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Walküren entschieden in der nordischen Mythologie über das Geschick von Kämpfern auf dem Schlachtfeld. Auch andere Frauen treten in den isländischen Heldensagen als starke und einflussreiche Figuren auf, die eine bedeutende Rolle in den Machtkämpfen ihrer Gemeinwesen spielten. Aber wie sah die Wirklichkeit hinter den Sagen aus? Die Mediävistin Jóhanna Katrín Friðriksdóttir beschreibt auf Grundlage der neuesten historischen und archäologischen Forschungen die erstaunlichen und vielfältigen Lebenswelten der Wikingerinnen, die nicht nur als Ehefrauen, Mütter und Witwen, sondern auch als Dichterinnen, Mäzenatinnen und Herscherinnen bezeugt sind. Die isländischen Sagas sind Geschichten von Krieg und Kampf, Treueschwüren und Verrat, Mord und Rache, Entbehrungen und Siegen. In dieser Literatur waren Frauen oftmals mit einer beträchtlichen Handlungsmacht ausgestattet und in verschiedenen Machtpositionen vertreten. In anderen Bereichen wurden sie jedoch systematisch unterdrückt und ausgeschlossen. Wir lesen von herzzerreißenden Schicksalen von Mädchen und Frauen, deren traumatische Erfahrungen auch heute noch tief berühren. Der Band bietet einen ausgewogenen Einblick in die Lebenswelten der Wikingerfrauen und zugleich eine Einführung in die dramatische und faszinierende Welt dieser mittelalterlichen Helden- und Heldinnengeschichten aus dem hohen Norden.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Jóhanna Katrín Friðriksdóttir
Walküren
Frauen in der Welt der Wikinger
Aus dem Englischen von Franka Reinhart und Violeta Topalova
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Bildteil
Vorwort und Dank
Sprache und Aussprache
Einleitung: «Walküren wählen die auf der Walstatt Gefallenen»
Die ehrfurchtgebietende Freyja
Frauen in der Wikingerzeit
Pergament, Erde, Stein
1: Säuglingsalter und Kindheit
Säuglingsalter
Eintritt ins gesellschaftliche Leben
Kinder – Arbeit und Spiel
2: Junge Mädchen
Verlobung
Verwundbarkeit und Ehre
Der Reiz der Jugend
Alternativen zur Ehe?
Frauen als Hofdichterinnen
Frauen und Waffen
Schildmaiden
3: Erwachsenenalter, Ehe und Scheidung
Leben in der Wikingerzeit
Mobilität
Bodenständig
Kleidung für tatkräftige Menschen
Schmückendes Beiwerk
Haartracht
Zusammenleben, Konkubinat und Ehe
Lebenswirklichkeit und Aufgaben einer Ehefrau
Loyal, klug und selbstbewusst
Frauen als Herrscherinnen
Zwietracht und Scheidung
4: Schwangerschaft, Geburt und das Leben als Mutter
Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt
Die Bedeutung der Mutter
Die grausame Mutter
5: Witwen
Trauer, Klage, Vergeltung
Witwen, Wiederverheiratung und Politik
Das Leben als Witwe
Erfolgreiche Witwen
6: Alter und Tod
Das Leben im Alter
Zauberinnen
Tod
Begräbnisse und Bestattungen
Das Jenseits
Die Untoten
Epilog
Anmerkungen
Einleitung: «Walküren wählen die auf der Walstatt Gefallenen»
1 Säuglingsalter und Kindheit
2 Junge Mädchen
3 Erwachsenenalter, Ehe und Scheidung
4 Schwangerschaft, Geburt und das Leben als Mutter
5 Witwen
6 Alter und Tod
Epilog
Literatur
Quellen
Weiterführende Literatur
Bildnachweis
Tafelteil
Register
Zum Buch
Vita
Impressum
Abb. 1Flateyjarbók (Das Buch von Flatey), Árni Magnússon Institute for Icelandic Studies, Reykjavík, Island. GKS 1005 fol.
Abb. 2Eine Kette mit mehr als hundert Perlen und neunzehn fischförmigen Anhängern, gefunden im Grab eines Mädchens in Norrkvie, Grötlingbo, Gotland, Schweden.
Abb. 3Das Oseberg-Schiff (Rekonstruktion).
Abb. 4Die Kriegerin Frøya, gespielt von Silje Torp, aus der norwegischen TV-Komödie Norsemen (NRK und Netflix, 2016–2017, 2020).
Abb. 5Stora Hammars Bildstein I, Gemeinde Lärbro, Gotland, weist mehrere Reihen mit Abbildungen mythologischer Motive auf.
Abb. 6Versilberte Anhänger mit Niello-Verzierungen, gefunden in Tissø, Kalmergården, Seeland, Dänemark.
Abb. 7Ein Aquarell der Künstlerin Mary Storm. Versuch einer Rekonstruktion des ursprünglichen Wandbehangs des Oseberg-Schiffs.
Abb. 8Eine Zeichnung der Künstlerin Sofie Krafft, die ein Fragment aus dem Oseberg-Wandbehang nachbildet. Die Figuren vor dem Pferd stellten möglicherweise Walküren dar.
Abb. 9Hunnestad-Stein, DR 284 aus dem Hunnestad-Monument, jetzt im Freilichtmuseum «Kulturen» in Lund, Schweden.
Abb. 10Runenstein Hs 21, Jättendal, Hälsingland, Schweden.
