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Matthias Bohlender

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Beschreibung

Dass Marx' Gesellschaftskritik den wissenschaftlichen Anspruch hat, wahr zu sein, scheint selbstverständlich. Doch was für ein Wahrheitsverständnis liegt einem Denken zugrunde, das die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer praktischen Umwälzung zu begreifen versucht? Dieser Frage wird in drei Studien nachgegangen, die anhand der Marx'schen Überlegungen zur Organisierung revolutionärer Subjektivität, seiner journalistischen Arbeiten sowie seiner Kritik der politischen Ökonomie den immanenten Zusammenhang von wissenschaftlichem Wahrheitsanspruch und Revolutionsperspektive in Marx' Werk herausarbeiten. Dadurch eröffnet sich zugleich der Blick auf eine zentrale Problematik jeder modernen Gesellschaftskritik, die einen begründeten Anspruch auf Wahrheit hat.

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Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker

Wahrheit und Revolution

Studien zur Grundproblematik der Marx’schen Gesellschaftskritik

Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

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Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld

© Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-5067-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5067-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5067-9

https://doi.org/10.14361/9783839450673

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Einleitung

Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker

»ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär«Wahrheit in Marx’ wissenschaftlicher Gesellschaftskritik

Matthias Spekker

Untergehende oder moderne Herrschaftsformen?Marx über Revolution und Restauration in Europa

Anna-Sophie Schönfelder

Wahrheit und MachtZur Kritik revolutionärer Subjektivierung bei Marx und Stirner

Matthias Bohlender

Literatur

Über die Autorin und die Autoren

Einleitung

Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker

»Die Frage, ob dem menschlichen Denken – gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit i.e. Wirklichkeit u. Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.«

Karl Marx, ad Feuerbach1

Im politisch ereignisreichen Jahr 1968 hielt Max Horkheimer zum 150. Geburtstag von Marx einen äußerst bemerkenswerten Vortrag mit dem Titel Marx heute. Erst gegen Ende des Vortrags allerdings, nachdem Horkheimer den Wahrheitskern der Marx’schen Gesellschaftskritik herausgearbeitet und das Überholte an den Marx’schen Einsichten fein säuberlich davon getrennt und ausgewiesen hat, wird deutlich, worin die unmittelbare Intention und die aktuelle politische Stoßrichtung des Vortrags bestanden: »Wie dem auch sei,« heißt es darin plötzlich sehr abrupt, »die Zeit ist gekommen, endlich die Marxsche Lehre im Westen zu einem der zentralen Themen der Bildung zu erheben. Nicht weil sie in einem großen Teil des Ostens beim Aufholen des westlichen industriellen Vorsprungs als genehme Ideologie fungiert […], sondern um der eigenen Zukunft willen hat nunmehr ihre Übermittlung vielen antiquierten historischen und sonstigen Lehrstoffen in Schulen, Hochschulen und Universitäten zumindest gleich-, wenn nicht vorangesetzt zu werden.« (Horkheimer 1972: 158) Die Einbeziehung von Marx und seiner Geschichts- und Gesellschaftstheorie in das Curriculum des schulischen und universitären Unterrichts ist für Horkheimer eine Frage von höchster gesellschaftlicher Dringlichkeit, weil in und mit ihr – für Horkheimer vielleicht zum letzten Mal in der Geschichte des Denkens – eine Aufgabe und ein Ziel für die Menschen, insbesondere für die »junge Generation« (ebd.), gestellt und ausformuliert wurde: nämlich die Herstellung des »Reichs der Freiheit« (ebd.: 159). Marx habe fortgesetzt und weitergeführt, was die Aufklärung seit Kant den Menschen versprochen hatte; seine Zielsetzung stehe im vollen »Einklang mit den Tendenzen bürgerlicher Geschichtsphilosophie« (ebd.: 158). Alle Ideale der Gesellschaft, ob theologischer oder idealistischer Art, seien mehr oder minder der Wissenschaft zum Opfer gefallen, nur der Sozialismus, »im Sinne gemeinsamer Naturbeherrschung, Abschaffung der Unterschiede von Besitz und Notstand, Garantie der größten, nur durch die Erfordernisse friedlichen Zusammenlebens eingeschränkten individuellen Unabhängigkeit« (ebd.), erscheint Horkheimer als die aktuell mögliche und zukünftige Auflösung des Gangs der Geschichte. Für Horkheimer geht es darum, mit Marx eine gerade rebellierende junge Generation kritisch zu bilden und auszubilden, die das praktische Ziel eines ›ewigen Friedens‹ (Kant) oder eines ›Reichs der Freiheit‹ (Marx) noch nicht vergessen oder aufgegeben hat.

