Wahrheiten und Mehrheiten - Peter Strohschneider - E-Book

Wahrheiten und Mehrheiten E-Book

Peter Strohschneider

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Beschreibung

Ob Klima-, Umwelt- oder Gesundheitskrise: Die Machtworte der Wissenschaft verheißen Abhilfe im Zeichen moderner Sachrationalität. Tatsächlich aber verbündet sich hier naive Wissenschaftsgläubigkeit mit einem tendenziell undemokratischen Machtanspruch. Im Mehrheitsprinzip wird Freiheit gewährleistet. Demokratische Herrschaft verbindet diese mit politischen Rationalitätserwartungen. Aktivistische Wissenschaft oder szientistische Politik setzen hingegen einseitig auf das alternativlose Regime einer unbedingten Wahrheit. Das «Follow the Science!» hat in modernen Wissensgesellschaften viel für sich. Öfter bedeutet es jedoch bloß ein «Schluss mit der Diskussion! Die Zeiten sind zu ernst.» Wie dieses Buch anhand aktueller Beispiele zeigt, kann der Szientismus schnell autoritär werden – zum Schaden der liberalen Demokratie wie ihrer Fähigkeit, epochale Herausforderungen klug und wirksam zu bearbeiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Peter Strohschneider

Wahrheiten und Mehrheiten

Kritik des autoritären Szientismus

C.H.Beck

Zum Buch

Ob Klima-, Umwelt- oder Gesundheitskrise: Die Machtworte der Wissenschaft verheißen Abhilfe im Zeichen moderner Sachrationalität. Tatsächlich aber verbündet sich hier naive Wissenschaftsgläubigkeit mit einem tendenziell undemokratischen Machtanspruch.

Im Mehrheitsprinzip wird Freiheit gewährleistet. Demokratische Herrschaft verbindet diese mit politischen Rationalitätserwartungen. Aktivistische Wissenschaft oder szientistische Politik setzen hingegen einseitig auf das alternativlose Regime einer unbedingten Wahrheit. Das «Follow the Science!» hat in modernen Wissensgesellschaften viel für sich. Öfter bedeutet es jedoch bloß ein «Schluss mit der Diskussion! Die Zeiten sind zu ernst.» Wie dieses Buch anhand aktueller Beispiele zeigt, kann der Szientismus schnell autoritär werden — zum Schaden der liberalen Demokratie wie ihrer Fähigkeit, epochale Herausforderungen klug und wirksam zu bearbeiten.

Vita

Peter Strohschneider lehrte Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für seinen Blick auf Wissenschaft und Politik prägende Jahre war er u.a. Vorsitzender des Wissenschaftsrats und der Zukunftskommission Landwirtschaft sowie Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Inhaltsverzeichnis

Eine Einleitung

1. Aktivistische Wissenschaft

Engagement als Protest

Lützerath, Januar 2023

Aktivismus, Politik und Wahrheit

2. Erkenntnisfortschritt und Revisionismus

Epistemik und Sozialität

Wissensformen und -hierarchien

Modernität moderner Wissenschaften

3. Vom Ende moderner Wissenschaften

Kognitiver und aktivistischer Stil

Wissenschaftsverzicht

Die normativen Fakten des Szientismus

4. Szientistische Politik

Bevor es zu spät ist

Die Pose des Universalspezialisten

Verwissenschaftlichung der Demokratie

5. Mehrheit und Dauerreflexion

Pluralismus und Relativismus

Beratschlagung und Beschlussfassung

Demokratie statt vorpolitischer Wahrheit

«Selbstkritisches Kämpfen»

6. Herrschaft der Wissenschaft

Normallage und Notfall

Machtfunktionen

Erwartungsverschiebungen

Muster des szientistischen Autokratismus

7. Machtkonkurrenz und Heterodoxie

Mächte und Gegenmächte

‹Querdenker›

Szientokratie und Dissidenz

8. Pluralismus der Expertise

Lieferdienst: Speaking truth to power

Wissenschaftliche Politikberatung

Gegenexpertisen

Kein Abschluss

Notiz

Anmerkungen

Eine Einleitung

1. Aktivistische Wissenschaft

2.  Erkenntnisfortschritt und Revisionismus

3. Vom Ende moderner Wissenschaften

4. Szientistische Politik

5. Mehrheit und Dauerreflexion

6. Herrschaft der Wissenschaft

7. Machtkonkurrenz und Heterodoxie

8. Pluralismus der Expertise

Kein Abschluss

Literaturverzeichnis

Eine Einleitung

Kurz, die Bürger meiner liberalen Utopie wären Menschen […], die Engagement mit dem Sinn für die Kontingenz ihres Engagements verbänden.

(Rorty 1991, S. 111)

Physik und Politik: «You cannot make deals with physics.» Diese Behauptung erlangte in den zurückliegenden Jahren große Bekanntheit. Man hat sie so vielfach wiederholt, dass sie nachgerade zu einem Topos der Klima- und Umweltpolitik wurde: zu einer stehenden Formel, deren Formelhaftigkeit die Sachaussage als unbezweifelbare Selbstverständlichkeit zur Geltung bringt.

