Waning Crescent - Doro May - E-Book

Waning Crescent E-Book

Doro May

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Beschreibung

Die Männer sind gefährlich. Alle! Sie haben einen Bund geschmiedet – nach Vorlagen der legendären Freimaurerlogen. Niemand darf von ihrer Existenz wissen, denn sie bergen alle ein mysteriöses oder kriminelles Geheimnis. Zurückgezogen leben sie in einem Kloster, denn sie werden polizeilich verfolgt oder wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten gejagt. Trotzdem führen manche von ihnen ein Doppelleben. Einer von ihnen arbeitet als Bankangestellter und einer hat ein Buch geschrieben: MICH! Marlene schlägt mich auf. Dass ich gefährlich bin, merkt sie nicht sofort. Ich zeige ihr meine geheimsten Seiten, entlocke ihr wie nebenbei das Versprechen: „Wenn ich etwas an miesen Verhältnissen ändern könnte, nähme ich sogar einen hässlichen Kerl.“ Ich nehme sie beim Wort. Als Connor, ein durch Anschläge gezeichneter Ex-Terrorist aus Belfast und das Phantom der Deutschen Bank, Marlenes Ex-Lover aus der Bank-Filiale hinauswirft, beginnt die seltsamste Liebesgeschichte des Universums.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

Doro May

WANING CRESCENT

Der geheime Pakt oder die seltsamste Liebesgeschichte des Universums

Originalausgabe Juli 2024 Cover designed by Michael Frädrich Covermotive: Pixabay.com

© Copyright Edition Paashaas Verlag www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-149-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

WANING CRESCENT

Der geheime Pakt oder die seltsamste Liebesgeschichte des Universums

Das solltest du wissen

Die Männer sind gefährlich.

Alle!

Entgegen dem Naturell jedes einzelnen von ihnen – alle sind passionierte Einzelgänger – haben sie einen Bund geschmiedet – streng nach gewissen Vorlagen der legendären Freimaurerlogen. Niemand, der nicht zu ihnen dazugehört, darf von ihnen und vor allem nicht von ihrem jeweiligen Vorleben wissen, denn sie bergen alle ein mysteriöses oder kriminelles Geheimnis. Mancher von ihnen verfügt über beides. Die Mitglieder dieses seltsamen Klübchens sind davon überzeugt, dass sie allenfalls zur Hälfte in die irdische Welt passen. Dies hat zur Folge, dass ihnen die jeweils andere Hälfte fehlt, weil jedem von ihnen eine spezielle Daseinsform unter Gleichartigen vorenthalten ist.

Zurückgezogen leben sie in einem Kloster – selbstredend undercover, denn sie werden polizeilich verfolgt, sind wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten gefragt oder wollen ganz einfach hinter Klostermauern der Tatsache aus dem Weg gehen, dass jemand hinter ihre sorgsam errichtete Fassade blicken kann. Trotzdem geht der eine oder andere durchaus einem geregelten Beruf nach, führt sozusagen ein Doppelleben: Gearbeitet wird in einem Büro, in der Deutschen Bank, bei einer IT-Firma oder sogar als Geistlicher in einem namhaften Orden.

Die Nacht gehört dem Kloster. In jedem Fall diejenige Nacht am ersten Wochenende des abnehmenden Halbmonds – des WANING CRESCENT. Das ist ungeschriebenes Gesetz.

Sollte der Arbeitsplatz weit entfernt liegen, kann man wenigstens Freitagabend in den Flieger steigen und nach Edinburgh durchstarten. Am Flughafen wird man von einem der anderen Bündnis-Verschworenen abgeholt, um in der Einöde unterzutauchen, die sich erbarmt und das von außen betrachtet unscheinbare Kloster optisch verschluckt.

Doch wie geht man mit dem Problem um, wenn sich einer von ihnen mit jemand Außenstehendem einlässt? Gar mit einer Frau? Und wenn das in was Ernstes umschlägt? Etwas, das man LIEBE nennt? Ist es eventuell sogar möglich, Geheimnisträger zu bleiben UND eine Liebe zu leben?

Der Autor Theo Dyramo hat im Zuge der RAF als junger Mann ein richtig böses Buch geschrieben. Man hat ihn als Sympathisant verhaftet und in eine Zelle in Stammheim gesperrt.

Da er außer dem brisanten Büchlein – es hat gerade einmal 130 Seiten – nichts auf seinem Schuldenkonto hatte, musste man ihn bald wieder freilassen. Allerdings schickte man ihn unter der Auflage nach Hause, sich wöchentlich beim BKA Abteilung2/Terrorismus-bekämpfung zu melden.

Theo fand das gar nicht witzig.

Also ging er in ein Kaufhaus und klaute ein Kleid, Schuhe mit kleinem Absatz, was in Größe 43 schwierig war, weshalb er seine breiten Füße in Größe 42 quetschte, und in der Kostümabteilung eine Perücke, die nicht völlig nach Fassnacht aussah. In einem öffentlichen Klo verkleidete er sich als Frau, nannte sich Dorothy Cameron, besorgte sich noch am selben Tag bei bislang unbekannten Mitarbeitern der Roten-Armee-Fraktion einen entsprechenden Pass und haute ab nach England. Sobald er irgendwo sitzen konnte, schob er die Fersen aus den Schuhen und gestattete seinen Füßen, sich wieder auszubreiten. Auf der Bahnhofstoilette entledigte er sich der Feinstrumpfhose und stellte die malträtierten zwei im Wechsel in die Kloschüssel. Immer wieder zog er ab. Die Füße dankten es ihm, schrumpften durch das kalte Wasser wieder auf ein Normalmaß und ließen sich erneut in die verflixten Damenschuhe stopfen. Endlich kam ihr Eigentümer auf die Idee, sich ein Paar Herrengaloschen zu klauen und den Frauenstatus in die Themse zu werfen.

Er pennte in Londoner U-Bahnschächten, wo er einem Mann begegnete, der das Zeug zum Phantom von King’s Cross hatte, der von Theo favorisierten Station. Dieser Aufenthaltsort erschien Theo zentral und voll genug, um jeder Zeit unauffällig in einem Pulk Menschen zu verschwinden.

Connor ging es ähnlich. Nur, dass er tatsächlich Terrorist gewesen ist, was man seinem vernarbten Gesicht ansehen konnte. Offensichtlich war bei einem seiner Anschläge etwas schiefgegangen. Er hatte nicht bei der RAF made in Germany gedient, sondern in Belfast bei der IRA, deren Abkürzung sich nur in einem popeligen Buchstaben von der westdeutschen Variante unterscheidet. Inhaltliche Übereinkunft garantiert das Wort Armee. Da sind sich Terroristen einig: Ohne Armee läuft es nicht!

