Das Leben, das uns bleibt - Tanja Steinlechner - E-Book

Das Leben, das uns bleibt E-Book

Tanja Steinlechner

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Beschreibung

1945. Als die Russen vor den Toren Breslaus stehen, flieht die junge Ruth mit ihrer Familie nach Freiburg - mit falschen Pässen, um ihre jüdische Herkunft zu verheimlichen. Ihre große Liebe Ilan muss Ruth schweren Herzens zurücklassen. Vier Jahre später heiratet Ruth in eine bekannte Freiburger Juwelierfamilie ein. Dort begegnet man ihr abweisend und kühl, die Ehe ist unglücklich. Doch Ruth behauptet sich. Sie entdeckt ihr Talent für die Goldschmiedekunst, ihre originellen Entwürfe sind in der Freiburger Gesellschaft heißbegehrt. Als bekannt wird, dass das Geschäft durch arisierten Besitz erworben wurde, muss Ruth sich entscheiden. Setzt sie alles aufs Spiel, was sie sich hart erkämpft hat?

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Inhalt

Cover

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Über das Buch

Über die Autorin

Weitere Titel

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nachwort

Dank

Über das Buch

1945. Als die Russen vor den Toren Breslaus stehen, flieht die junge Ruth mit ihrer Familie nach Freiburg – mit falschen Pässen, um ihre jüdische Herkunft zu verheimlichen. Ihre große Liebe Ilan muss Ruth schweren Herzens zurücklassen. Vier Jahre später heiratet Ruth in eine bekannte Freiburger Juwelierfamilie ein. Dort begegnet man ihr abweisend und kühl, die Ehe ist unglücklich. Doch Ruth behauptet sich. Sie entdeckt ihr Talent für die Goldschmiedekunst, ihre originellen Entwürfe sind in der Freiburger Gesellschaft heißbegehrt. Als bekannt wird, dass das Geschäft durch arisierten Besitz erworben wurde, muss Ruth sich entscheiden. Setzt sie alles aufs Spiel, das sie sich hart erkämpft hat?

Über die Autorin

Tanja Steinlechner, 1974 in Heilbronn geboren, besuchte die Freiburger Schauspielschule im E-Werk. Sie hat an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben bei Dr. Hanns-Josef Ortheil studiert und war danach als Lektorin und Literaturagentin tätig. In einer Weiterbildung (Master School Berlin) zur Drehbuchautorin entwickelte sie ein Treatment für einen Filmstoff, der im Rahmen des Screenpitch-Wettbewerbes nominiert und im roten Salon der Volksbühne vorgestellt wurde.

Weitere Titel der Autorin:

Die Tänzerin vom Moulin Rouge

Tanja Steinlechner

Das Leben, das uns bleibt

Die Goldschmiedin

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: Anna Hahn, Trier Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de Einband-/ Covermotiv: © Miguel Sobreira / Trevillion Images Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4237-5

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Für meine Großmutter, Ruth Bergner, die mich das Lachen gelehrt hat, und meine Mutter, Sonja Steinlechner, die mir stets Stärke, Halt und unverbrüchliche Liebe ist. In Dankbarkeit.

Kapitel 1

Breslau,11. Januar1945

Es gab Tage, von denen erwartete Ruth nichts, keine Heiterkeit, keine freundliche Geste, doch jener 11. Januar war an Tristesse nicht zu überbieten. Allem Vorangegangenen wusste er in seinem Verlauf noch eine Schippe Gräuliches hinzuzufügen.

Bereits in der Früh war der Wecker nicht angesprungen, sodass Ruth viel zu spät aufgestanden war. Mit nackten Füßen und noch traumtrunken war sie in Windeseile über das kalte Parkett ins Badezimmer geeilt. Eine schnelle Katzenwäsche hatte reichen müssen. Für den beinahe pelzig sich auf der Zunge ausbreitenden, aber immerhin wärmenden Muckefuck und die ungebutterte dünne Scheibe Brot, die Mutter ihr hergerichtet hatte, war keine Zeit mehr geblieben. Auch der Arbeitstag, den Ruth seit geraumer Zeit in der Munitionsfabrik zubringen musste, hatte keinen noch so kleinen Lichtblick für sie bereitgehalten. Fräulein Gerda, die immer gern unterhaltsame Anekdoten aus besseren Tagen zum Besten gab, war nicht aufgetaucht; genau wie ihre beste Freundin Marga, die normalerweise neben ihr arbeitete. Beim Schwatzen mit ihr verging das Einerlei der immer gleichen Abläufe und Handgriffe sonst viel geschwinder.

Auf dem Nachhauseweg hatte sich die Wintersonne durch die dichte Wolkendecke gekämpft, und Ruth hatte eine zarte Hoffnung geschöpft: Vielleicht würde der Krieg schneller enden als vermutet. Es war nichts weiter als eine wahnwitzige Träumerei, aber die gestattete sie sich ausnahmsweise. Dem Tag war eben nichts abzugewinnen, außer vielleicht, dass er ein Donnerstag war und dass damit das Wochenende in greifbare Nähe rückte. Dann endlich würde sie Ilan wiedersehen.

Als sie daheim und aus dem Mantel geschlüpft war, rasch die verschwitzte Arbeitskleidung gegen ihren weitschwingenden dunkelblauen Rock und die cremeweiße taillierte Bluse getauscht hatte, da bemerkte sie den ernsten Ausdruck auf Papis Gesicht. Was wunderte es Ruth, dass er sie kurz darauf bat, zu ihnen zu kommen, Mutter und er hätten unaufschiebbare Neuigkeiten.

Um den großen Mahagonitisch im Wohnzimmer hatte sich die Familie bereits versammelt; sie hatten offenbar auf sie gewartet. Ruth schob sich auf den freien Platz zwischen Papi und Gili. Ihre jüngere Schwester wippte mit den Füßen und dem Oberkörper, sie schien einem imaginären Lied zu lauschen, zu dem ihre rotblonden Locken, die sonst niemand in der Familie hatte, im Takt schaukelten. Gili lächelte in die Runde, als ginge es im Folgenden einzig und allein um sie. Ihr Bruder Jo hingegen starrte auf den Boden. Aus seinen dunklen Augen sprach ein Ernst, der selbst Ruth immer wieder überraschte. Für seine bald vierzehn Jahre war er bereits hochgewachsen. Wann war aus ihrem verspielt-verträumten Bruder ein beinahe störrischer junger Mann geworden, der nur darauf wartete, mit einem klugen Spruch seine Kritik an allem und jedem geltend zu machen? Mutter, die Ruth gegenübersaß, war nicht anzusehen, was von dieser Versammlung zu erwarten war. Sie blickte konzentriert auf ihre Näharbeiten, ihre Miene zeigte keinerlei Regung. Vater erhob sich und schob dabei den knarzenden Stuhl zur Seite. Er holte noch einmal Luft, vielleicht um Mut zu fassen, doch Ruth sprang auf und unterbrach ihn, bevor er etwas sagen konnte. »Sollten wir nicht, wenn es eine wichtige Familiensache ist, Omi dazuholen? Ich laufe rasch rüber und klopfe an ihrer Zimmertür.«

Vater hieß sie, sich wieder zu setzen. »Omi weiß es schon und ruht sich nun ein wenig aus.« Er seufzte leise. Jetzt erst fiel Ruths Blick auf die Mitte des Wohnzimmertisches, wo drei Pässe lagen.

»Ich sage es geradeheraus, in Breslau könnt ihr nicht länger bleiben.« Vater mühte sich mit seinem ganzen Wesen darum, Sicherheit auszustrahlen. Aber seine gefalteten Hände kneteten in einem fort, und während er sprach, machte er ständig kleine künstliche Pausen, die es nicht gebraucht hätte, um Atem zu holen. Er hatte eine hohe Position bei der Reichsbahn inne und bekam daher einiges mit, was der gewöhnlichen Bevölkerung verborgen blieb. Wenn er jetzt so ein Gesicht machte, musste es ernst sein. Vater schluckte. »Die Russen kommen! Gauleiter Hanke will bis zum Letzten gehen … Ich weiß aus geheimer Quelle, dass Breslau in Kürze evakuiert werden soll. Dann wird Chaos ausbrechen, aber bis dahin seid ihr raus aus der Stadt.« Vater sprach sie alle an, bedachte aber nur ihren Bruder mit einem strengen Blick. »Stellt keine Fragen, fürs Diskutieren ist jetzt keine Zeit. Ihr habt neue Namen und andere Geburtsdaten bekommen. Die müsst ihr bis morgen verinnerlichen. Unter keinen Umständen dürft ihr einen Fehler machen.«

Gili beugte sich vornüber, fischte nach einem der Pässe, blätterte darin, schob ihn Jo zu und griff dann nach dem nächsten, wo sie offenbar fündig wurde. »Das bin also ich: Marie-Luise Kiefer, geboren am vierzehnten Januar neunzehnhundertsiebenundzwanzig.« Sie deklamierte die Daten, als lese sie aus einem Textbuch vor und müsse sich auf einer Bühne zum ersten Mal beweisen. »Ich bin eine junge Dame, immerhin zwei Jahre älter als in Wirklichkeit, das gefällt mir. Und bald ist der Geburtstag meines neuen Ichs. Da werde ich wohl eine kleine Feier ausrichten müssen.« Sie zwinkerte Jo zu, der aber verdrehte die Augen und zeigte ihr einen Vogel. »Du hast sie ja nicht mehr alle. Wir müssen Omi zurücklassen, und sogar das schert dich nicht …«

