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Wahrheit E-Book

Klaus Püschel

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Beschreibung

Was macht erfolgreiche Ermittlungsarbeit aus? Anhand von realen Fallgeschichten wird erstmals gezeigt, wie Staatsanwaltschaft, Kriminalpolizei und Rechtsmedizin zusammenarbeiten, um Kapitaldelikte zu lösen. Wenn ein Mensch getötet wurde, braucht es den Sachverstand aller drei Professionen, um die Wahrheit herauszufinden. Der Täter, der sich wahnhaft verfolgt fühlt, ein zynisch kalkulierender Mörder, die Polizistin, die selbst zur Täterin wird, oder der belastende Fall des Serienmörders, der zwanzig Jahre lang sein Unwesen treibt –diese und weitere Fälle wurden von dem Autorenteam in gemeinsamer Arbeit gelöst. Ihrer Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass auch Täter von sogenannten Cold Cases endlich ihrer Strafe zugeführt werden konnten. Das Buch vermittelt uns ein neues Verständnis von professioneller Ermittlungsstrategie. Ein so tiefer Einblick in die Puzzlearbeit der Aufklärung von Mordfällen hat bislang gefehlt.

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Seitenzahl: 278

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Klaus PüschelMartin ErftenbeckAnnette Marquardt

WAHRHEIT

TOTE HABEN RECHT(E)

Inhalt

Die Suche nach der Wahrheit. Vorbemerkung

„Oh Gott – schwanger!“

„Das viele Blut! Wer tut so was?“

Auf dem Sofa verhungert

Späte Folgen. Ein Cold Case

Mord in den Wümmewiesen

Ein Leben lang grün-weiß

Mord ohne Motiv

Lebenslang – ohne Leichen

Totschlag statt Fortbildungskurs

Ikarus stürzt ab

Unerträgliche Untreue

Maskenmann

Spurensuche in der Rechtsmedizin

Nachwort

Die Suche nach der Wahrheit. Vorbemerkung

„Die Wahrheit haben ist des Himmels Weg, die Wahrheit suchen ist der Weg des Menschen.“

Konfuzius

Mit der Frage, was Wahrheit sei, haben sich Philosophen und Naturwissenschaftler, aber auch Theologen seit jeher befasst. Schnörkellos ist die Definition in den Wissenschaften: „Wahrheit ist die objektive Realität.“ Wahrheit soll das sein, was objektiv messbar ist. Aber nicht alles auf der Welt ist objektiv messbar, und schon gar nicht das, was das Handeln der Menschen bestimmt: ihre Motive.

Wer entscheidet, ob etwas der objektiven Realität entspricht? Menschen sind geprägt von ihrer Umgebung, von ihrer Erziehung, sie nehmen Ereignisse subjektiv unterschiedlich wahr. Häufig werden Menschen von Ereignissen überrascht, oder es prallen so viele Eindrücke auf sie ein, dass sie nicht in der Lage sind, alles aufzunehmen und abzuspeichern. Manchmal werden nur Randerscheinungen wahrgenommen, deren Bedeutung erst später klar wird. Oder es geraten Details in Vergessenheit.

Menschlich ist es auch, unbewusst schreckliche Erlebnisse abzuspalten und sie so zu verdrängen, dass sie nicht mehr abrufbar sind. Ein Selbstschutzmechanismus.

Kann man mit Zeugenaussagen, die subjektiv geprägt sind, tatsächlich die objektive Realität in Erfahrung bringen?

Die Arbeit der Ermittler ist vergleichbar mit dem Zusammensetzen eines riesigen Puzzles oder Mosaikbildes. Die Zeugenaussagen sind in diesem Bild die einzelnen Puzzlesteinchen. Je detailreicher das Bild werden soll, umso mehr Teilchen müssen eingesammelt und zusammengesetzt werden. Manchmal sind Hunderte oder Tausende von Mosaikteilen notwendig, um ein klares Gesamtbild zu erhalten. Dabei kann es gelingen, die subjektiven Eindrücke und Schilderungen durch objektiv messbare Tatsachen zu untermauern oder auch zu widerlegen. Manches kann naturwissenschaftlich sicher festgestellt werden, etwa Schussentfernungen oder von wem eine DNA-Spur stammt. Auch Verletzungsmuster an den Toten sind nicht-diskussionsfähige Fakten.

Die Möglichkeiten der Rechtsmedizin sind wesentliche Grundlagen, um die objektive Realität und damit die Wahrheit bei Kapitaldelikten ans Licht zu bringen. Rechtsmedizinische Ergebnisse sind ein Teil des Gesamtbildes.

Die Ermittler sprechen nicht von Puzzleteilen oder Mosaiksteinchen, sondern von „Spuren“. Es können Tausende von Spuren sein, die in Aktenordnern angelegt und geprüft werden, so lange, bis sich für die Ermittler ein klares Gesamtbild ergibt. So legt die Polizei für jeden Zeugen, jeden Hinweisgeber, den Tatort, die Obduktion und das Opfer, um nur einige der Ordner zu nennen, eine eigene „Spur“ an, um auch Monate später die Übersicht zu behalten. Stellt sich später die Frage, was beispielsweise damals am Tatort ermittelt wurde, muss nur diese eine Spur aufgeschlagen werden. Die Verfahrensweise hat weiter den Vorteil, dass die Entwicklung einer Zeugenaussage gut nachvollziehbar ist, denn häufig müssen Zeugen mehrfach vernommen werden.

Je näher man sich bei diesem Prozess der objektiven Realität nähert, umso stimmiger passen die einzelnen Spuren zusammen, umso schärfer sind die Konturen des Gesamtbildes.

Besondere Schwierigkeiten und Herausforderungen geben die sogenannten „Cold Cases“ den Ermittlern auf. Darunter werden Verfahren der Schwerkriminalität verstanden, die trotz intensiver Bemühungen nicht geklärt werden konnten und deshalb eingestellt wurden. Viele Jahre später jedoch Alibis von Personen zu überprüfen, ist in der Regel schwierig bis unmöglich. Tatorte sind vor zwanzig oder mehr Jahren nicht nach heutigen Standards aufgenommen worden. Wer ahnte zum Beispiel damals, dass DNA heute eine solche Bedeutung haben wird?

