Wahrheit oder Lüge - Tanja Steinlechner - E-Book

Wahrheit oder Lüge E-Book

Tanja Steinlechner

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Beschreibung

Fünf Frauen um die dreißig treffen sich im Berliner Volkspark Friedrichshain. Seit sie gemeinsam ein Theaterstück aufgeführt haben, verbindet sie eine enge Freundschaft, obwohl sie alle sehr unterschiedlich sind: die materialistische Nike, die impulsive Lana, die sportliche Carla, die aufopfernde Tessa sowie Marja, die ewige Studentin. Als sie anfangen, über Männer zu sprechen, schlägt Lana vor, dass sie 'Wahrheit oder Lüge' spielen: Jede soll zwei persönliche Sexerlebnisse erzählen, aber nur eines davon darf wahr sein, das andere ist erfunden. Anschließend wird geraten, was gelogen war und was nicht. Im Verlauf der lauen Nacht schildern die fünf Frauen ihre wildesten Geschichten: über ihr erstes Mal, Voyeurismus und erotische Abenteuer in der freien Natur, über Erfahrungen mit SM und verwirrende Begegnungen mit dem eigenen Geschlecht. Kann es denn wirklich sein, dass die sonst so ehrgeizige Nike nach Hamburg gefahren ist, um in einem SM-Club Sklavin zu spielen? Oder hat sie sich eher von ihrem Ex-Kommilitonen zum heftigen Dildosex mit einer Frau hinreißen lassen? Besonders Lana fasziniert dieses Rätsel …

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Seitenzahl: 232

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Tanja Steinlechner

Wahrheit oder Lüge

Roman

Vorspiel

Das Wiedersehen

Nike steht mit ihrem BMW-Cabrio auf der Kreuzung am Platz der Vereinten Nationen, eingekeilt zwischen einem Volvo und einem Sprinter. Die Ampel, die über den in der Abendsonne glänzenden Autodächern hängt, steht auf Rot. Dahinter ragt ein Hochhausturm in den wolkenfreien Himmel: aufeinandergeschichteter grauer Beton, die Reihen der zahllosen Fenster karminrot abgesetzt und die Balkonbalustraden weiß verschalt.

Nike trommelt aufs Lenkrad. Um sie her das Brummeln der Autos in Habachtstellung. Gleich neben ihr, auf der Haltestelleninsel zwischen den beiden Fahrbahnen, besudelt ein Mann mit verspiegelter Sonnenbrille sein weißes Achselshirt. Mit der einen Hand wühlt er in seiner Umhängetasche, mit der anderen hält er die tropfende Bratwurst. Eine Tram fährt ein, Schiebetüren öffnen sich, ein Schwall Passanten umströmt ihn.

»Das Wetter: Auch heute erleben wir in der Hauptstadt wieder eine tropische Nacht mit Temperaturen bis 25 Grad Celsius.«

Das Brummen der Autos hebt an. Der Volvo entfernt sich. Nike tritt aufs Gas.

»In every life we have some trouble, but if you worry, you make it double. Don’t worry, be happy. Don’t worry, be happy …«

Ting, ting, ting macht die Blinkanlage. Nike biegt rechts ab, wendet und fährt auf den Parkplatz, der hinter dem schattigen Rücken des Plattenbauturms liegt.

Rasch findet sie eine Lücke. Sie tastet nach dem vergoldeten Pferd am Schlüsselbund, einem Geschenk von Christian, ihrem Freund, und zieht den Zündschlüssel. »Don’t worry, be hap–«

Halblanges schwarzes Haar umrahmt ihr weiches Gesicht und verleiht Nike Eleganz. Christian mag ihre Nase, »weil man die so gut stupsen kann«. Sie ärgert sich jedes Mal darüber. Sie ist doch kein Mädchen mehr. Umso stolzer ist sie auf ihre vollen Brüste, die sich unter ihrer weißen Bluse abzeichnen.

Gleich ist sie am Ziel. Nur noch ein kurzer Fußmarsch durch den Volkspark. Für heute hat sie die High Heels gegen schwarze Sandaletten getauscht, aber die Absätze sind immer noch zu hoch. Stöckelnd überquert sie den Asphalt. Warum hat sie sich nur überreden lassen? Den extra für heute erstandenen Picknickkoffer hält sie bemüht lässig in ihrer rechten Hand.