Der Zufall führte die zwei Männer auf der U-Bahn-Toilette zusammen. Der eine sah nach Tagen der Flucht wie ein abgerissener Flüchtling aus, der er in gewisser Weise auch war. Der andere trug einen Anzug, war frisch rasiert und sein weißer Hemdkragen war tatsächlich blütenweiß. Seine erlesene Kleidung wollte allerdings so gar nicht zu seiner Patchwork-Visage passen.

Die Überlegungen der beiden, um welche Sorte Gefahrengut es sich bei dem jeweils anderen handeln könnte, weckte ihre Neugierde. Gleich in dieser Nacht erzählten sie sich in einem nahegelegenen Pub bei einem guten Glas Whisky, der Typ von der IRA hatte ein dickes Portemonnaie dabei, gegenseitig ihre düstere Vergangenheit.

Am nächsten Morgen steckte Theo seinem neuen Kumpel das verschwörerische Buch zu. Dass es ein Eigenleben führte, stand zu keinem Zeitpunkt auf dem Plan. Ganz im Ernst: Theo hatte keine Ahnung, über welche haarsträubenden Fähigkeiten das verdammte Buch verfügte. Im Gegenzug erhielt Theo die Anschrift des ein paar Meilen hinter Edinburgh liegenden Klosters.

Die Männer waren sich überaus sympathisch. Ihre in dieser Nacht begonnene Bekanntschaft war der Beginn einer echten Win-win-Geschichte …

1

Ich möchte mich vorstellen

Ich bin DER Knaller.

Und ich bin gefährlich.

Richtig gefährlich.

Wenn Sie belesen sind, ahnen Sie bald, wovon ich spreche. Nicht, dass ich es zu einem umstürzlerischen Manifest gebracht habe oder wie von Luther an eine Kirchentüre genagelt worden bin. Eine solche Behauptung wäre jetzt vermessen.

Ich bin kein besonders dickes Buch. Kaum 130 Seiten stark. Auch würde sich für mich der Titel Mein Kampf nicht gut machen, obwohl es mich in den Seiten juckt. Mein Kampf. Was für ein Potenzial in diesem Titel steckt! Ohne diesen Titel wäre sein Verfasser ein Nichts geblieben. Mein Kampf wäre ein Titel meiner Wahl gewesen. Aber ich hätte bei einem solchen Titel gar nicht unkommentiert erscheinen dürfen. Das wiederum hätte meinen Erzeuger, den Schriftsteller Theo Dyramo, umgebracht. Nun wird das wohl bald der Alkohol erledigen. Ach nein! Er steckt ja jetzt in diesem Outlaw-Kloster. Da achten sie auf ihn und seine Getränke-Vorlieben …

Es juckt mich zwischen den Seiten, mal so richtig etwas anzustellen. Eine klitzekleine Revolution zum Beispiel. Mit Polizei, Demonstranten und Gegendemonstranten. Hier und da dürften ruhig ein paar Sachen fliegen, zum Beispiel Tomaten, Eier oder Plastikflaschen. Also keine harten Dinge. Aber nichtsdestotrotz: Ein klein wenig Gewalt möchte schon sein. Theo ist immerhin RAF-Sympathisant.

Was ich auf den ersten Blick so biete? Na ja, im Bestseller-Ranking kann man mit dem Cover-Boy auf meiner Frontpage nicht gerade auf den oberen Plätzen landen: Da sitzt nämlich Der Deutsche Michel. Er hockt einfach so da, mit krummem Rücken und seiner Schlafmütze auf dem Kopf, so, wie man ihn halt kennt. Den Mund hat er halb offen. Er schaut etwas dämlich drein und will sich doch gerade engagiert erheben. Aber weil ihm eine Dame von der Bürgergeld-Behörde die Stütze in die ausgestreckte Hand drückt, sagt er artig ‚Danke’ und schlägt die Augen nieder. Das war’s dann. Fast können Sie zwischen meinen Seiten den Muff riechen, den unser Michel verströmt.

Wer jetzt glaubt, er bekäme ausschließlich lustige Cartoons vorgesetzt, der hat sich geirrt. Auf meinen Seiten geht es wirklich um was. Um das richtige Leben nämlich: Schulversager, Berufsversager, überhaupt Versager, Hausfrauen, unterbezahlte Krankenschwestern im Speziellen und Pflegepersonal im Allgemeinen, Alte, Demente, Flüchtlinge und Praktikanten. Das komplette Spektrum der bundesdeutschen Abgegriffenheit. In Wort und Bild.

Mein Schöpfer hat das Ganze dokumentarisch und mit kleinen Geschichtchen aufgelockert, damit meine Leserschaft nicht depressiv wird.

Natürlich bin ich kein Objekt für die Bestsellerlisten oder gar einen renommierten Buchpreis. Das hätte Theo, also mein Erschaffer, mit Kochbüchern und Diätratgebern geschafft. Hagelt geradezu Preise, wenn man immer mal wieder übers Essen schwadroniert.

2

Mein Erzeuger, mein Vorwort

und wie ich Marlene kennenlerne

Marlene, ich schätze sie auf einen Jahrgang zwischen 1980 und 1990, hat lange gestöbert, bis sie auf mich gestoßen ist. Ich stehe nämlich nicht in der ersten Reihe. In Buchhandlungen herumzustöbern ist offensichtlich eine Leidenschaft von ihr, denn sie ist mir schon öfter aufgefallen.

Sie streicht eine lose Strähne nach hinten, klemmt sie hinters Ohr und greift nach mir, was mich ungeheuer anturnt. Meine Seiten erschnuppern ihre wunderbare Handcreme. Auf jeden Fall Bienenwachs und eine Spur Mandelöl. Ihre Finger sind zart wie bei jemandem, der nicht hart arbeitet. Im Ernst: Sie hat schöne, schlanke Finger. Überhaupt finde ich ihre Hände wundervoll, weil sie so weich und feingliedrig sind. Ich mag halt keine grobschlächtigen Pranken. Sie tun meinem Rücken nicht gut. Ich hasse es, wenn man mich unsanft packt. Es tut mir ganz einfach weh, obwohl ich noch nicht besonders alt bin.

Ehrlich gesagt glaube ich, dass Buchhandlungen in erster Linie für Leute wie Marlene da sind. Also für Menschen mit Zeit. Alle anderen bestellen im Netz oder laden sich das Gesuchte auf ihren Reader. Dabei lieben Seelenskripte wie ich die taktile Vereinigung mit sanften Händen.

