben doch sichtbar, dieser tiefe Riss, der sowohl durch die Partei als auch ihre Wählerschaft geht: Grundsätzlich ist die CDU natürlich – entgegen ihrer momentanen Selbstdarstellung – keine moderne Partei der Mitte, sondern eine konservative Partei: Eine Partei der Beibehaltung des Status Quo und der konservativen Werte. Und die braucht es in einem Land, in dem sich 43% dem mitte-rechts-Spektrum zuordnen. Merkel hat mit ihrem Mittekurs den konservativen Teil der Partei aber schon lange nicht mehr hinter sich. Dies zeigte sich z.B. beim Beschluss des Parteitags im Dezember 2016, den Kompromiss mit der SPD zur doppelten Staatsbürgerschaft aufzukündigen. Einen Tag nach Merkels Wiederwahl zur Parteivorsitzenden war das eine schallende Ohrfeige für die Kanzlerin. 

Die konservative Wertehaltung der CDU lässt sich besonders schön bei gesellschaftspolitischen Themen besichtigen, zuletzt bei der von der CDU/CSU mit deutlicher Mehrheit abgelehnten Ehe für alle. Hier ist die Bevölkerung aber deutlich progressiver als die CDU: In der Bevölkerung traf die Ehe für alle auf breite Zustimmung, je nach Umfrage wird sie von zwei Drittel bis drei Viertel der Deutschen befürwortet. 

Diese Widersprüche der CDU für Wähler salient zu machen ist dem mitte-links-Lager nicht geglückt. Und die eher kanzlerinnenverliebten Medien haben dabei auch nicht unbedingt geholfen.