Sie schiebt sich und den Koffer durch einen ausgetretenen Pfad im Buschwerk. Auf dem dahinter liegenden Rasen entdeckt sie ein Liebespaar. Beide sind nackt. Schon früher war dies eine FKK-Wiese. Er liegt auf einer Decke, rücklings auf die Ellbogen gestützt. Die Beine streckt er von sich. Sein halbsteifer Schwanz liegt ihm quer über dem Bauch, die Vorhaut ist zurückgeschoben, die Eichel glänzt. Die Frau räkelt sich neben ihm. Ihr Augenbrauenpiercing ragt wie ein Horn aus ihrem sonst so ebenmäßigen Gesicht. Mit der einen Hand umfasst sie seinen prallen Sack und wiegt ihm die Eier. Sein Schwanz zuckt und gerät leicht ins Schaukeln. Ertappt, mit verschmitztem Grinsen lässt sie von ihm ab, als sie Nike bemerkt. Der Mann wirft ihr einen verwirrten Blick zu und stellt die Beine an. Nike hält den Augenkontakt einen Moment lang, dreht sich dann abrupt um und lässt das Paar hinter sich. Rasch nimmt sie die Anhöhe und erreicht einen Kiesweg.

Die lang gezogenen Schatten der Bäume verleihen der Luft eine angenehme Kühle. Das Rauschen des Stadtverkehrs ist abgeebbt. Vorsichtig bewegt sie sich auf dem unwegsamen Pfad. Da taucht der Alte Fritz vor ihr auf; die schmalen Lippen zusammengepresst, der groteske Dreispitz leicht schief sitzend. Die Marmorsäule, auf der die Büste thront, ist mit Graffiti zugetextet.

Sie muss auf den kleineren der beiden aufgeschütteten Berge. Zuerst steigt der Pfad zwischen Gestrüpp und Bäumen nur flach an. Vogelgezwitscher umgibt sie und verdrängt das Rauschen der Stadt vollends. Nach wenigen Schritten sind Steintreppen in den Hang geschlagen. Am Wegrand wächst Holunder. Ein Zitronenfalter flattert vor Nikes Gesicht. Sie schüttelt sich.

Endlich mündet der Weg in einer weiten Gabelung auf die Wiese. Lachende Stimmen fliegen ihr entgegen. Die anderen sind schon da; wie damals ist sie die Letzte – nein, Marja fehlt. Die Picknickdecke liegt ausgebreitet zwischen den beiden Kastanien im hinteren Teil der Wiese. Sonst ist keiner hier. Die Stadt ist fern. Man sieht Fetzen des Panoramas durch das Grün der Bäume, die den Rasen umkreisen.

Lana läuft ihr entgegen. Sie trägt ihr Haar länger als früher. Trotz ihrer 28 Jahre wirkt sie ausgesprochen mädchenhaft. Das champagnerfarbene Tuch, das sie um die Stirn trägt, die vielen kleinen Sommersprossen, ihr zartgrünes knielanges Empirekleid und die Ballerinas an den Füßen unterstreichen diesen Eindruck.

»Niiike! Wie schön dich zu sehen! Wie lange ist das her? Zwei Jahre?« Lana breitet die Arme aus und drückt Nike an sich. »Und hier hat alles begonnen, mit Sterne am Morgenhimmel, du, Carla, Marja, Tessa und ich, meine erste Inszenierung …« Nike nickt. »… Jeden Freitag haben wir uns getroffen. Du warst eine perfekte Aufseherin. Wir waren unschlagbar!«

»Ich habe mich extra mit einem Picknickkorb ausgestattet. Wenn schon, dann stilecht«, entgegnet Nike ruhig. Sie befreit sich. Lana schmunzelt, streicht Nike zart über die Wange und greift ihre Hand, um sie mit sich zu ziehen. Bei der Gruppe angekommen, stellt Nike ihren Picknickkoffer ab und umarmt eine nach der anderen. Mit ihren 1 Meter 75 ist Carla die Größte unter ihnen und Nikes beste Freundin. Nike lebt in einem Zwei-Zimmer-Apartment über den Dächern von Köln, Carla in einer Vierer-WG mit Terrasse und ihrem Norwegischen Waldkater Bijou. Von Carlas WG ist es nur ein Sprung bis zu Nikes Kanzlei, besser gesagt zur Kanzlei ihres Vaters.

Nike muss sich strecken, um Carla an sich zu drücken. »Wie war die Konferenz?«, fragt sie.

»Ach, unspektakulär.«

Seit dem Magister arbeitet Carla als Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bonn. Ein 16-Stunden-Tag ist bei ihr die Regel. Auf die gleiche Weise hat Nike ihr Prädikatsexamen geschafft. Carla will promovieren, um irgendwann den Herren Professoren das Wasser reichen zu können. Dafür kämpft sie. Vielleicht klappt es deshalb in der Liebe nicht. Aber sie will Kinder und den richtigen Partner dazu.