Zwei Dinge sind an diesem Vortrag von Horkheimer aufschlussreich, und zwar zum einen der offensichtliche politische Impetus, der diesem Vortrag zugrunde liegt: Marx muss nun endlich im Zuge der Reformen an den Universitäten umfassend in Geschichtsschreibung, Sozialwissenschaften, Ökonomie und Philosophie Eingang finden und sogar zum bevorzugten Lehrstoff gemacht werden. Wir befinden uns am Anfang einer sich dann in den 1970er Jahren durchsetzenden Akademisierung der Marx’schen Theorie und Gesellschaftskritik. Was bis dahin lediglich vereinzelt in Hörsälen und Oberseminaren über Marx zur Kenntnis gebracht und in außeruniversitären Zirkeln und Arbeitsgruppen sich angeeignet wurde, soll nun – nicht zuletzt vielleicht auch aus Gründen der gelehrten Aufsicht und Kontrolle – breitenwirksam in der grundständigen Lehre seinen Platz finden. Doch die von Horkheimer angemahnte Pflicht und Dringlichkeit, die akademischen Türen für Marx zu öffnen, sind nicht ohne einen Preis zu haben, der hier schon sichtbar und der bis in die Gegenwart hineinreichen wird. Das eben ist der zweite bemerkenswerte Aspekt von Horkheimers Rede: dass sie im Grunde ihrem Auditorium gegenüber, nämlich den Bildungspolitikern, den Hochschulleitungen und den professoralen Kollegen und (wenigen) Kolleginnen, einen akademisierten, bürgerlich-humanistischen Marx präsentiert, der zwar noch nicht ganz reibungslos in die Welt der klassischen Denker aufgenommen werden kann, der aber doch beträchtlich an politischem und gesellschaftlichem Beunruhigungspotential eingebüßt hat. Während Horkheimer also die Marx’sche Gesellschaftskritik als unabwendbaren Ausgangspunkt einer gebildeten jungen Generation beschwört, nimmt er denen, die darin schon den ersten Schritt in den Kommunismus erblicken, die Angst und zerstreut ihre Bedenken. Denn er wird nicht müde, zu betonen, dass Marx natürlich in bestimmten Punkten geirrt habe: So sei etwa die Verbindung des Sozialismus »mit dem Klassenkampf überholt« (ebd.). Auch müsse die »Verwirklichung des Ideals« von Marx – das ›Reich der Freiheit‹ – keineswegs mehr mit einer »Abschaffung der Klassen« identisch gedacht werden, wie überhaupt das Ziel der Marx’schen Bestrebungen »in Wahrheit Proletariern nicht näher als den aufgeklärten Bürgern« liege (ebd.). Kein Klassenkampf also, kein revolutionäres proletarisches Subjekt, keine Partei, keine klassenlose Gesellschaft, kein Kommunismus, keine Revolution! Letztlich denkt sich Horkheimer die Verwirklichung des Marx’schen Ideals nicht als eine notwendige historische Bewegung zur radikalen, mitunter gewalttätigen Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, sondern geradezu als einen globalen humanistischen Akt einer sozialphilosophisch aufgeklärten technisch-ökonomischen Elite, wie man sie aus Francis Bacons Nova Atlantis oder den Utopien Saint-Simons kennt:

»Wäre es möglich, so etwa ließe sich fragen, sachverständige Menschen in der Gegenwart zu vereinigen, um einen bis in alle Einzelheiten durchdachten und sachlich erfüllbaren Plan zur Überwindung der Not zu entwerfen, unter der Verpflichtung, politische Bedingungen, nationale Rücksichten außer acht zu lassen? Wäre in Jahren hingebender Arbeit einzig aufgrund genauer Forschung zu bestimmen, was ein Land mit seinen Rohstoffen und Maschinen zu leisten hätte, ohne auch nur einen seiner Bürger schlechter zu stellen, um die Nahrungsmittel und Instrumente zu liefern, die Lagerhäuser und Transportwege herzustellen, den Geburtenzuwachs zu regeln, damit in einer ungefähr zu berechnenden Zeit niemand auf der Erde hungern muß, damit Spitäler geschaffen, medizinisches Personal erzogen und bereitgestellt, Epidemien verhütet werden, schließlich jeder eine menschenwürdige Wohnung hat?« (Ebd.: 159)

Für Horkheimer steht fest, dass Marx die Wahrheit der bürgerlichen Gesellschaft ausgesprochen hat, die Wahrheit nämlich, dass diese Gesellschaft immer noch und geradezu auf irrationale Art und Weise Herrschaft, Ungleichheit, Mangel und materielle Not erzeugt, obwohl längst schon das gesellschaftliche Wissen und die ökonomischen Mittel vorhanden wären, eine solidarische, herrschaftsfreie und menschliche Gesellschaft zu errichten. Es ist diese Wahrheit, die Horkheimer in die schulischen, universitären und akademischen Räume hineintragen und dort zirkulieren sehen will – mit dem möglichen, von ihm beschriebenen Ziel der Herausbildung einer neuen humanistischen Elite, die die Kraft aufbringt und das vorhandene Wissen einsetzt, um diese solidarische Gesellschaft zu verwirklichen. Horkheimer will die Wahrheit der Marx’schen Gesellschaftskritik zirkulieren lassen, aber er glaubt, sie ohne ihre politische Dimension, ohne Klassenkampf, ohne Proletariat und ohne Kommunismus zirkulieren lassen zu können – kurz und plakativ formuliert: Er will die Wahrheit der Gesellschaftskritik, aber ohne Revolution. Der Preis, den Horkheimer, gewollt oder ungewollt, für diese Abspaltung und Zurückweisung der revolutionären Dimension von Gesellschaftskritik zahlen muss, ist letztlich der, einen Schritt hinter die Gesellschaftskritik von Marx zurückfallen zu müssen, um ein bürgerlich-humanistisches Expertenprojekt zu imaginieren, das Wahrheit selbst als ein schon fertiges Erkenntnisprodukt begreift, bereit, in einen technisch-ökonomischen Realisierungsprozess eingespeist zu werden.

Natürlich hatte Horkheimers Plädoyer für die Wahrheit ohne Revolution im Jahr 1968 einen spezifischen historisch-politischen Sinn: Der Blick nach Osten in die Länder, die unter der ideologischen und praktischen Herrschaft des Sowjetmarxismus standen, hatte spätestens mit der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 gezeigt, dass sich dort die Marx’sche Gesellschaftskritik unter Bedingungen der bolschewistischen Revolution in einen stalinistischen Albtraum verwandelt hatte.2 Wollte man also die Marx’sche Wahrheit der Gesellschaftskritik unter Bedingungen des Kalten Krieges, des ›real-existierenden Sozialismus‹ und einer sich im Zuge der weltweiten Studentenbewegungen formierenden neuen antikommunistischen Welle in die akademischen Räume einführen, so musste man ›Marx‹ auf größtmögliche Distanz zum ›Marxismus‹ bringen; man musste seine Gesellschaftskritik entweder als streng wissenschaftliche Kritik der politischen Ökonomie oder als sozialphilosophische Kritik bürgerlich-gesellschaftlicher Lebensformen lesen. Es galt zumindest, jede ernsthafte, systematisch notwendige Verbindung zwischen der Marx’schen Gesellschaftskritik (›kritische Sozialphilosophie‹, ›kritische Gesellschaftstheorie‹) und dem Marx’schen politischen Projekt einer kommunistischen Revolution (›Diktatur des Proletariats‹, ›klassenlose Gesellschaft‹) zu bestreiten.