Mit besonderer Resonanz wurde diese Selbstverständlichkeit am 4. März 2020 in Brüssel von der schwedischen Schülerin Greta Thunberg formuliert[1], die mit ihrem Skolstrijk för klimatet seit dem Herbst 2018 die weltumspannende Jugendklimabewegung Fridays for Future angestoßen hatte. Thunberg richtete den Satz an die Präsidentin der Europäischen Kommission und bezog ihn auf die Initiative für ein Klimagesetz als Teil des European Green Deal. Indessen teilt auch diese Kommunikation die Welt nicht nur mit, wie ein Bonmot weiß, sondern sie teilt sie zugleich ein, und so kommentiert Thunbergs Satz die europäische Klima- und Umweltpolitik vor allem, indem er eine Trennlinie zieht. Er unterscheidet zwei Weltausschnitte: deals und physics.

Physik, das sind die zweifelsfreien Fakten ewiger Kausalgesetze. Es handelt sich um eine Domäne des Eindeutigen und Unverhandelbaren, als deren Botin Thunberg hier auftritt. Diese Domäne wird unterschieden von der Welt politischer deals, für welche die Kommissionspräsidentin steht. Politik ist verstanden als ein Raum des Interessenausgleichs, von Kompromissen und Beschlüssen, die so sind, wie sie sind, die aber auch anders hätten ausfallen können. Die Formel unterscheidet demnach einen Bezirk alternativloser Notwendigkeit von einem Bezirk der Kontingenz. Es gebe Nicht-Politisches, so wird bedeutet, und dem werde Politik sich beugen müssen. Nicht alles sei verhandelbar, nicht alles politisch verfügbar, nicht überall gebe es Alternativen.

Der Satz, mag er auch rhetorisch als triviale Selbstverständlichkeit daherkommen, hat es in sich. Gehörte für die Jugendbewegung der Großelterngeneration von Fridays for Future in den späten sechziger Jahren schlechthin alles, auch noch das Intimste, zum Politischen, so wird diesem hier gerade eine Grenze gezogen. Sie ist folgenreich und ihr Verlauf umstritten. Thunbergs Angriff auf den European Green Deal nimmt mit dem Wort «deals» dessen Leitmetapher auf und wendet sie gegen ihn. Hört man die Metapher zudem im Resonanzraum des dröhnendsten deal-makers und Klimawandelleugners jener Jahre[2], dann wird man sagen, Thunberg verwerfe den European Green Deal als untaugliche trumpistische Geschäftemacherei.

In der Sache ist das vielleicht nicht weiter überraschend. Auch die Brüsseler Klimapolitik ist selbstverständlich Kompromissbildung. Und die kommt in der Logik von Protestbewegungen wie Fridays for Future immer zu spät, stets ist sie faul oder bloß kompromisslerisch. Allerdings ist Thunbergs Attacke, wie die Jugendklimabewegung überhaupt, ihrerseits ein Moment politischen Streits. Es geht um die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens von 2015. Die Abgrenzung und Zurückweisung des Politischen gegenüber dem, was nicht verhandelbar sei, ist selbst politisch. Sie macht die Physik zum Instrument einer Politik der Politik-Verdeckung, wie sie für die Klimaprotestbewegung charakteristisch ist. Ihr Motto lautet Follow the Science!

Nun versteht sich von selbst, dass Naturgesetze nicht verhandelt werden können. Doch Selbstverständlichkeiten sind sozial konstitutiv. Sie reduzieren Begründungsdruck, verknappen Alternativität, begrenzen Entscheidungsbedarf und erfüllen so eine in vielerlei Hinsicht notwendige Entlastungsfunktion. Eben weil sie zwar reproduziert, aber nicht weiter diskutiert oder begründet werden, können sie weiteren Diskussionen und Begründungen vielmehr vorausgesetzt werden.[3] Dies gilt auch für die Binse, dass es Grenzen des Politisierbaren gebe und dass Physik eine solche Grenze ziehe. Man weiß, was gemeint ist. Unwichtig scheint daher der Kategorienfehler in Thunbergs Machtwort, das die wissenschaftliche Institution der Physik mit ihrem Objekt, der physischen Natur, identifiziert. Die Tatsachen der Natur und der Wahrheitsanspruch von Naturforschung fallen zusammen. Erkenntnistheoretisch ist das indes so wenig trivial wie in Hinblick auf die Bestimmung einer außerpolitischen Sphäre der Alternativlosigkeit.

Solche kategorialen Unschärfen gehören zur Apodiktik von Thunbergs Formel wie überhaupt zu den Selbstverständlichkeiten öffentlichen Redens über Politik und Wissenschaft. Da macht es keinen Unterschied, ob die Gegebenheiten der Natur, also ihre ‹Data›, oder ob die Fakten der Physiker die politische Welt der deals begrenzen. Entscheidend ist allein, dass es selbstverständlich diese Grenze gibt. Thunberg hat sie so formuliert, dass es zur Binsenweisheit geworden ist. Allein um den Preis der eigenen Lächerlichkeit könnte man öffentlich widersprechen. Auch im demokratischen Spektrum von progressiv bis konservativ, von rechts bis links, von jungen Demonstranten bis zu erfahrenen Berufspolitikerinnen ist der politische Gebrauch des Gemeinplatzes keineswegs eingeschränkt. Dies kann zum Beispiel eine beiläufige Bemerkung Reiner Haseloffs illustrieren, der durchaus nicht als Freund der Fridays for Future ausgewiesen ist.