»Irgendwas läuft schief«, gesteht sie Nike gelegentlich. Nike besorgt dann den besten Wein, den sie im Keller ihres Vaters finden kann. Sie setzen sich auf Carlas Terrasse in die wärmende Abendsonne, und Nike sagt: »Dafür hast du eine normale Mutter, die dich nicht ständig drängt, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Sie arbeitet sogar ehrenamtlich bei dieser Literaturstiftung. Meine geht nur täglich shoppen. – Ob sich das vererbt?« Da muss auch Carla grinsen. Nike nimmt noch einen Schluck und dann kichern sie ihre Ängste fort.

Sportlich sieht Carla aus, wie immer, in blau verwaschenen Hüftjeans, engem T-Shirt und Sneakers. Ein roter Stern prangt zwischen ihren spitzen Brüsten. Um ihre Figur muss sie sich keine Sorgen machen. Ob beim Wildwasserkanu, Squash oder Tanzen, sie verbrennt Unmengen an Kalorien. Da kann sie essen, was sie will. Bei Nike hingegen ist jeder Tag ein Kampf ums imaginäre Idealgewicht. Immer neue Diäten.

Es beginnt zu dämmern. Auf der Decke verteilt leuchten Lanas handbemalte Windlichter. Lana liebt diesen Schnickschnack. Das macht sie aus. Deshalb besteht sie auch auf ihrem Himmelbett, das sich bei jedem ihrer zahlreichen Umzüge zu einem echten Problem auswächst. Beim letzten Mal verkündete sie lautstark: »Ohne mein Bett gehe ich nirgendwohin. Schon gar nicht nach Hildesheim, nur weil ich da zufällig als Regisseurin arbeiten darf. Ich will nicht in die Provinz und schon gar nicht ohne mein Bett.«

Carla hat dreimal durchgeatmet und Nike ist von einem Fuß auf den anderen getreten. Tessa hat genickt, »Wir verstehen dich« gesagt, das Bett auseinandergeschraubt und die Teile in den LKW gezwängt.

Nun steht Nike auch schon vor Tessa. Sie ist die beste Zuhörerin unter den Freundinnen. Klein und mollig, mit rotem kurzen Haar. Das zum Leben erweckte Klischee einer Sozialpädagogin, rückt sie jedem Kummer mit Bioschokolade und Kräutertee zu Leibe. Sie kann stundenlang telefonieren und trösten, selbst jetzt noch mit ihrer zweijährigen Tochter Lisa im Hintergrund. Sie pflanzt Kräuter in ihrem kleinen Garten. Dabei kann sie abschalten. Für ihre Familie und ihre Freunde lässt sie auf Zuruf alles stehen und liegen. »Liegt das daran, dass du die Älteste unter deinen Geschwistern bist?«, hat Lana sie einmal bei einem Kurzbesuch gefragt.

»Mag sein«, hat sie geantwortet und das Päckchen ihrer Mutter mit der rosa Kinderkleidung für Lisa in den Abstellraum gepackt. »Sie soll doch kein Aufziehpüppchen werden und später einen Typen wie meinen Vater heiraten, der nichts weiter im Kopf hat als seinen Schützenverein. Da bau ich mir lieber meine eigene Familie auf. Und ihr gehört doch dazu, oder?«

Lana hat genickt und sie in den Arm genommen. Tessa hat mit Bananenchips die aufsteigenden Tränen heruntergeschluckt. Wenn sie die nicht ständig essen, ihren Kleidungsstil variieren und sich mal schminken würde, könnte sie ganz gut aussehen. Heute trägt sie eine beigefarbene Leinenhose zu einem Häkeltop und Espandrillos.

»Wo ist Marja eigentlich?«, fragt Nike in die Runde.

»Sie hat ein Date«, sprudelt es aus Lana heraus.

»Aber unser Treffen steht doch schon so lange.« Nike stemmt die Hände in die Hüften. »Ich hoffe, er ist es wert. Was macht der denn beruflich?«

Lana lacht laut auf. »Es hat sich ganz kurzfristig ergeben. Sie kommt später nach. Das hat sie versprochen.«

»Dann klärt sie uns sicher über die Details auf«, sagt Carla mit einem schmunzelnden Seitenblick auf Nike. Und Lana plappert weiter: »Ich drücke ihr die Daumen, dass es ein richtig romantischer Abend wird. Mit Kerzenschein, Sekt und Seelenverwandtschaft.«

»Sekt? Wie stillos.« Nike zieht die Brauen hoch. »Bei uns gibt es jedenfalls Champagner. Möchte jemand? Ich habe welchen mitgebracht. Und dazu die passenden Flöten. Aber seid vorsichtig, sie gehören meiner Mutter und haben einen Platinrand. Kann eine von euch die Flasche öffnen?« Nike sieht hilflos in die Runde. Kurzes Schweigen, das Lana mit ihrem übersprudelnden Lachen durchbricht, bis keine mehr an sich halten kann.