Heute kann man sagen, dass tatsächlich auf diese Weise Marx und seine Gesellschaftskritik in den Hochschulen, Universitäten und Akademien angekommen sind und überdauert haben. Ob Horkheimer heute, fünfzig Jahre nach seiner Rede von der Dringlichkeit, die Marx’sche Gesellschaftskritik zu studieren, mit dieser Art von ›Überdauerung‹ und Tradierung zufrieden wäre, kann vielleicht bezweifelt werden, doch lässt sich feststellen: Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie ist heute Teil einer umfassenden und weltweiten Marx-Forschung; die äußerst erfolgreiche Fortführung der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) nach 1990 hat insgesamt der akademischen Beschäftigung mit Marx einen außerordentlichen Schub gegeben. Auch im Bereich der sozialphilosophischen Kritik von Lebensformen hat es eine universitäre Tradierung und Weiterführung der Marx’schen Gesellschaftskritik gegeben, die heute beispielsweise mit Namen wie Axel Honneth und Rahel Jaeggi verknüpft sind. Nimmt man allerdings den Essayband von Honneths Idee des Sozialismus (Honneth 2015) zur Hand, so hat man doch eher den Eindruck, hier gehe es darum, die Marx’sche Gesellschaftskritik so sanft und unauffällig wie möglich aus der sozialphilosophischen Kritik auszutreiben. Marx fungiert hier nur noch als Stichwortgeber eines vermeintlich ›sozialistischen‹ Projekts, das kaum mehr vom Sozialliberalismus des frühen 20. Jahrhunderts (John Dewey, Karl Polanyi) zu unterscheiden ist. Die bürgerliche Gesellschaft wird nicht mehr als Herrschaftsform begriffen, die überwunden werden muss, sondern als Sphäre von Markt, Demokratie und Freiheit letztlich zu retten versucht vor ihren vermeintlich historisch kontingenten Fehlentwicklungen und Überformungen. So soll es die Aufgabe des Sozialismus sein, »den Begriff des Marktes von allen ihm nachträglich zugefügten Beimischungen kapitalismusspezifischer Eigenschaften […] wieder zu reinigen, um ihn so auf seine moralische Belastbarkeit hin prüfen zu können« (ebd.: 107), wie überhaupt die Wahrheit des Sozialismus nun verstanden werden soll als »die spezifisch moderne Artikulation der Tatsache […], daß im historischen Prozeß stets neue, je nach gesellschaftlichen Umständen variierende Gruppen Anstrengungen unternehmen, den eigenen, bislang unberücksichtigten Ansprüchen öffentlich dadurch Gehör zu verschaffen, daß sie Kommunikationsbarrieren niederreißen und dementsprechend Spielräume sozialer Freiheit zu erweitern versuchen« (ebd.: 104). Und vielleicht ist diese Art der ›Tradierung‹, der Rezeption und des Umgangs mit der Marx’schen Gesellschaftskritik im akademischen Raum geradezu symptomatisch. Als Horkheimer 1968 den Wahrheitskern der Marx’schen Gesellschaftskritik in den akademischen Räumen zirkulieren lassen wollte, musste er einen Preis zahlen, nämlich die Abkopplung oder Isolation der Wahrheit von der Revolution. Heute, 50 Jahre später und unter völlig anderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, zeigt sich zwar, dass ein wissenschaftlicher und sozialphilosophischer Marx tatsächlich Eingang gefunden hat in die akademischen Räume, dass nun aber mit der Revolutionsperspektive auch der Wahrheitsanspruch der Gesellschaftskritik selbst geschleift worden ist.

Es ist nun die Grundintention des vorliegenden Bandes und der drei darin versammelten Studien, aufzuzeigen, dass der Wahrheitsanspruch der Marx’schen Gesellschaftskritik nicht nur nicht zu lösen ist von deren kommunistischer Motivation und dem Ziel der revolutionären Umwälzung ihres Gegenstands, der bürgerlichen Gesellschaft, sondern dieser inwendige Zusammenhang von Analyse und politischem Einsatz, von theoretischer Kritik und revolutionärer Zielsetzung, von Wahrheit und Revolution, gerade den Kern der Marx’schen Wissenschaftlichkeit darstellt, sie nur so denkbar und verstehbar ist. Schon in unserer vorherigen gemeinsamen Publikation (Bohlender/Schönfelder/Spekker 2018) haben wir zu zeigen versucht, dass innerhalb der gegenwärtigen Marx-Forschung und -Rezeption im Hinblick auf die Marx’sche Gesellschaftskritik ein grundlegendes Missverständnis vorherrscht: die Vorstellung nämlich, man könne die politische Stimme Marxens aus der wissenschaftlichen Kritik verbannen oder einfach ignorieren; die Vorstellung, man könne ohne große substantielle Verluste die wissenschaftliche Stimme Marxens isolieren und die politische, die kommunistisch-revolutionäre und mitunter eben auch die gewalttätige, beunruhigende, irritierende Seite seines Denkens in den Bereich des ›Unwissenschaftlichen‹, des historisch Kontingenten verweisen. Demgegenüber hat unsere Genealogie der Gesellschaftskritik in einer Reihe von Einzelstudienstudien3 offenlegen können, dass Gesellschaftskritik bei Marx zutiefst eingelassen ist in je spezifische politische Konstellationen und dass erst im ›Handgemenge‹ mit den jeweiligen Gegnern und Antagonisten die Marx’sche Gesellschaftskritik Kontur annimmt. Doch das ›Handgemenge‹ ist nicht nur ein konstitutiver Geltungsgrund der Marx’schen Kritik. Auch umgekehrt gilt: Die theoretischen Gründe, die wissenschaftlichen Argumentationen und die analytische Kritik des Marx’schen Projekts sind Teil eines performativ-politischen Einsatzes für die Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ja sie sind selbst gewichtiger Teil einer sich historisch vollziehenden Bewegung für eine kommunistische Revolution.