Zu beobachten ist zudem, dass die Erstellung eines Ermittlungsbildes immer häufiger dadurch massiv erschwert wird, dass Zeugen lügen. Seit einigen Jahren eine erschreckende Entwicklung. Es sind oft junge Menschen, die sich ihre Wahrheit so zurechtlegen, wie sie ihnen gerade passend erscheint. Nicht selten wechselt die Sichtweise im Laufe des Ermittlungsverfahrens auch noch, oder eine gänzliche neue Version überrascht die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung. So sah sich die Richterin einer Schwurgerichtskammer zu der Nachfrage herausgefordert: „Wollen Sie jetzt etwa sagen, dass Sie bei der Polizei über zehn Seiten Vernehmungsprotokoll nur gelogen haben?“ Die Zeugin bestätigte dies. „Ja, das habe ich. Ich habe damals den Angeklagten gehasst!“ Weder Scham noch Reue waren bei dem Eingeständnis festzustellen.

Solche falschen Aussagen haben eine verheerende Wirkung. Zum einen wird die Aufgabe der Ermittler, die Wahrheit herauszufinden, massiv erschwert oder gar zunichtegemacht, zum anderen wird der Anspruch des Opfers und ebenso des Beschuldigten auf Gerechtigkeit mit Füßen getreten. Einem Beschuldigten oder späteren Angeklagten können Falschaussagen die gesamte Lebensgestaltung zerstören. Einmal als Angeklagter unschuldig vor Gericht zu stehen, kann reichen, um den Arbeitsplatz zu verlieren oder seinen Ruf nachhaltig zu ruinieren – selbst wenn später die Wahrheit ans Licht kommt.

Je detailreicher es gelingt, eine Tatszene zu rekonstruieren, umso größer ist die Chance, sich der Wahrheit in allen Facetten zu nähern, und damit auch der Motivlage des Täters.

Aufgabe des Gerichts in der Hauptverhandlung ist es, sich die einzelnen Puzzleteile anzuschauen und zu würdigen. Nicht selten dauert ein solcher Prozess viele Monate.

Wie das Gericht die Wahrheit in der Hauptverhandlung feststellt, schreibt die Strafprozessordnung vor. Nicht alles, was an Spuren zusammengetragen wurde, ist verwertbar. Enge Angehörige eines Tatverdächtigen sind überdies von einer Aussagepflicht befreit. Sie haben ein Zeugnisverweigerungsrecht, von dem sie häufig erst in der Hauptverhandlung Gebrauch machen. Wurde ein Angeklagter zuvor im Ermittlungsverfahren nicht vollständig über seine Rechte belehrt, sind seine Angaben gegenüber den Ermittlern nicht verwertbar. Sagt ein Zeuge zum Teil nachweislich unwahr aus, bleibt die Frage zu klären: Kann man von dem Rest der Aussage noch etwas glauben? Ist man davon überzeugt, dass dieser Teil der Wahrheit entspricht?

Am Ende des Prozesses kann ein Gericht einen Angeklagten nur dann wegen der Taten verurteilen, wenn es keine vernünftigen Zweifel an seiner Täterschaft und Schuld hat. Die Hürde dafür ist hoch – völlig zu Recht. Auch nur ein einziger zu Unrecht Verurteilter wäre ein Desaster, denn der Rechtsstaat ist neben dem Schutz des menschlichen Lebens das höchste Rechtsgut, das wir zu verteidigen haben.

Und so bleibt die Suche nach der Wahrheit – das Bemühen, der Realität möglichst nahe zu kommen – die mühsame Aufgabe der Menschen und der Gesellschaft, und zwar nicht nur der Ermittler und der Richter, sondern insbesondere auch der Zeugen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sein sollten.

„Oh Gott – schwanger!“

An einem Mittwochnachmittag im Sommer entscheidet sich die 25-jährige Silvia, das kleine Paket, das sie zunächst mehrere Tage in eine Bettkommode unter ihr Gästebett gestellt und später in einer Mülltonne versteckt hatte, in ihren Rucksack zu packen und mit dem Motorrad zu einem Seitenarm der Wümme zu fahren. Sie will das Päckchen im Bach verscharren. Mit bloßen Händen kratzt sie eine Mulde in den Bachlauf, legt das Bündel hinein und deckt es mit Erdreich und Zweigen ab. Sie hofft, der Inhalt möge nun eins werden mit der Natur.

Kurz nach der Rückkehr nach Hause trifft ihr Freund Christoph ein und bemerkt, dass Silvia sehr betrübt wirkt. „Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?“, fragt er sie. Als er nicht lockerlässt, offenbart Silvia ihm, dass sie ein Kind geboren habe. Gerade habe sie es vergraben.

Beide sind Polizisten, und beide entscheiden schließlich gemeinsam, zur Dienststelle zu fahren, wo Silvia vor der Leiterin des zentralen Kriminaldienstes eine Aussage macht. Silvia berichtet ihrer Vorgesetzten, sie habe ihr Baby vergraben, ein Kind, das sie am zurückliegenden Samstag geboren habe.

Die Polizei überträgt einer benachbarten Dienststelle die weiteren Ermittlungen gegen die eigene Kollegin.

Kriminalbeamter: Für uns ist das eine furchtbare Geschichte. Eine Kollegin soll getötet haben? Eigentlich unvorstellbar. Binnen kürzester Zeit muss eine Gruppe von Kriminalbeamten mit den Ermittlungen beauftragt werden. Benötigen wir eine Mordkommission oder eine Ermittlungsgruppe? Oder eine SOKO?