»Du hast dich nicht verändert, Nike. Wie ich dich vermisst habe!« Tessa legt einen Arm um die Freundin. »Sei uns nicht böse, wir lieben dich alle.«

Nikes Blick streift Lana. Diese zögert, ihre Wangen färben sich, dann lächelt auch sie. »Und wer hilft mir jetzt?« Lana nimmt die Flasche entgegen. »Gib mal her, im Theater muss man so was können. Die Premieren werden zwar mit Sekt und nicht mit Champagner begossen, aber im Grunde ist es ja das Gleiche.« Der Korken knallt.

Unterdessen packt Tessa die mitgebrachten Speisen aus ihrer Kühltasche. Zwei Salate, der eine aus Ananas und Pute, der andere aus Feigen, Mozzarella und Aceto balsamico. Diesmal sind sie besser geglückt als bei den Kochabenden mit ihren neuen Bekannten vom Babyschwimmen und Kleinkindturnen. Sie hat sich ins Zeug gelegt. Sie stellt Baguette aus Dinkelmehl und Erdbeeren aus dem eigenen Garten auf die Decke.

Lana fischt Antipasti aus den kleinen Behältern, die sie in einer Plastiktüte transportiert hat. »Carpaccio, Bruschetta, eingelegte Oliven und Caprese. Il Pane e le Rose, mein Berliner Lieblingsitaliener. Ach, wie mir das alles fehlt …«

»Voilà, mein erster Apfelkuchen.« Carla grinst und hebt eine mit Folie abgedeckte Kuchenform auf die Decke.

»Apfelkuchen …« Lana flüstert das Wort beinahe zärtlich. »Hat noch jemand eine Bibi-Blocksberg-Kassette dabei? Dann kuschle ich mich an Carla und vergesse die Welt und das Stadttheater und bleibe fortan bei euch.«

»Und zum zweiten Nachtisch gibt es Obstspieße.« Carla stellt eine Tupperbox in die Mitte. »Wahlweise mit oder ohne Schokolade.«

»Ohne Schokolade.« Nike klingt entschieden. »Sonst hätte ich mir den Fitnesstrainer schenken können. Die Brüste sind auch gemacht.« Nike streckt ihren Rücken durch. »Körbchengröße C.«

»Die Brüste auch?« Lanas Stimme vibriert. »Da fühlt man doch den Unterschied?«

»Glaub mir, du wirst keinen Unterschied feststellen können«, Nike schlägt die Augen nieder, »wenn ich erst mal genug getrunken habe, können wir …« Lana starrt sie mit leicht geöffnetem Mund an.

»Es ist gute Arbeit.« Nike blickt wieder auf.

»Auf uns und unser Wiedersehen.« Carla drückt jedem eine Champagnerflöte in die Hand und erhebt ihre.

»Auf uns! Auf die Liebe!«, tönt Lana.

»Und auf die Schönheit.«

»Ja klar, Nike«, entgegnet Lana, »auf die Schönheit und den Verfall und das Laster.«

Carla grinst. »Immer dieselben Kabbeleien. Ihr seid wie ein altes Ehepaar.«

»Auf die Freundschaft und die Frauen«, ruft Tessa energisch. Im Hintergrund dudelt Carlas iPod mit den Minispeakern, aber keine achtet darauf. Lana sieht erwartungsvoll in die Runde. »Was macht ihr so? Nach meiner Arbeit trau ich mich gar nicht mehr, euch anzurufen. Ist ja meistens nach Mitternacht.«

»Ich nehme jetzt Gesangsstunden«, platzt es aus Nike heraus. »Das wollte ich schon immer. Aber meine Lehrerin – und ich bezahle sie gut – hat mir ohne Umschweife gesagt, ich sei ein aussichtsloser Fall. Und nun will mich mein Vater auch noch zwingen, beim nächsten Anwaltstreffen vorzusingen. Zur späten Stunde, wenn die Stimmung gelöst ist, soll ich, seine ach so talentierte Tochter, etwas zum Besten geben. Das wird derart danebengehen, aber er lässt sich nicht davon abbringen. Lana, du als Regisseurin hast doch sicher Erfahrung. Was mache ich falsch? Ich übe täglich, aber trotzdem …«

Lana lächelt. »Sing doch was für uns!«

»Na ja«, Nike schluckt. »Wenn ihr meint …« Die anderen nicken ihr aufmunternd zu.