Im Übrigen ist hier auch eine wesentliche Differenz zu markieren zwischen einer Gesellschaftskritik, die sich selbst als Ausdruck einer umfassenden historischen Bewegung zur revolutionären Beseitigung der kapitalistisch formierten Herrschaftsverhältnisse begreift, und einer in den selbstgesteckten Grenzen der Philosophie, Epistemologie oder Wissenschaft verbleibenden Kritik in der Tradition der bürgerlichen Aufklärung, die, wo sie sich politisch äußert, lediglich die Grenzen bestimmt, innerhalb derer eine praktische Verbesserung von Herrschaftsverhältnissen, also eine Verwandlung von Herrschaft in Regierung, Governance, Demokratie, Mitbestimmung, Partizipation etc., prinzipiell möglich und über die hinaus Veränderung sinnlos und unmöglich ist. Gesellschaftskritik hingegen, die ihren historischen Anfang bei Marx hat, zielt auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation als Ganzes. Auch hier wird noch einmal offensichtlich, wie eng Wahrheit und Revolution bei Marx verzahnt sind: Ist als Wahrheit dieser Gesellschaft begrifflich entfaltet und festgemacht, dass diese in ihren geschichtlich gewordenen Herrschaftsformen eine grundsätzliche Verkehrung der praktischen menschlichen Weltbezüge, zugleich aber auch die Subjekte und Mittel hervorgebracht hat, um diesen Zustand grundlegend umzuwälzen, dann ist hier nicht ein mögliches Ziel, eine mögliche Aufgabe, ein Vorschlag oder Reformplan formuliert. Mit der wissenschaftlichen Analyse, Darstellung und somit Kritik dieser Gesellschaft werden die Protagonistinnen und Protagonisten, die Subjekte dieser so ausgemachten geschichtlichen Wahrheit, in die kommunistische Selbstorganisierung und die Arbeit der revolutionären Beseitigung dieser Gesellschaft getrieben, von der kein Abweichen geduldet werden kann. Für diesen Modus der Verknüpfung von Wahrheit und Revolution haben Marx und Engels gar eine neue politische Textgattung entwickelt und im Manifest der Kommunistischen Partei exemplifiziert.

Es wäre also ein großes Missverständnis, zu glauben, man könne die Marx’sche Gesellschaftskritik problemlos ihrer revolutionären, politisch-performativen Dimension entkleiden, und übrig bliebe ein wissenschaftlicher, erkenntnistheoretischer oder sozialphilosophischer Kern, der die letzten anderthalb Jahrhunderte überdauert hätte, – ein akademisch zu bearbeitender, aber politisch aseptischer Kern, den man beruhigten Gewissens, weil weitab von den historischen und aktuellen Instrumentalisierungen dieser Gesellschaftskritik in den Marxismen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, zirkulieren lassen könnte. Man würde damit nicht nur den Grundgedanken (Revolution und klassenlose Gesellschaft) und den spezifischen Modus (performativ-politischer Einsatz) der Marx’schen Gesellschaftskritik verfehlen; man würde darüber hinaus auch die ungeheure Breite und Tiefe in der praktischen Durchführung dieser Gesellschaftskritik unterschlagen. Denn die tatsächliche Praxis der Gesellschaftskritik, die Marx von 1844 an zusammen mit Engels ausgearbeitet und die er fast vierzig Jahre lang vorangetrieben hat, umfasst vielfältige Themenbereiche und mediale Felder, wie die vorliegenden Studien verdeutlichen werden: Natürlich ist die Wissenschaft dasjenige Feld der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, in das Marx zeitlebens die umfangreichsten Anstrengungen fließen ließ. Hier gelingt es ihm nicht nur, den unter den ökonomischen Formen versteckten und sich durch sie hindurch bewegenden bürgerlichen Herrschafts- und Ausbeutungszusammenhang aufzuschlüsseln und so zu zeigen, dass diese Produktionsweise im Interesse einer befreiten Gesellschaft weder reformiert noch dadurch verändert werden kann, dass man sie mit ihren eigenen Gerechtigkeitsidealen konfrontiert, die lediglich durch Lug und Betrug pervertiert würden. Zugleich hängt sein Begriff dieser Produktionsweise als einer verkehrten, negativen sowohl in seinen epistemischen Voraussetzungen inwendig mit seiner kommunistischen Zielsetzung zusammen, wie er diese als bestimmte Negation darstellt, die notwendig in diesen Verhältnissen heranreift und zur politisch-praktischen Umsetzung drängt.

Doch nicht minder bedeutsam als das Feld der Wissenschaft sind für die Gesellschaftskritik auch noch (mindestens) zwei weitere Felder, auf denen Marx seine gesellschaftskritische Aktivität entfaltet, die in der heutigen Forschung jedoch zumeist kaum Beachtung finden: Da ist vor allem das Feld der journalistischen Praxis zu nennen, in der Marx die Gelegenheit ergreift, einem zeitgenössischen Publikum das revolutionäre Potential der modernen Gesellschaftsform anhand der aktuellen politischen und ökonomischen Ereignisse in Europa vorzuführen. Dabei ist nicht nur an die unzähligen Artikel in einschlägigen sozialistischen und kommunistischen Zeitschriften zu erinnern, sondern gerade auch an die fast zehnjährige journalistische Arbeit für die New York (Daily) Tribune, in der Marx die Gesellschaftskritik und damit die kommunistische Stimme des Klassenkampfes nun auf die Weltbühne bringt. Wenn Buch und Monographie das Transportmedium der gesellschaftskritischen Wissenschaft sind, so war Marx doch auch immer daran interessiert, eine eigene Zeitung zu etablieren, die die Gesellschaftskritik in den alltäglichen politischen, sozialen und ökonomischen Kämpfen sichtbar und präsent werden lässt. Allerdings ist ihm das bekanntermaßen nur einmal und für relativ kurze Zeit gelungen: In der Revolution 1848/49 ließ Marx sogar den Bund der Kommunisten auf Eis legen, nur um die Neue Rheinische Zeitung – Organ der Demokratie (NRhZ) zu gründen, die er als ein entscheidendes Transportmedium seiner Gesellschaftskritik verstand. Im Vollzug der Revolution sollte die NRhZ die Debatten und Diskussionen aufgreifen, begleiten und den revolutionären Kräften immer wieder die Richtung der Kämpfe zeigen, die ausgehend von einer bürgerlichen Revolution in eine endgültige proletarische Revolution in Deutschland und Europa münden würden. Mit dem Verweis auf den Bund der Kommunisten ist zudem ein drittes, gewichtiges mediales Feld benannt, auf dem Marx die Gesellschaftskritik artikuliert: die politische Organisation. Von den Kommunistischen Korrespondenz-Komitees über den Bund der Kommunisten bis hin zur Internationalen Arbeiterassoziation: Marx hat mit Engels zusammen immer wieder versucht, das gesellschaftskritische Dispositiv in die schon vorhandenen Parteien, Bündnisse und Organisationen der internationalen Arbeiterbewegung einzuschreiben und dort das Programm des kritischen und revolutionären Kommunismus zu etablieren. Denn nicht zuletzt ging es hier darum, jenes proletarische, revolutionäre Subjekt zu finden, zu formieren und zu organisieren, das der Theorie zufolge auf dem Boden der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft den Klassenkampf ausfechten und die Revolution vollziehen müsse.