Eine Sonderkommission (SOKO) oder Mordkommission (MOKO) ist eine anlassbezogene und in ihrer Struktur und personellen Besetzung vorgeplante Organisationsform auf Zeit. Der Aufbau der MOKO, die Mitglieder, deren Aufgabenbereiche und die Organisation der internen Abläufe sind grundsätzlich festgelegt. In unserer Verfassung ist der föderalistische Aufbau der Bundesrepublik Deutschland fest verankert, und die Polizei ist Aufgabe der Länder. Organisationsform, Ausbildung, Polizeigesetze, personelle und materielle Ausstattung der Polizei in den einzelnen Bundesländern sind unterschiedlich, entsprechend auch der Aufbau und die Bezeichnung von Mordkommissionen. Die Vorgehensweise aber ist überall ähnlich.

Der Anlass zur Bildung einer Mordkommission ist im Regelfall ein versuchtes oder vollendetes Tötungsdelikt. Solche Kapitaldelikte erregen regelmäßig ein besonderes öffentliches Interesse und tragen zu Einschränkungen des allgemeinen Sicherheitsempfindens der Bevölkerung bei.

Nicht nur deshalb wird angestrebt, diese Straftaten schnell und umfassend aufzuklären, eine Mordkommission wird aufgerufen. Sie sollte im Idealfall personell und materiell gut ausgestattet sein. Aus der Alltagsorganisation der Polizei werden vorher feststehende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in die MOKO verlagert. Sie verfügen über unterschiedliche fachspezifische Kenntnisse und Erfahrungen, z. B. im Bereich der Ermittlungsführung in der Gewalt- und Sexualkriminalität, der Kriminaltechnik, Fahndung, Vernehmungspsychologie, Aktenführung, Finanz- und Vermögensermittlungen, Analyse, Angehörigenbetreuung, Operativmaßnahmen, Cybercrime, Auswertung digitaler Spuren oder Öffentlichkeitsarbeit, und arbeiten unter der Führung des Leiters der Mordkommission zusammen. Größe der MOKO und Stärke der einzelnen Einsatzabschnitte werden dem Ermittlungsbedarf angepasst.

Die hohe Erfolgsquote bei der Aufklärung von Kapitaldelikten gibt dieser Vorgehensweise recht. Allerdings muss das mit Augenmaß geschehen, da die Arbeit der MOKO gleichzeitig zulasten der Alltagsorganisation geht. In der alltäglichen Arbeit muss der personelle Aderlass während der Laufzeit der MOKO aufgefangen werden. In Großstädten ist die Lage oftmals eine andere, hier arbeiten wegen der höheren Fallzahlen überwiegend feststehende Mordkommissionen.

Eine SOKO kann zur Aufklärung anderer umfangreicher Straftaten wie etwa Serienbetrügereien eingerichtet werden. Bei Tötungsdelikten wird eine SOKO in der Regel dann eingerichtet, wenn mehr als ein Tötungsdelikt im Raum steht. Steht hingegen von Anfang an fest, dass der Ermittlungsaufwand nach einem möglichen Tötungsdelikt eher überschaubar ist, bleibt es häufig bei einer Ermittlungsgruppe.

In welcher Organisationsform gearbeitet werden soll, ist eine Frage von vielen, die zeitnah zu beantworten sind. Wir entscheiden uns für die Einrichtung einer Ermittlungsgruppe aus zwei Teams mit je zwei Beamten sowie dem Leiter. Zugleich rufe ich die die Ermittlungen leitende Staatsanwältin an und berichte ihr von dem Vorfall: „Wir haben einen Verdacht auf ein Tötungsdelikt, ein ungewöhnlicher Fall.“

In wenigen Sätzen schildere ich ihr den aktuell bekannten Sachverhalt und frage, ob die Staatsanwältin zur Polizeiinspektion kommen kann. In der Dienststelle herrscht Aufregung, in der Anfangsphase eines Kapitaldelikts geht es immer hektisch zu. Aus Sicht der Polizei ist es einfacher, in so einem Fall die ersten Maßnahmen eng mit der Staatsanwaltschaft zu erörtern und zu koordinieren.

Staatsanwältin: Für mich steht sofort fest, dass ich mir einen eigenen Eindruck verschaffen will. Ich bitte den Beamten sicherzustellen, dass die Wohnung der sich selbst beschuldigenden Polizistin umgehend durchsucht wird, um Beweise zu sichern. Die Anfangsphase ist für die Klärung von Kapitaldelikten die wichtigste Zeitspanne. Noch während die wesentlichen Ermittlungsstrukturen aufgebaut werden, gilt es, das in zahlreichen Fällen eingeübte Programm anzuwenden. Das heißt spurenschonend Beweise zu sichern, Zeugen und Tatverdächtige zu vernehmen, und das alles so schnell und so gut wie möglich. Dabei ist maximal zulässiger Druck auszuüben. Erfahrungsgemäß besteht nur in dieser Phase die Chance, die Wahrheit zum Tatgeschehen und den Motiven zu erfahren. Natürlich muss dabei penibel darauf geachtet werden, dass die Grenzen der Zulässigkeit nicht überschritten werden und alle Erkenntnisse verwertbar sind.

Aus früheren Verfahren von Kindstötungen ist mir bekannt, dass manche Frauen eine Schwangerschaft innerlich so sehr ablehnen, dass sie die Symptome anders auslegen und die Schwangerschaft verdrängen. Erst die Wehen reißen sie völlig unvorbereitet in die Realität, und in diesem Moment ist die Gefahr der Tötung des Kindes besonders groß. Wird eine Schwangerschaft verdrängt, nimmt die Schwangere die typischen Anzeichen nicht wahr oder interpretiert sie falsch. Die Kindsbewegungen werden zu Darmproblemen, die Gewichtszunahme ist Folge einer ungesunden Ernährung und von zu wenig sportlicher Betätigung. Dauernde Müdigkeit wird als Ergebnis von Stress und zu wenig Schlaf gedeutet.