Ruth stand auf und ging ans Fenster. »Wir werden Omi nicht hierlassen, nicht wahr, Papi, und du begleitest uns?« Vielleicht hatte Vater das Ausweispapier Omi bereits gegeben, und sein eigenes sowie das ihrer Mutter trug er sicher bei sich. Ruth hatte ihre Worte nicht als Frage, vielmehr als Aussage formulieren wollen, und doch hingen diese nun als ebensolche im Raum. Sie kam sich unbeholfener vor als ihre Geschwister. Beide bewiesen Haltung, und Jo zeigte allen klar, was er dachte. Gili war mit einem angeborenen schauspielerischen Talent gesegnet, das ihr Rückenwind bot. Ruth selbst besaß nichts von alldem. Zwar war sie zu Hause die Älteste in der Geschwisterreihe, seit Harry von der Wehrmacht eingezogen worden war, aber das war auch schon alles; es zeichnete sie höchstens aus, dass sie einen Sinn für Ästhetik hatte und ihr kleine Details ins Auge sprangen, die anderen entgingen. Als junges Mädchen hatte sie Vater dazu gedrängt, mit ihr ins Schlesische Museum zu gehen. Wieder und wieder hatte sie dieses eine Gemälde von Lovis Corinth betrachten wollen. Das Mädchen darauf machte Ruth Angst und faszinierte sie gleichermaßen. Wie versunken das Kind wirkte, wie konzentriert es in ein fernes Nichts starrte. Etwas an ihm erinnerte Ruth an sich selbst. Später hatte Ruth den Titel des Bildes erfahren, von dem sie nicht genug hatte bekommen können: Anna Schaumberg mit einer Puppe.

Sie schüttelte den Kopf über sich selbst: Empfänglich zu sein für die Atmosphäre von Kunstwerken war keine Eigenschaft, die von Nutzen war, erst recht nicht im Krieg.

»Ihr reist vor, und ich komme nach, sobald ich kann. Omi ist nach Opas Tod schwach auf der Brust. Sie weigert sich, die Erinnerungen und ihre Heimat zurückzulassen.« Vater sprach andächtig, beinahe flüsternd.

»Wer’s glaubt.« Jo war jäh von seinem Stuhl aufgesprungen und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft. »Du konntest nur vier Pässe organisieren, und Omi würde uns immer den Vortritt lassen. Wenn wir gemeinsam reisten und sie ihre eigenen Papiere mit sich führen müsste, könnten wir leicht auffliegen. Omi weiß das. Steht doch nicht umsonst nirgends Tolle, ihr Nachname, auf unserem Klingelschild. Du lässt deine Kontakte spielen, wo immer es geht, Papi. Aber auch du kannst sie nicht alle bestechen, nicht alle Unterlagen verschwinden lassen. Deshalb hast du auch Harry der verschissenen Wehrmacht geopfert, habe ich recht?«

Ruth kannte ihren Vater als gutmütigen Mann, der sich zu vielem erweichen ließ und niemandem etwas nachtrug. Für seine Familie tat er, was in seiner Macht stand, damit es ihnen allen gut erging. Nun aber zitterte Papis Unterlippe bedenklich. Mit gezielter Vehemenz ging seine Faust auf den Tisch nieder, sodass dieser ordentlich wackelte. Augenblicklich herrschte Ruhe. Vater bettete sein Gesicht in beide Hände, und Jo machte schon wieder Anstalten, seine Anklage fortzusetzen. Ruth eilte auf ihn zu. Den Zeigefinger hielt sie sich vor die Lippen, ein klares Signal an ihren Bruder, er möge nun bitte, bitte schweigen. Tatsächlich hielt er kurz die Luft an, ließ beim Ausatmen die Schultern fallen und seufzte, anstatt weiterzusprechen.

»Der Bub weiß doch gar nicht, was er da sagt, Eugen.« Mutter stand hinter Vater, schlang ihre Arme um ihn und küsste ihn auf das schütter gewordene Haar. Jo wollte schon wieder zur Gegenrede ausholen, doch bevor ein weiteres Wort fallen konnte, zog Ruth ihn mit sich ins Schwesternschlafzimmer und schloss, nachdem sie Gili, die ihnen gefolgt war, noch hineingelassen hatte, leise die Tür hinter sich.

»Ich könnt platzen.« Jo hämmerte mit der Faust gegen die Wand, derweil Gili ihn mit halb offenem Mund anstarrte. Ausnahmsweise sagte sie nichts.

»Jo.« Ruth bemühte sich, einen besänftigenden Ton in ihre Stimme zu legen und dabei nicht selbst in Tränen auszubrechen. Sie musste stark sein, solange Harry nicht bei ihnen war. Auch wenn ihr gerade nichts einfiel, was in dieser Situation helfen könnte.

Die Pendeluhr im Wohnzimmer schlug zur vollen Stunde. Früher hätte die Kirchturmglocke geläutet, mittlerweile aber waren die meisten zu Rüstungszwecken eingeschmolzen worden. Nach dem, was Vater ihnen eben eröffnet hatte, musste Ruth Ilan noch am Abend sehen. Auch wenn ihr mulmig dabei war, sich trotz Verdunklungsgebot auf den Weg in die Kleingartenkolonie zu machen, wenn sie morgen schon abreisten, bräuchten Ilan und sie dringend einen Plan. Ohne Ilan würde sie nicht flüchten.

»Du bist blass geworden, Schwesterchen.« Jo wirkte mittlerweile ruhiger. Im Gewirr rasant feuernder Gedankenblitze, die einer auf den anderen aufbauten, verlor ihr Bruder schnell mal das Wesentliche aus den Augen. Eine Theorie ergab dann die nächste. Jo wandte sich ihr zu. Trotz seines Brausens und Tobens liebte Ruth ihn. Sein ungestümer Blick war dem warmen Dunkel seiner Augen gewichen. »So habe ich es doch nicht gemeint.«

Ruth würde zu einem späteren Zeitpunkt und in aller Ruhe mit ihm sprechen, nun aber musste sie sich eilen. Sie blickte aufs Bett, wo sie vorhin in aller Eile ihren Mantel abgelegt hatte.

Gili nahm ihn und den schwarzen Hut mit der breiten Krempe, der auf dem Sekretär lag, und reichte ihr beides. »Ich weiß zwar nichts Genaues, weil du mich immer noch für ein Baby hältst, aber anscheinend hast du heute noch etwas vor.«

Angesichts der feinen Beobachtungsgabe ihrer jüngeren Schwester konnte Ruth sich ein leises Lächeln nicht verkneifen. »Wo du recht hast.« Sie schlüpfte in den Mantel und setzte den Hut auf.

»Lass mich dir rasch helfen.« Gili rückte ihr die Kopfbedeckung ein bisschen zurecht und drehte sie dann zum Wandspiegel. »Siehst du, ein klein wenig schief getragen, und schon wirst du zur Frau von Welt. Wir sind nur einmal jung, es braucht doch wenigstens klitzekleine Abenteuer.«

»Was bin ich froh, dass du mich darüber belehrst.« Ihre Schwester bekam einen Kuss auf die Wange und gesellte sich zu Jo, der es sich auf Ruths Bett bequem gemacht hatte. »Lass uns bei Omi klopfen«, sagte er zu Gili, »und Bock und Ziege spielen. Heute ist schließlich Donnerstag, und donnerstags spielen wir doch immer. Warum sollen wir ausgerechnet jetzt damit aufhören?«

Es gab Ruth einen Stich, dass sie bei dieser letzten Partie nicht dabei sein würde. Sie hätte Ilan dafür hintanstellen, ja vergessen müssen, und weder das eine noch das andere konnte sie sich vorstellen, geschweige denn tun. Also nickte sie Jo und Gili aufmunternd zu, sagte mehr zu sich als zu ihren Geschwistern: »Morgen verabschiede ich mich von Omi«, und dann trat sie aus dem Zimmer in den Flur und von dort ins Freie.

*

Draußen die Schatten der hohen Häuser. Ruth beschleunigte ihren Schritt. Die kleinen Gassen und ihre Bewohner waren ihr vertraut. Kaum fünf Minuten waren es bis zum Ring. Von dort würde sie, wenn sie zügig ging, vielleicht eine halbe Stunde bis zu Ilan brauchen.

Den halben Tag über hatte der Schneeregen nicht nachgelassen, nun verdichtete er sich zu festeren Flocken. Wenn sich bis morgen eine Schneedecke gebildet hätte, würden vielleicht Zugverbindungen gestrichen werden. Ilan und sie gewännen Zeit – und dann? Wenn sie nur lange genug grübelten, würde sich schon eine Lösung finden. Ruth schlidderte, fiel beinahe und erlangte nur knapp vor dem vermeintlichen Sturz ihr Gleichgewicht zurück. Verdammt, der Boden unter der Schneedecke war gefroren. Sie fluchte leise. Menschen zogen an ihr vorüber, aber niemand nahm Notiz von ihr. Sie mühten sich vielmehr, nicht selbst ins Rutschen zu geraten und im immer dichter werdenden Schneefall noch Schemen zu erkennen. Mit dem Notwendigsten unterm Arm, das sie auf ihre Lebensmittelkarten bekommen hatten, strömten sie eilig ihren Wohnungen zu. Nur vereinzelt hielten sich Paare an den Händen oder tauschten verstohlene Blicke. Eine lachende Gruppe, die auf den Ring zusteuerte, fiel Ruth auf. Die dichten Flocken und der aufkommende Wind verschluckten ihre Gespräche, und Ruth vernahm nicht mehr als Festung Breslau, mich nicht und einmal noch im Sommerregen … Kurz darauf stand sie vor dem Warenhaus, in dem sie vor gut vier Jahren ihre Ausbildung begonnen hatte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Morgen würde Vater sie in der Munitionsfabrik sicher krankmelden, damit nicht zu schnell auffiele, dass die Mocks Breslau verlassen hatten.