Nike steht auf, ihre Hände zittern. Sie setzt mit Wishing you were somehow here again an, der letzte Ton der Phrase wackelt, wishing you were somehow here. Sie presst die Laute, um ihre Unsicherheit zu überspielen, atmet flach, starrt auf einen Punkt in der Ferne. In der Höhe überschlägt sie sich und bricht ab.

»Seht ihr, so endet das immer. Es wird ein Fiasko.«

»Du könntest aufstehen und einen dreckigen Witz erzählen«, rät Lana, während sie sich einen Rest Apfelkuchen vom Finger leckt. »Dann wird dein Vater dich nie wieder bitten, etwas vorzusingen.«

Nike sieht zu Boden und zupft einen Grashalm aus.

»Mir ist da neulich auch was furchtbar Peinliches passiert«, erzählt Carla. »Beim letzten Kongress der Ethnologengesellschaft habe ich im angetrunkenen Zustand einer der Koryphäen mein Rotweinglas übers Sakko gegossen. Ich wär am liebsten im Boden versunken. Er hat gelächelt und so doppeldeutig gesagt: ›An Sie werde ich mich erinnern, Frau Pilgrim.‹ Ständig passiert mir so was.«

Lana lacht, holt eine Weinflasche aus ihrer Tüte und öffnet sie: »Trinken wir also auf Nikes Gesangskunst und auf den Eindruck, den Carla bei dem Herrn Professor hinterlassen hat. Und auf Tessas großes Herz natürlich.«

»Und auf Lanas bezauberndes Wesen«, flüstert Nike.

»Und dann«, ruft Tessa freudig, »essen und plaudern wir.«

»Und noch mal von vorn.« Lanas Augen leuchten. »Und bevor wir uns trennen, zaubern wir Prinzen aus dem Nichts.«

»Wie bitte?«, Carla grinst.

»Naja, mal angenommen, du hast die freie Wahl: Da hätten wir Jean Maris, den sensiblen Künstler, dem die Frauen gleich reihenweise verfallen und der doch keine befriedigen kann, weil er eigentlich auf Männer steht und weil er auch noch schwindsüchtig ist. Oder Carlos, den Kühnen, Untergrundkämpfer für Gerechtigkeit und das Gute auf dieser Welt. Er ist der einsame Held, den nur die wahrhaft in Liebe ergebene Frau für sich gewinnen kann …«

»So ein Stuss!« kreischt Nike.

»… oder doch ein DeMarco, so ein umwerfender, sexy Charmeur, der die Damen zum Glühen bringt und ihnen unversehens ihre Unschuld raubt?«

Während Lana redet, verschluckt sie sich fast an ihrem eigenen Glucksen. »Oje, so langsam spüre ich den Alkohol. Ihr wisst ja, ich vertrage nicht so viel …«

Nike beißt in eine Erdbeere. Tropfen fallen auf die weiße Bluse, färben den Stoff aufreizend ein. Sie bemerkt es nicht. Lanas Blick ruht abwechselnd auf ihrem halblangen, schwarzen Haar und ihrem ebenmäßigen Gesicht. Eine Salome, wenn sie aus ihrem goldenen Käfig ausbräche.

Nach einer kurzen Pause setzt Lana ihr Glas ab. »Ich habe auch eine Neuigkeit. Ich bin frisch verliebt, seit drei Wochen erst.« Sie sieht in die Runde. Nike senkt den Blick und dreht den Obstspieß in ihren Händen.

»Ich möchte mich auch mal wieder verlieben«, plaudert Carla dazwischen. »Ich will einen beziehungsfähigen Mann mit Charme. Verlässlich und aufregend zugleich. Aber vielleicht will ich einfach zu viel …«

»Das ist alles ganz einfach.« Nike greift nach einer Papierserviette und wischt sich die Finger ab. »Den Besserverdiener, der dir Rosen und Schmuck schenkt, dich zum Essen ausführt und bewundert, den heiratest du.«

»Nikes Antiromantik in zehn präzisen Thesen. Hören Sie weiter …« Lanas Lachen drängt sich immer wieder zwischen ihre Worte.

Nike zwinkert Carla zu: »Naja, er muss ja nicht wissen, was du sonst noch tust.«

»Stimmt. Aber«, Lanas Ton wird ernst, »wo bleibt die Liebe? Die Verbundenheit? Die Einmaligkeit?«

»Lana, wir sind doch hier nicht im Theater«, entgegnet Nike ruhig. »Tessa! Was sagst denn du dazu? Immerhin hast du ein Kind und einen Ehemann und eine vorbildliche Beziehung. Zwei Sozialpädagogen, die müssten das doch auf die Reihe kriegen: Verständnis, Liebe, Ehe, Romantik, heißen Sex …«

Tessa schluckt umständlich an einer öligen Olive. »Ich, äh, ich bin gerne verheiratet. Wir verstehen uns. Ich bin halt eher pragmatisch. Meine erotischen Phantasien waren noch nie so stark. Es sind doch nur Männer … Bekomme ich noch Wein oder soll ich verdursten?«

»Und wie steht es bei euch mit dem Sex?« Lana sieht in die Runde. Tessa stöhnt, erhebt sich. Dann setzt sie sich neben Nike.