Anders sieht es bei einer verheimlichten Schwangerschaft aus. Von dieser hat die Schwangere Kenntnis und entscheidet sich bewusst, niemandem in ihrem persönlichen Umfeld davon zu berichten, um das Kind später in einer Babyklappe ablegen oder zur Adoption freigeben zu können – oder es zu töten.

Verdrängte Schwangerschaften treten unabhängig von Alter, Bildung oder dem sozialen Umfeld der Schwangeren auf. Sie sind gar nicht so selten. Die meisten dieser Frauen befinden sich sogar in einer festen Partnerschaft. Und nicht alle von ihnen töten anschließend ihre Kinder. Immerhin bemerkt eine von 500 Frauen erst nach der zwanzigsten Schwangerschaftswoche oder erst bei der Geburt, dass sie schwanger ist. Eine von 2500 Frauen wird sogar wegen starker Bauchschmerzen in die Notaufnahme eingeliefert, ohne zu ahnen, dass sie in Wirklichkeit in den Wehen liegt.

Verdrängte Schwangerschaften werden begünstigt, wenn die Frau die Schwangerschaft eher als Krise oder gar persönliche Katastrophe auffasst und sich mit den Folgen nicht auseinandersetzen will, um sich selber zu schützen. Den Frauen bleibt in diesem Fall wenig Zeit, sich an das Kind und an den Gedanken, jetzt Mama zu sein, zu gewöhnen. Das Baby ist plötzlich da, ohne Vorwarnung und ohne Vorbereitung.

All dieses Wissen und meine Erfahrung werde ich mit in die Vernehmung nehmen. Während der Fahrt zur Polizeidienststelle kreisen meine Gedanken daher um die Frage, was passiert sein muss, damit eine junge Polizistin, die selber Straftaten verhindern will, ein Verbrechen begeht? Kann eine Polizistin wirklich zu einer Mörderin werden? Liegt ein Erklärungsansatz darin, dass sie die Schwangerschaft zunächst nicht bemerkt hat?

Ich entscheide mich, die Beschuldigte selber zu vernehmen. Vielleicht ist so eher ein Zugang zu der Frau zu bekommen. Zudem lasse ich mir von der Polizei weitere Informationen zusammenstellen, um für die Vernehmung gewappnet zu sein.

Zeitgleich sind ganz verschiedene Maßnahmen in die Wege zu leiten. Spezialeinheiten sind angefordert, um den Leichnam zu suchen.

Beim ersten Gespräch – die Stimmung ist karg und angespannt – erzählt Silvia, dass in der Nacht von Freitag auf Samstag die Wehen eingesetzt hätten und sie das Kind heimlich und alleine zur Welt gebracht habe. Das Baby sei blau gewesen. Ob das Kind gelebt habe, frage ich sie. „Das weiß ich nicht.“ Erst mit Beginn der Wehen sei ihr klar geworden, schwanger zu sein. Sie habe durchgängig die Pille genommen. Ihr sei lediglich in den letzten Wochen aufgefallen, dass sie sieben bis acht Kilogramm zugenommen hatte.

Weiter berichtet sie: „Ich habe zurückgerechnet. Mein jetziger Freund Christoph kann nicht der Vater des Babys sein. Ich habe das Kind in Handtücher gewickelt und in einer verschlossenen Kunststoffkiste unter dem Bett im Gästezimmer verwahrt, wo auch die Geburt stattgefunden hat.“ Als der Geruch zu stark geworden sei und der im Haus lebende Hund herumschnüffelte, habe sie das Kind mehrfach in Folie gewickelt, die Folie mit Draht befestigt und alles in eine Mülltonne gelegt.

Sie habe zwischendurch mal an eine Schwangerschaft gedacht, aber nur ganz kurz, ansonsten hätte sie den Gedanken komplett verdrängt. Zur Geburt selbst sagt sie lediglich: „Ich habe einen Jungen zur Welt gebracht.“ Ich frage nach, ob er geschrien habe? Sie wolle, antwortet sie, keine weiteren Angaben mehr machen.

Ich verlasse das Vernehmungszimmer, um mich auf den aktuellen Ermittlungsstand bringen zu lassen. Das Baby ist inzwischen gefunden worden, Leichenspürhunde haben den kleinen Leichnam an dem beschriebenen Ort entdeckt. Anschließend telefoniere ich mit dem Rechtsmediziner, schildere ihm den aktuellen Sachstand. Ich frage, wann obduziert werden kann. Besonders interessiert mich: „Haben wir noch eine reelle Chance, die Todesursache festzustellen und zu klären, ob das Baby gelebt hat?“

Der Rechtsmediziner klingt skeptisch: „Vier Tage sind seit der Geburt vergangen, vier lange Tage, und das bei dieser Hitze. Ob wir noch etwas feststellen können, hängt auch von der Art der Tötung ab. Wir werden sehen, ob uns der Leichnam dazu noch etwas sagen kann.“

Später erzählt Silvia bewegt und aufgewühlt doch weiter. Es ist eine schwierige Vernehmungssituation. Sie sei in den letzten Monaten dicker geworden, habe ein Grummeln im Bauch gespürt. Da sei ihr der Gedanke gekommen: „Oh Gott – schwanger! Ich hatte Angst davor, das meinem Verlobten zu erzählen, und auch Angst, das Haus und die Arbeit zu verlieren und niemand mehr zu haben. Ich habe an Hartz IV gedacht und die Gedanken daran weggedrückt. Als die Wehen einsetzten, war klar, dass ich schwanger bin.“ Sie habe sich ins Gästezimmer geschlichen, um ihren Verlobten nicht zu wecken. „Er schlief im vier Meter entfernten Schlafzimmer und bekam von allem nichts mit.“ Silvia bricht in Tränen aus.

Die junge Frau wird im Krankenhaus gynäkologisch untersucht. Hier wird festgestellt, dass eine Schwangerschaft vorgelegen hat und sich noch Reste der Plazenta im Uterus befinden. Sie werden ausgeschabt.