Abb. 11Melina Beck in rekonstruierter Wikingerkleidung.
Abb. 12Schmuckstücke, gefunden in Aska, Östergötland, Schweden. Zu diesem Ensemble gehört auch der silberne Anhänger auf der Abb. S. 123.
Abb. 13Bildstein aus Tjängvide, Gemeinde Alskog, Gotland, Schweden, jetzt im Staatlichen Historischen Museum, Stockholm, Schweden.
Abb. 14Mit Drachen verzierte Walknochen-Platte, gefunden in Scar, Orkney.
Abb. 15Figur in einem Schleppenkleid auf dem Runenstein Nr. 123, Kirk Michael, Isle of Man.
Abb. 16Rekonstruktion eines Frauengrabs in Peel, Isle of Man, Großbritannien. Künstler: Mirosław Kužma.
Als ich im Herbst 2017 mit der Arbeit an diesem Buch begann, hatte mein Ehemann Anders Winroth mir schon seit langem vorgeschlagen, ein Buch über Wikingerfrauen zu schreiben. Es brauchte einige Zeit, bis ich mich mit der Idee anfreunden konnte, aber er hatte – natürlich – absolut recht damit, dass mir dieses Projekt riesigen Spaß machen würde. Deshalb möchte ich ihm als Erstem von ganzem Herzen für all die Jahre der Ermutigung danken und dafür, dass er mich geduldig, großzügig und liebevoll – akademisch und in anderer Hinsicht – während der Recherchearbeit und des Schreibprozesses unterstützt hat. Die andere Person, ohne die es dieses Buch nicht geben würde, ist Carolyne Larrington, meine langjährige Freundin und Mentorin. Als ich ihr sagte, ich würde darüber nachdenken, ein Buch über Wikingerfrauen zu schreiben, schlug sie mir sofort vor, es entlang des Lebenszyklus zu strukturieren und mit dem Darraðarljóð zu beginnen. Dafür und für ihren endlosen Strom an Wissen, Weisheit, Wärme und Humor stehe ich tief in ihrer Schuld. Enorm dankbar bin ich auch John Davis, der mir häufig fröhlich Gesellschaft beim Mittagessen leistete, als ich in der British Library arbeitete, und ihm und Carolyne für ihre herzliche Gastfreundschaft über die Jahre hinweg und vor allem im Sommer 2018. Ich möchte meinen Eltern Kristín Björnsdóttir und Friðrik Már Baldursson und meinen Freunden und Kolleginnen Guðrún Ingólfsdóttir, Helen Brookman, Merrill Kaplan, Dale Kedwards, Emily Lethbridge, Lukas Rösli und Æsa Sigurjónsdóttir danken, die meiner Arbeit an diesem Buch mit großer Begeisterung begegneten, mit mir über wissenschaftlich Umstrittenes diskutierten und mich in vielerlei Hinsicht förderten. Meine Schwiegermutter Eva Winroth und meine Stiefkinder Elsa und Hjalmar ertrugen mein Abtauchen in die Welt der Wikingerfrauen, über die ich auch dann häufiger, als es ihnen wahrscheinlich lieb war, redete, wenn ich wieder daraus aufgetaucht war, und ich danke ihnen für ihren Humor und ihre Zuneigung.
Dieses Buch basiert auf vielen Forschungsleistungen aus den unterschiedlichsten Fachgebieten innerhalb des großen Sammelbeckens der Altskandinavistik und Mediävistik und ist zugleich eine Synthese davon. Bei der Arbeit wurde mir von vielen Seiten Hilfe zuteil, und ich danke all denen, die mir ihre Arbeiten oder ihre Leseempfehlungen zugeschickt haben, als ich mich in neue Fachbereiche einarbeitete. Ich möchte auch all den Menschen danken, mit denen ich mich auf Twitter ausgetauscht habe, sowohl für ihr leidenschaftliches Interesse an den Wikingern als auch für ihr Wissen und ihre Einschätzungen. Während meiner Zeit an der Yale University hatte ich das Glück, wunderbare Studenten zu unterrichten, deren kluge Fragen und Beobachtungen mich oft auf neue Ideen brachten und deren Gesellschaft mein Leben in vielerlei Hinsicht bereicherte. Meine tiefe Dankbarkeit gilt auch Ash Thayer für unsere anregenden Diskussionen über die Wikingerzeit und dafür, dass ich an ihrem Film Viking Women: The Crying Bones mitwirken durfte, was mir bei der Bearbeitung mancher Abschnitte dieses Buches sehr half. Rannveig Þórhallsdóttir und Leszek Gardeła beantworteten sehr geduldig meine Fragen zur Archäologie, und Leszek stellte mir sogar seine noch unveröffentlichten Arbeiten zur Verfügung. Kristel Zilmer und Marcus Smith halfen mir bei Fragen zu Runeninschriften. Besonders dankbar bin ich Judith Jesch, Autorin des grundlegenden und bahnbrechenden Buches Frauen der Vikingzeit und vieler anderer Werke. Ihre ausführlichen Arbeiten zur Wikingerzeit und zum Mittelalter, egal ob über Frauen oder andere Themen in diesem Bereich, gehören zu den Säulen, auf denen meine Arbeit ruht, und sie ermutigte mich sehr freundlich, als ich ihr mit bangem Herzklopfen eröffnete, dass ich dieses Projekt begonnen hatte.