Wenn man so will, sind also Buch, Zeitung und Partei die wesentlichen Medien der Gesellschaftskritik. Als solche sind gerade auch die ersteren beiden nicht bloß Formen der theoretischen Reflexion, sondern zugleich selbst Formen der Praxis, die grundlegend auf das zielen, was Marx seit 1843/44 umtreibt: die Arbeit an der Revolution. Blickt man noch einmal auf die zweite Feuerbach-These, so ist diese umfassende praktisch-politische und performative Dimension der Gesellschaftskritik nicht sonderlich erstaunlich, denn die Wahrheit der Gesellschaftskritik ist eine »praktische Frage«; erst im praktischen Vollzug – und das heißt: in der revolutionären Praxis4 – erweist sich die Wahrheit, Macht und Wirklichkeit dieser Kritik. Die Wahrheit bei Marx ist nicht ›nur‹ ein wissenschaftliches, epistemisches Problem, sie ist in genau diesem Sinne zugleich ein Problem der praktischen Umwälzung ihres Kritikgegenstands und der Formierung eines Subjekts dieser Umwälzung: Sie ist ein revolutionäres Problem.

Wahrheit und Revolution: Nur wenn man diese beiden Begriffe aufeinander bezieht und zusammendenkt, werden auf der einen Seite der präzise Sinn (revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft), der mediale Umfang (Wissenschaft, Journalismus, Organisation) sowie die politische Intensität (Handgemenge, Gegnerschaft) der Marx’schen Gesellschaftskritik verstehbar. Doch auf der anderen Seite erscheint mit dieser für die Gesellschaftskritik geradezu notwendigen Verbindung von Wahrheitsanspruch und weltgeschichtlicher Beseitigung von Klassenherrschaft eine grundlegende Problematik. Was nämlich unter der Perspektive von Wahrheit und Revolution nun in den Fokus rückt, ist die Militanz, der politische Rigorismus einer Gesellschaftskritik, deren Wahrheitsbegriff zugleich die Anweisung auf die revolutionäre Abschaffung ihres Gegenstands inhäriert. Marx versteht seine Gesellschaftskritik nicht als passiv beobachtende Wissenschaft, sondern als Ausdruck einer historischen, revolutionären Bewegung, die gleichsam die Wahrheit über die Gegenwart und die Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft als Herrschaftsform ausspricht. In einer bemerkenswerten Passage aus dem Elend der Philosophie hat Marx den Status bzw. die Rolle seiner eigenen gesellschaftskritischen Praxis innerhalb der besagten revolutionären Bewegung sehr genau beschrieben und damit den Zusammenhang von wissenschaftlicher Wahrheit und proletarischer Revolution betont:

»Wie die Oekonomen die wissenschaftlichen Vertreter der Bourgeoisklasse sind, so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats. So lange das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituiren, und daher der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie noch keinen politischen Charakter trägt, […] so lange sind diese Theoretiker nur Utopisten, die um den Bedürfnissen der unterdrückten Klassen abzuhelfen, Systeme ausdenken und nach einer regenerirenden Wissenschaft suchen. Aber in dem Masse, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nöthig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt und sich zum Organ desselben zu machen. […] Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.« (MEGA² I/30: 301 f.)

Ungeachtet dessen, dass Marx hier – wie noch zu problematisieren sein wird – mit dem empiristischen Duktus des Augenscheins die eigenen philosophischen Voraussetzungen seiner Kritik invisibilisiert, ist besonders bemerkenswert, dass er nicht nur einen objektiven Vorgang beschreibt, sondern zugleich Einsicht fordert und einen Imperativ ausspricht: Die Theoretiker des Proletariats ›haben sich Rechenschaft abzulegen und sich zum Organ der Revolution zu machen‹. Darin drückt sich nicht weniger als das zentrale politische Problem aus, das notwendigerweise jeder Gesellschaftskritik innewohnt, die ihre Urteile mit dem wissenschaftlich fundierten Anspruch auf Wahrheit fasst. Begriffliches Denken, das Medium rationaler Kritik, zielt auf allgemeingültige, notwendige Urteile. Als Gesellschaftskritik ist dieses Denken aber zugleich immer schon auf praktische Veränderung, ja den revolutionären Umsturz ihres Gegenstands bezogen, und diesen Umsturz kann es zwar mit vernünftigem Interesse antizipieren und vielleicht auch seine adäquate Form bestimmen, doch begibt es sich damit notwendig auf ein Terrain, das nicht mehr unmittelbar seinen universalen Gesetzen gehorcht, aber doch allein der Ort sein kann, an dem sich die Wahrheit der auf die Revolution zielenden Kritik in der geschichtlichen Tat zu erweisen hat.5 So ist Marx’ begründeter »Wahrheitsabsolutismus« (Marcuse 1962: 282) unausweichlich mit der Frage konfrontiert, wie eigentlich mit all denjenigen zu verfahren sei, die sich nicht zum Organ jener die Wahrheit vollziehenden Revolution machen wollen; die im ›Doktrinären‹ und ›Utopischen‹ verbleiben und die gar dem Vollzug der Bewegung und damit der Wahrheit im Wege stehen. Im Moment der Möglichkeit der Revolution, d.h. in einer sich zuspitzenden antagonistischen Konstellation des Klassenkampfes, muss die Gesellschaftskritik also auch ein Urteil über diejenigen sprechen, die sich nicht zur bewussten Klasse des Proletariats konstituieren (›Kleinbürgertum‹, ›Lumpenproletariat‹), und über diejenigen, die nicht zum historisch richtigen Kommunismus konvertieren (der ›wahre Sozialismus‹ von Grün, der Handwerkerkommunismus von Weitling, der philosophische Kommunismus von Hess, der Sozialismus von Proudhon, später dann der Anarchismus von Bakunin, der Sozialismus von Lassalle etc.). Mit Buch, Zeitung und Partei wird also niemals nur für das neue kommunistische Projekt einer herrschaftsfreien klassenlosen Gesellschaft gearbeitet, sondern mit derselben Konsequenz auch gegen alle, die sich der Verwirklichung dieses Projekts entgegenstellen – und seien es selbst Proletarierinnen und Proletarier, Sozialisten und Kommunistinnen.6