Kriminalbeamter: Während der Vernehmung durchsuchen Kollegen das Wohnhaus, das Silvia und ihr Freund gemietet haben. Es handelt sich um ein unauffälliges Einfamilienhaus, anderthalb Stockwerke, oben zwei Schlafräume, Bad und Abstellraum. Im Carport stehen zwei Motorräder und ein Ford Mustang, Silvias große Leidenschaft. Da sich später herausstellt, dass aus unerfindlichen Gründen nicht auf etwaige Blutspuren auf den Matratzen geachtet wurde, muss das Wohnhaus am nächsten Tag erneut durchsucht werden. Computer, Stichwerkzeuge, alles, was interessant sein kann, wird mitgenommen.

Schon in den ersten beiden Tagen erörtern wir mit der Staatsanwältin in zahlreichen Besprechungen und Telefonaten, was zu erforschen ist. Für uns ist es wichtig, so früh wie möglich von der Staatsanwaltschaft zu erfahren, welche Informationen für die spätere Hauptverhandlung von Relevanz sind. Wir erhalten von ihr den Auftrag zu ermitteln, ob die Kollegin über Monate bewusst ein Doppelleben geführt oder sie die Schwangerschaft tatsächlich nicht bemerkt hat. Folgende Fragen stehen daher im Fokus: Gibt es Hinweise darauf, dass sie von der Schwangerschaft wusste und langfristig geplant hat, das Kind zu töten? Welche Rolle spielt der Partner? Wir werden uns in ihrem Umfeld umsehen und ihre diversen Speichermedien überprüfen.

In den nächsten Wochen tragen wir einige Erkenntnisse zusammen. Silvia hat ihren Freund nach ihrer Ausbildung kennengelernt und ist rasch mit ihm zusammengezogen. In der Polizeiakademie befasste sie sich zumindest zeitweise und am Rande mit Kindstötungen. Eine Studienkollegin von ihr war durch die Wehen von der Schwangerschaft überrascht worden und hatte einen Jungen geboren. Deshalb hatte eine andere Kollegin ein Referat über Neonatizid gehalten und sich das Buch „Deutschlands tote Kinder“ zugelegt. Mit Silvia besprach sie einzelne Passagen ihres Referats. Silvia selbst besuchte während der Schwangerschaft keinen Frauenarzt. Einige Wochen vor der Geburt fragte ein Freund: „Ist bei euch der Strom ausgefallen?“ Silvia lachte: „Nein, ich habe nur zugenommen.“

Des weiteren trank Silvia Alkohol und feierte unbeschwert mit Freunden. Einen Monat zuvor hatte ein Vorgesetzter Silvia gefragt, wie es bei ihr mit einem Kinderwunsch stehe. Silvia hatte die Frage verneint, momentan sei nichts geplant.

Ein Kollege berichtet entsetzt: „Im achten Monat nahm Silvia an einem Staffellauf der Polizei teil und stürzte bei der Übergabe des Stabes an eine Kollegin auf den Bauch.“ Ein anderes Team findet heraus: „In demselben Monat besuchte Silvia mit Freunden einen Vergnügungspark in Holland und rutschte ausgelassen immer wieder bäuchlings auf der Wildwasserrutsche, die mit zahlreichen Huckeln und Wellen ausgestattet ist.“ Auch hier wurde Silvia auf eine Schwangerschaft angesprochen. Silvia entgegnete wiederum, sie habe nur zugenommen. Angesichts ihres Verhaltens auf der Rutsche verwarfen die Freunde den Gedanken, dass Silvia schwanger sein könnte. So würde sich doch keine Frau benehmen, die schwanger ist, niemals!

Kurz vor der Geburt unternahm Silvia eine Motorradtour, wofür sie sich eigens ein neues Motorrad gekauft hatte. Am Tag vor der Geburt machte Silvias Freund Christoph ihr einen Heiratsantrag.

Für uns Ermittler sind diese Ergebnisse mehr als schockierend. Eine Kollegin, die unerkannt hochschwanger bis zum Tag vor der Geburt im Außendienst tätig ist – eigentlich unvorstellbar, und doch geschehen. Aber wer fragt eine Arbeitskollegin, ob sie schwanger ist, oder fragt gar mehrfach nach, wenn ihr die Frage sichtlich peinlich ist und sie mit puterrotem Kopf darauf hinweist, sie habe einfach nur zugenommen?

Mindestens genauso geschockt ist der Kindsvater, Silvias ehemaliger Freund, als wir ihn aufsuchen und ihn über die Schwangerschaft und den Tod seines Kindes informieren. Der von uns in die Wege geleitete Vaterschaftstest lässt keinen Zweifel an seiner Vaterschaft.

Nach der Bergung des kleinen Leichnams wird dieser unverzüglich in das Institut für Rechtsmedizin transportiert. Nun ist es Aufgabe der Spezialisten herauszufinden, ob das Kind gelebt hat und wie es zu Tode gekommen ist. Ohne genaue Angaben hierzu wird keine Festnahme, geschweige denn eine Anklage möglich sein. Ein Team von uns nimmt an der Obduktion teil.

Rechtsmediziner: Am Tag nach der Selbstanzeige findet bei uns im Institut als Erstes eine computertomographische Untersuchung statt. Nachweisbar ist vor allem sehr viel Fäulnisgas, und zwar in den Organen, in den Weichteilen und in den Blutgefäßen, weiterhin auch in der Brusthöhle und in der Bauchhöhle. Mehrere Knochen sind im Bereich der Wachstumsfugen fragmentiert, die Schädelknochen an den Schädelnähten gegeneinander verschoben. Die diversen knöchernen Veränderungen werden auf die mehrtägige Lagerung des Kindes, die fortgeschrittene Fäulnis und das Verscharren im Flussbett zurückgeführt. Zu Lebzeiten entstandene Frakturen sind nicht nachweisbar. Im Oberbauch werden jedoch ein klaffender Hautdefekt und ein Verletzungskanal in die Bauchhöhle festgestellt.