Damals, als das Kaufhaus noch in den Händen der Gebrüder Barasch gewesen war, hatte es dort allerhand zum Bestaunen gegeben. Abendkleider in Samt, Seide und Chiffon, edle Tücher für die Herren und eine Feinkostabteilung, in der Mutti zu Festtagen eingekauft hatte. Eine Maßschneiderei hatte damals genauso zum Haus gehört wie die Schmuckabteilung, die zuständig gewesen war für untergründig irisierende Wünsche, die – selbst wenn man Geld besaß – nicht so leicht zu erfüllen waren. Die Käuferinnen glaubten vermutlich, sie würden bloß eine edle Kette erstehen, mit einem Rhodonit-Anhänger vielleicht, in Wahrheit kauften sie aber doch viel mehr als das. Wer Schmuck erwarb, trug eine Hoffnung gut sichtbar am Körper, nämlich jene, sein wahres Selbst eines Tages in der Welt verwirklicht zu sehen. Das konnte die Hoffnung auf einen Neuanfang sein oder darauf, sich von der Vergangenheit zu befreien. Rhodonit war ein bekanntes Symbol dafür. Aber alles hatte seinen Preis, und das meiste davon war ohnehin nicht vorrätig.

Bei den Baraschs allerdings hatte es stets nach hellem Dasein und einer Brise verführerischen Kakaos gerochen, und die Stimmen der Gäste hatten einen perlenden Plauderton über das Treiben gelegt. Das wäre ihr Trost genug gewesen. Nun aber waren die Schaufenster leer und lagen im Dunkeln. Die Baraschs waren fort. Sie starrte in die finstere Auslage.

Das Gemurmel des Grüppchens war verstummt. Auf Ruths Mantel hatten sich dicke Schneeflocken festgesetzt. Sie schüttelte sich, weniger der Kälte als einer plötzlichen dunklen Vorahnung geschuldet, die sie nicht recht zu fassen bekam. Dann setzte sie ihren Weg fort.

Das sonst im Tageslicht ockerfarbene, beinahe leuchtende Haus zu den sieben Kurfürsten, die gewölbten Fassaden der einstigen Patrizierbauten mit ihren reichen Stuckverzierungen und die filigranen Friesen des Rathauses mit ihrem Blattwerk, den Engels- und Tierskulpturen, hatten dem Ring einmal Größe und Glanz verliehen. Nun warfen die imposanten Gebäude Schlagschatten. Ruths Erinnerungen hingegen waren gut ausgeleuchtet. Breslau war ihr immer die Stadt der Lichter gewesen, nicht etwa das ferne Paris oder New York, das sie aus Bildbänden kannte. Wie oft war sie früher mit Papi, wenn der von der Arbeit nach Hause gekommen war, durch die hell erleuchteten Straßen geschlendert. Am Ring hatte stets buntes Treiben geherrscht. Die Menschen hatten das Leben in all seinen Facetten ausgekostet. Herren in Anzug waren mit ihrer Begleitung der hell erleuchteten Oper zugeströmt; oder den großen Kinosälen mit ihren weich gepolsterten Samtsesseln, dem Schweidnitzer Keller mit seinem Duft nach saftigen Rouladen, Apfelblaukraut und Klößen in Bratensauce, den Tanzcafés, aus denen Schlagermusik und Gelächter bis auf die großen Plätze gedrungen war.

Ruth blinzelte, Schnee rieselte von ihren Wimpern. Seit sie im Krieg waren, herrschte in ganz Breslau Verdunklungsgebot, sodass nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr gerne draußen unterwegs war. Doch sie hatte jetzt keine Wahl. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Mit jedem Schritt sank sie erneut in die Schneedecke ein, die Nässe legte sich um ihre Strümpfe und drang durch ihre porösen Sohlen. Ihr großer Bruder kauerte vielleicht zur selben Stunde im Schützengraben. Harry konnte sein Gewehr nicht zur Seite legen, wollte nicht schießen, er musste. Sonst taten es die anderen. Was, wenn ihn einer erwischte? Ein Streifschuss hoffentlich, einer, der ihn zu den Sanitätern und nach Hause brachte, der ihn kampfunfähig machte, aber überleben ließ.

Harry hätte sie von Ilan erzählen können. Wie sie sich das erste Mal begegnet waren, im März 1942.

Damals war sie sechzehn gewesen. Nach einem Streit mit Vater, der die Bestrafung von Jo zum Gegenstand gehabt hatte, war Ruth nachts aus dem Haus geschlichen. Jo hatte vor dem Zubettgehen eine Schelle dafür geerntet, dass er sich weigerte, die Pimpfenprobe des Deutschen Jungvolks abzulegen. Zwar lief er die gewünschte Zeit, und weit springen konnte er auch, selbst das Schlagballweitwerfen und die geforderte eine Minute Luftanhalten stellten kein Problem für ihn dar, aber er blieb stumm, wenn er daheim den Text des Deutschlandliedes üben sollte, und die Schwertworte der Hitlerjugend, die er zur Prüfung auswendig aufsagen musste, kamen ihm nicht über die Lippen. Vater war außer sich gewesen. »Wozu opfert sich dein großer Bruder? Weshalb zieht er in den Krieg? Damit du am Leben bleibst. Und deshalb legst du auch die vermaledeite Prüfung ab.« Er verdonnerte Jo zu zwei Wochen Hausarrest. Aber nicht darüber weinte ihr Bruder sich in den Schlaf, sondern weil er sich noch nie so unverstanden und so ungerecht behandelt gefühlt hatte.

Auf den dunklen Straßen hatte Ruth an jenem Tag einen Weg eingeschlagen, den sie kannte. Und bald schon stand sie vor dem Musikalienhandel Schlesinger, unweit des Rings. Wehmütig blickte sie auf das mit Holzbalken verriegelte Schaufenster und träumte davon, ein eigenes Grammophon zu besitzen. Der Laden war vor Kurzem geschlossen worden und stand zum Verkauf. Ruth wähnte sich allein, und weil es so düster war, summte sie vor sich hin: Ich hab für dich nen Blumentopf, nen Blumentopf bestellt. Dieser alte Ohrwurm, zu dem ihre Eltern gemeinsam mit Harry und ihr zu Hause oft getanzt hatten. Damals war noch kein Krieg gewesen, und sie war gerade eingeschult worden. Gili würde sich nicht daran erinnern, und Jo hatte noch nicht einmal laufen können. Während sie so summte, hörte sie ein Krachen und kurz darauf ein Fluchen, das eindeutig aus dem Laden kam. Sie presste den Kopf an die Fensterscheibe und sah einen Mann, der, als er ihrer gewahr wurde, zum Hinterausgang flüchtete.

Wie es dann dazu kam, dass ebenjener Flüchtige sie mit sich in den Laden zog und sie kurz darauf gebannt seiner Geschichte lauschte, anstatt ihn, wie sie es doch vorgehabt hatte, zu melden, erinnerte Ruth nur noch schemenhaft. Dass sie irgendwann gemeinsam mit dem vermeintlichen Dieb unter der ehemaligen Verkaufstheke kauerte, über sich ein Grammophon und jede Menge Schellackplatten, wusste sie hingegen noch ganz genau. Ein Kontrabass warf seinen Schatten auf sie beide, und der Unbekannte stammelte seinen Namen. Dabei griff er nach ihrer Hand, als könne er sie so vom Schlimmsten abbringen. Ruth hatte ihre Hand erst zurückziehen wollen, es dann aber – aus unerfindlichen Gründen – nicht getan. Staubflocken schwebten in der Luft, es roch nach Holz und Lack.

»Wenn du mich verrätst, holen sie mich ab. Ich bin Jude.«

Bei diesen Worten war ihr schummrig geworden, und ihr Kopf hatte geschmerzt, als wolle er sie dringend davon abhalten, sich weitere Gedanken über dieses Thema zu machen.

Bei ihr zu Hause galt nämlich eine Art Sprechverbot. Über das »Jüdisch- oder Arischsein« redete man nicht. Wenn sie oder ihre Geschwister nachfragten, was denn mit Omi wäre und warum sie das Haus nicht mehr verließ, dann hielt man sie an, zu schweigen. Es war eine goldene Regel bei den Mocks, bestimmte Dinge nicht zu hinterfragen und nicht weiter zu bohren, wo es gefährlich werden konnte. Solchen Gefahrenzonen ging Ruth bald instinktiv aus dem Weg. Sie hatte sie im täglichen Miteinander ihrer Familie rasch aufzuspüren gelernt. Dass es Worte gab, die man mit dem Leben bezahlte, daran hegte Ruth keinerlei Zweifel mehr.