Dort, wo man heute mit und in Anknüpfung an Marx versucht, Gesellschaftskritik zu betreiben, hat man die hier beschriebenen Konsequenzen des revolutionären Wahrheitsurteils weitgehend ignoriert, übergangen oder eingeklammert. Auf der Suche nach der reinen wissenschaftlichen oder reinen philosophischen Gesellschaftskritik (und vielleicht auch als Schutz vor den beunruhigenden und irritierenden politischen Folgen) hat man die revolutionäre, kommunistische Stimme verbannt und damit von vornherein verunmöglicht, diese Problematik als eine der Marx’schen Kritik notwendig inhärente überhaupt wahrzunehmen. Diese Problematik aber kann nur dann sichtbar werden, wenn der in die Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation eingelassene Wahrheitsanspruch nicht mehr als von der revolutionären Umwälzung dieser Gesellschaft getrennt begriffen wird.

Wenn es die Grundintention dieses Bandes ist, den Zusammenhang von Wahrheit und Revolution, von Analyse und Urteil in der Marx’schen Gesellschaftskritik wieder in den Mittelpunkt zu rücken, dann ist es uns im selben Maße ein Anliegen, das damit einhergehende Beunruhigende und Problematische offenzulegen. Eine Gesellschaftskritik, die sich heute noch mit guten Gründen auf Marx berufen will, muss sich unseres Erachtens dieser Problematik stellen – nicht nur deshalb, weil man sonst Gefahr läuft, die radikal gesellschaftsverändernde Perspektive dieser Kritik zu schleifen, und am Ende die »Idee des Sozialismus« mit der Vorstellung verwechselt, es gehe lediglich darum, soziale »Kommunikationsbarrieren niederzureißen«, um die »Spielräume sozialer Freiheit zu erweitern« (Honneth 2015: 104). Man muss vor allem auch deshalb die Marx’sche Gesellschaftskritik problematisieren, weil gleichsam auch umgekehrt damit die theoretischen, politischen und gesellschaftlichen Kosten zutage treten, die einer dieser grundlegenden Problematik gegenüber blinden Affirmation der »Idee des Kommunismus« verdeckt bleiben müssen. Nur so ist zu erklären, dass man neuerdings auch in Teilen der akademischen Linken wieder mit Lenin und dem Bolschewismus kokettiert und geradezu von einer »Treue« zur Idee, zur Hypothese oder zum Horizont des Kommunismus ausgerechnet in seinen real-sozialistischen Ausformungen schwärmt (Douzinas/Žižek 2012: 12), die »tatsächliche Größe Lenins« (Žižek 2002: 193) wieder feiert und den Terror und die Toten dieser Projekte mit einer eigentümlich verharmlosenden, wenn nicht gar rechtfertigenden Geste so beschreibt:

»Im Hinblick auf den politischen Terror läßt sich die Kluft, die die Ära Lenins vom Stalinismus unterscheidet, genau benennen: zu Lenins Zeiten wurde der Terror offen zugegeben (Trotzki prahlte sogar manchmal großspurig mit der undemokratischen Natur der bolschewistischen Regierung und dem Terror, den sie ausübte), während sich zu Stalins Zeiten der symbolische Status des Terrors völlig veränderte. Terror verwandelte sich in ein öffentlich nicht anerkanntes obszönes und undurchsichtiges Supplement des offiziellen Diskurses.« (Ebd.: 261)

Es scheint hier so, als sei nicht der Terror selbst das Problem, sondern nur der symbolische Status desselben. Ob nun aber offen und anerkannt (von wem eigentlich?) oder verdeckt, ob großmäulig oder obszön, ob vom ›Genie‹ Lenin gebilligt oder vom mittelmäßigen Stalin angeordnet: Darüber können diejenigen jedenfalls, die der Terror trifft, keinen gelehrten Diskurs mehr führen. Vielleicht rechnet man auch einfach mit diesen Toten, wie der Maoist Alain Badiou mit den mindestens 750.000 Toten der chinesischen Kulturrevolution rechnet: »Wie soll man sich vorstellen, dass ein Kampf für die totale Neuausrichtung der Macht, für eine gänzliche Neugründung der Staatsform selbst ohne wesentliche materielle und menschliche Opfer vor sich geht?« (Badiou 2014: 60) Die sozialphilosophische Verharmlosung des Marx’schen Wahrheitsanspruchs ist offensichtlich garnichts gegen solchen politischen Wahnsinn, mit dem die bloße Möglichkeit dessen, worauf Marx mit diesem Anspruch zielte, vernichtet wird: die vernünftig eingerichtete Gesellschaft, der ›Verein freier Menschen‹.

Die nun folgenden drei Studien zur Marx’schen Gesellschaftskritik und deren Grundproblematik beschäftigen sich jeweils vorwiegend mit einem der drei medialen Felder, auf denen Marx als Wissenschaftler, Journalist und kommunistischer Organisator seine Kritik artikuliert und praktiziert hat.