Anschließend obduzieren wir den Leichnam. Der kleine Körper liegt wie ein Paket auf dem Sektionstisch, das geöffnet wird. Eine furchtbare Situation für alle, für die Polizisten noch schwieriger als für uns Ärzte. Bei der Leichenschau zeigt sich der Körper eingehüllt in ein engmaschiges Drahtgitternetz, das mit Kabelbindern verschlossen ist. Der Körper ist mit einem 1,1 Kilo schweren Stein beschwert. Am Stein, am Drahtgitter und am Kind finden sich transparente Klebestreifen, mit denen das gesamte Paket zusätzlich zusammengeschnürt wurde.

Körpergewicht (ca. 3000 g) und Körperlänge (ca. 52 cm) sowie die Körperproportionen weisen das Kind als reifes Neugeborenes aus. Die Nabelschnur ist 10 cm lang und glatt durchtrennt. Der Leichnam ist sehr stark fäulnisverändert. Es werden Hinweise darauf gewonnen, dass das Baby mit einem Messer, einem Schraubenzieher oder einer Schere erstochen worden ist. Mittig unterhalb des Schwertfortsatzes vom Brustbein beginnt eine Perforation in die Bauchhöhle. Trotz der Leichenzersetzung finden wir noch Blutungsreste in der Bauchhöhle. Wegen der weit fortgeschrittenen Leichenfäulnis, verbunden auch mit Madenfraß, ist der Verletzungskanal im Oberbauchbereich nicht exakt nachvollziehbar.

Eine Einstichverletzung ist nachweisbar. Aber hat das Baby auch gelebt? Hätte es ohne den Einstich überlebt?

Nach der Obduktion informieren wir die Staatsanwaltschaft. Wir haben die üblichen Prüfungen durchgeführt. Lungenschwimmprobe, Magen-/Darmschwimmprobe. Die Ergebnisse sind fraglich – auch dies speziell wegen der weit fortgeschrittenen Fäulnis des Körpers. Lediglich der Abgang von Mekonium (also der erste Stuhl eines Neugeborenen, auch bezeichnet als sog. Kindspech) ist ein Indiz dafür, dass das Kind wohl eine gewisse Zeit gelebt hat (offenbleibt, ob für einen oder für mehrere Atemzüge).

Zu den Hintergründen erkläre ich den Ermittlern: Zum Nachweis des Gelebthabens (Atmen nach der Geburt) wird bei Neugeborenen seit 300 Jahren die sogenannte Lungenschwimmprobe, der Nachweis der Lufthaltigkeit der Lungen, herangezogen. Dies bedeutet, dass das Kind geatmet beziehungsweise geschrien hat. Bei der Sektionstechnik ist es wichtig, dass die Luftröhre abgebunden wird, damit nach dem Tod keine Luft in die Lungen eindringen kann. Erst danach können die beiden Lungenflügel entnommen und in ein bereitgestelltes Gefäß mit Wasser gelegt werden. Schwimmen die Lungen obenauf und „halten“ auch das gesamte Organpaket einschließlich Mittelfell über Wasser, so ist die Lungenschwimmprobe positiv und weist auf eine kräftige Belüftung der Lungen hin. Anschließend wird jeder Lungenflügel einzeln auf das Wasser gelegt und danach jeder Lungenlappen, schließlich von jedem Lungenlappen kleine Stückchen einzeln. Damit kann gezeigt werden, dass, auch wenn anfangs eine Lungenschwimmprobe nicht eindeutig positiv verlaufen ist, einzelne Abschnitte der Lunge trotzdem belüftet und damit beatmet gewesen sein können, sodass die Schwimmprobe positiv ausfällt.

Künstliche Beatmung durch einen herbeigerufenen Notarzt, Fäulnis oder auch gefrorene Lungen können eine falsch-positive Lungenschwimmprobe ergeben. Insbesondere die Fäulnis kann das Ergebnis der Probe infrage stellen, da bereits geringe Fäulnisveränderungen zu Gasansammlungen im Gewebe führen. Auch der Magen-Darm-Trakt wird bei Neugeborenen einer Schwimmprobe unterzogen. Nicht belüftete Abschnitte sinken, belüftete Darmabschnitte schwimmen an der Oberfläche. Wenn nur der Magen lufthaltig ist, belegt dies eine Überlebenszeit im Bereich weniger Minuten, findet sich Gas bereits im Dünndarm, so ist davon auszugehen, dass das Kind etwa eine halbe Stunde überlebt hat.

Die Proben sind nicht beweiskräftig, wenn Leichenfäulnis besteht. Bei aufgefundenen Neugeborenen ist es deswegen besonders wichtig, dass die Sektion schnellstmöglich durchgeführt wird, um Zeichen des Gelebthabens sicher erheben zu können. Dies ist auch eine spezielle Indikation zur Computertomographie. Hierbei kann man Gasansammlungen (nach Belüftung der Lunge oder nach Verschlucken von Gas und Übertritt in den Magen-Darm-Trakt) sehr gut darstellen. Auch die Abgrenzung von Fäulnisveränderungen gelingt durch die Computertomographie besonders überzeugend.

Staatsanwältin: Silvia begibt sich am Folgetag in eine psychiatrische Klinik. Zeit, die Ergebnisse zu bewerten. Die Indizienkette wird etwas dichter, aber reichen die Erkenntnisse aus? Eile ist geboten. Ist die Beschuldigte festzunehmen? Ich gelange zu dem Ergebnis, dass ein dringender Tatverdacht gegen Silvia besteht, das Baby getötet zu haben, und beantrage einen Haftbefehl.