In Paperback koste ich nicht viel, was Marlene, glaube ich, entgegenkommt. Ich habe nämlich beobachtet, wie sie eine gebundene Neuerscheinung mit Superrezension aus der Süddeutschen hinten drauf bis halbe Strecke Kasse getragen hat, umgekehrt ist, das Hochglanzexemplar dem Berg der vielversprechenden Neuen zurückgegeben und ihre prüfende Suche wieder aufgenommen hat.

Ihr Blick auf mein Vorwort hat etwas total Nostalgisches: Weil mein Erschaffer, also der Theo, so kritisch mit den Verhältnissen ins Gericht geht, fühlt sie sich an früher erinnert. War sie schon mal aufmüpfig gewesen? Ging sie etwa auf die Straße, um zu protestieren? Man sieht es ihr nicht an, wie sie so dasteht mit ihrem cremefarbenen Anorak, dem Pferdeschwanz und der zarten Lesebrille. War sie Papas liebes Mädchen? Auf jeden Fall wird sie gegen Atomenergie und die ökologischen Folgen des Braunkohle-Tagebaus demonstriert und den Hartgesottenen für die ungemütlichen Nächte in ihren Baumhäusern Lunchpakete zugesteckt haben. Vielleicht hat sie sogar einem an Schienen Angeketteten ein Schlückchen Roten gebracht, damit er in seiner unbequemen Lage nicht durchdreht. So eine Aktion ist meiner Meinung nach eine Grundvoraussetzung dafür, sich für mich zu entscheiden.

Ansonsten müsste Marlene zugeben, apolitisch auf den Prinzen gewartet zu haben, was ich aber nicht glaube. Nicht nur, weil sie definitiv keinen Prinzen hat, wie ich später feststelle, sondern auch, weil ihre ökologische Ausrichtung – schließlich geht sie mit mir in der Tasche noch auf den Biomarkt, so dass sich neben mir ungespritztes Gemüse in Zeitungspapier und lose Tomaten breit machen – auf ein gewisses Bewusstsein schließen lässt. Sie hätte sich sonst womöglich für einen Roman von Hilda Dor entschieden. Die gibt es inzwischen auch in Taschenbuchausgabe. Das wäre sich finanziell gleichgeblieben.

Marlene gehört also zu den Sparsamen. Sie lässt mich als Geschenk verpacken, schwarzes Papier mit glutrotem Band samt Schleife, und spart sich somit den Kauf von präsentablem Einwickelpapier.

Eine Weile schlenkre ich nun neben dem Gemüse durch die Stadt, höre, wie Marlene auf die sie anquatschenden Bettler mit einem verhaltenen Nein reagiert und für einen Moment ihr Tempo steigert. Von der sich ebenfalls steigernden Schaukelei wird mir ein wenig übel.

Endlich bleibt Marlene stehen, kramt den Schlüssel heraus und öffnet die Türe eines Mehrfamilienhauses. Gemächlich erklimmt sie den dritten Stock. Wir betreten den kleinen Eingangsflur ihres Zimmer-Küche-Diele-Bad-Domizils.

Das Gemüse entfernt sich von meiner Seite. Ich höre, wie Marlene ihren Kühlschrank öffnet und wieder schließt. Wie ich den Ausdünstungen entnehme, legt sie die Tomaten neben mich in den Korb. Während sie sich ihrer flachen Lederschuhe mit Kreppsohle entledigt, streift eine Katze um ihre Beine. Als diese ihr Wasserschälchen umwirft, wird sie mit „Putin, du verflixte Kanaille! Wie bist DU denn heute drauf?“ angeschnauzt. Also ein Kater, korrigiere ich mich. Putin, die verflixte Kanaille, hat verstanden und haut erst einmal wieder ab.

Gemüse hin, Bio her – Marlene wirft den Kaffeeautomaten an und greift sich eine schwarz eingeschlagene Tafel Schokolade, Praliné-Sahnecreme. Oft macht sie das nicht, kombiniere ich und tippe auf momentane Naschhaftigkeit bei schlanker Figur. Sie wird eine kleine gelegentliche Alltagsbegierde befriedigen, um einen winzigen genüsslichen Gegenpol zu ihren grünen Prinzipien zu schaffen.

Jetzt greift Marlene in den Korb. Aaah! Mich will sie. Sie packt mich, bevor ich als kleines Mitbringsel fungieren soll, ganz vorsichtig, also ohne das Papier zu beschädigen, aus. Welch ein Genuss, erneut ihre Hände zu spüren. Das seidig dünne Geschenkpapier legt sie behutsam auf den Schrank in ihrer Wohnküche, damit sie es später – also ich vermute mal stark, dass sie mich zunächst selber kennenlernen will – wieder benutzen kann, um mich, wie es für ein Geschenk üblich ist, zu tarnen.

Jetzt sehe ich den für einen Einpersonenhaushalt überdimensionierten Kühlschrank, Edelstahl gebürstet, in den vorhin das Gemüse gelegt worden ist.

Die ersten Riegel verdrückt Marlene, noch bevor der Kaffee fertig ist, um es sich dann mit Tasse, Schokolade und mir auf einem wuchtigen grellblauen Sofa bequem zu machen wie jemand, der schöne Dinge tut, auf die er sich seit Monaten gefreut hat.

Sie nimmt wie im Buchladen noch einmal meine Rückseite in Angriff. Diesmal ist ihr Griff fester. Auch DAS ist gänzlich in meinem Sinn. Festigkeit bei weicher Oberfläche gepflegter Hände.

Wundervoll!

Jetzt beginnt meine neue Flamme zu lesen.

Der Soziologe Theo Dyramo nimmt in der ihm eigenen schonungslosen Art die Ursachen für den Anstieg der sogenannten neuen Unterschicht unter die Lupe. Dies gelingt ihm mit einem ungewohnten Blick von unten, aus der Froschperspektive, wodurch seine Ausführungen an den Pikaro, den Schelm vergangener Epochen, erinnern.

Dem Mittelstand hält er den Spiegel vor, um zu demonstrieren, dass jeder eine gewisse Chance hat, Unterständler, pardon, Unterschichtler zu werden – und zwar von der Sorte des aus dem System Gekippten. Man könnte meinen, das Buch stünde unter dem Motto: Bleiben Sie ruhig sitzen, sonst könnte sich was ändern.

Maximilian Kuchen – Frankfurter Rundschau

Marlene hat gerade das Vorwort aufgeschlagen, als ihr Handy sie mit dem Ludwig van’schen Klingelton der Elise unterbricht.

Dideldideldideldideldaaa, dideldaa, dideldaa …

Damit ich nicht den Eindruck eines Entjungferten mache, legt sie mich nicht in aufgeklapptem Zustand mit dem Rücken nach oben auf den Couchtisch, was, wenn Sie mich fragen, nur Banausen tun. Nein. Sie macht mich ordentlich wieder zu. Dann greift sie ihr Handy, das dudelnd auf dem Sofatischchen liegt.