Chihiro L. Tsukamoto las einen Entwurf des gesamten Manuskripts und gab mir viele kluge Verbesserungsvorschläge. Ich danke ihr für ihre Arbeit und für unsere lebhaften Diskussionen über Themen der Nordistik in den vergangenen Jahren, die mein Wissen und meine Einstellung zu den Quellen enorm bereichert haben. Anders Winroth und zwei anonyme Kollegen lasen das Buch ebenfalls, und ich bin ihnen sehr dankbar für ihr positives und hilfreiches Feedback. Eventuelle Fehler habe ich allerdings ganz allein zu verantworten. Ich möchte Alex Wright, der sich als Erster für die Veröffentlichung einsetzte, für seinen Enthusiasmus und seine Weisheit danken, Joanna Godfrey für ihr sorgfältiges und einfühlsames Lektorat und Olivia Dellow dafür, dass sie sich in allen Entstehungsphasen so gut um dieses Buch gekümmert hat.
Großer Dank gebührt Ash Thayer und Mirosław Kužma dafür, dass sie mich ihre Kunstwerke abdrucken ließen, Ole Harald Flåten von Oseberg Vikingarv für seine Aufnahme des Oseberg-Schiffs und Leszek Gardeła für sein Foto des Manx-Steins. Ich bin auch all den Museen und den – teils unbekannten – Fotograf:innen dafür dankbar, dass sie ihre Fotos so großzügig in Online-Sammlungen der Allgemeinheit unentgeltlich zur Verfügung stellen. Dank auch an die Yale University, die mir ein Stipendium gewährte, mit dem ich zusätzliches Bildmaterial finanzieren konnte, und der Sterling Memorial Library in Yale, der British Library und der Bodleian Library in Oxford für ihre exzellenten Ressourcen, die es mir ermöglichten, die für dieses Buch notwendigen Recherchen durchzuführen.
Die Arbeit an diesem Buch wurde finanziell durch Hagþenkir, den Verband für Non-Fiction und Educational Writers in Island, unterstützt, und für diese Förderung bin ich sehr dankbar.
Zuletzt möchte ich mich bei den beiden Übersetzerinnen Franka Reinhart und Violeta Topalova bedanken, die den Text so sorgfältig und einfühlsam ins Deutsche übertragen haben. Auch Bernd Brunner gebührt mein Dank für seine Unterstützung.
Dieses Buch wurde für Leser:innen unterschiedlichster Hintergründe geschrieben, und obwohl heutzutage Lehrbücher für Altnordisch und Skandinavistik einfacher zu finden sind als jemals zuvor, will ich versuchen, den Inhalt auch denjenigen zugänglich zu machen, die weder Altnordisch noch die Geschichte der Wikinger eingehend studiert haben. Aus diesem Grund sind die Quellen nach den Seitenzahlen deutscher Übersetzungen zitiert worden, aber die Kapitelnummern und Strophen in den Anmerkungen vermerkt, damit Interessierte sich die Quellen in der Originalsprache ansehen können. Skandinavische Wörter, Titel und Namen werden in der normalisierten (west-)nordischen Form wiedergegeben, abgesehen von Fällen, in denen andere Formen den Leser:innen vertrauter sein dürften. Dies gilt besonders für eingedeutschte Namen mythischer Figuren und Begriffe (z.B. Thor, Odin und Walhalla) und gelegentlich für moderne skandinavische Formen von Namen (z.B. Estrid, Stiklestad). Bei vielen Namen wurde jedoch die altnordische Form beibehalten (z.B. Brynhildr, Óláfr, Auðr, Egill, Þráinn). Nur im Genitiv wurde der besseren Lesbarkeit halber eine Kombination aus altnordischem Stamm und deutschem -s gewählt (z.B. Brynhilds, Óláfs, Auðs, Egils, Þráins).
Im Altnordischen liegt die Betonung immer auf der ersten Silbe eines Wortes. Ohne zu tief in die Debatte über die Aussprache des Altnordischen einzusteigen, möchte ich auf einige Buchstaben hinweisen, die eine Erklärung erfordern:
ð: wie englisches stimmhaftes «th» in «they».
þ: wie englisches stimmloses «th» in «thorn».
y: ü wie in «kümmern»; Sigyn wird «Sigün» ausgesprochen.