Als Silvia zwei Tage nach ihrer Selbstanzeige festgenommen und dem Haftrichter zur Verkündung des Haftbefehls vorgeführt wird, sagt die Beschuldigte unter Tränen: „Ich hätte ihn gerne behalten!“ Mir kommen nun doch Zweifel an der Täterschaft. Eigentlich will ich am Nachmittag zu einem dreiwöchigen Auslandsurlaub aufbrechen. Haben wir jetzt wirklich die Wahrheit ermittelt, oder sitzt eine Unschuldige in Haft? Kann das sein: eine Polizistin, die ihr Baby tötet? Eine junge Frau, die die Zukunft vor sich hat, soll ein solches Verbrechen begehen? War es der jetzige Lebensgefährte, der nicht Vater des Kindes ist? Wollte er nicht das Kind eines anderen aufziehen? Kann ich jetzt drei Wochen in Urlaub fahren, während womöglich eine unschuldige Mutter, die ihr Kind verloren hat, in Haft sitzt?

Ich frage den mit Silvia zum Termin erschienenen Anwalt, ob ich seine Mandantin erneut vernehmen dürfe. Jetzt ist die letzte Chance, die Wahrheit ans Licht zu befördern. Den Verteidiger beschäftigen dieselben Fragen.

Es ist eine ungewöhnliche Situation. Ein Freitagnachmittag, auf dem Gerichtsflur sitzt Silvia mit ihrem Verteidiger, in einiger Entfernung stehen die sie begleitenden Polizisten und die Staatsanwältin, die die Urlaubsvertretung übernehmen wird. Silvia macht jetzt eine umfassende Aussage, eine Aussage, die den Atem stocken lässt. „Das Ganze war ein Unfall. Zwischen zwei Wehen bin ich in das Badezimmer im Dachgeschoss geschlichen und habe eine Schere geholt, um später die Nabelschnur zu durchtrennen. Ich war in Panik. Als das Baby da war und zwischen meinen Beinen gelegen hat, habe ich die Schere genommen, um die Nabelschnur zu durchtrennen, und bin abgerutscht. Dabei habe ich wohl das Baby verletzt.“

Als ich ihr vorhalte, dass angesichts des Stichkanals die Möglichkeit, abgerutscht zu sein, ausscheide, stellt Silvia ihre Aussage um: „Das Baby war da, hat zwischen meinen Beinen gelegen und sich ruckartig bewegt. Es hat plötzlich eingeatmet. Da habe ich mich so verjagt und mit der Schere zugestochen.“ In dem verlesenen Haftbefehl sei die Rede davon gewesen, dass sie mit einem einseitig geschliffenen Messer zugestochen habe, das stimme nicht. Es sei die geschlossene Schere gewesen. Auf meine Bitte hin zeigt Silvia die Stichbewegung, sie führt die geballte Faust schwungvoll aus Höhe des Kopfes bis auf ihr Bein hinunter. „Ja, so ist es gewesen. Ich habe über das Körbchen [gemeint ist eine Babyklappe] nachgedacht, aber das ging auch nicht.“

Tötungsdelikte verfolgen mich selten außerhalb meines Dienstes. Kapitaldelikte, insbesondere, wenn Kinder betroffen sind, können jedoch sehr belastend sein. Aber auch Tatortbesichtigungen, Obduktionen, Lichtbilder von Verletzungen, Vernehmungen von schwer traumatisierten Opfern oder auch von Tätern, die kurz nach der Tat noch unter dem Eindruck stehen, einen Menschen getötet zu haben, hallen mitunter ausgesprochen lange nach. All diese Eindrücke müssen nach Dienstschluss grundsätzlich im Büro bleiben, wenn man diese Ermittlungstätigkeit auf Dauer ausüben will. Gewiss, man härtet im Laufe der Zeit ab. Und doch gibt es immer wieder Momente, wo dieses Grundprinzip ins Wanken gerät und nicht funktionieren will.

Das Schicksal der Silvia und ihres kleinen Kindes beschäftigt mich nicht nur im Urlaub, sondern auch noch viele Wochen später. Insbesondere die Stichbewegung, die Silvia gezeigt hat, wird noch lange in Erinnerung verbleiben, immer verbunden mit der Frage: Warum?

Während ich die Urlaubsreise antrete, nimmt eine Kollegin Kontakt zu dem Ermittlungsrichter auf, der Silvia am selben Tag erneut vernimmt. Eine richterliche Vernehmung besitzt eine andere Beweisqualität in der späteren Hauptverhandlung als eine Vernehmung durch einen Staatsanwalt oder Polizisten. Zudem konnte die Aussage auf dem Gerichtsflur nicht protokolliert werden, weil weder Diktiergerät noch Schreibkraft zur Hand waren.

In der richterlichen Vernehmung wiederholt Silvia, dass sie mit einer Schere auf das Baby eingestochen hat. Als das Baby nach der Geburt ruckartig atmete und sich auch bewegte, habe sie zugestochen und bei dem Anblick des toten Babys gedacht: „Du hast dein Kind umgebracht!“

Kriminalbeamter: Am Vormittag nach der Geburt trifft der Verlobte Silvia im Wohnzimmer an. Silvia erzählt, dass ihre Regelblutungen eingesetzt hätten und sie Schmerzen habe. Sie führen zusammen die Hunde aus und besuchen abends eine Geburtstagsfeier. Am nächsten Tag unternimmt Silvia mit ihrem Verlobten einen Ausflug an einen Badesee. Sie scheint Schwangerschaft und Geburt schon wieder völlig zu verdrängen.

Staatsanwältin: Bereits im Ermittlungsverfahren – es beginnt mit einer Anzeige oder zureichenden Hinweisen auf eine Straftat, weshalb Staatsanwaltschaft und Polizei Ermittlungen aufnehmen, und endet durch Einstellung, Anklage oder Antrag auf Strafbefehl – veranlasse ich, dass Silvia psychiatrisch begutachtet wird. War sie zur Tatzeit schuldfähig? Oder nur vermindert schuldfähig? Gibt es psychiatrisch Hinweise auf eine Verdrängung der Schwangerschaft? Der Sachverständige erhält zur Vorbereitung alle Ermittlungsergebnisse. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass Silvia die Schwangerschaft unbewusst verdrängt hat. Die vorangegangene Verdrängung der Schwangerschaft habe mit Eintritt der Wehen ein Ende gefunden. Eine Affektsituation sei allein deshalb auszuschließen, weil Silvia in der eigentlichen Tatszene die Übersicht behalten habe. Außer der Belastung durch die Geburt hätten zur Tatzeit keine zusätzlichen geistigseelischen Beeinträchtigungen vorgelegen. Auch wenn das Verhalten auf der Wildwasserrutsche auf den Versuch hindeuten könnte, eine Fehlgeburt zu provozieren, lässt sich dies nicht zweifelsfrei feststellen.