So entgegnete sie also nichts auf Ilans Geständnis. Seine Worte schwebten unruhig zwischen ihnen durch den Laden. Sie machten Ruth ungefragt zur Hüterin seines Geheimnisses. Aber er hatte ihr damit sein Leben anvertraut, und wenn sie eines vermochte, dann war es zu schweigen.

Sie bot Ilan an, ihn mit Lebensmitteln zu versorgen. Er tat Ruth leid, aber wenn sie ehrlich war, war das bei Weitem nicht der einzige Grund. Etwas, das sie nicht genauer zu beschreiben wusste, faszinierte sie an ihm. Ilan nach dieser schicksalhaften Begegnung nicht wiederzusehen wollte sie nicht riskieren.

Zwar waren Lebensmittel auch zu Hause knapp bemessen, aber Vaters Dienstgrad sorgte dafür, dass es ihnen, obwohl sie auch Omi mitversorgen mussten, besser erging als dem Durchschnitt.

Und so verabredeten sie sich für den nächsten Abend. »Gleicher Ort, gleiche Zeit«, sagte sie und hielt Wort. Wer nicht kam, war Ilan.

Ruth wartete eine gute Dreiviertelstunde, in der ihre Enttäuschung über das verhinderte Wiedersehen Oberhand über ihre Wut gewann, versetzt worden zu sein. Sie konnte nicht wissen, welchen Gefahren Ilan vielleicht trotzen musste, sagte sie sich und beschloss, am folgenden Tag zur selben Zeit erneut vor der ehemaligen Musikalienhandlung auf ihn zu warten. Wenn Ilan dazu in der Lage wäre, würde er dort erscheinen, Ruth war sich dessen seltsam gewiss. Sie hatte ihm ihr Versprechen gegeben, und sie würde es halten.

Am dritten Tag zeigte Ilan sich ihr. Viel später erst erfuhr Ruth, dass er sie damals auf die Probe gestellt hatte. Er habe sicher sein müssen, dass sie kein Spitzel wäre, gestand er ihr. Und er habe sich erst überzeugen wollen, dass sie niemanden mitgebracht habe, der ihn womöglich ans Messer lieferte. Da sie aber getreu und ehrlich den wiederkehrenden nächtlichen Ausflug für ihn auf sich genommen habe, entschied er schließlich, es zu wagen. Also gab er sich zu erkennen.

Harry hätte sich mit der Hand vor den Kopf geschlagen und doch gelächelt – beinahe so verschmitzt wie Ilan selbst –, wenn Ruth ihm von ihren ersten Begegnungen erzählt hätte. Niemandem hätte Harry ein Sterbenswörtchen ihres Geheimnisses anvertraut. Gili nicht, die hätte sich womöglich verplappert – nicht aus Bösartigkeit, sicher nicht, sondern weil sie so aufgeregt gewesen wäre, von dem Bild, dass sie sich von Ilan gemacht hätte. Gili hatte eine so lebendige Phantasie, der war alles andere untergeordnet. Und Jo hätte er schon gleich dreimal nichts erzählt. Für Mädchen interessierte der sich noch immer nicht, obwohl er schon vierzehn war. Wenn Gili und sie über diese Dinge die Köpfe zusammensteckten und kicherten, war er immer peinlich berührt. Jo schlug aus der Art. Er war so ernst, immer schaute er bitter drein. Aus ihm würde einmal ein Denker werden. Von romantischen Gefühlen jedoch hatte er noch nie etwas verstanden.

Hinter der dichten Wand aus Schneeflocken konnte Ruth das Kinotheater Capitol ausmachen. Sie war also, trotz des Geriesels, nicht vom Weg abgekommen. Die Türen des Filmpalastes wurden aufgestoßen, und aus dem Foyer trat ein Paar ins Freie. Ruth schlug den Weg zum Capitol ein. Die Bar war bereits geschlossen. Ein Mann in schäbigem Anzug zog den Vorhang des Kassierhäuschens zu. Die Tür zum Kino war nicht richtig ins Schloss gefallen und auch jene zum Saal bloß angelehnt. Ruth lauschte einen Moment. Die Leander sang Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen. Dass sie ausgerechnet Die große Liebe noch einmal zeigten. Wenn Ruth sich recht erinnerte, war der Film bereits vor drei Jahren in die Kinos gekommen. Sie schloss die Augen. Um sie herum versank die Welt, der undurchlässige Schneefall tat sein Übriges. Nichts besaß mehr Gültigkeit als diese Stimme. Ruths Eltern nicht, der Kampf ums Überleben nicht, keine Flucht und kein Krieg. Verlass war allein auf diese rauchige Beschwörungsformel, die Ruth sogar die Kälte des Januars vergessen ließ und einen zarten, hoffnungsvollen Schimmer auf den Abend legte. Wie sehr sie sich so ein Wunder herbeiwünschte. Harry – zu Hause in der Reuschestraße auf dem Sofa. Ilan und sie im Park, der die Jahrhunderthalle umgab, an einem milden Frühlingstag. Ohne sich verstecken zu müssen, würden sie gemeinsam die Wasserspiele bestaunen. Niemand zwänge sie in ein flüchtiges Leben. Alles eröffnete sich Ruth, anstatt zu schwinden.

In ihrer Manteltasche tastete sie nach einem Taschentuch. Sie fand keines und wischte sich die Tränenspur mit dem Handrücken von der Wange. Sie durfte sich nicht so gehen lassen.

»Weitergehen!«, herrschte sie jemand von hinten an. Sie wandte sich um. Zwei SS-Männer schleiften einen am Boden liegenden Menschen in Handschellen hinter sich her. Seine Lippe war gerissen, Blut rann ihm aus einer frischen Wunde übers Gesicht. Er schrie vor Schmerz, woraufhin ihm einer der beiden Männer einen Stiefeltritt in den Magen versetzte und kurz darauf sie ins Visier nahm. »Weitergehen, habe ich gesagt.«

Ruth senkte den Blick und setzte sich in Bewegung. Zügigen Schrittes entfernte sie sich. Für den Geschundenen würde jede Hilfe zu spät kommen, doch für Ilan bestand Hoffnung. Als Sohn einer jüdischen Familie war er auf den Schutz der ehemaligen Freundin seiner Mutter angewiesen gewesen. Im Gegensatz zu Ruth besaß er keinen Beamtenvater mit Ariernachweis und kannte niemanden in höherer Position, der sein Leben für ihn riskiert hätte. Ruth würde ihm keinen Gefallen tun, wenn sie gleich als Häufchen Elend vor ihm stand. Sie musste stark sein. Wer liebte, spendete Hoffnung. Darum ging es in all den Liedern. Sie mochte sich wünschen, was sie wollte, ihr hell erleuchtetes Breslau und ihren älteren Bruder zurück. Ihre Jugend auszukosten, zu tanzen und eine Zukunft zu haben. Aber mit ihren neunzehn Jahren war sie kein Kind mehr, sondern eine junge Frau. Gemeinsam mit ihr würde Ilan einen Weg finden, zu überleben.

Ihre Füße waren inzwischen starr vor Kälte, ihre Augen tränten vom Wind. Als sie zu laufen begann, spürte sie kaum mehr ihre Zehen.

*

Die Tür zum Steinhäuschen in der Kleingartenkolonie, in der Ilan sich versteckt hielt, war nur angelehnt. So konnte sie, ohne in ihrer Manteltasche nach dem Schlüsselbund zu tasten, hineinschlüpfen.

Ilan schrak zusammen, als sie eintrat. Das Knirschen ihrer Schritte im Schnee musste vom Tosen des Windes übertönt worden sein, er hatte sie nicht kommen hören. Mit schreckgeweiteten Pupillen und zitternd stand er vor ihr. Dann öffnete er zur Begrüßung weit die Arme. Zügig, jedoch mit Bedacht, zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und sperrte vorsichtshalber noch einmal ab. »Du musst vorsichtiger sein«, brachte sie heraus, aber Ilan ging nicht auf ihre Worte ein, sondern drückte sie fest an sich. Sie zitterte, als er sie hielt, nichts konnte sie dagegen tun. »Ist nur die Kälte.« Ruth glaubte sich selbst kein Wort.

Für einen Moment ließ Ilan sie los, spitzte die Lippen, riss die Augen auf und nickte wie eines dieser Aufziehmännchen, die es vor dem Krieg in jedem Schaufenster zu sehen gegeben hatte. So lange, bis sie lachen musste und sich die Hand vor den Mund hielt. Auf keinen Fall durfte jemand mitbekommen, dass sich Ilan hier versteckt hielt. Er zog sie erneut an sich, hob sie hoch und wirbelte sie einmal um die eigene Achse. »Du bist da«, sagte er.

*

Später saß sie neben ihm unter einer dicken Decke auf dem abgewetzten Sofa mit den Brandflecken. Handschuhe und Mütze behielt sie an. Es war eisig kalt in dem Steinhäuschen, lediglich Ilans Nähe spendete ihr Wärme. Obwohl er noch Briketts für den Kohleofen besaß, durfte er nicht heizen. Rauch wäre aus dem Schornstein gezogen und hätte unweigerlich auf ihn aufmerksam gemacht. Einzig die Gaslampe spendete schummriges Licht. Stets hielt er die Vorhänge zugezogen.

Sie durfte nicht wieder darüber nachdenken, wie sehr sein Leben in Gefahr war, sonst wäre sie unfähig zu handeln. Und Angst half ihr nicht weiter. Sie schmiegte sich an ihn.