»Ich frag doch nur. Ich bin halt neugierig.« Die anderen schweigen. Lana legt eine Hand an die Stirn, um dann fortzufahren: »Wisst ihr was, ich kenne da ein Spiel aus der Schauspielschule. Wir haben das oft gespielt, zum Aufwärmen oder mal auf Partys.«

»Und wie geht das?«, hakt Carla nach.

»Das Spiel heißt Wahrheit oder Lüge. Jede von uns erzählt zwei erotische Erlebnisse. Aber nur eines davon ist wahr, das andere ausgedacht. Wenn alle erzählt haben, raten wir und erst dann lüften wir das Geheimnis.«

Nike sieht betont gleichgültig in die Ferne. Tessa stöhnt wieder auf. Nur Carla nickt. »Klingt spannend. Liebe, Leidenschaft, Lust …«

»Ich weiß nicht, ob meine erotischen Erlebnisse so spannend sind«, murmelt Tessa.

»Du wirst doch irgendwas erzählen können.« Carlas Augen funkeln, sie hat ganz rote Wangen. »Hier oben hört uns keiner. Die Welt kann draußen bleiben.«

»Ich weiß nicht so recht. Warum soll ich euch mit meinen Männergeschichten langweilen?«, fragt Tessa.

»Männergeschichten? Plural?« Jetzt ist auch Nike dabei. »Nanana, Tessachen, jetzt musst du aber erzählen. Das hätten wir nicht von dir erwartet.«

»Wer weiß, was wir heute Nacht noch so alles erfahren.« Carla grinst. »Also ich bin dabei. Ich mache auch freiwillig den Anfang.«

»Na gut, Carla, solche Angebote sind rar«, entgegnet Nike. Schließlich zuckt auch Tessa resigniert mit den Schultern.

Dunkelheit hat sich schleichend über der Wiese ausgebreitet. Die Lichter der Stadt glimmen durchs Gebüsch herauf. Die Teelichter flackern im Wind. Zwei Champagnerflaschen sind geleert und Carla öffnet eine zweite Flasche Chianti. Lana schaltet den iPod aus. Irgendwo in der Dunkelheit singt ein Vogel. Carlas Stimme vermischt sich mit seinen Tönen, als sie beginnt zu erzählen.

Carlas erste Geschichte

Time Warp

Also, es beginnt auf einer dieser Partys, bei denen du überlegst, schon gegen 22 Uhr zu gehen, aber du hängst noch ein bisschen ab, schließlich bist du fünfzehn und nicht fünfzig und die Bowle hast du auch noch nicht probiert. Du gehst also zur Bar, hier ist Selbstbedienung; der Kellerraum hat sich geleert, die meisten sind jetzt oben und da spielt einer den Time Warp.

Auf einem der bunten Kissen hockt ein Typ, vielleicht Anfang zwanzig, jedenfalls viel älter als du, der sitzt da im Schneidersitz mit Intellektuellenbrille, und als sein Blick dich streift, lächelt er dich an. Er trägt Schwarz, sein Gesicht ist kantig und die Augen sehr blau. Er schaut nicht in deine Richtung, aber du legst es drauf an, setzt dich einfach neben ihn; zitterst ein bisschen, aber das merkt ja keiner. Er sieht auf, du scheinst ihm zu gefallen, jedenfalls spricht er dich an. Wie du die Party findest, woher du die Leute kennst und so ein Zeug, und du plapperst viel zu viel und lächelst ununterbrochen. Er riecht so gut. Du verstehst nur Bruchstücke, die Musik ist recht laut. Wer ihn eingeladen hat, willst du wissen und er sagt nur: »Der ältere Bruder.«

Die Fete fängt an dir zu gefallen, auch wenn du ihm gerade erzählst, wie sehr du Small Talk hasst und wie sie ständig die gleiche Platte leiern. Er sagt was von Informatik und Zahlen, mit denen er im Studium zu tun hat, und du regst dich schön auf, verdrehst die Augen, weil du ihn herausfordern willst.