„Ach – Sabine. Grüß dich. – Klar, komme ich. – Nein, ich habe schon ein Geschenk. Es soll ihn an unsere irren Aktionen in der Studentenzeit erinnern. Gegen Atomkraft und – naja! – alles Mögliche halt!“ Gekicher. „Ein Büchlein. Geht um Systemkritik und so. – Nee. Ist eher provozierend und manchmal auch witzig. Hat jedenfalls die Buchhändlerin gesagt, und ich habe natürlich den Waschzettel studiert. – Ich weiß, dass er kein Bücherwurm ist. Aber es handelt sich ja nicht um einen dicken Roman. – Sonst hat eben Nora was davon. – Eigentlich wie immer. Und dir? – Nee echt? – Kriegst du wenigstens Geld dafür? Ich meine, du investierst in diese Gören schließlich nach der Arbeit auch noch deine Freizeit. – Nee, das wär nichts für mich.“ Kurzes Lachen. „Da gehen doch, wenn man mal ehrlich ist, nur Kinder hin, die, also versteh das jetzt nicht falsch, aber so Asikids. – Du mit deiner sozialen Ader. Aber die können froh sein, dass es welche wie dich gibt. – Bis morgen Abend dann.“

Das Handy fliegt in die Sofaecke.

Irgendwie muss Marlene durch das Gespräch die Lust an mir verloren haben. Dabei hat sie es sich wieder bequem gemacht, Tasse in der rechten, einen weiteren Riegel Schokolade in der linken Hand. Sie sperrt ihren kleinen Mund auf und schließt ihn wieder, obwohl gerade kein Stückchen Schokolade den Weg hineingefunden hat. Denkt sie über ihre Figur nach? Oder hat sie eher Appetit auf Salzgebäck?

Plötzlich rinnt ihr eine Träne über das Gesicht und sie sagt: „Scheiße!“ Und dann ruft sie: „Putin!“

Das macht sie noch mindestens viermal, bis der dicke, schwarzweiß gefleckte Kater endlich kapiert, zu ihr scharwenzelt und sich Mühe gibt, heimelig zu schnurren, dieser lügnerische Lump. Dafür darf er auf ihrem Schoß sitzen und sich streicheln lassen. Wie versonnen sie das kapitale Tier ansieht ...

Eine halbe Stunde später muss ich das Fernsehprogramm über mich ergehen lassen. Von Nachrichten über Millionär-Shows, einen Brunetti, anderthalbe Tatorts und einen Tierfilm auf NDR mit Endlosschleifen über Seevögel auf und um Helgoland herum spulen die Sender beim Zappen ab. Dann noch einmal Nachrichten und Wetterbericht. Nach elf gehen wir drei ins Bett: Marlene legt sich eine Nackenrolle unter den Kopf, Putin, die verflixte Kanaille, nimmt am Fußende Quartier, und ich werde zur Hand genommen, um endlich mein Vorwort loszuwerden.

Deutschland kauft sich frei.

Und zwar von seiner Verantwortung. Denn es müsste für, sagen wir einmal, ‚Unterbegabte‘ und für ihre aus den unterschiedlichsten Gründen unfähigen Bürger, die nicht an der Steigerung des Bruttosozialproduktes aktiv mitwirken können, Arbeit schaffen. Die Menschen, von denen hier die Rede ist, bilden eine eigene Schicht. Diese Schicht ist zwar im Billig-Sektor am Konsum beteiligt und damit scheinbar versorgt. Sie produziert aber ein immer unüberschaubareres Potenzial an Desperados, die nicht in der Lage sind, am Aufschwung teilzunehmen. Sie werden mit Bürgergeld, den ‚Tafeln‘ und Ein-Euro-Läden ruhiggestellt. Eine wirkliche Lobby hat diese moderne Unterschicht nicht.

Oder kümmern Sie sich etwa um einen Loser?

Wie sich seit Jahren zeigt, fundamentiert zusätzlich unser Schulsystem die vorhandene Bildungsschere. Da kann auch die Bezeichnung „Gesamtschule“ nicht gegen an.

Mal ganz ehrlich: Es ist kein Geheimnis, dass unser Land in sozialem Sinne verkommt.

„Scheiße, Vladimir. Was hab ich da bloß für ein Buch gekauft?“

Kanaille Putin weiß es auch nicht.

Also liest Marlene weiter.

Sie wollen protestieren?

Sie sind brüskiert?

Dann gehen Sie doch einmal in sich und stellen sich vor, Ihre Tochter beginne eine Liaison mit einem Hauptschüler. Na? Ich höre Sie sagen: Auf die Hauptschule, sofern es sie überhaupt noch gibt, geht der Rest. Also die, die wirklich gar nicht mehr woanders untergekommen sind. Ist es nicht so?

Sie haben völlig recht.

Es ist so!

Dort lernt man Bürgergeld-Anträge auszufüllen. Und das ist kein Witz.

Zu diesen Underdogs gesellt sich der Auswurf von Förderschulen und Sondereinrichtungen der Sorte Jugendlicher mit dem Etikett „Kratzt, Beißt, Spuckt“. Dazu kommen neben den Flüchtlingen ohne Deutschkenntnisse noch Horden von Schulabbrechern der Sorte “Ich-scheiß-auf-euch“.

Sie fühlen sich am sozialen Schlafittchen genommen?

Weiter schafft es Marlene nicht. Sie sitzt ganz still, und ich merke, wie ihr Gehirn arbeitet. Für so was bin ich auf Empfang. Ihre weiche Hand, mit der sie mich hält, ist ganz warm geworden. Sie lässt mich auf die Bettdecke sinken, wo ich für eine geraume Zeit liegen bleibe und ihre pulsierende Handfläche spüre.

„Oh, Vladimir! Der Lukas erklärt mich für total bescheuert.“

Weil Putin, die Kanaille, nicht reagiert, bleibt Marlenes Selbstvorwurf im Raum stehen.