So viel wusste Ruth, auch wenn Ilan kaum darüber sprach: Seine Eltern waren im Dezember 1941 abgeholt worden. Er hatte sich verstecken können und Unterschlupf bei einer Freundin seiner Mutter gefunden. Ihr gehörte die Hütte. In der ersten Zeit hatte sie Ilan heimlich versorgt. Dann aber war sie krank geworden und verstorben. Wahrscheinlich hatte die Freundin die Hütte ihrer Schwester vermacht, die in Göttingen lebte. Jedenfalls war niemand gekommen, um sich in den Wirren des Krieges darum zu kümmern. Ein großes Glück für Ilan.

Er ging fast nie vor die Tür. Jene Nacht, als sie ihm begegnet war, war eine Ausnahme gewesen; er hatte keinerlei Vorräte mehr besessen, und da war ihm in seiner Verzweiflung der Laden seiner Eltern in den Sinn gekommen. Den Schlüssel dafür besaß er noch. Er hatte gehofft, dort noch irgendetwas Essbares zu finden.

»Es muss furchtbar gewesen sein, so ganz allein zurückzubleiben. Und dann der Musikalienhandel mit all den Erinnerungen an früher.« Ruth achtete auf jede Bewegung, jede noch so zarte Entgleisung seiner Mimik, als sie das sagte. Wie konnte sie mit Ilan darüber sprechen, was ihre Eltern von ihr verlangten? Sie wollte doch bei ihm bleiben, für immer auf diesem Sofa mit den Brandflecken.

»Lass uns lieber über etwas Schönes reden.« Er machte eine Kunstpause. »Sagen wir, über dich.«

Er hatte stets das Thema gewechselt, wenn sie einmal mehr hatte wissen wollen über seine Eltern, deren Leben oder ganz allgemein über seine Vergangenheit. Dabei war er nie unhöflich geworden, nie abweisend. Vielmehr hatte er ihr stets ein neues Kompliment gemacht oder nachgefragt, welche Gassenhauer gerade angesagt wären. Sie hatte sie dann leise für ihn summen sollen. Ihre Sorge, jemand könne auf sie aufmerksam werden, ließ er nicht gelten. »Du bist meine Verbindung nach draußen, ich kann nicht immer und immer nur ausharren. In diesem Eiswinter verirrt sich keiner hierher.«

Sie hatte widerwillig genickt und ein weiteres Lied für ihn gesummt.

»Ich muss mit dir sprechen, Ilan«, sagte sie. »Es ist wichtig.«

Er küsste sie auf die Nasenspitze. »Später, ja? Lass uns die Zeit, die du bei mir bist, genießen. Du weißt nicht, wie glücklich du mich machst.«

Er schlug die Decke zurück und erhob sich. Auf Zehenspitzen ging er zu ihr, das hatte er bis zur Vervollkommnung gelernt, verbeugte sich und fragte: »Darf ich bitten?«

»Was hast du vor? Bist du lebensmüde?«

»Ganz im Gegenteil.« Er grinste. »Du summst, und dazu tanzen wir, so federleicht, dass niemand uns hört. So feiern wir das Wunder, dass wir uns mitten im Krieg gefunden haben.«

»Ich muss einen klaren Kopf behalten«, raunte Ruth.

»Du hast den klarsten Kopf der Welt, daran wird ein Tanz mit mir nichts ändern, oder?«

Sie nickte ihm zu und lächelte. Wie weich seine dunklen Locken sich im Halbdunkel um sein markantes Gesicht legten. Seine feinen Hände, die im Film stets die eines vielversprechenden Pianisten gewesen wären, in ihrer Wirklichkeit aber schon alles hatten erleben müssen, Schmerz und Abschied, auch den für immer, berührten sie, als er ihr mit der einen Hand aufhalf und mit der anderen eine Strähne aus dem Gesicht strich.

Diese kleine Stube war ihr Himmelreich. Ungläubig, was die Welt für sie bereithielt, mitten im Krieg, schwieg Ruth und sah Ilan an. An alles würde sie sich erinnern, an die fragile Zärtlichkeit seines Blickes, den warmen Hauch seines Atems, dicht an ihrer Wange, und seinen mandelartigen Duft. Jeder Kuss von ihm war ein erster Kuss, jeder Blick in seine moosgrünen Augen, die sie trotz des Dämmerlichts noch ausmachen konnte, ein Fallen auf weichen Grund.

Irgendwann aber endete jeder Kuss, auch dieser.

Er deutete einen Diener an. »Haben Sie schon einmal im Dunkeln geküsst?«, flüsterte er die ersten Zeilen des Evelyn-Künneke-Liedes.

Sie war ganz beseelt und noch nicht wieder bereit, aus ihrem gemeinsamen Traum aufzutauchen, also erwiderte sie eine Spur zu laut »Ja«. Ruth nahm seine Hand und ließ sich für einen Augenblick gewagter Sorglosigkeit von dem nunmehr gemeinsamen Summen mitreißen.

Draußen fegte der Wind durch die Landschaft und rüttelte an den Fensterläden. Für einen Moment löste sie sich von Ilan und lugte vorsichtig durch einen Spalt, durch den schwach das Mondlicht fiel. Bestimmt hatten Wolken sich vor die schmale Sichel geschoben. Die Schneeflocken tanzten wild auf und ab. So dicht fielen sie und so geschwind, dass die Welt hinter ihrem Schleier kaum mehr auszumachen war.

Sie wandte sich zu Ilan um. »Was ich dir vorhin noch habe sagen wollen.« Jetzt platzte, was sie so lange in sich aufgestaut hatte, aus ihr heraus. »Vater hat gehört, die Russen stünden vor den Toren Breslaus. Bald sollen Frauen und Kinder evakuiert werden. Und bevor das Chaos ausbricht … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Jedenfalls hat er uns Zugtickets besorgt. Morgen schon soll es losgehen.«

Sie hielt seine Hand. Er atmete nur mehr flach. Seine Augen hatten einen merkwürdigen matten Schimmer. Er schwieg. Die Stille zwischen ihnen war drückend und unangenehm. Ganz anders als sonst, wenn sie sich dicht an dicht aneinanderschmiegten, in der Gewissheit, dass nur sie füreinander zählten.

»Aber ich werde nicht mitkommen. Ich bleibe bei dir. Das steht ohnehin fest.«

Er sah sie fest an. Das Kinn reckte er ein wenig nach vorn. »Nichts da. Du wirst dich für mich nicht opfern. Du wirst leben, Ruthie.«

Er nannte sie sonst nie mit ihrem Kosenamen. Unendlich traurig klang er und unendlich klar.

»Aber …« Ohne ihn würde sie nicht gehen. »Du könntest mit uns kommen.« Was für ein abwegiger Gedanke. Sie verlagerte das Gewicht auf das andere Bein und schwankte dabei ein wenig. »Omi kommt nicht mit.« Sie rang nach Worten, doch sie klangen zusammenhangslos, und keines war am richtigen Platz. »Ich werde alles tun, damit wir uns wiedersehen.«

»Ich auch«, sagte er und schlang seine Arme um sie. »Ich auch, Ruthie. In welche Richtung fährt morgen euer Zug?«

Nicht einmal das wusste sie. Die Tränen liefen ohne ihr Zutun, und sie hatte noch immer kein Taschentuch. Sein Hemd war feucht von ihrem Weinen.

Zärtlich hob er ihr Kinn an. »Sieh mich an. Ich habe dir versprochen zu überleben, und ich halte meine Versprechen. Morgen treffen wir uns in aller Früh, sagen wir um fünf Uhr dreißig, da ist es noch dunkel, unter dem Kastanienbaum in der Nähe der Hütte. Du weißt schon, auf unserer Bank. Ich werde da sein und dir einen Abschiedskuss geben, hörst du?«

Ruth nickte. Nun schwirrten ihre Gedanken, sie hatten sich unabhängig von ihrem Willen gemacht. »Früher bei Omi hat ein Talmud neben der Bibel im Bücherregal gestanden.« Sie sah das Bild wieder deutlich vor sich. »Und zu Weihnachten hat es bei uns doppelt Licht gegeben. Ein riesiger Leuchter hat mit den Kerzen am Weihnachtsbaum um die Wette gestrahlt. Dann, ich weiß nicht mehr, wann, waren der Talmud und der neunarmige Kerzenleuchter plötzlich verschwunden.« Mit leerem Blick stierte sie ihn an. »Ich habe es die ganzen Jahre geahnt. Jetzt verstehe ich auch, warum Vater Jo regelmäßig dazu gezwungen hat, zu den Treffen des Deutschen Jungvolks zu gehen … und warum Harry an der Front für Deutschland kämpft.«

Ilan schwieg. Begriff er nicht, was sie ihm zu sagen versuchte?

»Ilan, wir werden mit falschen Pässen reisen.« Jetzt war es raus.

»Ruthie«, flüsterte Ilan und legte seine Hand auf ihre. Mit keiner Silbe ging er auf ihre Worte ein. Stattdessen blickte er auf seine Taschenuhr. »Beinahe schon halb acht. Du musst sicher noch packen. Wir sehen uns morgen, versprochen, und versuch ein wenig zu schlafen.«

Ihre Glieder fühlten sich so matt an. Sie ließ sich von Ilan zur Tür geleiten und einen Kuss geben. Immer noch war ihr schwindlig, aber sie vertraute seinen Worten. Und bis morgen früh war noch Zeit, ihr würde schon etwas einfallen.

Kapitel 2

Breslau,12. Januar1945

Ruth hatte wach gelegen, sich hin und her gewälzt, war in unruhige Träume gefallen, deren Bilder sich auflösten, sobald sie die Augen aufschlug – und was danach einzig zurückblieb, war ein bleiernes und drückendes Gefühl auf der Brust gewesen. Es war ihr keine Idee gekommen, die ihr auch nur im Entferntesten umsetzbar erschienen war, nicht einmal ein Funken einer solchen Idee, und so schlug sie schließlich die Bettdecke zurück, schlüpfte in die Hausschuhe und schlurfte in die Küche. Dort entdeckte sie im Dämmerlicht einer Kerze ihre Mutter. Sie saß nicht etwa im Morgenrock auf dem wackligen Küchenstuhl, sondern ordentlich bekleidet mit ihrem mehrfach ausgebesserten Rock, dem alten wärmenden Strickpullover über der weißen Bluse und den dicken, kratzenden Strümpfen, die sie mithilfe der Reichskleiderkarte nicht nur für sich selbst, sondern auch für Gili und sie ergattert hatte. Darüber trug sie ihren wollenen Mantel. Sie stopfte Socken, die sie, waren sie ausgebessert, umsichtig in den offenen Koffer neben sich am Boden schichtete.

Als Mutter sie im Türrahmen bemerkte, schrak sie auf. »Du solltest doch ausruhen vor der langen Fahrt.« Sie erhob sich, goss Ruth vom warmen Wasser, das im Topf auf dem Herd brodelte, eine Tasse ein und reichte sie ihr. »Trink, das wärmt.«

Sie fröstelte tatsächlich ein wenig, aber darum ging es nicht. »Lassen wir Omi wirklich hier? Wenn es stimmt, was Papi sagt, dann …« Weiter kam sie nicht.

»Ich erzähle dir, was ich dazu denke, und danach schweigen wir.«

Da war sie wieder, diese Strenge und Unnachgiebigkeit, die Mutter zu eigen war.

»Niemand lässt seine eigene Mutter zurück. Es sei denn, sie ist stur wie ein Esel. Es sei denn, sie will die Ihren schützen und duldet keinen Widerspruch.« Sie hatte, während sie sprach, wieder die Stopfarbeiten aufgenommen. »Es sei denn«, fuhr sie fort, »diese Mutter hat recht mit dem, was sie sagt.« Sie ließ die spitze Nadel fallen, ein leises Klirren auf dem Dielenboden. Ein Blutstropfen quoll aus ihrem Finger. Sie sog daran, als gehöre der Schmerz nicht zu ihr. »Mütter haben meistens recht und einen guten Instinkt.«

Ruth nahm den zweiten Küchenstuhl, schob ihn neben sie, setzte sich zur ihr und griff nach ihrer kühlen Hand, an deren Rücken violette Adern hervortraten, die stets leicht nachgaben, wenn sie darüberstrich. Sie hatte Mutter lange nicht mehr berührt, jedenfalls nicht mit Absicht.

»Und deswegen, nur dieses eine Mal, Mutti, bitte ich dich.«

Mutter blickte auf, ein wenig überrascht sah sie drein, zog die Hand zurück und rückte ein kleines Stück von ihr ab. »Rede nicht um den heißen Brei herum, was ist los?«

Es war ohnehin ein unsinniger Gedanke. Aber sie durfte nichts unversucht lassen. »Wenn du einen guten Freund hättest, und sagen wir, er wäre Jude.«

»Worauf willst du hinaus?«

Mutters Gesicht zeigte keine Regung. Was an ihr liebte Papi nur so sehr, dass er stets tat, was sie verlangte.

»Du hast recht, ich sag es also ohne jeden Schnörkel. Könnte Papi etwas für diesen Freund tun? Er ist ein guter Mensch und …« Sie musste abbrechen, Tränen standen ihr in den Augen, sie zitterte wieder.

Plötzlich war Mutter neben ihr und umarmte sie. Wie früher, wenn sie ihr und den Geschwistern Geschichten erzählt hatte von ihrer Kindheit, den ruhigen Samstagen, an denen sich die Familie zum gemeinsamen Essen getroffen hatte. Kerzen waren entzündet worden, und nach dem Mahl hatten die Kinder gespielt, und die Erwachsenen hatten einmal die Woche die Hausarbeit niedergelegt.

»Du bist jung, und wer jung ist, verliebt sich schnell. Dagegen ist nichts zu sagen, Ruth.« Sie schob sie ein klein wenig von sich und sah sie an. »Aber der Krieg fordert von uns allen seinen Tribut. Harry kämpft bei der Wehrmacht für euch, nicht für Hitler. Hörst du, was ich sage? Es ist wichtig, dass du das begreifst. Kein Wort zu niemandem. Du darfst Harry und deine Geschwister, du darfst dich selbst nicht in Gefahr bringen. Schon gar nicht für irgendeine Liebelei.« Sie sog hörbar Luft durch die Nase, dann sagte sie scharf: »Und sprich zu niemandem über Omi.«

Zwar erreichten Ruth ihre Worte, aber so unendlich weit waren sie entfernt.

Mutter schüttelte sie leicht an den Schultern. »Warte noch ein wenig, bis nach dem Krieg. Es ist nicht die Zeit für Liebe. Die Familie muss zusammenhalten, nur dafür lohnt es sich weiterzumachen.«

Ruth schwieg. »Und wenn er stirbt?«, sagte sie leise.

Mutter setzte sich wieder auf den wackligen Küchenstuhl und nahm erneut die Stopfarbeiten auf. »Reiß dich zusammen. Tu es für Omi, Papi und Harry. Sie opfern alles für uns.«

Wenn Ruth sich später an jene Mitternacht zu erinnern versuchte, gelang es ihr nie, mit Sicherheit zu rekonstruieren, was zuerst da gewesen war. Das wattige Gefühl im Bauch und die nebelumwölkten Gedanken, das taube Einerlei im Brustraum oder die eigenartige Vogelperspektive, aus der heraus sie sich selbst beim Handeln zusah. Sie hatte zurück ins Schwesternschlafzimmer gehen wollen, aber beim Badezimmer angehalten, um sich aus einer Kanne im Becken ein wenig Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie musste wach werden, um vernünftig denken zu können. Omi und Papi würde sie zurücklassen müssen, aber Papi käme vielleicht nach. Mutti, Gili und Jo, die ihre Familie waren, standen gegen Ilan, den sie liebte – mehr als alles andere. Es war eigentlich einfach. Sie würde hierbleiben, bei Ilan, und wenn Papi fort wäre, würde sie sich um Omi kümmern. Aber wenn die SS deshalb auf ihre Familie aufmerksam würde, weil sie, die Tochter eines höheren Beamten, trotz Evakuierungsbefehl nicht die Stadt verließe, wenn sie dann Großmutter auf die Schliche kämen und sie abholen ließen, weil Ruth zu dumm wäre und nur sich selbst und ihre Empfindlichkeiten ins Zentrum stellte? Wenn sie deswegen weiterforschten und Papi darüber allen Mut verlöre? Wenn dann Mutti verrückt würde, weil auf nichts mehr Verlass wäre, Jo in den Untergrund ginge und Gili ihr Leben verpasste, auf immer? In diese wirr brausenden Gedanken hinein fiel Ruths Blick auf die Schmuckschatulle, die sonst immer im Elternschlafzimmer stand. Wahrscheinlich hatte Mutti sie hier hingestellt, um in der Früh nur ja nichts zu vergessen. Ruth öffnete sie. Neben goldenen Ketten und einer langen aus Perlen lagen darin hübsch verzierte Broschen, Amulette, eine silberne Taschenuhr und ein leuchtender Smaragdring, dazu allerlei Schmuck aus Glasperlen und Halbedelsteinen. In der mittleren Schublade bewahrte Mutter ihre Ohrringe und ihren Haarschmuck, und in der unteren fand Ruth prächtige Armreife. Einer davon fiel ihr gleich auf. Zwischen zwei zarten goldenen Bändern reihten sich dicht aneinandergeschmiegt Blüten aus funkelnden Granatsteinen geformt, durchzogen von goldenen Tröpfchen, wie Tränen. Bedächtig nahm Ruth das Armband heraus, um es besser betrachten zu können. Und plötzlich war da dieser Gedanke, er war ohne Ankündigung und mit einer Klarheit aufgetaucht, die ihr selbst den Atem nahm. Wenn sie Ilan keine falschen Papiere besorgen und nicht bei ihm bleiben konnte, ohne ihre Familie zu verraten, dann bräuchte es etwas Sichtbares, das sie weiterhin miteinander verband. Etwas, das ihn an sie erinnerte, das ihn weitermachen ließ, etwas von Wert, damit er es im Notfall eintauschen konnte, um zu überleben.

Es klopfte an der Badezimmertür. An dieses Pochen erinnerte sie sich später ganz genau, vielleicht weil sich ihr Herzschlag und das Hämmern an der Tür gegenseitig verstärkten und das eine das andere zu bedingen schien.

Dann erklang die Stimme ihrer Mutter, die vehement einforderte, sie möge sich nun endlich schlafen legen. Bevor Mutter aber ins Badezimmer hätte kommen können, hatte Ruth die Schatulle wieder verschlossen, das funkelnde Armband an sich genommen und in ihrer Faust verborgen. Sie trat heraus, eilte an Mutter vorbei ins Schwesternschlafzimmer, kleidete sich dort an und wartete so lange unter der Bettdecke auf das Morgengrauen, bis der Wecker vier Uhr zeigte.

*

Die Kälte tat gut und verjagte die Ruth irr jagenden Fragen, die sie über Nacht nicht hatte abschütteln können. Sanft fiel der Regen auf den gefrorenen Schnee, ein unaufhörliches Geräusch, das sie auf ihrem Weg begleitete. Es war spiegelglatt in den Gassen, niemand hatte um diese frühe Stunde bereits gestreut. Ruth aber bewegte sich auf dem Eis, als hätte sie jahrelange Übung darin. Wohl weil es nicht die Glätte war, die sie ängstigte, und ihr gerade die Dinge, auf die sie kein Augenmerk richtete, ohne großes Zutun gelangen.

Bei der Kleingartensiedlung angekommen kniff Ruth die Augen zusammen, um Ilan in der Dunkelheit und bei dem steten Regen ausmachen zu können. Sie sah kaum weiter als einen Meter.

Vor ihr schlängelte sich der Weg leicht bergauf. Bei den vielen Unebenheiten im Boden und der fortwährenden Glätte war es schwer, das Gleichgewicht zu bewahren. Da erkannte sie plötzlich seine Gestalt, die sich langsam aus dem Schatten des Kastanienbaumes löste. Hätte sie Ilan dort nicht vermutet, sie hätte niemanden ausmachen können. Er hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet, als er ganz hinter dem Stamm hervortrat und sich ihr zu erkennen gab. In gemessenem Tempo näherte sie sich ihm.

Ilan eilte auf sie zu, geriet ein paarmal ins Schlittern und fing sich wieder. Als er vor ihr zum Stehen kam, ergriff sie seine Hand und setzte gemeinsam mit ihm, aber ohne eine Begrüßung, die wenigen Meter bis zu ihrem ursprünglichen Treffpunkt fort.

Die knarzige Holzbank stand noch immer unter der alten Kastanie, deren knorrige Äste hoch emporragten und die freie Sicht auf sie versperrten. Ilan setzte sich und zog sie mit einer schwungvollen Bewegung auf seinen Schoß. Die Tasche mit den wenigen Lebensmitteln, die sie noch hatte auftreiben können, stellte sie neben sich ab.

Ein verirrter Spatz war schon munter und hüpfte auf der Suche nach Futter um ihre Beine. Da waren so viele abgerissene Sätze und Gedanken in ihrem Kopf, die sich überlagerten. Sie barg ihr Gesicht an seinem klammen Mantel. »Was können wir tun?« Mehr brachte sie nicht heraus. Es war ihr, als hallte ihre Stimme von überall wider, dabei flüsterte sie. Alles war ihr mit einem Mal fremd; ihr eigener bebender Körper und ihr Drang, gehalten werden zu wollen; ihr geheimer Platz, der stets Verheißung und ein wenig Seligkeit versprochen hatte und nun all ihre Wünsche schluckte; nur Ilan nicht. Sie hörte sich sprechen, ohne etwas von dem zu sagen, was sie bewegte.

Ilan war klüger. Er erwiderte nichts, sondern küsste sie. Eine kleine, stille Ewigkeit lang gab es nichts als seine vertrauten Lippen auf ihren, später sein warmer Atem auf ihren feuchten Wangen. Noch während er sie umarmte, kroch eine überwältigende Sehnsucht nach dem bald schon Verlorenen in ihren Körper. Ihre Füße würden sie zwar weiterhin tragen, aber sie stünde künftig nicht mehr auf zwei Beinen. Überall dort, wo physisch keine Berührung mit dem Boden mehr möglich wäre, spürte sie eine unsichtbare und haltlose Verbindung in die Tiefe. Dort klaffte ein gewaltiger Riss in der Erde. In Ruths Magen herrschte ein ungestümes Wirbeln, als flögen die vielberufenen taghellen Schmetterlinge, die ein gewöhnliches Verliebtsein begleiteten, nun gemeinsam mit Nachtfaltern und Motten um die Wette.

»Du musst gar nichts tun. Du begleitest deine Familie. Und ich werde überleben und dich finden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Vater sagt, die Festung Breslau wird nicht standhalten. Wie willst du hier überleben?« Sie sah ihm fest in die Augen. »Und wie sollen wir uns je wiederfinden?«

Er strich Ruth über ihr regennasses Haar, die Kälte hatte aus den Tropfen bereits kleine Eiskristalle geformt. Eine ungemeine Zärtlichkeit lag in dieser Geste. Ihr Herz war selig und taub vor Schmerz.

»Du musst daran glauben, versprich es mir.«

Anstatt einer Antwort tastete sie in ihrer Manteltasche nach dem Armband und umschloss es mit ihrer Faust. »Mach die Augen zu, und gib mir deine Hände.«

Er tat es.

Sacht ließ sie das Armband in seine geöffneten Handflächen gleiten und legte ihre Hand schützend darüber. »Nimm es, bitte.«

Ilan öffnete die Augen wieder, und da nahm sie die Hand fort. Abwechselnd sah er zu ihr und dann wieder ungläubig auf das glitzernde Schmuckstück. »Wo hast du das her?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Ist das Gold? Sind das echte Steine? Ich kann das unmöglich behalten.« Er umfasste ihre Taille und wollte den Armreif wieder in ihre Manteltasche stecken, da wand sie sich aus seiner Umarmung und sagte in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete: »Doch.« Leise fuhr sie fort: »Nimm es als Zeichen meiner unverbrüchlichen Liebe zu dir. Wenn ich glauben darf, was du sagst, bringst du mir den Armreif zurück. Dann sehen wir uns wieder.«

»Unverbrüchlich«, wiederholte er flüsternd.

»Und noch eines musst du mir versprechen, bevor ich aufbreche.«

»Was immer du willst.«

»Wenn es schlecht um dich steht, musst du den Armreif für dein Überleben eintauschen. Du kehrst zu mir zurück, das ist das Wichtigste, ob mit oder ohne Schmuck. Versprich es.«

Ilan nickte stumm, dann fielen sie in eine Umarmung und einen letzten Kuss.

»Geh jetzt. Und vergiss nicht: Ich liebe dich.« Er sagte es leicht und wie dahingeworfen, als sähe sie ihn gleich darauf wieder, als sollten keine Jahre ins Land ziehen, als gelte es keinen Krieg zu überstehen und nichts zu bedauern.

*

Ihre Hoffnung, noch einen Augenblick für sich allein zu sein, verflüchtigte sich schon bei ihrer Ankunft.

»Wo um Himmels willen hast du gesteckt?«, fuhr Mutter sie an, kaum dass sie die Wohnung betreten hatte. Vater hingegen saß bedenklich gefasst in seinem grau melierten Ohrensessel im Wohnzimmer und sagte kein Wort. Um ihn herum flitzte Gili, die darauf beharrte, Breslau nur mit ihrem Pelz verlassen zu wollen und mit Peterle, dem Wellensittich. Mutter hielt sich die Ohren zu und rief, das wäre alles zu viel für ihre Nerven. Erst als Omi aus ihrem Zimmer trat, erstarb der Lärm. Mit einem Mal war es still. Jo rannte auf sie zu und warf sich ihr in die Arme, während Mutter danebenstand, hilflos beinahe und mit Tränen in den Augen, die sie niederkämpfte. In der Küche brannte derweil der Topf mit den Graupen an. Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wie sollte sie nun alle satt kriegen. Derweil reichte Omi ihrem Jo ein Brinkele Brot, wie sie auf Schlesisch sagte, und ein Brinkele Merriebe.

»Du musst doch selbst essen«, sagte Mutter energisch, aber Omi lachte. »Kind.« Sie tätschelte ihr die Wange.

Da erhob sich Papi aus dem Sessel, half Mutter in ihren Mantel, nahm ihr den Koffer ab und hieß uns, uns zu eilen, der Zug würde nicht warten. Zum Abschied küsste Mutter Omi auf die Stirn. Auf Gili achtete niemand mehr. Sie trug tatsächlich ihren Pelz und das Paar edle Lederhandschuhe, das Omi ihr vor Kurzem vermacht hatte. In ihrer kofferfreien Hand schaukelte der Vogelkäfig und darin das verdutzte Peterle auf seiner Stange.

»Das Tier kommt nicht mit«, sagte Mutter, aber Omi flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sich Muttis Wangen rötlich färbten und sie nachgab.

Als Ruth die Großmutter zum letzten Mal umarmte, roch sie dabei eine winzige Spur Säure, die wohl von ihrer alten Haut herrührte, kaum wahrnehmbar und doch derart charakteristisch, dass ihr der Geruch noch auf dem Bahnsteig allgegenwärtig war. Eine Milde hatte die Großmutter dazu umgeben, die ihr sonst nicht unbedingt zu eigen gewesen war.

Jo schlich mit einem kleinen Abstand hinter Ruth her, als müsse er achtgeben, dass er sich selbst nicht aus den Augen verlöre. Einmal legte Vater ihm einen Arm um die Schultern, und er ließ ihn gewähren, obwohl es ihm offenbar nicht ganz geheuer war. Ruth hatte seine kleine Abwehrbewegung bemerkt, das kurze Zusammenzucken, das Stocken seines Schrittes, nur für einen Moment.

War ihr vorher all das wie eine stumme Fotografie erschienen, obwohl der Bahnsteig gut gefüllt war, Menschen am Gleis ihren Liebsten noch etwas zuriefen, laut und vernehmbar, kam die Fotografie nun in Bewegung und wurde in jenem Moment zum Film, als Vater sie zu ihrem Abteil geleitete. Erst ruckelte der Wagen etwas, vielleicht hatte sich der Zug kurzzeitig in Gang gesetzt. Ruth sah alles in Zeitlupe Fahrt aufnehmen. Wie sie sich an den vielen dicht aneinander stehenden Menschen vorbeidrängte, wie Vater die schwergängige Tür des Zugabteils öffnete und er ihre Koffer einen nach dem anderen auf die Ablage wuchtete. Seine schweißnassen Hände zitterten dabei. Dann beschleunigte der Film und bekam Ton. Vater flüsterte Mutter etwas zu, das Ruth nicht verstand. Er hielt sie fest umschlungen. So hatte sie die beiden noch nie in der Öffentlichkeit gesehen. Peterle, dessen Käfig Gili auf ihrem Schoß abstellen musste, weil sonst kein Platz mehr war, wagte ein leises Zwitschern, aus dem heraus sich eine zart schwingende Tonfolge entwickelte.

»Sei still, Peterle.« Auf Mutters vibrierende Stimme setzte sich ein unterdrückt verzweifeltes Lachen, das ihren Satz ein klein wenig hüpfen ließ.

Da begriff Ruth, welche Melodie der Wellensittich pfiff. »Vor der Kaserne vor dem großen Tor«, intonierte Gili, und Jo bedachte sie mit einem Blick, der hätte töten können. Vater küsste Mutter, die nur verhalten zurückküsste, wohl weil sie nicht allein waren. Aber niemand interessierte sich für sie. Draußen pfiff alsdann der Schaffner, und Vater musste mit einem Mal zusehen, dass er den Zug verließ.

Ruth kam es vor, als stünde sie außerhalb des Geschehens. Als käme ihr die Aufgabe zu, es zu beobachten, und zwar so, als beträfe es nur die anderen, als wäre sie selbst kein Teil davon. Wie schon in der Früh mit Ilan, als sie geglaubt hatte, den Abschiedsschmerz nicht ertragen zu können, und dann war er ihr wie hinter einer Nebelwand erschienen. Nicht nur das dumpfe Gefühl, etwa einer Trauer oder eines drohenden Verlustes, auch das Erinnern selbst. All das war weit weg – und alles war Beschleunigung. Der dampfende Kessel vorn im Triebwagen. Gili, die in Tränen auszubrechen drohte, und Mutters Worte: »Wir Frauen sind das Rückgrat der Familie. Wir bleiben stark.« Dann trat sie aus dem Abteil und zwängte sich zwischen den anderen Flüchtenden hindurch ans Zugfenster, von wo aus sie Vater sehen konnte, der winkte und weinte. Er hatte kein Taschentuch, seine Tränen waren ihm, anders als Mutter, nicht unangenehm. Die öffnete das Zugfenster und rief: »Du bist wie Peterle, dass du mir nur ja nicht auch noch zu singen beginnst.« Sie reichte ihm die Hand, die Vater umfasste wie einen Anker, der ihn im wildesten Sturm noch an Ort und Stelle hielt, auch später, als der Zug schon anfuhr, wollte er sie nicht loslassen. Jo stand mit den anderen Burschen in einer Ecke des Abteils, weit entfernt vom Fenster und Ruth gegenüber. Er beobachtete alles, genau wie sie, wischte sich aber ärgerlich mit dem Hemdsärmel die Tränen aus dem Gesicht.

»Vater wird nachkommen.« Ruth war sich sicher, sie wusste selbst nicht, woher sie diese Gewissheit nahm. Neben Mutter stand Gili. Während der Zug anfuhr, bewegten sich die Lippen ihrer Schwester synchron zu Peterles Lied, auch wenn Gili nicht mehr sang und ihr kein Ton entfuhr. Sie hob die Hand zum Abschied, als die Räder des Zuges quietschten und er sich allmählich in Bewegung setzte.

Ruth behielt all das in Erinnerung, auch dass der Regen für kurze Zeit innehielt und die Sonne auf Vaters Gesicht schien. Dass beim Anrollen des Zuges ein leises Raunen durch die Menge ging. Ob aus Erleichterung, weil sie Breslau noch gerade rechtzeitig verlassen hatten, aus Kummer, weil sie all ihr Hab und Gut hatten zurücklassen müssen, oder aus einer Sorge heraus, wie es nun weitergehen sollte, das vermochte Ruth nicht zu fassen; aber dass Peterle sang, prägte sie sich ein; kristallklar, jene Stelle, die Gili nun wieder intonierte: »und sollte mir ein Leid geschehen, wer wird …«

Jo hielt ihr den Mund zu, und Mutter sah sie mit strengem Blick an, denn der Schaffner stand plötzlich im Abteil und runzelte die Stirn. »Was ist hier denn los, junger Mann? Belästigen Sie etwa die junge Dame?«

Mutter konnte so schön sein in ihren fließenden Bewegungen und mit ihrem Augenaufschlag, der auch auf den Schaffner sichtlich Eindruck machte. »Geschwister«, stöhnte sie und machte eine abwehrende Handbewegung, filmreif und bestrickend. Der Kontrolleur hatte erst nur Augen für sie und im nächsten Moment für Gili. Er warf einen flüchtigen Blick in die Pässe und gab sie ihnen rasch zurück. »Die Mutter wie ihre Töchter.« Dabei betrachtete er ihre Schwester.

Ein wenig verwunderte das Ruth. Vielleicht lag es an diesem Nebel, der sie nun schon seit Stunden umgab. Womöglich ließ er sie ihre Existenz wie hinter einem Schleier wahrnehmen. Eine andere Erklärung hatte sie dafür nicht parat. Sie war nicht weniger schön als ihre Schwester, freilich von gänzlich anderer Art. Mit dunklen Locken, grünen Augen und breitem Becken, dabei aber schlank.

Gili hingegen hatte rotblonde Haare und zarte Sommersprossen, die aussahen wie dahingetupft, auf Nase und Wangen. Dass sie auffiel, lag nicht etwa an einer herausragenden Schönheit, sondern war vielmehr ihrer erstaunlichen Präsenz geschuldet, die umso faszinierender wirkte, da diese im scheinbaren Kontrast zu Gilis Fragilität zu stehen schien. Dazu die schillernde Aura ihrer Schwester, die sie stets umgab. Gili saß in ihren Pelz gehüllt neben Mutter am Gang, die schmalen langen Beine blitzten unter ihrem Kleid hervor. Hätte Peterle nicht mit einem Mal gellend seinen Gesang hochgedreht, ihre Fahrt wäre ohne jede Störung verlaufen. Aber der dumme Vogel schien die einlullende Bewegung des Zuges zu mögen.

»Was singt denn der Sittich da? Wird doch schon seit zweiundvierzig nicht mehr im Radio gespielt wegen undeutschem Verhalten der Andersens. Wo hat er das Lied denn aufgeschnappt?«

Mutter schüttelte unwillkürlich den Kopf, und Gili tat es ihr gleich.

»Zeigen Sie doch bitte noch mal Ihre Pässe.« Er blätterte eifrig darin, sah dann auf und Ruth direkt an. »Wie ist denn Ihr Name, junges Fräulein?«

Der Nebel wollte sich nicht lichten. Sie sah Ilan, wie sie ihm das Armband gab, und seine Weigerung, es anzunehmen. Der Spatz flatterte zu ihren Füßen auf, und der Morgen brach an. Sie versuchte zu sprechen, aber da war eine Sperre, ihre Lippen konnten keine Worte formen, was herauskam, verschwamm zu einem unartikulierten Brei. Das Denken funktionierte derweil sehr wohl. Sie erinnerte sich sogar an den fremden Namen im Pass, an das ihr zugewiesene Geburtsdatum, aber ihr Körper gehorchte einfach nicht, sie hatte keine Kontrolle mehr über ihn. Konnte nur dasitzen, verharren und den Dingen ihren Lauf lassen.

»Sie sehen doch, meine Schwester fühlt sich nicht gut«, sagte Gili. Dabei sah sie dem Kontrolleur in die Augen. »Sie hat heute, wie so viele hier, noch nichts gegessen oder getrunken.« Sie streckte die Hand aus, und wie anbefohlen gab der Schaffner ihr die Ausweispapiere zurück. Er schien sich dessen selbst kaum bewusst, sondern starrte sie nur an, als warte er auf ihre weiteren Anweisungen.

Kurz darauf schloss er die Abteiltür wieder und war verschwunden. Mutter schaute finster auf den Vogelkäfig. Ruth bekam mit, dass sie ihr etwas zuzischte, aber sie verstand sie ohnehin nicht. Ihre Beine zitterten, Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, der restliche Körper fühlte sich eiskalt an.

»Lass sie.« Das war Jos Stimme. »Du und Vater habt uns das eingebrockt, und nun gebt ihr uns die Schuld.«

Gili legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, ein eindeutiges Zeichen, sie sollten nun besser alle ruhig sein – und das tat Mutter dann auch.