»Mit Worten kannst du malen«, sagst du und erzählst, dass du Geschichten schreibst – eher Tagebuch und Mädchenlyrik, aber das braucht er ja nicht zu wissen. So lächerlich gebärdest du dich, komisch, dass er dir überhaupt zuhört. Du erfährst, dass er selbst Geschichten schreibt; er erzählt dir eine, die ist seltsam dunkel, und es geht um Sex. Nebenbei lässt er Namen von Philosophen fallen und du nickst, als wüsstest du genau, wovon er spricht. In dir beginnt es zu kribbeln. Sein Blick ist so klar, seine Sprache gewandt, er weiß, wie er eine Saite in dir zum Schwingen bringt, die dir bisher verborgen war. Du wünschst, dass die nicht aufhören, diese Platte zu spielen und dass der Abend immer so weitergeht.

Bevor er los muss, erfährst du noch, dass er Nachhilfe gibt, »Mathe«, sagt er und grinst und »wenn du mich mal brauchst, ruf an«. Er drückt dir eine Visitenkarte in die Hand. Und dann lässt er dich da sitzen und du bleibst allein im Keller hocken und träumst.

Irgendwann holt deine Freundin dich nach oben und du tanzt, und alle denken, die hat zu viel geraucht. Später küsst du einen Typen, sechzehn oder so, aus einer Pfarrersfamilie. Er riecht nicht, wie er sollte, und küsst zu zaghaft und so lässt du ihn stehen und gehst nach Hause.

Du liegst ewig auf deinem Bett und spielst immer wieder den Time Warp. Deine Mutter hat die Visitenkarte gefunden und freut sich, dass du endlich zur Vernunft gekommen bist. Sie ruft selbst die Nummer an, bezahlt die Stunden, reicht sogar Kaffee und Kuchen. Manchmal lässt sie euch allein. Er sagt Dinge wie »Als Fleischereifachkraft bilden die dich auch ohne Abitur aus« oder »Man kommt sicher weiter, wenn man sich gut schminken kann«. Deine Leistungen werden immer besser, seine Ironie lässt dich nicht kalt. Du lernst also, weil du vor ihm nicht dumm dastehen willst. Eigentlich wartest du nur auf eure kleinen Gespräche zwischendurch.

Felix, flüsterst du leise vor dich hin, träumst dich durch den Tag und rühmst alles, was er rühmt. Du beginnst de Sade zu lesen, weil er das spannend findet, und befasst dich mit Nietzsche, weil er ihn bewundert. Du fühlst dich auf einmal so erwachsen. Dabei hast du noch nicht mal »Petting gemacht«, und die Zungen, die dir irgendwelche Typen in den Mund gesteckt haben, haben sich eher wie verirrte zahnchirurgische Instrumente angefühlt.

Du bist eines von den sportlichen Mädchen, eines mit schmalen Hüften, du engagierst dich am Wochenende für Amnesty. Aber jetzt werden deine T-Shirts enger und kürzer, damit er dein Bauchnabelpiercing erahnen kann, roter Stein in der Nabelhöhle. Du verbringst viel Zeit im Badezimmer, schminkst dich trotz seiner Bemerkungen, nur Gloss und Wimperntusche und Puder. Deine Mutter stöhnt und fragt, ob sie das Badezimmer auch mal wieder benutzen dürfe.

Es fällt dir immer schwerer, seinen mathematischen Ausführungen zu folgen. Dein Blick hängt an seinen Lippen, fährt über seine Hände, wenn er eine geometrische Figur zeichnet. Ihr berührt euch wie zufällig, wenn er dir den Zirkel übergibt. Dann weißt du nicht, was du zeichnen sollst und ausnahmsweise macht er keine ironischen Bemerkungen. Er führt dir nur die zittrigen, kalten Hände.

Und dann, an diesem Mittwochnachmittag, hast du es satt. Du willst, dass endlich etwas passiert. Die Gelegenheit ist günstig: Deine Mutter ist einkaufen, dein Vater arbeitet noch. Als er gehen will, fasst du dir ein Herz und stellst dich ihm in den Weg. Er kann nicht anders, er muss dich berühren, wenn er dich von der Tür wegschieben will. Als er sich über dich beugt, um an die Klinke zu kommen, berührt er deine Brüste, pralle kleine Bälle. Er sieht dich an, lange und mit festem Blick, als wolle er sich vergewissern, und dann küsst er dich.

Dein Herz pocht schnell gegen deine Brust. Er ist so sicher, öffnet deine Lippen mit verhaltener Gewalt. Du kannst es nicht steuern, wirst feucht im Schritt. Da packt er dich, zieht dich fest an sich, saugt an deinem Hals, hält deinen Po in seinen Händen. Er presst dich gegen die Tür, sein Körper drückt sich an deinen und du fühlst seinen Ständer.