Ich bin ein bisschen beleidigt. Schließlich mache ich für Theo, meinen geistreichen Schöpfer, nur den Verbindungsmann. Apropos Theo! Er hat Ex-Terrorist Connor einen von mir als Dankeschön für den verrückten Kloster-Tipp vermacht. Ich bin ja ein Mehrling mit einer bescheidenen Auflage von 500 Exemplaren (ist lächerlich – ich weiß!). Die meisten vermodern angelesen in allen möglichen Bücherregalen. Connor hat mich schlicht und ergreifend gleich am Ausgang von King’s Cross in einen Mülleimer geworfen, während Theo in die U-Bahn ist, um soweit wie möglich aus London rauszukommen. Dann ist er in einen Bus gestiegen, der, gefühlt im Schneckentempo, die 600 Kilometer nach Edinburgh geschafft hat. Die gut 70 Kilometer bis Perth hat ihn am nächsten Morgen ein anderer Bus für gutes Geld mitgenommen, sodass Theo völlig pleite von den Tickets den Rest zu Fuß erledigen musste. Da er an diese Fortbewegung nicht gewöhnt war und die letzten Nächte in U-Bahnschächten oder im Freien nicht besonders komfortabel ausgefallen waren, brauchte er für die restlichen 14 Kilometer den kompletten Tag. Am späten Abend erreichte er, die Füße voller Blasen und halb verdurstet, das Kloster, klopfte mit letzter Kraft an die mittelalterliche Pforte, hauchte dem öffnenden Mönch den Namen „Connor“ entgegen und wurde in ein Dormitorium gebracht, nachdem man ihn mit kaltem Tee und einer Schüssel Cornflakes gelabt hatte. Er war ganz einfach fix und fertig.

Genau wie Marlene!

Allerdings ist sie nicht körperlich, sondern geistig am Anschlag, denn sie fühlt sich ertappt. Weil sie ihre soziale Denke von früher eingestellt hat. Weil sie an den Zuständen ja doch nichts ändern kann, hat sie aufgegeben. Genau wie die meisten der Aktivisten, mit denen sie damals umhergezogen ist. Hatte sie nicht sogar Unterschriften gesammelt, um gegen – hm – gegen was noch mal hatten sie damals alles protestiert?

Sie weiß es nicht mehr.

„Ist ja auch scheißegal“, sagt sie zu Putin. „Hat sich eh nicht gelohnt.“ Bitter lacht sie auf. „Die meisten Hausbesetzer wohnen jetzt in genau dem Haus, das sie mal besetzt haben. Als Juristen, Ärzte, Beamte haben sie es sich gekauft und herausgeputzt, als wollten sie den ersten Preis bei Schöner Wohnen einheimsen.“

Sie klappt mich zu und schiebt mich unters Kopfkissen.

„Aber ich sitz in dieser scheiß-langweiligen Mietwohnung.“

Immerhin bin ich ihr nah.

Obwohl auch Putin bei ihr ist – die Kanaille liegt jetzt neben ihr – schläft sie unruhig. Sie wälzt sich dauernd hin und her, schlägt ein Bein über die Bettdecke, wendet sie einmal sogar. Es ist Viertel nach zwei, als sie endgültig wach wird und für eine kurze Weile ins Dunkel blickt. Die Nacht ist nicht mal halb um. Sie knipst das Leselämpchen über ihrem Bett an, tastet über die Bettdecke, findet mich nicht, erinnert sich wieder, zieht mich unterm Kopfkissen heraus und schenkt mir tatsächlich noch einmal ihre Aufmerksamkeit. Mit der Linken fischt sie die Lesebrille vom Nachttisch. Wahllos schlägt sie irgendeine Seite auf. Wie ich gehört habe, verfährt man auf diese Weise gerne mit der Bibel. Und wie es der Zufall will, landet sie ausgerechnet bei einem biblischen Gleichnis.

Werden Sie Ehrenamtler!

Wer einem Underdog wirklich heraushelfen will aus der sozialen Sackgasse, muss investieren. Man muss Alternativen vorleben.

Der Deutsche ist im Innersten seines Herzens gegen aufrührerische Gedanken resistent. Die Regierung wird’s schon richten. Da sind sich alle sozialen Schichten ziemlich einig, weil Aufmüpfigkeit ja doch nichts bringt. Zumindest in diesem Punkt herrscht in unserem Lande Gleichheit.

Die Zeichnung unten drunter demonstriert, wie eine Frau in ihrer kleinen Wohnung ein Knäuel von bärtigen Losern um sich geschart hat. Über einem riesigen Hordentopf schwingt sie den Kochlöffel. Ihr überdimensioniertes Lächeln zeigt ihre gute Miene zum anstrengenden Spiel. Die abgerissenen Typen lecken sich in Anbetracht der zu erwartenden Mahlzeit voller Gier die Lippen. Jeder trägt mehr oder weniger auffällig eine Dose oder Flasche Bier bei sich.

„Vladimir, hier steht ein Zeugs. Da würdest du staunen.“

Marlene schaut ausgiebig auf das Cartoon und grinst sich eins. Wenn sie wüsste, wie viel Wodka es Theo gekostet hat, dieses Buch fertigzustellen. Wäre Mäxchens Kuchen nicht gewesen, dann gäb’s mich gar nicht. Wir hätten doch gerade einen kleinen Aufschwung, sagte der Max damals, woraufhin Theo fast gekotzt hat, bis er röchelte: „Aber nicht für die, von denen ich schreibe.“

„Aber das Bild ist klasse“, stellt Marlene fest.

Putin blinzelt nur kurz und bleibt zusammengerollt auf der einladenden Hälfte des Einssechzig-Bettes liegen. Ob der Kater sich nicht angesprochen fühlt? Ich registriere, dass er die Sache nicht ganz ernst nimmt. Mir schwant außerdem, dass Marlene unsicher ist, ob sie mich an das Geburtstagskind verschenken soll oder besser nicht.

So erwarte ich gespannt den nächsten Morgen, während Marlene, die das Licht wieder gelöscht hat, bald in die sanfte Kühle der Nacht hineinschläft. Sie liegt jetzt ruhig da und atmet regelmäßig. Meine zarten Seiten spüren ihre Ausdünstungen, die wohlriechend sind. Ich finde sie schön, wie sie mit ihrem ausgebreiteten Haar und den vollen Schultern, die von der Bettdecke unberührt sind, eine Ruhe ausstrahlt, wie ich sie nur an den Vormittagen in der Buchhandlung erlebt habe. Sie träumt von der großen Liebe. Mit einem Mal fasse ich einen Entschluss: Ich will ihr helfen.

Sie soll nicht nur von der großen Liebe träumen.

Sie soll sie erleben!

Mir wird schon was einfallen.

3

Marlene und der Graue Wolf

Am nächsten Morgen scheint die Sonne.

Der Straßenlärm zeugt bereits von der Existenz der berufstätigen Klasse, während sich Marlene noch ein wenig räkelt. Ganz plötzlich, als habe sie einen Anfall schlechten Gewissens, weil sie nicht am Bruttosozialprodukt mitwirkt, springt sie auf. Putin hat sein Nachtlager längst geräumt. Er ist durch seine Klappe auf den Balkon und von da aus mit einem Satz in sein Jagdrevier verschwunden. Er hat zu tun.