Einleitung:
Wir winden und winden das Schlachtgewebe, wo tapferer Männer Feldzeichen vorrücken! Wir lassen ihn sein Leben nicht verlieren; Walküren wählen die auf der Walstatt Gefallenen.[1]
Am 23. April 1014, einem Karfreitag, fand in der Nähe von Dublin die Schlacht von Clontarf statt. In einem Blutbad, das tausende Opfer forderte, leistete das Heer des irischen Hochkönigs Brian Borus erfolgreich Truppen Widerstand, die aus gegnerischen Gruppen seiner eigenen Landsleute und deren nordischen Alliierten, den Wikingern, bestanden. Die Wikinger waren mit ihren wendigen Langschiffen nach Süden gesegelt und zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 200 Jahren in Irland und im gesamten britischen Inselreich präsent. Sie hatten sich hier niedergelassen, Handel getrieben, in die einheimische Bevölkerung eingeheiratet und in die ansässigen Gemeinschaften integriert. Neben solch friedlichen Aktivitäten machten die Wikinger allerdings auch das, wofür sie auch heute noch am besten bekannt sind: Kirchenschätze stehlen, Menschen ermorden oder entführen und in die Sklaverei verkaufen und mit ihrer Brutalität für Angst und Schrecken sorgen. Die Schlacht von Clontarf wird sowohl in irischen Chroniken als auch in der berühmtesten Isländersaga, der Njáls saga (Die Saga von Brennu-Njáll), verfasst im späten 13. Jahrhundert, überliefert, in der die Hauptereignisse umrissen und die wichtigsten Krieger vorgestellt werden. Die Saga beschreibt das Schlachtgeschehen poetisch als «Blutregen», eine schlichte, aber effektive Metapher für das Niedermetzeln all dieser Menschen, aber im Gegensatz zu den irischen Quellen verweist sie auf Frauen als Hauptverantwortliche für dieses Blutvergießen. Das soll nicht bedeuten, dass sie auf dem Schlachtfeld als Kriegerinnen teilgenommen hätten. Es ist zwar möglich, dass auch Frauen an der Seite der Männer kämpften, aber dafür gibt es keine Belege. Die Schlüsselfiguren in den Schlachten sind der Njáls saga zufolge vielmehr Walküren, übernatürliche Wesen, welche «die auf der Walstatt Gefallenen» wählen. Sie beschützen einige Krieger, lenken aber Speere, Pfeile und Schwerter in die Körper der Krieger, deren Schicksal es ist, zu sterben.
Die Methode, die diese Walküren dafür einsetzten, entspricht dem Weben, einer Beschäftigung, der Wikingerinnen tagtäglich nachgingen. Die Njáls saga berichtet, dass ein Mann namens Dörruðr am Tag der Schlacht Zeuge einer geradezu unglaublichen Szene wurde. Dörruðr hielt sich rund 800 Kilometer weit entfernt in Caithness an der nordöstlichen Spitze Schottlands auf, und an jenem Tag sah er zwölf geheimnisvolle Personen ein Haus betreten, in dem sich ein Webraum befand. Er konnte seine Neugier nicht zügeln, ging zum Gebäude und spähte hinein, um herauszufinden, was dort vor sich ging. Zuerst wirkte alles ganz normal: Die Gestalten, die er gesehen hatte, waren Frauen. Sie umstanden einen der damals typischen Gewichtswebstühle und hatten begonnen zu weben. Aber schon bald merkte Dörruðr, dass diese auf den ersten Blick so häusliche Szene eigentlich ein Bild des Grauens war. Die Kett- und Schussfäden, aus denen der Stoff auf dem Webstuhl hergestellt wurde, bestanden nicht aus Garn, sondern aus Gedärmen, und die Gewichte, welche die Kettfäden gespannt hielten, waren keine Steine, sondern menschliche Schädel. Die Frauen webten ihr blutiges Gewebe mit einem Schwert und einer Pfeilspitze, und um ihrer Arbeit einen Rhythmus zu geben, sangen die Walküren mit Inbrunst Lieder über die gerade stattfindende Schlacht.
Die «Speerfrauen», wie die Walküren sich selbst nannten, ergötzen sich an dem Klirren der Schwerter und Schilde, dem spritzenden Blut und den hervorquellenden Eingeweiden. Ihre Arbeit kommt mit dem Refrain des Liedes, vindum, vindum («Wir winden und winden») richtig in Schwung, und wir spüren, dass die Schlacht immer heftiger wird. Die Krieger, die ihnen am Herzen liegen, nennen die Walküren «Freunde» und prahlen damit, dass das Leben der kämpfenden Männer in ihren Händen liegt. Sie versprechen, den Anführer eines Heeres vor den gegen ihn gerichteten Waffen zu beschützen. Ihr «Siegeslied» endet abrupt – was darauf schließen lässt, dass die ausgewählten Krieger nun gefallen sind –, und die Frauen zerreißen den rotgrauen Stoff, den sie gewebt haben, und jede bekommt ein Stück. Die Walküren verlassen das Gebäude und reiten auf ihren Rössern davon, manche nach Norden, andere nach Süden. Sie verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen sind. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zum Schlachtfeld in Irland, um die Toten zu bergen und nach Sessrúmnir oder Walhalla zu bringen, den Hallen der Gottheiten Freyja und Odin, wohin mythologischen Quellen zufolge die Krieger der Wikinger kamen, wenn sie im Kampf gefallen waren. Im Jenseits sollten sie ihre Tage mit Kampfesübungen und ihre Abende bei Festmählern verbringen, bis sie an Ragnarök, dem großen Krieg, der ihre Götter dem Untergang weihen wird, einberufen werden, um gegen die feindlichen Heere der jötnar zu kämpfen, die auf Asgard zumarschieren (jötnar [Sing. jötunn] sind mythische Riesen, häufig Antagonisten, aber auch romantische und sexuelle Partner der Götter, z.B. der Asen [Æsir] und der Wanen [Vanir]).