Du traust dich nicht, seinen Schwanz zu berühren, du weißt nicht, wie das ist. Er fährt mit der Hand unter dein T-Shirt, zieht es dir über den Kopf. So stehst du vor ihm mit deinem ersten Spitzen-BH. Er schiebt den Stoff eines Körbchens nach unten. Er spielt mit der Zunge an deiner Brustwarze, liebevoll umkreist er sie, saugt daran. Er atmet ganz schwer und sein Geruch mischt sich mit den Düften eurer aufsteigenden Lust. Deine Wangen glühen.

Seine Zunge gleitet jetzt tiefer in deinen Mund. Dir ist heiß. Er presst dich wieder gegen die Tür. Es ist Dezember, kurz vor Weihnachten und draußen ist es schon dunkel, nur ein paar Flackerlichter in den Fenstern. Er drückt seinen Ständer gegen deinen Schamhügel. Die Hosen habt ihr noch an. Deine Möse schwimmt, du würdest ihm alles erlauben. Doch da fängt er sich wieder, stammelt »lass mal« und »ich geh jetzt«. Er öffnet die Tür und verschwindet in den dunklen Flur. Dein Busen schaut noch immer aus dem BH, du ergatterst einen fiebernden Kuss, doch er löst sich von dir und schließt vorsichtig die Haustür hinter sich. Natürlich ruft er nicht an. Du verfasst Briefe und zerknüllst sie, gibst dich Phantasien hin und dann, eine Woche darauf, kommt er auch noch zu spät. Er verspätet sich sonst nie, nur dieses eine Mal. Er entschuldigt sich bei deiner Mutter. Pah! Bei dir müsste er sich entschuldigen.

Er redet von Formeln und Zahlen, du hörst gar nicht zu, suchst nach Gesten und Worten, die du deuten kannst, mehr bleibt dir nicht für die nächste Woche und er will noch nicht mal von den Kuchen kosten, die du gebacken hast. Weder Marmor noch Herrentorte.

Es ist schon die dritte Woche nach eurem Abenteuer. Aber dazu sagt er nichts und jedes Mal hoffst du aufs Neue. Du träumst, er fällt über dich her oder gesteht dir seine Liebe. Du hörst ständig den Soundtrack der Rocky Horror Picture Show, erinnerst dich an die Party, berührst dich selbst, wenn keiner zu Hause ist.

Du stellst dir immer wieder die gleiche Szene vor. Er presst seinen Körper gegen dich, aber dieses Mal ziehst du ihn gewandt auf dein Bett, er öffnet deine Hose, zieht sie und deinen Slip runter und holt seinen Schwanz raus. Er legt sich auf dich und reibt ihn an deinen Schenkeln steif. Bevor er in dich eindringt, leckt er deine geschwollenen Lippen und kitzelt mit der Zungenspitze deine Klitoris. Sein Ständer drängt sich dir entgegen, dann gleitet er in dich hinein. Du bist noch Jungfrau. Es ist eine höllische Lust, schmerzhaft und ekstatisch zugleich, er stößt zunächst sanft, dann immer schneller, so lange bis es euch beiden kommt.

Vor den Stunden, immer das gleiche Ritual: heiße Wannenbäder davor, die engsten und dünnsten T-Shirts, die du finden kannst.

»Im Winter«, entsetzt sich deine Mutter, »das ist doch Wahnsinn«, und du sagst nur: »Mir ist aber heiß.« Kein Wunder, du hast den Ölofen voll aufgedreht. Du hast Gänsehaut und das ärgert dich, aber deine Mutter schüttelt nur den Kopf und murmelt etwas von »schwierigem Alter«.

Er sagt nichts und du wirst jedes Mal feucht und möchtest, dass er dich nimmt, aber du weißt nicht, wie genau das geht, und er tut nichts, während ihr über Geometrie und Zahlenachsen und wer weiß was redet. Das hast du vergessen, aber nicht das Gefühl zwischen den Beinen, das Flattern im Magen und das Herzzittern.

Dann fragt er am Ende einer Stunde plötzlich, ob ihr ausgehen wollt, ins Kino oder so, und er sieht dich dabei nicht an. Du sagst schnell ja und dein Herz macht Sprünge.

Du bist die ganze Woche völlig aufgedreht, deine Mutter flüstert »die Hormone« und dein Vater zuckt mit den Schultern. Du schließt dich im Bad ein, probierst alle Düfte durch, deine Mutter sammelt ja diese Proben, du prüfst die Schminktipps aus der »Mädchen« und kaufst dir neue Klamotten. Währenddessen dudelst du ohne Ende Touch-A, Touch-A, Touch Me.