Als Ministerpräsident des Bundeslandes Sachsen-Anhalt schlug der katholische Diplomphysiker auf dem Berliner Forschungsgipfel 2023 vor, wie Natur und Wissenschaft ganz praktisch die Spielräume des Politischen definieren könnten. Auf die Frage, was es brauche, um «auch politisch, auch im demokratischen System» die «Energiewende 2.0» zu verwirklichen, nannte Haseloff unter beifälliger Zustimmung der versammelten Spitzen des deutschen Innovationssystems das Folgende. Neben technologischem Fortschritt benötige man einerseits «Demut», andererseits aber «mindestens zwei, drei Physiker oder Naturwissenschaftler im Bundeskabinett mit Sperrminorität», so dass «die Mitzeichnung» von Kabinettsvorlagen «immer an diesen drei Kollegen hängt.»[4] Wie schon Thunberg, begrenzt Haseloff Politik durch Physik. Überdies verknüpft er diese Sachdimension mit einer Machtdimension. Parlamentarisch verantwortliches Regierungshandeln würde unter die Kuratel der Wissenschaft gestellt. Selbst gegenüber demokratischen Mehrheitsentscheidungen besäße die Faktenwahrheit der Physik ein Vetorecht.

Noch deutlich weiter geht es, wenn Physik, ja überhaupt Wissenschaft nicht allein als Limitation politischer deals oder als Vetoinstanz ins Spiel gebracht ist, sondern wenn sie Politik geradezu ersetzen soll. Dieser Schritt wird in meinem dritten Eingangsbeispiel getan: «Wir brauchen jetzt keinen politischen Streit und keine Rechthaberei, sondern wir brauchen eine fachliche Antwort auf die Frage, wie wir stabile und bezahlbare Energieversorgung sicherstellen können und gleichzeitig unsere Klimaschutzziele erreichen», erklärte zu Anfang des Jahres 2023 der FDP-Minister Volker Wissing in einem Presseinterview.[5] Begriffsschema und Jargon machen auch diese Äußerung beispielhaft für beliebige andere. Und wie Thunbergs Machtwort ist sie performativ selbstwidersprüchlich: Sie setzt jenen politischen Streit fort, den sie beenden will. Demokratische Auseinandersetzungen werden einerseits als blanke Rechthaberei negiert. Andererseits bringt der Fachminister das Fachliche gegenüber dem Politischen dichotomisch in Stellung als wären Macht- und Sachfragen jederzeit klar zu trennen: «Wenn wir es politisch nicht diskutieren wollen, dann müssen wir es wissenschaftlich klären.»

Es ist eine irritierende Auffassung, dass demokratische Meinungsbildung bloß Rechthaberei sei und dass dieser durch wissenschaftliche ‹Klärung› ein Ende gemacht werden könne. Sie unterwirft das Politische der überlegenen Macht einer vermeintlich streitenthobenen Wahrheitsinstanz. Wiederum handelt es sich um den politischen Versuch einer Ent-Politisierung der politischen Auseinandersetzung. Die Wissenschaft ist hier Streitschlichterin und Politikersatz. Und dabei liegen fragwürdige Annahmen über demokratische Politik und wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde. Sie gehen dahin, dass die unbedingten ‹Fakten› einer Einheitswissenschaft die offenen Prozesse demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung nicht lediglich informieren, sondern vielmehr deterministisch schließen können und sollen. Wenn aber wissenschaftlich zu ‹klären› wäre, was ansonsten politisch ‹diskutiert› werden müsste, dann würde das Mehrheitsprinzip als Legitimitätsgrund demokratischen Entscheidens letztlich durch die Wahrheit der Wissenschaft ersetzt.

Demokratie und Wissenschaft: In den drei beispielhaft an den Anfang gestellten Zitaten geht es jeweils darum, wie sich Daten und deals oder Physik und Politik, wie sich also wissenschaftliche Wahrheiten und demokratische Mehrheiten zueinander verhalten. Dabei artikuliert sich ein Verständnis von Politik und Wissenschaft, das in den Öffentlichkeiten der Gegenwartsgesellschaft erhebliche Diskursmacht besitzt. Thunberg, Haseloff oder Wissing repräsentieren dieses Verständnis und stecken insofern jenen Problemkomplex ab, für den dieser Essay sich interessiert und der im Folgenden ‹autoritärer Szientismus› heißen soll. Das ist zugegebenermaßen ein scharfer und polemisch klingender Ausdruck. Ich hoffe indes, dass er sich als brauchbare Kategorie für eine Denkungsart erweisen lässt, die in gesellschaftlichen Kontroversen sehr geläufig und allermeist ganz unauffällig ist. Heftig gestritten wird über Klima- und Umweltpolitik oder die Energieversorgung, über Gesundheitsschutz, Mobilitätssysteme oder Ernährungsstile. Doch die szientistischen Prämissen und die tendenziell autoritären Implikationen mancher einschlägigen Stellungnahme bleiben unbeachtet. Anlass für gesellschaftliche Kritik bieten sie selten. Man kommt mit ihnen, so scheint es, ohne weiteres durch. Einiges Anschauungsmaterial dafür bietet zum Beispiel die öffentliche Verarbeitung des Sonderfalls der Corona-Pandemie, auf die ich wiederholt zurückkommen werde, weil sie charakteristische Aspekte des Zusammenwirkens von Wissenschaft und Politik deutlich hervortreten ließ.