Nach Eingang des Gutachtens erfolgt die Anklage. Weitere Angaben macht Silvia später vor Gericht.

In der Hauptverhandlung erzählt Silvia den Richtern, dass sie sich aufgrund der ruckartigen Bewegung des Kindes so erschrocken habe, dass sie nicht wisse, ob sie aus Schreck zugestochen habe oder ob sie mit der Hand ausgerutscht sei. Handelt es sich lediglich um eine fahrlässige Tötung? Dies nehmen die Richter Silvia nicht ab. Sie habe sowohl der Staatsanwältin als auch dem Ermittlungsrichter gegenüber gesagt, dass sie zugestochen habe. Von einem versehentlichen Abrutschen sei nicht die Rede gewesen. Dagegen spreche auch der senkrechte Verlauf des Stichkanals. Hierzu habe der Rechtsmediziner geschildert, dass ein solcher Stich mit einem gewissen Schwung und mit Kraft ausgeführt werden müsse.

Die Richter sind davon überzeugt, dass Silvia zwar die Schwangerschaft über Monate verdrängt, aber bereits vor der eigentlichen Geburt, direkt nach Beginn der Wehen, den Entschluss gefasst hat, ihr Baby zu töten. Hierfür spreche, so die Richter, dass Silvia den Säugling heimlich geboren habe und sie während dieser Zeit bereits intensiv darüber nachgedacht habe, was sie nach der Geburt mit dem Baby machen würde. Da ihr Verlobter nicht der Vater des Kindes ist, würde er sich von ihr trennen. Silvia plagten in dieser Phase auch Existenzängste. Wie ziehe ich das Baby alleine groß? Was ist mit meiner Arbeit? Kann ich überhaupt weiter arbeiten?

Silvia wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Die Kammer verneint Mord, weil Silvia ihr Baby aus Verzweiflung und Ausweglosigkeit getötet hat und deshalb die Gesamtwürdigung der Motive nicht ergab, dass die Beweggründe „niedrig“ waren. Anders wäre es gewesen, wenn etwa finanzielle Motive im Vordergrund gestanden hätten, was jedoch nicht festgestellt werden konnte.

Silvia hat durch die Tat alles verloren, ihre Beziehung, das Haus und ihre Arbeit. Ohne Silvias Aussage, dass das Baby sich bewegt und geatmet habe, hätte aufgrund des Fäulniszustands des kleinen Leichnams nie sicher festgestellt werden können, dass das Baby die Geburt überlebt hat und durch Silvia getötet wurde, sodass das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Totschlags ergebnislos hätte eingestellt werden müssen. Letztendlich hat das falsche Bauchgefühl, Silvia könnte unschuldig sein, etwas Richtiges bewirkt. Dank der erneuten und entscheidenden Vernehmung konnte Silvia für die Tötung des kleinen Jungen verurteilt werden.

Kriminalbeamter: Ob die Ermittlungen die volle Wahrheit ans Licht gebracht hatten, war bis zum Schluss nicht sicher. Der Lebensgefährte schien tatsächlich nichts von der Geburt mitbekommen zu haben. Das Gesamtverhalten im Dienst und in der Freizeit ließ eher den Schluss zu, dass die Schwangerschaft nicht verheimlicht, sondern verdrängt wurde. Ein tragischer Fall.

Rechtsmediziner: Die Tötung eines Neugeborenen innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt durch die Kindsmutter wird als Neonatizid bezeichnet. Die Tötung von Neugeborenen ist keineswegs ein Phänomen der Moderne, sie hat zu allen Zeiten und in allen Kulturen existiert. In früheren Gesellschaften diente sie der Geburtenregelung und wurde nicht selten vom Kindsvater begangen. Solche Taten waren bis mehrere Jahrhunderte nach Christus überwiegend straflos.

Eine realistische Einschätzung der heutigen Fallzahlen von Neonatiziden in Deutschland erweist sich aufgrund der fehlenden gesonderten Registrierung in der polizeilichen Kriminalstatistik als schwierig. Hinzu kommt ein im Ausmaß nicht sicher abschätzbares Dunkelfeld, zum Beispiel bei Nichtauffinden des kindlichen Leichnams (Neugeborene werden bei nicht bekannt gewordener Schwangerschaft auch nicht vermisst) oder bei fälschlicher Annahme eines natürlichen Todes. Man geht derzeit etwa von jährlich zwanzig bis dreißig Fällen von Kindstötung in Deutschland aus. Vereinzelt sind durch eine Frau auch mehrere Kinder getötet worden.

Die eigenen Studien in Hamburg belegen, dass es sich bei den Kindsmüttern zum größten Teil um junge, ledige Frauen handelt. Es bestätigte sich jedoch nicht, dass diese überwiegend minderbegabt wären und einen niedrigen Schulabschluss hätten. Das in der Literatur beschriebene Phänomen der „abgewehrten Schwangerschaft“ wird von uns als einer der Hauptfaktoren für den Neonatizid betrachtet. Diese besondere Situation erschwert die Inanspruchnahme von Babyklappen oder einer anonymen Geburt.

Als Tötungsmethode findet sich zumeist eine aktive Vorgehensweise. Am häufigsten wurde das Neugeborene erstickt, durch Auflegen einer weichen Bedeckung, durch Halskompression oder indem man das Neugeborene in eine Plastiktüte steckt, teilweise in Kombination mit stumpfer Gewalteinwirkung gegen den Hals beziehungsweise schütteltraumaartiger Gewalteinwirkung.