Mit der ersten Studie soll das grundlegende Wissenschaftsverständnis ausgeleuchtet werden, wie es sich durch das gesamte Marx’sche Werk zieht und seine Höhe schließlich im Kapital erreichen wird. Ausgehend von der Feststellung, dass gerade auch hier vielfältige Bezüge auf eine zukünftige kommunistische Gesellschaft zu finden sind, die offenbar nicht nur ausschmückendes Beiwerk zu einem grundsätzlich davon zu trennenden wissenschaftlichen ›Kern‹ der Argumentation darstellen, sondern in die wissenschaftliche Darstellung selbst einfließen, soll hier der grundsätzliche Status dieser Bezüge untersucht werden. Zu diesem Zweck ist es nötig, zunächst einen historischen Sprung zurück zu dem (textlichen) Ort zu machen, an dem Marx erstmals den Kommunismus zum Dreh- und Angelpunkt seiner kritischen Untersuchungen der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse macht: den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844. Hier wird Marx den Kommunismus aus den Verhältnissen selbst als deren bestimmte Negation und damit als Wahrheit, als das »aufgelöste Räthsel« der bisherigen, sich so als Verkehrung darstellenden Geschichte fassen. Dieser emphatische Wahrheitsbegriff, den er maßgeblich in der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt, zieht sich, wie auch unter Zurückweisung der gängigen Behauptung eines mit der Deutschen Ideologie vollzogenen ›epistemischen Bruchs‹ (Althusser) gezeigt werden soll, bis in das wissenschaftliche Hauptwerk Marxens: die Kritik der politischen Ökonomie. So wird deutlich zu machen sein, dass ein inwendiger Zusammenhang zwischen Marx’ Perspektive auf eine kommunistische, revolutionäre Umwälzung und seiner wissenschaftlichen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise besteht; dass Marx’ spezifisches Kommunismusverständnis nicht nur die epistemische Voraussetzung seiner systematischen Darstellung ist, sondern die Wahrheit der sich so überhaupt erst begrifflich erschließenden bürgerlichen Verhältnisse deren revolutionäre Aufhebung selbst ist.

Die zweite Studie nähert sich Marx’ Sicht auf die politische Situation Europas nach 1848. Wie kann er in einer Zeit, in der die europäischen Regierungen untereinander Allianzen zur Wiederherstellung der vorrevolutionären Ordnung pflegen und ihre Macht gegen innere Opposition absichern, überall Anzeichen der Revolution entdecken? Erklärbar ist diese Perspektive, mit der Marx als Journalist vor ein breites Publikum tritt, mit seinem Anspruch, das Zeitgeschehen gerade nicht nur mittels Beobachtung der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse abbilden, sondern durch Einsicht in historische Entwicklungsgesetze erklären zu können, die auf die Befreiung von gesellschaftlicher Herrschaft, auf eine revolutionäre Umwälzung, hindrängen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Zeitungsartikel, die Marx in den 1850er Jahren über England und Frankreich schreibt. An diesem Material operationalisiert er seine Revolutionsperspektive, wenn er den bonapartistischen Neuentwurf des Kaisertums in Frankreich und das Herrschaftsarrangement zwischen Aristokratie und Bourgeoisie in England nicht als Formen unumschränkter Macht, sondern als Abwehrstrategien gegen den Klassenkampf begreift, mit dessen Gründen auch nach den europäischen Revolutionen von 1848/49 längst nicht aufgeräumt worden sei. Dieser Zugang zu den Ereignissen ist auch der Grund, warum Marx auf beiden Seiten des Ärmelkanals Techniken zur autoritären Stillstellung sozialer Konflikte identifizieren kann: nationalistischen Populismus, Maßnahmenstaat und protegierten Liberalismus. Zugleich aber stellt sein Versuch, unter Berufung auf die ›wirkliche, empirische Geschichte‹ die Revolution als notwendig und unausweichlich auszuweisen und auf diesem Wege nicht zuletzt auch seine materialistische Perspektive als wahr zu begründen, auch ein Erkenntnishindernis dar: Marx kann sich nicht vorstellen, dass er es hier mit äußerst modernen Krisenlösungsregimes zu tun hat, die Epoche machen werden. Gesellschaftskritik heute kann deshalb an sein Denken nicht unmittelbar anknüpfen, sondern muss sich zunächst die historischen und epistemischen Voraussetzungen klarmachen, unter denen er zu seinen politischen Urteilen gelangte.