Hier liegen Anstoß und Anlass des Buches. Mit dem Szientismus meine ich ein charakteristisches Diskursmuster entwickelter Wissensgesellschaften zu erfassen. Zu zeigen ist, dass das Wissenschaftskonzept dieses Musters wirklichkeitsfremd und seine autoritären Implikationen für die liberale Demokratie problematisch sind. Denn es gehen in dieses Diskursmuster unausgesprochene Annahmen über Wissenschaft und Politik ein, die näherer Nachfrage kaum standhalten. Um nur drei solcher kritischen Fragen schon einmal anzudeuten: Wird politisch etwa ausschließlich über wissenschaftlich beantwortbare Sachfragen gestritten, nicht auch über Interessengegensätze, Machtkonflikte und Sinnorientierungen? Oder: Lässt sich denn daraus, wie die Dinge sind, darauf schließen, wie sie sein sollen, so dass wissenschaftliche Fakten ohne weiteres allgemein handlungsleitend sein könnten? Und was bedeutet es dann, dass die Wissenschaften Erkenntnisfortschritte beanspruchen und deswegen Faktenerkenntnis grundsätzlich als revidierbar ansehen müssen?

Solcherart kann man auf die Prämissen des autoritären Szientismus zurückgehen und sie in Frage stellen. Und dabei mag sich erweisen, dass er im Zeichen moderner Sachrationalität eine im Kern vormoderne Vorstellung von Wissenschaft sowie eine vordemokratische Konzeption von Politik zusammenführt. Und dies zwar in der Weise, dass wissenschaftliches Wissen, wie wenn es sich um altes Weisheitswissen handelte, ohne demokratische Zwischenschritte politisch scheinbar bloß noch angewendet werden muss. Das ist die These dieses Buches. Um sie entwickeln zu können, werden im Folgenden zwei komplementäre Perspektiven auf den autoritären Szientismus eingenommen. Er wird mit den Maßstäben sowohl moderner Wissenschaftlichkeit als auch liberaler Demokratie vermessen. Auch dabei ist selbstverständlich eine ganze Reihe von Prämissen unterstellt, von denen ich lediglich zwei vorab bereits erwähne, weil sie für alles Folgende von grundsätzlicher Bedeutung sind.

Einerseits verfolge ich einen im weiteren Sinne differenzierungstheoretischen Ansatz. Wissenschaft und Politik sind als Teilsysteme hochkomplexer moderner Gesellschaften aufgefasst, die intern in verschiedenen Dimensionen nach unterschiedlichen Logiken differenziert sind. Die Gesellschaftsglieder sehen sich daher einer ebenso dynamischen wie irreduziblen Vielfalt von Sozial- und Machtlagen, von Codes, Wissensordnungen und Sinnwelten, von Geltungsquellen und Geltungsansprüchen gegenüber. In dieser pluralistischen Unübersichtlichkeit müssen sie sich orientieren, obwohl so etwas wie Gesamtschau, Orientiertheit oder Erwartungssicherheit in vielerlei Hinsicht unwahrscheinlich sind, erst recht in einer allgemeinverbindlichen Form. Denn die Untereinheiten solcher Gesellschaften folgen je spezifischen Funktionsprimaten und entwickeln dabei in der Weise Eigengeltung und Eigensinn, dass an der Komplexität und Kontingenz der Verhältnisse scheitert, wer Strukturen, Operationsformen oder Funktionen einfach von hier nach da übertragen wollte. In derartigen Gesellschaften liegt die Funktion des Wissenschaftssystems darin, methodisch stets neues Wissen zu produzieren, von dem zugleich mit Gründen gesagt werden kann, dass es nicht unwahr, sondern vielmehr wahr sei. Im Unterschied dazu geht es im Politiksystem um die Macht oder Ohnmacht, gesellschaftlich allgemein bindende Entscheidungen zu treffen.

Diese Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen von Wissenschaft und Politik ist grundsätzlich und eindeutig. Gleichwohl teilen Wissenschaften und Politik der offenen Gesellschaft ein Prinzip. Es besagt, dass die Erkenntnisse moderner Wissenschaften und ebenso die Entscheidungen demokratischer Politik unter dem prinzipiellen Vorbehalt stehen, im Verlauf zukünftiger Entwicklungen eventuell revidiert werden zu müssen. Das ist die zweite vorab zu betonende Voraussetzung der folgenden Argumentationen. Die Offenheit der Zeithorizonte ist als unabschließbare Prozessualität in alle wissenschaftliche Erkenntnis und politische Entscheidung eingebaut. Verkürzt lässt sich sagen, dass unter anderem in dieser Zukunfts- und Revisionsoffenheit die weltumgestaltende Erkenntnisdynamik moderner Forschung auf der einen und auf der anderen Seite die politische Freiheitlichkeit der pluralistischen Gesellschaft[6] grundgelegt sei.

Problemhorizonte: Diese Strukturgemeinsamkeit einer grundsätzlichen Vorbehaltlichkeit von moderner Wissenschaft und demokratischer Politik bildet in gewisser Weise ein Gravitationsfeld der folgenden Überlegungen. Mit ihr verbindet sich unter anderem die Frage, ob diese beiden Funktionssysteme, die sich vor rund 250 Jahren in Europa und Nordamerika entwickelten, nicht nur historisch gleichzeitig seien, sondern überdies auch systematisch zusammenhängen. Bedingen Demokratie und Wissenschaft einander? Stabilisieren oder stören sie sich gegenseitig?

Auf diese Frage gibt es in der Wissenschafts- wie in der Demokratieforschung eine Reihe unterschiedlicher Antworten mit je eigenem historischem Index.[7] Einerseits wird argumentiert, dass die Werte der liberalen Demokratie konstitutiv seien für gute Wissenschaft. Diesen ‹liberalen Konsens›[8] vertraten unter dem Eindruck des ‹Zeitalters der Extreme› und dann der entstehenden Systemkonkurrenz des Kalten Kriegs besonders prominent der Soziologe Richard K. Merton oder der Philosoph Karl R. Popper.[9] Auf der anderen Seite hat man auch gegenläufige Stabilisierungsleistungen namhaft gemacht: Nicht allein brauche gute Wissenschaft die Demokratie, sondern diese sei umgekehrt selbst auf Wissenschaft angewiesen; etwa, weil in hochtechnologischen Gesellschaften politische Entscheidungen sachlich wie legitimatorisch der Informierung durch die Wissenschaft bedürften, weil die «moderne Demokratie» sich als «ein Wahrheitsregime» verstehe[10] oder weil die Schlüsseleinrichtungen der Wissenschaft, die Universitäten, «Orte [seien], an denen Demokratie eingeübt wird.»[11]

Selbstverständlich existieren auch entsprechende Gegenpositionen. Nicht als Stabilisierung, sondern als Störung von Wissenschaft kann demokratische Politik zum Beispiel dort erscheinen, wo man Forschungsfreiheit, Hochschulautonomie und akademische Selbstverwaltung staatlichen Durchgriffen ausgesetzt sieht. Regulatorische Grenzen für Forschung mit Tieren oder im Bereich von Genetik und Informatik werden dann als Beleg angeführt oder, je nach Sichtweise, auch Demokratisierungsbestrebungen, die sich etwa auf das Arbeitsrecht im Wissenschaftssystem, bürgerschaftliche Partizipationsansprüche oder Gremienparitäten akademischer Statusgruppen richten. Solche Standpunkte sind in wissenschaftspolitischen Diskursen ebenso verbreitet wie die gegenläufige Problemanzeige, dass Wissenschaft weniger als Stabilitätsfaktor, denn als Gefährdung von Demokratie zu sehen sei. So hat Dwight D. Eisenhower in seiner berühmte Farewell Address zum Abschied aus dem Präsidentenamt vor der Gefahr gewarnt, demokratische Politik «could itself become the captive of a scientific-technological elite.»[12]

Das war 1961 und es bezeugt ein politisches Ambivalenz- und Problembewusstsein, welches die Geschichte der modernen Planungs- und Steuerungsutopien, der technologischen Fortschrittserwartungen und technizistischen (Er-)Lösungsphantasien seither, mehr oder weniger ausgeprägt, begleitet. Erneuerte Aktualität gewinnt dieses Ambivalenzbewusstsein einerseits durch die technische Revolution, wie sie sich mit rasanter Geschwindigkeit derzeit insbesondere bei Gentechnologie und sogenannter Künstlicher Intelligenz ereignet. Andererseits wird es im Zeichen von ökologischen und pandemischen Krisenerfahrungen neuerlich virulent.

Diesen Problemkomplex einer Herrschaft von Technologien, Experten oder Wissenschaft fassen die folgenden Kapitel von der Spannung zwischen wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen und demokratischer Entscheidungslegitimität her ins Auge. Und sie tun dies mit einem gewissen zeitdiagnostischen Interesse. Damit will ich sagen, dass sich der folgende Essay in einem Zwischenbereich von «wissenschaftlicher Beobachtung» und «prinzipienorientierter Betrachtung» bewegt.[13] Weder geht es um die historische oder systematische Entfaltung grundlegender Theorieprobleme noch um eine übergreifende Erörterung von Zustand oder Zukunft demokratisch verfasster Gesellschaften und ihrer Wissenschaften. Stattdessen suche ich, wiederholt vom einzelnen Kasus ausgehend, ein bis zur Unauffälligkeit verbreitetes Diskursmuster exemplarisch in seiner Problemstruktur freizulegen. Wenige Anmerkungen mögen diese Gesichtspunkte erläutern.

Zum ersten stellt das vorliegende Buch seinen Fokus sehr selektiv ein. Immer wieder werden Fragen aufgeworfen, die sich in einem weiten Horizont auf Grundprobleme allen Nachdenkens über Welterkenntnis und gute Regierung beziehen lassen würden. Schon Platon hatte ja Wissen und Macht in der Figur des Philosophenkönigs verbunden, Machiavelli bezog sie als Beratung und Entscheidung aufeinander und Hobbes fragte danach, ob veritas oder auctoritas das Gesetz begründe. Und es versteht sich, dass auch in den modernen Gesellschaftswissenschaften die Verhältnisbestimmung von Epistemischem und Politischem in neuen Perspektiven weiter diskutiert wird – sei es als Grundlagenproblem zum Beispiel von «Erkenntnis und Interesse», «Wahrheit und Politik» oder einer ‹politischen Epistemologie›[14], sei es in Technokratie- oder Expertokratiediskursen, als Spannung von alternativlosem Sachzwang und politischer Entscheidungsfreiheit[15], als Kritik der ‹Postdemokratie› oder einer postpolitischen ‹Epistemisierung› des Politischen.[16] Insofern setzt dieses Buch verzweigte Denktraditionen, theoretische Diskurse und empirische Beobachtungen in einem Maße voraus, das dem Autor gewiss nicht hinreichend durchsichtig ist.

Zum zweiten ist unverkennbar, dass die Themen der nachfolgenden Kapitel einen aktuellen Problemraum aufspannen, der weiter ist, als dieser Essay zu zeigen vermag. Er geht nämlich von der Prämisse aus, dass die Formen der liberalen Demokratie und der modernen Wissenschaften, wie sie seit den Jahrzehnten um 1800 entstanden, sich in ihren Grundlinien bestandsfest halten lassen und dass dies auch normativ wünschenswert sei. Diese Voraussetzung birgt das Risiko, als Apologie herrschender Verhältnisse missverstanden zu werden, Verhältnisse, deren Dysfunktionen auf Seiten der Wissenschaften wie auf Seiten demokratischer Herrschaft jedoch ganz unübersehbar sind.[17] Andererseits ist die Prämisse, dass liberale Demokratie und moderne Wissenschaft rechtfertigungsfähig seien, auch in sachlicher Hinsicht alles andere als trivial. Was die Zukünfte der liberalen Demokratie anbelangt, so sind die optimistischen Verheißungen global fortschreitender Demokratisierung angesichts intern-populistischer wie extern-autokratischer Alternativen längst düstereren Prognosen gewichen.[18] Nicht weniger offen scheint auf der anderen Seite, ob und wie lange der hier verwendete, historisch kontingente Begriff von Wissenschaft[19] jene durchgreifenden Veränderungsdynamiken noch plausibel erfassen kann, die sich zum Beispiel aus der digitalen Automatisierung von Forschungsprozessen, aus der Vergesellschaftung von Wissenschaft[20] oder aus der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft ergeben.

Über derlei wird hier nicht spekuliert, wo es um Gegenwartsbeobachtung gehen soll. Zumal diese, so die dritte Anmerkung vorab, entschieden exemplarisch verfährt. Sie entwickelt sich immer wieder vom konkreten Beispiel einer mehr oder weniger aktuellen öffentlichen Stellungnahme her. Offene Briefe, websites von Klimaaktivisten, Politikerstatements oder politische Sachbücher, mündliche Diskussions- und schriftliche Zeitungsbeiträge sichte ich unter der Frage, welches Verständnis von wissenschaftlichem Wissen und demokratischen Entscheidungen sie implizieren.

Die meisten dieser Stellungnahmen thematisieren mit der Klima-, Umwelt- und Gesundheitspolitik Felder, auf denen die Interaktion von Politik und Wissenschaften besonders verhandlungsbedürftig ist. Und das liegt vermutlich nicht allein am außergewöhnlichen Problem- und Zeitdruck, sondern auch daran, dass die Gesellschaft vom Klimawandel, dem Artensterben und der Corona-Pandemie allererst durch die Wissenschaft Kenntnis bekommen hat. Eine gewisse Konzentration auf gegenwärtige ökologische und pandemische Krisenerfahrungen resultiert also mehr aus der Sache als aus einem Auswahlkriterium der Darstellung. Jedenfalls hoffe ich, dass die Beispiele weniger als gezielt ausgesuchte Sonderfälle erscheinen, sondern eher als beliebig aufgegriffene Kasus.

Die Paradoxie des Exemplarischen ist dabei freilich nicht zu vermeiden. Beispiele können Beispielhaftigkeit lediglich unterstellen, nicht nachweisen. Zuversichtlich gehe ich gleichwohl davon aus, dass empirische Inhaltsanalysen größerer Corpora von wissenschaftsadministrativen policy papers, von politischen Stellungnahmen oder journalistischen Kommentaren den Symptomwert der im Folgenden diskutierten Exempel bestätigen würden. Wie schon die obigen Eröffnungsbeispiele sind diese Exempel oftmals unspektakulär, manchmal banal. Auch das Beiläufige oder Ephemere kann jedoch genau und hermeneutisch ernst genommen werden. Es mag dabei zuweilen über Gebühr belastet scheinen, doch kann es nicht allein jenes hintergründige Muster zu erkennen geben, das ich autoritären Szientismus nenne. Das Beiläufige indiziert auch die Unauffälligkeit, mit welcher dieser Szientismus in durch und durch wissenschaftlich geprägten Gesellschaften erhebliche Diskursmacht entfaltet. Dies mag sich auch schon in dem anschließenden Prospekt abzeichnen, der einen ersten Überblick über den Gang der Darstellung gibt.

Prospekt: Der Text gliedert sich zunächst in zwei Dreiergruppen: Kapitel 1–​3 beleuchten die wissenschaftsbegrifflichen, Kapitel 4–​6 die demokratietheoretischen Aspekte des autoritären Szientismus. Ich verfahre dabei jeweils so, dass einem überwiegend kasuistisch gehaltenen Eingangskapitel zur aktivistischen Wissenschaft beziehungsweise zur szientistischen Politik ein grundsätzlicher argumentierendes Mittelstück folgt. Mit den in ihm gewonnenen Einsichten kehrt dann das jeweils dritte Kapitel wieder zum Einzelfall zurück, um ihn noch einmal schärfer zu fassen und einzuordnen.

Kapitel 1–​3: Unübersehbar versteht sich die moderne Welt als ebenso wissenschaftsförmig wie wissenschaftsabhängig. Unentwegt wird daher gefordert, die Wissenschaften sollten ihr Gehäuse verlassen und sich in anderen Bereichen nützlich machen. Eine vor diesem Hintergrund eigene und relativ rezente Form öffentlichen Engagements ist als science activism bekannt geworden. Davon handelt das erste Kapitel am Beispiel der Kämpfe um den nordrhein-westfälischen Braunkohleabbau im Winter 2022/2023. Insbesondere anhand eines Textes der Scientists for Future werfe ich die Frage auf, wie Wissenschaft jenes komplexe Gemenge unterschiedlichster Konfliktdimensionen soll auflösen können, welches große gesellschaftliche Auseinandersetzungen strukturell prägt und sich immer wieder in Protestereignissen verdichtet. Der science activism, so wird sich dabei zeigen, will dies auf Grundlage der eingangs vorgestellten Entgegensetzung von ‹bloß› Politischem und ‹Physik› tun. Das führt zu der These, im Grunde attackiere er die Routinen der demokratischen Kompromissbildung selbst, denen er einen kompromisslosen Anspruch auf unbedingte Wahrheit entgegenstellt.

Im Kern dieses aktuellen Beispiels wird die Funktion von Wissenschaft so umakzentuiert, wie es das Motto von Scientists for Future prägnant formuliert: «Vom Wissen zum Handeln». Die Bedeutung dieser Verschiebung hängt nicht zuletzt davon ab, wie Wissenschaft verstanden wird. Deswegen skizziert das 2. Kapitel zunächst Grundzüge des meinem Essay zugrundeliegenden Wissenschaftsverständnisses. Ich gehe davon aus, dass die Wissensordnungen und die Sozialordnungen der Wissenschaften weder identisch noch gänzlich unabhängig voneinander sind, sondern komplex interferieren. Daraus ergibt sich ein epistemischer Pluralismus der Wissenschaften selbst. Was sie wissen, besitzt in der Vielfalt gesellschaftlicher Formen und Hierarchien des Wissens zwar einen Sonderstatus. Das bedeutet aber nicht, dass Wissenschaft im Stande sei, sämtliche Wissensfragen zu beantworten und alle Wissenskonflikte verbindlich zu entscheiden. Jener Sonderstatus folgt nämlich weniger aus der methodischen Rationalität wissenschaftlichen Wissens, als vielmehr daraus, dass die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften prinzipiell revisionsoffen sind.

Diese Revisionsoffenheit steht allerdings quer zu den politischen Erfolgserwartungen des Wissenschafts-Aktivismus, der sie daher außer Acht lassen muss. Das 3. Kapitel zeichnet das zunächst bis zu einem Umschlagspunkt nach, da wissenschaftliche Erkenntnisproduktion nicht mehr als Begründungsinstanz gesellschaftlichen Handelns erscheint, sondern vielmehr als dessen Störung. Ausdrücklich wird deswegen auch dazu aufgerufen, sie einzustellen: Das Motto lautete dann nicht mehr «Vom Wissen zum Handeln», sondern ‹Handeln statt Wissenwollen›. Für Auffassungen wie diese, die Wissenschaft nicht von der Erkenntnisproduktion her denken, verwende ich den Ausdruck Szientismus. Seine Elemente – Faktizismus, Einheitswissenschaft, Solutionismus und Normativismus – werden im letzten Abschnitt des Kapitels systematisch zusammengefasst werden.

Kapitel 4–​6: Damit ist am Beginn des 4. Kapitels eine gewisse Zäsur erreicht. Die Beobachtungseinstellung verschiebt sich von den bisherigen wissenschaftssystematischen nun auf demokratietheoretische Aspekte. Es geht um die autoritäre Tendenz des Szientismus. Dazu wechselt die Darstellung von der Kritik einer politisierten Wissenschaft auf die Seite einer verwissenschaftlichten Politik. Mein Leitbeispiel ist das jüngste Sachbuch eines einflussreichen deutschen Politikers, Karl Lauterbach. Es deutet die ökologische Krise der Gegenwart als Beweis eines politischen Systemversagens, das allein durch eine Neuordnung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik behoben werden könne. Diese konzipiert der Politiker in der Autorenrolle als eine Schwächung von Politik, die er systematisch unter die Vormundschaft von Wissenschaft gestellt sehen will.

Exklusiver Gesichtspunkt ist dabei die Sachrichtigkeit und Effektivität staatlicher Entscheidungen. Dieser radikalen Vereinseitigung stellt das 5. Kapitel die Frage nach der Rechtfertigungsfähigkeit politischen Handelns entgegen. Es umreißt die liberale Demokratie als politische Ordnungsform pluralistischer Gesellschaften, die Wissensansprüche wie legitime Entscheidungen – kurzum: Wahrheiten und Mehrheiten – als grundsätzlich revidierbar ansetzt und daher gerade nicht auseinander ableitet. Vielmehr werden wahrheitsbezogene Diskurse und Mehrheitsentscheidungen derart in zukunftsoffenen Prozessen arrangiert, dass die politische Integration der Gesellschaft freiheitliche Legitimität und zugleich vernünftige Effektivität staatlichen Handelns zusichern kann.

Mit den Überlegungen dieses demokratietheoretischen Zwischenschritts setzt das 6. Kapitel die Rekonstruktion von Lauterbachs politischem Szientismus fort. Dabei zeigt sich, wie Wissenschaft unter der Hand aus einem Erkenntnisverfahren zu einer politischen Machttechnik wird. Mit ihr soll sich nämlich neben der dem Mehrheitsprinzip folgenden politischen Ordnung die szientistische Parallelordnung eines autoritären Wahrheitsregimes etablieren, das als Leitinstanz, im Ausnahmezustand der ökologischen Krise gar als Letztinstanz des Politischen fungiert. Der zweite Teil dieses Kapitels rückt diese Machttechnik in den Kontext aktueller gesellschaftlicher Diskurslagen. Etwa in der Jugendklimabewegung und mit einer gewissen Folgerichtigkeit überhaupt in apokalyptischen Diskursen liegt es nicht fern, die Leistungsversprechen einer überpolitischen Herrschaft der Wissenschaft wichtiger zu nehmen als demokratische Legitimationsaspekte.

Die beiden abschließenden Kapitel 7 und 8 wollen die bis hierher entwickelten Überlegungen noch einmal öffnen. Sie sprechen zwei Gegenentwürfe zum autoritären Szientismus an, deren einer in der epistemischen Nivellierung wissenschaftlicher Entscheidungsgrundlagen von Politik besteht. Eine diametral entgegengesetzte Alternative konzipiert wissenschaftliche Politikberatung hingegen so, dass das Verhältnis von Wahrheiten und Mehrheiten zugleich wissenschaftsfreundlich und demokratieadäquat sein kann.

Wissenschaften als mächtige Einflussgröße moderner Gesellschaften sind und werden immer wieder in Machtkonkurrenzen verstrickt. In einer prägnanten Konstellation zeigt sich dies dort, wo Politik Entscheidungen mit Verweis auf deren Wissenschaftsbasierung als alternativlos vorstellt. Das 7. Kapitel fragt, wie man unter solchen Gegebenheiten noch politisch dissentieren könne, und kommt zu der Antwort, dass es dann naheliege, statt solcher Politik sogleich die szientistische Grundlage ihrer Alternativlosigkeit zu attackieren. Modellhaft waren solche Konstellationen während der COVID-19-Krise zu beobachten: Ein autoritärer Szientismus, wie er in der Pandemiepolitik sich zuweilen zeigte, sowie der selbstermächtigte Subjektivismus der querdenkerischen Pandemieleugner und Impfverweigerer erwiesen sich da immer wieder aufeinander bezogen. Nämlich in der strukturellen Gemeinsamkeit, Rechtfertigungsfragen jeweils abzuwehren – sei es mit szientistischer Faktenwahrheit, sei es mit subjektivistischem Meinen und Misstrauen.

Das 8. und letzte Kapitel des Buches endlich skizziert Umrisse einer wissenschaftlichen Beratung von Politik, die sich nicht in die Widersprüche des autoritären Szientismus verstrickt. Aktivistische Wissenschaft und szientistische Politik wie auch der wissenschaftsaverse Populismus oder das Querdenkertum deuten wissenschaftliche Politikberatung als Anlieferung einer dann politisch lediglich umzusetzenden Wahrheit. Mein Gegenargument lautet, dass damit allenfalls ein voraussetzungsreicher Spezialfall erfasst werde, den ich instrumentelle Expertise nenne. Im Grundsatz ist Expertise vielmehr selbst strukturell pluralistisch. Das soll der Kollektivsingular ‹Gegenexpertise› zum Ausdruck bringen. Wie die Wahrheiten der Wissenschaften und wie demokratische Herrschaft ist auch die sie verkoppelnde Expertise ein Anspruch, der gegenüber anderen Ansprüchen gerechtfertigt sein will und aus wissenschaftlichen wie politischen Gründen praktisch jederzeit bestritten werden kann. Die wissenschaftliche Beratung demokratischer Politik unterscheidet sich darin systematisch von autoritären Wahrheitsregimen. Und übrigens tut sie es auch historisch, denn es waren gerade theokratische und absolutistische Wahrheitsregime, gegenüber denen sich die moderne Wissenschaft wie die liberale Demokratie über Jahrhunderte hinweg herausgebildet haben.