Diese Strophen, die allgemein als Darraðarljóð (Walkürenlied) bekannt sind, gehören zu den blutrünstigsten Gedichten der altnordischen Literatur, und dass Walküren hier als grausame, blutbefleckte, ja abstoßende Kreaturen dargestellt werden, mag alle, die nur durch die Popkultur mit Walküren vertraut sind, überraschen. Diese gängige Auffassung von Walküren ist wahrscheinlich auf die bekannteste Quelle für nordische Mythologie zurückzuführen, die sogenannte Prosa-Edda, ein Handbuch der Mythologie und Poetik, das Anfang des 13. Jahrhunderts von dem Isländer Snorri Sturluson zusammengestellt wurde. In der Edda werden Walküren meist klischeehaft als Männerfantasien dargestellt – Bewirterinnen und Schankfrauen, die den gefallenen Kriegern Getränke servieren. Das Kompositum «Walküre» bedeutet übertragen «sie, welche die Gefallenen auswählt», von valr, den Kampftoten (auch das erste Wort des Kompositums Walhalla), und kuru, der Vergangenheitsform von kjósa, was «auswählen» heißt. Da das Wort in allen nordischen Quellen eine weibliche grammatikalische Endung aufweist, gibt es also keine männlichen Walküren. Snorri zufolge wurden diese Wesen von Odin, dem höchsten Gott, zu Schlachten geschickt, um die Gefallenen auszuwählen, die das Glück hatten, nach dem Tod in die Elitetruppe der einherjar (ehrenvoll Gefallenen, wörtl. «die allein Kämpfenden») aufgenommen zu werden, also in das Heer, das in der letzten Schlacht, dem Ragnarök, an der Seite der Götter kämpfen wird. Als Stellvertreterinnen von Odin entscheiden die Walküren in der Edda genau genommen also nicht selbst, welche Toten sie auswählen, und sie erscheinen hier eher als roboterhafte Dienerinnen, die nur existieren, um Odin dabei zu helfen, seinen Plan umzusetzen.[2] Snorri gibt uns zwar nur sehr spärliche Informationen an die Hand, aber wir können daraus schließen, dass es für nordische Krieger eine recht angenehme Jenseitsfantasie gewesen sein muss, von einer gastfreundlichen Dame in eine Wikingerhalle geführt zu werden, wo man nach Herzenslust Spaß haben, unbegrenzt Schweinefleisch essen und so viel Met trinken kann, wie man möchte.
Snorri beschreibt die Walküren sehr knapp und farblos, aber andere Quellen schwärmen von ihrer Grazie und Anziehungskraft. Das Wikingerlied Hrafnsmál (Das Rabenlied) aus dem 9. Jahrhundert erzählt von den großartigen militärischen Erfolgen des norwegischen Königs Haraldr hárfagri, im Deutschen bekannt als Harald Schönhaar, die in einem Gespräch zwischen einem Raben und einer wunderschönen Walküre geschildert werden. Sie hat weißblondes Haar und helle Haut, und dass sie mit einem Raben reden kann, verleiht ihr einen eindeutig übernatürlichen Charakter.[3] In den Liedern der Edda wird dieser Aspekt der Walküren noch weiter ausgeführt. Hier werden sie als quasimenschliche Gestalten dargestellt, die nach ihrem eigenen Willen handeln. Ihre Entscheidungen können jedoch zu gemischten Ergebnissen führen: Sigrdrífa, eine der Walküren, widersetzt sich Odin und schenkt dem Gegner seines Favoriten den Sieg. Dafür wird sie bestraft. Odin beraubt sie nicht nur ihrer Walkürenkräfte, sondern verurteilt sie auch dazu, zu heiraten – Walküren heirateten meist nicht – und damit die Unabhängigkeit aufzugeben, die sie bisher genossen hatte.[4] In der legendären Völsunga saga (Die Saga von den Völsungen), einer Prosaerzählung, die auf den Heldensagen basiert, von denen in eddischer Dichtung erzählt wird, nimmt Sigrdrífa nach dem Verlust ihrer Walkürenkräfte den Namen Brynhildr an und verstrickt sich in eine tragische Vierecksgeschichte mit dem Helden Sigurðr dem Drachentöter, ihrem zukünftigen Ehemann Gunnarr und seiner Schwester Guðrún, Sigurðrs Frau. Die Geschichte wird nun zu einer großangelegten Abhandlung über Ehe, Familienbeziehungen, Eifersucht, Gier und Ehrgeiz am Königshof der Gjúkungen. Obwohl die menschlich gewordene Brynhildr selbst keine Waffen mehr trägt, bleibt sie ihrem Walkürencharakter treu, als sie ihren ehemaligen Liebhaber Sigurðr gnadenlos ermorden lässt.
Die Frauen im Darraðarljóð weben ihr Schlachtenbild in einem traditionell Frauen vorbehaltenen Arbeitsumfeld, der Webstube, verwenden aber scharfe Waffen, die üblicherweise Männern vorbehalten sind, als Werkzeuge und lassen damit metaphorisch Blutströme aus den Körpern der Krieger aufs Schlachtfeld fließen. Das gesamte Gedicht ist von diesem Lebenssaft durchtränkt: Aus den Eingeweiden, aus denen die Walküren ihren Stoff weben, tropft so viel Blut, dass es auf den Boden «regnet». Die Schilde der Krieger sind mit Blut bespritzt, und wenn die Schlacht verloren oder gewonnen wird, rötet sich das Schlachtfeld. Das Weben scheint im Darraðarljóð aber konzeptueller Natur zu sein, und die Walküren beschreiben das Kriegsgeschehen, als stünden sie selbst auf dem Schlachtfeld:
Lasst uns vorangehen und zwischen Menschen stehen, wo unsere Freunde Hiebe wechseln.
[…]
und folgen dem Fürsten fortan im Kampf! Dort sehen Gunn und Göndul blutige Schilde, die den König schützen.
[…]
Walküren wählen die auf der Walstatt Gefallenen.[5]
Wenn die Walküren aktiv ins Geschehen eingreifen («Schaft wird brechen, Schild wird bersten»), können wir den Kampfeslärm beinahe hören – das Weben soll also synchron zur Schlacht stattfinden, als eine Art übernatürliche Visualisierung des Kampfes.[6] In einer Parallelwelt befinden sich die Walküren mit den Männern in der Schlacht, steuern, was geschieht, «weben» also sozusagen die Wege der Waffen und entscheiden so, wer leben darf oder sterben muss.
Zwei der Walküren im Darraðarljóð, Gunnr und Göndul, sind bekannte Figuren der altnordischen Erzähltradition. In der Völuspá (Die Weissagung der Seherin), einem eddischen Gedicht über die Geschichte der mythologischen Welt, wird Göndul in einer Aufstellung von Walküren erwähnt, neben ihren Freundinnen Skögul, Hildr und Gunnr, deren Name auch als poetischer Begriff für Schlacht verwendet wird. In einem anderen eddischen Gedicht, Grímnismál (Das Grimnirlied), werden noch weitere dieser Wesen benannt, darunter Hrist, Mist und Hlökk.[7] Diese Walküren treten auch häufig in Skaldengedichten auf, einer hochliterarischen Verskunst, die von den Kriegerkönigen des wikingerzeitlichen Skandinaviens kultiviert wurde. In dieser Tradition, die fest im militärischen Kontext verwurzelt war, beschwören Walkürennamen Eindrücke des Kriegsgeschehens herauf – Waffen, Lärm, Blut und Leichen – und lassen nichts von der Gastfreundlichkeit erahnen, die Snorri betont. Die skaldische Repräsentation von Walküren passt viel besser zum Darraðarljóð: Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die Gefallenen auszuwählen, und im Gegensatz zum Eindruck, den Snorris Edda erweckt, sind sie alles andere als freundlich.[8]
Skaldengedichte, die zum großen Teil in Sagas eingebettet sind, die skandinavische Frühgeschichte erzählen, wurden hauptsächlich verfasst, um Schlachten (oft zwischen Gruppen, die im Skandinavien der Wikingerzeit um regionale oder nationale Vorherrschaft kämpften) zu schildern und zu zelebrieren; um Waffen, Seefahrten und Langschiffe zu beschreiben und Könige zu lobpreisen. Folglich spiegelt ihr Vokabular eine Welt wider, in der sich Männer meist in Gesellschaft anderer Krieger im Gefolge des Königs befanden und Frauen selten in Erscheinung treten, außer, um die Männer zu bewundern. Aufgrund der begrenzten Themenbreite war es für die Dichter eine große kreative Herausforderung, die immer gleichen Dinge auf unterschiedlichste Art und Weise darzustellen, und zu diesem Zweck erfanden sie kunstvolle Umschreibungen, die Kenningar, deren einzelne Bestandteile auf mythologischen Phänomenen basierten. Walküren kommen häufig in den Schlachtbeschreibungen vor, die oft als Lärm und Getöse – was sich auf das Klirren der Waffen bezog – oder schlechtes Wetter – wegen des Pfeilhagels und des herabregnenden Blutes – imaginiert wurden. Obwohl Menschen diese Kämpfe anzettelten und ausfochten, stellte man sich den «Sturm», «Orkan» oder das «Getöse» des Krieges als von den Walküren bzw. von Odin verursachtes Phänomen vor, und dies spiegelt sich in der poetischen Sprache wider. Viele skaldische Kenningar beziehen sich mit Ausdrücken wie «Göttin des Blutes» oder «Göttin der Wunden» auf Walküren oder bezeichnen sie noch verschnörkelter als «die den Aderlass erflehende Göttin» und verklären damit die schreckliche körperliche Realität eines Verblutens in der Schlacht. Auch hier werden Walküren als nach Blut und Tod dürstend verstanden.[9] Ein isländischer Dichter beschrieb im späten 10. Jahrhundert eine Seeschlacht als «Urteil der Göndul».[10] Mit dieser Kenning verglich er das Aufeinanderprallen zweier Heere mit einer Gerichtsszene, in der beide Seiten prozessieren, aber einer Partei letztendlich durch eine höhere Instanz – hier die Walküre – Recht bekommt. Ein verwandtes Bild findet sich in dem Gedicht Hákonarmál (Das Hakonlied) aus dem 10. Jahrhundert, das nach dem Tod des norwegischen Königs Hákon des Guten Haraldsson im Jahr 961 verfasst wurde. Hier fragt der schwer verwundete Hákon eine mächtige Walküre zu Pferd: «Warum so entschied’st du/die Schlacht, Ger-Skögul? […]» – «Des walten wir,/dass die Walstatt dein,/und deine Feinde flohen»[11], antwortet sie und rechnet sich damit als Verdienst an, dass die Schlacht mit einem Sieg für Hákons Seite endete. Ihre nüchterne Antwort drückt aber weder Bedauern noch Mitgefühl mit dem sterbenden König aus. In allen Sprachbildern dieser Dichter verleihen die unterschiedlichen Kenningar den Walküren die Macht über das Leben eines jeden Kriegers, und ihr Eingreifen ist es, das den Ausgang einer Schlacht entscheidet.
Da die webenden Walküren spezielle Werkzeuge für ihr blutiges Handwerk benötigen, liegt es nahe, dass Waffen und Walküren eng miteinander assoziiert werden. «Das Feuer der Skögul» ist in skaldischer Sprache ein Schwert, dessen Klinge als hervorlodernde Flamme visualisiert wird, die den Körper versengt, und der «Regen des Nebels» deutet darauf hin, dass die Walküre die Pfeile vom Himmel regnen lässt. Dies funktioniert auch umgekehrt, und die Kenningar «Schwertjungfer», «Speermaiden» und «Göttin des Schwertes/Speeres» sind allesamt poetische Beschreibungen von Walküren, die darauf hindeuten, dass diese, zumindest metaphorisch, Waffen führen. Die Verbindung mit Pfeilen und Speeren – scharfen Wurfwaffen, die aus der Luft herabstoßen – ist besonders auffällig. Da Walküren fliegen können, lenken vielleicht sie die tödlichen Geschosse, die von den Kriegern abgefeuert oder geworfen werden, in die Körper der Männer, die all ihr Blut verlieren sollen. In der skaldischen Tradition sind Walküren mächtig und gewalttätig, aber so kühl und teilnahmslos wie die gut ausgebildeten Mitglieder einer Spezialeinheit, die effizient und erbarmungslos ihr Ziel eliminieren. Im übertragenen Sinne könnten hier die Wurzeln der Walküren als Personifizierungen der Speere und Pfeile liegen, die «auswählen», wer im Kampf fällt.[12] Die willkürlichen Umstände, die bestimmen, wer getroffen wird und wer nicht, können so als die bewussten Entscheidungen eines übernatürlichen Wesens rationalisiert werden, vor allem, wenn es sich dabei um eine wohlwollende Walküre handelt, die von Odin gesandt wurde, um die gefallenen Krieger nach Walhalla zu holen. Es scheint kein Zufall zu sein, dass Odins wichtigste Waffe ein magischer Speer namens Gungnir ist.
Die Walküren gehören mit ihrer umfassenden Macht über Leben und Tod zu den Stützpfeilern der Kriegsideologie. Sie spielen ihre klar definierte Rolle in der Propaganda, die Menschen davon überzeugen soll, ihr eigenes Leben oder das Leben anderer – ihrer Gefolgsleute, ihrer Söhne, ihrer Untertanen – zu opfern, in dem sicheren Wissen, dass die tapfersten und tüchtigsten Krieger im Jenseits gut versorgt sein werden. In den Mythen über die Walküren erkennen wir einen Versuch, die Banalität des Krieges zu überhöhen – den Schmerz und das Leid, die verlorenen Glieder und die Verstümmelungen, den Tod zahlreicher junger Männer glorreich und lohnenswert zu machen. Ihr Tod ist nicht länger sinnlose Vergeudung, sondern ein glückliches Schicksal, das von göttlichen Wesen bestimmt wurde.
Die Flugkünste der Walküren erinnern an durch die Luft schießende Waffen und assoziieren sie außerdem mit Vögeln. Manche Walküren reiten zwar in ihrer menschlichen Gestalt auf Pferden durch den Himmel, haben aber auch in der Dichtung die Fähigkeit, mit Vögeln zu sprechen, so wie Odin mit seinen zwei Raben kommunizieren kann, die ihm Informationen aus aller Welt zutragen. Andere verwandeln sich tatsächlich selbst in Vögel. Ähnlich wie Odin, der Adlergestalt annehmen kann, haben die drei geheimnisvollen Walküren, die in dem eddischen Gedicht Völundarkviða (Das Wölundlied) am Ufer eines Sees Flachs spinnen, ein Schwanengewand, in dem sie fliegen können.[13] Wenn sie von einem Ort genug haben, gleiten sie durch die Lüfte zur nächsten Schlacht, in der es gefallene Krieger zu holen gibt. Diese dynamischen, unabhängigen und beweglichen Figuren weisen Eigenschaften auf, die viele der Frauen teilen, die wir in diesem Buch kennenlernen werden, seien sie nun real oder fiktiv, und diese Thematik schlägt sich besonders deutlich in den Mythen über die Göttin Freyja, die wichtigste Göttin der altnordischen Mythologie, nieder.
Der bekannteste Text, in dem uns Freyja begegnet, ist wahrscheinlich das Gedicht Þrymskviða (Das Thrymlied), in welchem ein jötunn namens Þrymr sie zu ihrem Entsetzen zur Frau nehmen will. Um dies zu erreichen, stiehlt er Thors Hammer und verlangt Freyja als Lösegeld. Als Freyja erfährt, dass die Götter von ihr erwarten, dass sie Þrymr heiratet, um ihnen die Haut zu retten, weist sie diesen Vorschlag Wut schnaubend und so vehement zurück, dass ihr dabei ihr Markenzeichen, die Halskette Brísingamen, zerreißt, und die Götter gedemütigt die Halle verlassen. (Der Rest des Gedichts behandelt Thors und Lokis Bemühungen, den Hammer zurückzubekommen, indem Thor sich als die gewünschte Braut und Loki als ihre Dienerin verkleidet.) Freyja bleibt in Snorris Edda recht farblos, und verglichen mit den anderen Göttern, erfahren wir dort nur sehr wenig über sie, aber sie ist die Heldin einer kurzen Geschichte über einen rüpelhaften jötunn namens Hrungnir, der die Götter in Asgard besucht und rüde nach Gastfreundschaft verlangt. Da Thor, der stärkste Gott, gerade nicht da ist, müssen die anderen ihn hereinlassen, aber außer Freyja hat niemand den Mut, sich dem immer betrunkener werdenden jötunn zu nähern. Wie in vielen Abbildungen von Frauen (siehe Kap. 3) übernimmt auch die Göttin die Rolle der Gastgeberin. Sie bringt Hrungnir Getränke an den Tisch, lockert die Atmosphäre auf und hält ihn so lange hin, bis Thor mit seinem Hammer Mjölnir zurückkommt und den ungebetenen Gast loswird. Schon in diesem Mythos ist Freyja eine beeindruckende Gestalt, aber Snorri zitiert hier außerdem eine Strophe aus dem eddischen Götterlied Grímnismál, die besagt, dass Freyja die Hälfte aller in der Schlacht gefallenen Krieger erhält und Odin, der höchste Gott, die andere Hälfte.[14] Falls diese Informationen einen verbreiteten Glauben der Wikingerzeit widerspiegeln sollten, müsste Freyja folglich auf eine vergleichbare Stufe mit Odin gestellt werden. Ein echter Schlüsselmoment, der eigentlich Anlass für eine ausführliche Diskussion über die Rolle sein sollte, welche die Göttin für gefallene Krieger einnimmt. Aber aus unerfindlichen Gründen geht Snorri nicht weiter darauf ein, und diese beiläufige Anspielung ist die einzige direkte Erwähnung dieser Rolle Freyjas in der gesamten Edda. Wir wissen nicht, ob der Autor die Tatsache, dass die Hälfte der Gefallenen Freyja gehört, herunterspielen wollte oder schlichtweg keine weiteren Informationen darüber zur Verfügung hatte; aber selbst nur durch diese Textstellen entsteht zumindest der unbestimmte Eindruck, dass Freyja eine wichtigere Rolle im heidnischen altnordischen Glaubenssystem – oder zumindest einer Version davon – gespielt haben könnte, als sich aus der Edda herleiten lässt.
Freyja ist in den bisher angesprochenen Mythen eine beeindruckende Gestalt, und ihre dominante Persönlichkeit in den erwähnten Texten passt auch gut zur ausführlichsten Beschreibung ihrer Figur, die im Götterlied Hyndluljóð (Das Hyndlalied) zu finden ist. In diesem Gedicht tritt Freyja eine weite Reise an, um sich das streng gehütete Geheimwissen der jötnar anzueignen, wie es auch Odin in zahlreichen Mythen tut. Entweder kannte Snorri dieses Gedicht nicht oder ignorierte es bewusst, genau wie der Redaktor des als Codex Regius (Königsbuch) bezeichneten, einzigartigen Manuskripts, das um 1270 in Island kopiert wurde und die meisten – wenn auch nicht alle – noch existierenden nordischen Götter- und Heldenlieder enthält. Glücklicherweise ist das Hyndluljóð in einem anderen isländischen Manuskript erhalten geblieben, der Flateyjarbók, einer umfangreichen Handschriftensammlung, die Ende des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde. Sie enthält spannende norwegische Königssagas, Sagas und Geschichten (Þættir) über Isländer sowie Sagen, Gedichte und Annalen (siehe Abb. 1, Tafelteil).[15] Im Hyndluljóð bringt Óttarr, ein junger Mann edelster Abstammung – über die er selbst aber nur wenig weiß –, Freyja Opfer dar, damit sie ihm hilft, sein Erbe nicht an seinen Gegenspieler zu verlieren.[16] Die Göttin erhört sein Flehen, verwandelt Óttarr in einen Eber und reitet auf seinem Rücken zu der in einer Höhle lebenden Hyndla, um von ihr die uralten wertvollen Überlieferungen zu erlangen, die er braucht, um seinen Anspruch geltend zu machen. Nur die Nachkommen der jötnar – der ersten Bewohner der Erde – besitzen dieses Wissen, aber Freyja versucht es Hyndla abzuluchsen, indem sie an weibliche Solidarität appelliert und sie ihre Schwester nennt. Die misstrauische Hyndla will anfangs nichts mit den Eindringlingen zu tun haben, kann aber schließlich der Versuchung nicht widerstehen, mit ihrem Wissen zu prahlen, und rezitiert Óttars Stammbaum, während er und Freyja ihr in ehrfürchtigem Schweigen lauschen. Nachdem sie zu Ende geredet hat, bittet Freyja sie um einen Erinnerungstrank für Óttarr, damit er sich das Gehörte merken kann, aber Hyndla weist diesen Vorschlag empört zurück. Die beiden Frauen streiten eine Weile, und der letzte Teil des Gedichts wird zu einer sogenannten Senna, einem manchmal auch Flyting genannten Streitgedicht. Solche formelhaften Streitgespräche oder Spottreden konnten leicht in krude, hyperbolische Beschimpfungen ausarten. Als Hyndla ihre Gegnerin als unzüchtige «Beischlaffreundin» denunziert – eine Standardbeleidigung für Frauen in patriarchalischen Gesellschaften, die auch gegen andere Göttinnen eingesetzt wird –, erkennt Freyja, dass es an der Zeit ist, das Feld zu räumen, und sie reitet triumphierend mit dem Wissen von dannen, das sie und Óttarr erhalten wollten.