Marlene streift ihr Nachthemd ab – und ich sehe sie nackt. Klar, dass ich sie ausgiebig mustere. Obwohl ich sächlicher Natur bin, kann ich mir ein Urteil erlauben. Mir drängt sich die Frage auf, warum sie nur Putin neben sich liegen hat.

Das wird sich bald ändern!

Sie zieht sich Schlabberhose und Pulli über, dreht ihr langes Haar und steckt es hoch zu einer Ananas. Nun öffnet sie beide Fensterflügel, und weil das Haus mitsamt ihrer Etagenwohnung auf einem Hügel am Stadtrand liegt, kann sie auf die zahllosen Häuser, Türme und Schornsteine hinabblicken, bis die Peripherie im Dunst mit dem Horizont verschwimmt. Jetzt zückt sie ihr Handy, tippt nacheinander E-Mail-Konto, Facebook und Instagram an, stellt fest, dass nichts Wichtiges getwittert wurde und bereitet sich das Frühstück.

Den Kaffee trinkt sie mit reichlich Milch und isst ein Knäckebrot mit Honig dazu. Nach der Hälfte der Zeitung macht sie sich noch eins. Toll, wie lange sie ihr Frühstück ausdehnt, finde ich. Auf diese Weise ist der Tag bis zum Abend nicht so endlos lang.

Endlich komme ich an die Reihe, obwohl der komplette Lokalteil noch ungelesen daliegt. Mit gewaschenen Händen nimmt sie mich und schiebt mich sehr behutsam in das an einer Seite geöffnete Geschenkpapier zurück. Wie zart ihre Finger sind. Die Öffnung wird wieder zugeklebt. Es bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten, wer mich heute Abend auspackt.

Theo hat oft zu mir gesagt: „Wer dich bis zu Ende liest, der schafft es.“ Obwohl er sich so runtergewirtschaftet hatte, glaubte er insgeheim an das Gute. Das ist jedenfalls meine Meinung.

Das Rascheln der Zeitung lässt darauf schließen, wie lange Marlene auf einer Seite verweilt. Sie ist eine gründliche Zeitungsleserin. Jetzt schiebt sie den Stuhl zurück, ein etwas unangenehmes Geräusch auf dem Boden, und steht auf. Mit wenigen Griffen hat sie den Tisch abgeräumt und den Monsterkühlschrank einmal auf- und zugemacht. Sie verlässt die Wohnküche und lässt sich ein Bad ein, wie ich höre. Auch in der vollen Wanne – das Wasser läuft endlos lange – nimmt sie sich Zeit. Sie hat offenbar viel davon.

Immer mal wieder summt sie eine safte Melodie. Dazu höre ich, wie das Wasser schwappt.

Nach schätzungsweise zweieinhalb Stunden registriere ich, wie ein Schlüssel in eine Tasche plumpst. Der Verschluss der Tasche klickt mit einem Entscheidungsdrall, so, als wolle sich Marlene Mut machen. Dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin alleine.

Jetzt bleiben nur noch die Geräusche von der Straße. Putin scheint immer noch außer Haus zu sein. Ich ziehe mich in mich selbst zurück und bedaure, dass ich nicht hierbleiben kann. Vielleicht wäre ich ja für Marlene das Richtige. Ich könnte mir das durchaus vorstellen. Doch genau das sollte ich lieber nicht tun. Denn es wäre immerhin möglich, dass Marlene für mich empfänglich ist. So sehr man sich das an meiner Stelle wünscht, so sehr muss ich natürlich einkalkulieren, dass sie sich meinetwegen in Situationen begeben könnte, die ganz und gar außergewöhnlich wären. Schließlich wäre in einem solchen Fall für sie nichts mehr wie es war. Ich weiß ja gar nicht, wie robust sie ist. Aber – sinniere ich weiter – ihr Leben würde auf jeden Fall Fahrt aufnehmen. Zudem habe ich ja beschlossen, ihr die große Liebe zu bescheren. Hoffentlich geht das klar!

Ich stelle mir den Beschenkten vor. Das Telefonat von gestern lässt nicht viel Hoffnung auf Interesse an einem wie mir aufkommen.

Marlene ist mehrere Stunden ausgegangen. Nun wird der Schlüssel ins Schloss gesteckt und ab da habe ich wieder ein wenig akustische Abwechslung. Ihr Smartphone füttert einen Lautsprecher mit Countrymusic. Den leichten Schwingungen entnehme ich, dass sie tanzt. Dann nehme ich das Geräusch von Schranktüren wahr und wieder den Wasserhahn. Ich höre, wie Marlene mit sich selber über ihre Abendgarderobe konferiert. Reißverschlüsse werden zu- und wieder aufgezogen, Kleidung zu Boden gelassen, Schubladen geöffnet und geschlossen. Dann wieder ab ins Bad. Sie wird sich wohl ein wenig schminken. Natürlich nur dezent. Etwas anderes würde nicht zu ihr passen.

Jetzt ist es soweit. Marlene ergreift mich und steckt mich in ihre Handtasche. Neben mir spüre ich kaltes Metall – vermutlich den Schlüssel. Wir nehmen den Aufzug, verlassen das Haus, fahren eine Viertelstunde Auto und dann wird es laut.

Entsetzlich laut!

Dauernd muss ich mir „Alles Gute, lieber Lukas“ und „Lass dich umarmen“, „je oller, je doller“ (der Gute ist offenbar ein deutlich älteres Semester als Marlene) und jede Menge Küsse anhören, bis ich aus der Dunkelheit genommen und in fremde Hände gegeben werde.

„Ratsch!“, sagt meine Tarnung und der liebe Lukas glotzt mich aus verständnislosen Augen an.

„Cooles Cover“, sagt er immerhin. „Guck mal, Nora!“  Er wedelt mit mir vor Noras Nase herum. „Von Marlene!“

Nora wirft ordnungsgemäß einen Blick auf mein cooles Cover, braucht eine Weile, bis sie in ironischem Ton hervorbringt: „Ja, ja. Der Michel.“

Was die für strahlendweiß gebleachte Zähne hat.

Der liebe Lukas hält sich nicht weiter an mir auf, so dass ich zwischen vier Flaschen Moët, einem Remy und zwei schwarzen Krawatten mit Golfbällen drauf – „Lukas. Die sind super. Kannst du in der Kanzlei tragen.“ – zu liegen komme. Über die Kante des Sideboards lugen die Griffe verschiedener Golfschläger, um die silberfarbene Geschenkbänder gewunden sind. An einem der Griffe hängt eine Glückwunschkarte, auf der vier steinalte, nackte männliche Rosinen neben ihren Caddies abgebildet sind, mit der Aufschrift:

Mit 50 spielt man Golf

Bis nichts mehr geht.

In Liebe – Rolf.

Darunter stehen mindestens zehn Namen in unterschiedlichen Handschriften.

Ich komme mir schrecklich verloren vor.

Marlene hat mich kein einziges Mal mehr angeschaut. Gerade so, als sei ich ihr peinlich. Stattdessen sitzt sie mit einem in Workerjeans mit tiefen Gesäßtaschen gekleideten Grauen Wolf und einem Sushihappen bewaffnet in einem dunkelgrauen Lederwippsesselchen mit Metallrohr und talkt small. Gelegentlich wirft sie ihr Haar zurück, das sie heute Abend offen trägt, offenbar, um ihren Marktwert zu steigern. Manchmal schleudert sie es auch herum, damit sie einen Grund dafür findet, seine augenfällige Üppigkeit nur mühsam bändigen zu können, und nach einiger Zeit nimmt ihr Tonfall Schwingungen an, die ich unter „vertraulich“ buche. Wieder einige Zeit später steht sie mit dem Typen an eben jenem Sideboard, auf dem ich mich wie ein Aussätziger fühle. Ihr hellgrünes, tief ausgeschnittenes Shirt, die knallenge Jeans und funkelnagelneue Stiletto-Stiefelchen sorgen dafür, dass der Graue Wolf sie von oben bis unten mustert.

„Das Büchlein mit dem Michel drauf habe ich Lukas geschenkt. Er war früher ultralinks.“ Sie kichert wie ein Teenager. „Eine Woche lang war der sogar in der Hausbesetzerszene in Hamburg dabei.“

„Das waren Zeiten!“

„Ja genau“, sagt Marlene freudestrahlend. „Ich dachte, eine kleine Auffrischung vergangener durchdiskutierter Nächte könnte nicht schaden.“

„Der gute Wille zählt“, entgegnet der Graue Wolf, dem es in seinem kragenlosen schwarzen Angorapullover warm geworden ist. „Also – mal ganz ehrlich!“ Grauwolf bleckt die Zähne und lässt einen tiefen Gluckser los. „Eher findet Lukas zu ehelicher Treue zurück als zu seinen studentisch-politischen Wurzeln.“

„Ach.“

„Nein, im Ernst, Marlene, wir haben’s doch alle irgendwie geschafft. Dein Buch – ich darf doch Du sagen?“

„Ja klar. Prost.“ Marlene hebt ihren Sekt mit O-Saft und sie stoßen an.

„Also – dein Buch in Ehren. – Er wird es noch nicht einmal aufschlagen.“ Die Stimme vibriert in einem warmen Moll voller Festigkeit mit einem Hauch von Dramatik.

„Es sollte ihn doch an früher erinnern“, entschuldigt sich Marlene und verknotet angelegentlich die Hände.

Du meine Güte! Ich bin ihr unangenehm wie ein kulturloses Monster, das man versehentlich auf einem Altar abgelegt hat.

„An früher erinnern?“ Wieder kehliges Lachen. „Das stellt man sich bei solchen Geburtstagen immer gerne vor. Mir haben sie zu meinem Fünfzigsten letztes Jahr einen Survivaltrip nach Afghanistan geschenkt.“ Sonores Glucksen. „Weil ich früher per Anhalter um den halben Erdball getingelt bin.“

Jetzt lacht auch Marlene wieder. „Wie ich sehe, hat es mit dem Survivaln geklappt.“

„Hat es.“ Erneut das Glucksen von ganz tief unten. „Aber nur, weil ich den Trip gegen eine Segeltour ausgetauscht habe. Skipper und Maat inklusive.“ Der Graue Wolf grinst breit, geistreich, souverän, keine einfache Kassenlösung in der Zahnfassade, und seine dunkelbraunen Augen blitzen.

Zwei Minuten später holt er weiteres Sushi von dem übersichtlich angeordneten Buffet und bringt Marlene ein Quantum Fingerfood mit, berührt wohl auch ganz zufällig ihre Finger bei der Übergabe des Food, während er sie mustert. Überhaupt bleiben sie den gesamten Abend beieinander – wenn auch nicht ausschließlich in meiner Nähe.

Ach, Marlene. Ich gestehe, dass ich am liebsten wieder in deiner Handtasche verschwände, um in deiner Wohnung wieder aufzutauchen. Bei dir zu sein. Für dich – und das ist mir im Moment ernst – würde es sich lohnen, die Buchstaben, die so geistreich zu Wörtern und diese zu Sätzen formiert wordensind, zu bewahren. Du wärst vielleicht in der Lage, die Magie zu begreifen.

Ich blase ein wenig Trübsal – beschließe aber, mich auf meine Magie zu besinnen.

Wenn es an der Zeit ist.

Stunden später.

Ich höre, wie sich Marlene im Schlepp des Grauen Wolfs verabschiedet, nicht wirklich heimliche Gedanken im Gepäck. Es war nicht zu erwarten, dass sie mich mit einer Art Abschiedsblick bedenkt.

4

Der liebe Lukas, seine Frau und ihre Perle

Irgendwann sind alle gegangen. Die Luft ist dick.

Nora öffnet noch einmal die Terrassentür und geht kurz hinaus, obwohl es recht kühl ist. Immerhin haben wir erst Mitte April und man muss sich noch auf gelegentlichen Nachtfrost einstellen. Sie reißt die Arme hoch, schüttelt die dunkelbraunen Locken und reckt sich ausgiebig, atmet tief ein und aus, dass ich mich wundere, wie viel Luft in ihre Lunge hineingeht. Die frische Brise im Wohnzimmer weht bis zu mir und tut mir gut. Ganz sacht wiegt sie einige meiner Seiten.

„War ein richtig nettes Fest“, sagt der liebe Lukas von drinnen und streicht sich über die ehemalige Taille.

Nora kehrt zurück in die gute Stube. „Finde ich auch.“

Sie streicht dem Gatten flüchtig über den Rücken. „Komm, wir gucken mal deine Geschenke an. Ich hatte irgendwie gar keine Zeit dazu, als alle hier waren.“

Die beiden treten an das trendige Eichen-Sideboard heran.

„Mit Golf wollte ich sowieso anfangen. Die Lästereien über den Golfer als solchen sind zwar in aller Munde, aber was soll’s.“ Der liebe Lukas lächelt schräg. „Mach ich mich eben lächerlich.“

„Ich würde vielleicht sogar mitmachen“, gurrt Nora und streckt die Arme seitlich weg von ihrer durchtrainierten Figur.

„Wie du möchtest.“

Ob Nora den falschen Ton nicht bemerkt? Jedenfalls geht sie nicht weiter auf das Thema ein.

Plötzlich blickt Lukas auf mich, Mundwinkel tief nach unten, was mir und Nora auffällt.

„Marlene hat sich irgendwie überhaupt nicht weiterentwickelt“, sagt die Ehefrau.

„Worauf du einen lassen kannst“, gibt der liebe Lukas ihr recht.

„Wie kann man nur so ein Buch verschenken? Noch dazu ein Paperback zu einem Fünfzigsten.“

Welch schnippischer Tonfall!

„Fehlt nur noch, dass sie es bei Ebay als ungebrauchtes Wiederverkaufsexemplar erstanden hat.“ Die Frau nimmt mich mit spitzen Fingern, dreht und wendet mich, als suche sie nach Gebrauchsspuren.

„Sie ist halt Single, die Ärmste. Da fehlt das Korrektiv“, sagt der Mann entschuldigend und zuckt mit den Schultern.

„Hast du gesehen? Sie ist zusammen mit Christian gegangen.“ Süffisantes Lächeln.

„Dann hat er ihr wohl Annalena verschwiegen.“ Der liebe Lukas lacht spitz.

Nora fällt mit einiger Verzögerung in sein Lachen ein. Hämisch, ein wenig schrill, kennerhaft.

„Gott sei Dank kommt Maria morgen außer der Reihe und macht hier Klarschiff“, wechselt sie das Thema und wendet sich abrupt von mir ab. „Bin ich froh, dass wir so eine Perle gefischt haben.“

„Maria kommt? Dann gehe ich in die Kanzlei. Es ist derart viel liegen geblieben, dass mir das gerade recht kommt.“

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

„Mach ich doch immer, mein Schatz.“

Das Licht wird gelöscht, und die beiden verschwinden in Bad und Schlafzimmer.

Den lieben Lukas zieht es nach dem sonntäglich späten Frühstück tatsächlich in die Kanzlei.

„Ich komme nicht vor drei Uhr zurück, Liebes. Wir können ja abends was essen gehen.“

Und weg ist er.

„Er ist weg“, sagt Nora, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen ist, in ihr Handy. Als dann die Haustüre aufgeschlossen wird und definitiv keine Maria eintritt, um Klarschiff zu machen, sondern ein gebräunter Sixpacker die inzwischen wieder nackte Hausfrau begrüßt, begreife ich Kommunikation und Tonfall nach der Fünfzigsause. Jasper heißt er und kommt gleich auf dem profischwarzen Ledersofa wie ein Athlet zur Sache. Also in meiner unmittelbaren Nähe. Der reifen, unältlichen Hausfrau, die heute kein Sushi serviert, ist das recht, und sie nennt Lukas immer mal wieder Maria, worüber sich die beiden ausschütten. Ansonsten machen sie sich am jeweiligen Körper des anderen zu schaffen, walken sich gegenseitig durch, geraten ins Schwitzen und allmählich in die Kurzatmigkeit.

„Lukas ist echt – in der Kanzlei?“, fragt Jasper-Maria in einem eigenartigen Dreivierteltakt.

„Wohl eher bei – seiner derzeitigen Kanzlerin – oder Kanzleuse. Such dir was aus“, antwortet die auf ihm reitende durchtrainierte Hausfrau in eben jenem Rhythmus und lässt die molligen Brüste schaukeln.

Das Ritual nimmt seinen Lauf, und ich wohne ihm mehr oder weniger freiwillig bis zum Ende bei. Die beiden Körper lassen auf Joggen, Tennis, Zumba und Bauch-Beine-Po schließen. In jedem Fall werden sie Dauergäste in den angesagtesten Muckibuden sein.

Schließlich verschwinden die beiden in der Dusche, bis Jasper-Maria abgetrocknet und ausschließlich mit einem dottergelben Handtuch um den Hals an den Kühlschrank geht und sich einen Piccolo greift.

„Krieg ich was ab?“, fragt hinter ihm eine sonore Stimme, die dem lieben Lukas gehört, der einigermaßen lautlos in sein Heim zurückgekehrt ist.

„Ach du Scheiße!“, sagt Jasper-Maria, lässt den Piccolo wieder los, grinst ein bisschen vor sich hin und schließt unverrichteter Dinge den Kühlschrank, rafft seine Oberbekleidung sowie den Slip vom Teppich und stürzt ins Bad. Als Nora die Szene betritt, hat ihr Gatte den Piccolo und zwei Sektgläser in der Hand und sagt: „Prost, mein Schatz.“

Nora guckt ausgesprochen dämlich drein, als sie nur mit einer engen Jeans im Türrahmen steht.

„Steht dir!“, sagt der liebe Lukas mit ganz viel Anerkennung in der Stimme.

Das Badezimmer öffnet sich und mit den Worten „Einen schönen Tag noch!“ verlässt Jasper-Maria die Bühne, ohne sich weiter um eine befriedigende Lösung zu kümmern. Alles in allem scheint es ihm gefallen zu haben.

Nora kehrt mit wippenden Brüsten ins Schlafzimmer zurück und erscheint kurz darauf erneut. Diesmal hat sie auch oben herum was an. Der liebe Lukas lächelt voller Liebenswürdigkeit, hält der Gattin zum zweiten Mal den Sektkelch hin, und sie prosten sich zu.

„Jetzt werde bloß nicht grundsätzlich“, sagt Nora. Dann kippt sie den Sekt in einem Zug hinunter, während ihr Mann grinst wie ein Breitmaulfrosch. Scheint heute sein Tag zu sein.

„Maria hätte wenigstens bisschen Ordnung machen können.“ Der Mann holt tief Luft und zeigt auf das Chaos ringsherum. Es ist nicht leicht zu deuten, was sich im Moment auf seinem Gesicht genau abspielt. Einerseits ist es glatt – zu glatt vielleicht – andererseits zucken die Mundwinkel nach unten. Ich finde, dass er sich Mühe gibt.

Nora hat sich derweil gefangen, hält den Sektkelch in der Hand, lässt sich von ihrem Gatten nachschenken und prostet ihm zuckersüß zu. „Deine superjunge Sekretärin wird dich schon wieder aufheitern, mein Liebling. Da bin ich ganz sicher.“

Jetzt lächelt auch der liebe Lukas wieder, während er sagt: „Ich auch, mein Schatz.“

Daraufhin beginnt Nora ein bisschen herumzukramen, Dinge planlos von links nach rechts zu schieben, so dass sich der aufgeladenen Szene nicht auch noch eine peinliche Stille hinzugesellt.

---ENDE DER LESEPROBE---