In der dritten Studie geht es um die Frage nach der Verwandlung des Subjekts der Gesellschaftskritik in ein revolutionäres, proletarisches oder kommunistisches Klassen-Subjekt. Wie kommt es dazu, dass die vielen und mannigfaltigen plebejisch-proletarischen Subjekte zu einem einzigen Proletariat, zu einem revolutionären Subjekt, verschmelzen? Schon in der Formierungsperiode der Marx’schen Gesellschaftskritik taucht dieses Problem auf und findet seinen ersten bedeutenden Niederschlag in der Auseinandersetzung zwischen Marx und Max Stirner. Stirner hatte den Vorgang der Subjektivierung, d.h. der Produktion und Formierung eines ›Wahrheitssubjekts‹, in seiner Schrift Der Einzige und sein Eigentum als eine umfassende historische und institutionalisierte Machtprozedur beschrieben, bei der eine überindividuelle Wahrheit (Staat, Nation, Religion, Mensch, Proletariat, Kommunismus etc.) im Individuum verankert werden muss, und zwar in Form spezifischer ›Glaubenspraktiken‹. Für Marx hingegen war die Subjektivierung des ›Proletariats‹, d.h. das bewusste Zur-Klasse-Werden des Arbeiters und der Arbeiterin, eine in die geschichtliche Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise eingeschriebene Wahrheitsprozedur. Das ›Proletariat‹ sollte ihm zufolge gleichsam innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und gegen sie einen politischen und sozioökonomischen (Klassen-)Bildungsprozess durchlaufen, der auf doppelte Weise gesellschaftliche Veränderung und Selbstveränderung induzieren würde. In der Rekonstruktion des Aufeinanderprallens beider Positionen wird nicht nur deutlich, dass sich hier zwei eigenständige, aber durchaus komplementäre Weisen der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft als Herrschaftsform gegenüberstehen (Kritik bürgerlicher Sinnverhältnisse; Kritik kapitalistischer Produktionsverhältnisse). Ebenso wird gezeigt, dass Marx die soziale und politische Macht von Subjektivierungspraktiken unterschätzt und deshalb problemlos auf kommunistische Organisationsformen (Bund, Partei, Arbeiterassoziation) zurückgreift, um den Bildungs- und Bewusstseinsprozess des ›Proletariats‹ vor allem dann zu ›unterstützen‹, wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen vom Pfad der industrieproletarischen Subjektivierung abweichen und gerade nicht ihre geschichtliche Aufgabe erfüllen – wenn sie beispielsweise zu ›Lumpenproletariern‹ oder zu ›Arbeiteraristokraten‹ werden. Marx hat in seiner Gesellschaftskritik mit der Zurückweisung von Stirners machtkritischer Perspektive eine Lücke im Hinblick auf die Frage der Subjektivierung hinterlassen, in die spätere marxistische Autoren – von Lenin und Lukács bis Žižek – mit der wirkungsmächtigen, aber zugleich fatalen Vorstellung einer Kommunistischen Partei einspringen werden. Die Partei wird jetzt zum wichtigen Bildungsinstrument und Sicherheitsdispositiv eines ›Proletariats‹, das im Moment der Revolution in die »ideologische Krise« (Lukács) und auf reformistische oder gar konterrevolutionäre Abwege gerät.

Der hier vorliegende Band beschließt ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Forschungsprojekt mit dem Titel Marx und die ›Kritik im Handgemenge‹ – Zu einer Genealogie moderner Gesellschaftskritik, das an der Universität Osnabrück angesiedelt war. Wir möchten uns bei all denen bedanken, die auf unterschiedliche Weise das Projekt begleitet haben und mit uns in die Diskussion getreten sind. Unser besonderer Dank gilt Grete Binder, Andy Uphoff, Roman Rüschemeyer und Astrid Lagemann, die mit der Organisation von Workshops und Tagungen, mit der Betreuung unseres Internetauftritts und wissenschaftlichen Recherchen sowie mit der Verwaltung des Projekts entscheidend zu dessen Gelingen beigetragen haben.

1MEGA² IV/3: 20

2Horkheimers alter Mitstreiter Herbert Marcuse hat schon 1957 mit seiner heute fast vergessenen Studie über Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus gezeigt, dass der Marxismus von Lenin und Stalin an den eigenen von Marx entwickelten theoretischen Prämissen gemessen und einer radikalen Kritik unterzogen werden konnte; vgl. Marcuse 1974.

3Siehe neben den Beiträgen im genannten Sammelband insbesondere Bohlender 2016 u. 2019, Schönfelder 2016 und Spekker 2016 u. 2017.

4Man muss diesbezüglich die dritte Feuerbach-These mitlesen: »Das Zusammenfallen des Aenderns der Umstände u. der menschlichen Thätigkeit od. Selbstveränderung kann nur als revolutionaire Praxis gefaßt u. rationell verstanden werden.« (MEGA² IV/3: 20)

5Marx war sich dessen bewusst, und es ist kein Zufall, dass die zweite These ad Feuerbach, die dieses Problem auf den Punkt bringt, auch zeitlich am Beginn des Marx’schen Parteibildungsprozesses steht.

6Ausgerechnet Horkheimer war sich dieses unauflösbaren Zusammenhangs zwischen der auf die befreite Gesellschaft gerichteten Wahrheit und der notfalls gewaltsamen Formierung von deren Subjekt einmal sehr bewusst gewesen. So heißt es rund drei Jahrzehnte vor seinem Vortrag über Marx heute in seinem programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie noch: »Der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teilen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sie aussprechen, […] ist als ein Prozeß von Wechselwirkungen zu verstehen, bei dem das Bewußtsein mit seinen befreienden zugleich seine antreibenden, disziplinierenden, aggressiven [in der ursprünglichen Fassung heißt es ›gewaltsamen‹; d. Verf.] Kräfte entfaltet. Seine Schärfe zeigt sich in der stets gegebenen Möglichkeit der Spannung zwischen dem Theoretiker und der Klasse, der sein Denken gilt. Die Einheit der sozialen Kräfte, von denen die Befreiung erwartet wird, […] existiert nur als Konflikt, welcher ständig die in ihm begriffenen Subjekte bedroht. In der Person des Theoretikers tritt das deutlich zutage; seine Kritik ist aggressiv nicht nur gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden, sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen.« (Horkheimer 2005a: 232 f.)

»ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär«Wahrheit in Marx’ wissenschaftlicher Gesellschaftskritik1

Matthias Spekker

1.Kommunistische oder wissenschaftliche Kritik? – Ein Problemaufriss

Das Kapital ist das unbestrittene Hauptwerk von Karl Marx, in ihm kulminiert ein jahrzehntelanger Forschungsprozess, dessen Ziel die wissenschaftliche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise war. So heruntergebrochen, müsste sich die akademische Marx-Forschung eigentlich ganz unbeschwert der scholastischen Rekonstruktion und Überprüfung der Marx’schen Beweisführung und logischen Argumentation überlassen können – wären da nicht einzelne Sätze wie ganze Abschnitte, die sich so gar nicht dem Wissenschaftsideal fügen wollen, das man auch im Kapital wiederzuerkennen meint. Nicht nur oder gar zuvörderst in Vor- und Nachworten, sondern im Haupttext, wo doch die wissenschaftliche Darstellung der kapitalistischen Verhältnisse erfolgt, ist man immer wieder unversehens mit Andeutungen auf die befreite Gesellschaft, bisweilen gar mit geschichtsphilosophischen Überlegungen konfrontiert.

Den mit Abstand größten Stein des Anstoßes liefert hier bekanntlich der Abschnitt über die Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation