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Der Wannsee ist ein See im Süden Berlins – und er ist viel mehr als das. Er steht für die dunkelsten und auch die leichtesten Kapitel der deutschen Geschichte. Im 19. Jahrhundert wurde er zum Sehnsuchtsort für die stadtgeplagten Eliten; auf der Wannsee-Konferenz wurde die Ermordung der europäischen Juden organisiert; die USA und die Sowjetunion tauschten im Kalten Krieg auf der Glienicker Brücke Spione aus; und er inspirierte zahlreiche Künstler und Schriftsteller. Die Häuser an seinen Ufern gehören zu den teuersten Deutschlands, während sich im Strandbad die erholen, die der Stadt nur stundenweise entfliehen können. Hunderttausende Touristen besuchen ihn jedes Jahr. Der Wannsee ist so nicht nur ein Schicksalsort der Deutschen, sondern auch ein Mythos, der bis heute weitergesponnen, besungen und vereinnahmt wird.
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Seitenzahl: 245
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Jochen Arntz und Holger Schmale
Wannsee
An den Ufern deutscher Geschichte
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Gestaltungssaal, RohrdorfUmschlagmotiv: Unbekannter Künstler, Wannsee-Aquarell Nr. 18: Blick über den Kleinen Wannsee nach Südwest mit den Villen Begas rechts, Kyllmann und Ende am westlichen Ufer, 1890er Jahre © Galerie Mutter Fourage, BerlinE-Book-Konvertierung: SatzWeise, Bad WünnenbergISBN Print: 978-3-451-39931-2ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83299-4ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83302-1
Der Wannsee: eine Karte
Kapitel 1: Der Mythos
Kapitel 2: Die Anfänge
Kapitel 3: Die Villen
Kapitel 4: Die Intellektuellen und die Prominenten
Kapitel 5: Das Wasser
Kapitel 6: Die dunkle Seite
Kapitel 7: Die Inseln
Kapitel 8: Die Musik
Kapitel 9: Die Grenze
Kapitel 10: Die Ufer der Geschichte
Anhang
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Bildnachweis
Danksagung
Die Autoren
Der Wannsee ist ein See im Südwesten Berlins, doch er ist weit mehr als das. So wie Weimar mehr als eine Stadt in Thüringen ist. Wenn Weimar ein Symbol für die erste deutsche Demokratie war und ist, dann steht der Wannsee für die dunkelsten und auch die leichtesten Kapitel der deutschen Geschichte. Hier wurde auf der Wannseekonferenz die Ermordung der europäischen Juden organisiert. Und hier wurde wenige Jahre später versucht, das alles schnell zu vergessen, mit einem Schlager, der die deutsche Nachkriegszeit prägte: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann nischt wie raus nach Wannsee …“
Folgen wir dieser Spur „raus nach Wannsee“: An der Straße, die von der Autobahn, dem Ende der Berliner Avus, zum Wasser führt, stehen die Bootsanhänger wie stählerne Gerippe am Fahrbahnrand. Selbstverständlich sind die Anhänger leer an den drückenden Sommertagen, denn wer kann, ist mit seinem Boot auf dem See. Die Straße hin zum Wasser verjüngt sich ein wenig, bevor sie unter der S-Bahn-Brücke verschwindet, um ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen und sofort in die Wannseebrücke zu münden, jenen vierspurigen Asphaltbogen, der sich von Ufer zu Ufer über eine schmale Stelle streckt und den See hier in den Großen und den Kleinen Wannsee teilt. Die Brücke ist von oben kaum als Brücke wahrnehmbar, eher als ein solides Stück Straße, das hineinführt in den Ort Wannsee. Im Auto und auch auf dem Fahrrad hat man die Brücke schnell hinter sich gelassen.
Luftaufnahme des Wannsees
Doch es lohnt sich, zu Fuß in ihre Mitte zu gehen, dorthin, wo das verwitterte und leicht beschmierte Metallschild hängt, das ein paar erhabene Buchstaben und Zahlen trägt: „Wannseebrücke 1953–54“. Heute, viele Jahrzehnte später, kann man noch erahnen, was die Brückenbauer damals gefühlt haben müssen, die Wiederaufbauer Berlins, keine zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn wenn man von der Wannseebrücke nach Norden auf den Großen Wannsee blickt, dann sieht die Welt plötzlich sehr in Ordnung aus, in welchem Zustand sie sich auch immer befindet.
Der Blick schweift über die weite Landschaft des Sees, das Panorama öffnet sich über quer schaukelnde Wellen hin zu den Landzungen in der Ferne und auf der rechten Seite hin zum großen Strandbad Wannsee. Diesem Bad, das dem See immer etwas Gelassenes und Heiteres gegeben hat, auch wenn die Zeiten gar nicht danach waren. Ein paar Segelboote liegen schräg im Wind, Ausflugsschiffe kreuzen träge ihre Spur, und auf einem kleinen Stück Rasen unter der Brücke sitzt eine Familie, das Picknick in der Tasche dabei. Eine schöne Momentaufnahme, mehr nicht.
Die Brücke ist auch der Ort, an dem die Geschichte des Ortes Wannsee, wie wir sie heute wahrnehmen, begonnen hat. Am westlichen Ende ihrer Vorgängerin baute die alteingesessene Stolper Gastwirtsfamilie Stimming Mitte der 1790er Jahre ihren Neuen Krug. Zu der Zeit ließ König Wilhelm II. die erste befestigte sogenannte Kunststraße zwischen dem Zentrum der preußischen Hauptstadt und der Residenzstadt der Hohenzollern, Potsdam, anlegen – eine fast geradlinige gepflasterte Chaussee, die von der Berliner Mitte über Schöneberg, Steglitz und Zehlendorf durch die Waldheide am Wannsee nach Potsdam führte. Die heutige Bundesstraße 1.
Stimmings Gasthof war in jenen Jahren das einzige feste Gebäude weit und breit. Am 20. November 1811 mietete sich ein Paar bei Stimming ein, um hier seine letzte Nacht zu verbringen. Am folgenden Tag erschoss Heinrich von Kleist seine todkranke Gefährtin Henriette Vogel auf einer kleinen Anhöhe auf der anderen Seite der Brücke am Kleinen Wannsee – der damals noch Stolpsches Loch hieß – und nahm sich dann selbst das Leben. Es war der erste Akt der bis heute währenden Historie Wannsees als mythischer Ort der deutschen Geistesgeschichte. Wenige Jahrzehnte später folgt ein zweiter, prosaischerer. Der Bankier Wilhelm Conrad kaufte 1863 den Gasthof, ließ ihn 1870 abreißen und an seiner Stelle die Villa Alsen errichten, den Nukleus der Villenkolonie am Wannsee.
Es war der Beginn einer Geschichte, die schon von vielen erzählt worden ist, und längst nicht von allen gleich. Denn die Geschichte und die Geschichten rund um den Wannsee tragen auch deshalb mythologische Züge, weil hier alles zusammenkam, immer wieder in den vergangenen Jahrhunderten. Hier wurde die Freiheit der Weimarer Republik gelebt, hier setzte der Nationalsozialismus seine mörderischen Marken. Hier wurde der Krieg in der Zeit danach in der einen Hälfte Deutschlands intellektuell bewältigt, hier trafen sich im Westen Berlins Intellektuelle, zum Beispiel die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gruppe 47, die ausloten wollten, wie ein „Nie wieder“ gelingen könnte. Hier wurde die Teilung des Landes spürbar, aber genau hier wurde auch die Wiedervereinigung gefeiert. Der Wannseestrand war immer zugleich ein Strand des proletarischen Berlins und ein Ufer der Eliten, die ihre Villen ans Wasser bauten. Auch das macht Mythen aus, es gibt keinen „richtigen“ und keinen „falschen“ Blick auf ihre Geschichte, es gibt die Erzählungen, die jeder schon einmal vernommen hat. Erzählungen, die Erinnerungen konstruieren, festigen und nicht vergehen.1
Man kann Gesellschaften über ihre Bräuche, ihre Sprache, ihre Architektur oder auch über ihre Musik, ihre Lieder erklären. Aber es gibt eben auch Orte wie den Wannsee, Topografien, an denen sich Geschichte besonders stark verdichtet hat, an denen gesellschaftliche Weggabelungen deutlich werden und wurden, die woanders nie so klar zutage getreten sind. Oft sind es Orte von besonderer Anziehungskraft, große Städte oder auch überwältigende Naturlandschaften. Am Wannsee kommt beides zusammen.
Und der Wannsee liegt nahe. Zumindest für die Berlinerinnen und Berliner. Die Station Wannsee ist die Endhaltestelle der S1, der Berliner Nord-Süd-Bahn. Verlässt man den Zug und betritt den kleinen Bahnhof, fühlt man sich unter der hohen Kuppel wie in einer Filmkulisse der 1920er und 1930er Jahre. Über den Eingangstüren ist das Relief eines Segelschiffs auf den Wellen des Wannsees eingelassen, ein durchaus erwartbarer Bildschmuck hier, einer aber, der nur die Oberfläche der mit dem Wannsee verbundenen Assoziationen abbildet.
Vor dem geistigen Auge erscheinen ja nicht nur Segelboote auf der blauen, von Villen und Wäldern umgebenen Wasserfläche. Sondern auch der Grabstein des Dichters Heinrich von Kleist. Viele sehen Männer, manche in Uniformen der SS, die sich um einen langgestreckten Sitzungstisch versammeln. Andere die Villa des Malers Max Liebermann und die Bilder seines prachtvoll blühenden Gartens am Seeufer. Wieder andere sehen die deftigen Zeichnungen Heinrich Zilles vom proletarischen Strandleben im größten Freibad Europas. Und dann vermischen sich diese Fantasien. Zurück bleibt der Eindruck eines besonderen Ortes, so eng mit der deutschen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte verwoben wie wenige andere. Ein Mythos, der all die Bilder hervorruft, die man sich von diesem Land macht. Und der immer wieder auch eine überraschende Berliner Realität ist. Oben auf dem Schild der Wannseebrücke hat jemand einen Kreis um das A in „Wannsee“ gemalt, so dass hier auf der Brücke etwas improvisiert das Zeichen der Anarchie leuchtet, das in West-Berlin in den 1970er und 1980er Jahren eines der beliebtesten Graffiti auf den Häuserwänden war. Und wer weiß schon noch, dass die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz genau das über lange West-Berliner Jahrzehnte gar nicht war? Die Villa, in der die Organisation des Völkermordes geplant wurde, diente noch bis in die späten 1980er Jahre hinein dem Berliner Bezirk Neukölln als Schullandheim. So, als wäre nichts gewesen.
Geht man über eine weit geschwungene Treppe zum Ufer hinab und steht dann unter der Wannseebrücke, ist der Blick gleich ein anderer als in die Weite, die sich oben gezeigt hat. Die breiten Betonpfeiler der Brücke sind mit grellen Graffiti überzogen, einer nach dem anderen. Am gegenüberliegenden Ufer, direkt vor der Böschung, haben sich Berliner Obdachlose eine wettergeschützte kleine Zeltkolonie eingerichtet; sie leben tatsächlich unter der Brücke, kaum beachtet von den Tausenden, die diese jeden Tag ein paar Meter über ihnen passieren. Es ist dieses Berliner Nebeneinander, das auch den Wannsee prägt. Und nicht jeder schaut unter die Brücken.
Der umwaldete See liegt am Rand einer der dynamischsten Städte Europas, und er ist für viele ein besonders idyllischer Ort. Der Wannsee ist ein perfekter Platz für Menschen, welche einerseits die moderne Stadt prägen wollen, andererseits privilegiert genug sind, an ihren schönsten Rändern zu leben: Maler, Politiker, Künstler, die ohne die Stadt nicht können, es sich aber auch leisten können, den alltäglichen Zumutungen der Metropole zu entfliehen. Das gilt am Wannsee übrigens auch für die kleinen, die stundenweisen Fluchten der Arbeiter aus der Mietskasernenstadt im frühen 20. Jahrhundert.
Und es gilt noch heute. Berlin, die Stadt, die von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre in einem Metropolenschlaf lag, wurde gleich nach dem Mauerfall wieder so unberechenbar und laut wie in den 1920er Jahren. Alles war im Umbruch, die einzige Kontinuität war der Wandel. Aber wer es als Künstler, Fernsehstar, Politiker oder Verleger geschafft hatte, am Wannsee zu wohnen, der konnte auch die letzten Jahrzehnte der Umbrüche Berlins vom sicheren, stillen Ufer aus beobachten – und sie trotzdem prägen. In dem Bewusstsein, an einem Ort zu leben, an dem immer schon Geschichte geschrieben wurde, weil die Ufer des Sees jeder Weltanschauung ein Panorama der Erhabenheit boten. Weil jeder, der im gesellschaftlichen Leben Berlins etwas auf sich hielt und hält, hier eine repräsentative Rückzugsadresse haben wollte. Das macht den See in der Nähe der Hauptstadt, in der Nähe der Macht so besonders. Wem hier ein Stück vom Ufer gehört, der hat eben meist auch Macht und Bedeutung, und sei es nur gefühlte.
Der Wannsee ist auch für Amerikaner, Briten und Franzosen ein Mythos, ein deutscher Mythos, im Guten wie im Bösen. Filme und Bücher, Comics, Thriller und Romane beschwören die Geschichte und die Geschichten des Sees. Robert Harris’ berühmter Krimi Fatherland, der ein siegreiches nationalsozialistisches Deutschland beschreibt, nimmt an den Ufern des Wannsees seinen Anfang. Auch heute noch wird der Wannsee besungen, von den Toten Hosen und den Ärzten, ein Sehnsuchtsort selbst für die, die ihn sich nicht leisten können, immer noch.
Der See ist ein Ort vieler biografischer Erinnerungen. Der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger hat seiner Kindheit und Jugend am Wannsee in einer sehr persönlichen Erzählung nachgespürt, nach gut siebzig Jahren. Das Strandbad hat er sein Buch genannt.2 Aber selbstverständlich geht es um mehr als um das Strandbad Wannsee, Krüger taucht tief in die deutsche Geschichte ein. Mit einer großen Zugewandtheit gegenüber den Menschen in ihren Zeiten erzählt Krüger von den Jahren nach dem Krieg und den Momenten im weißen Sand des Strandbads, „der mit keinem Sand der Welt zu vergleichen ist“.
Der Wannsee ist Erinnerung und Projektionsfläche zugleich. Auch Hari Kunzru, einer der wichtigen zeitgenössischen britischen Autoren, gibt dem Wannsee in seinem Roman Red Pill einen großen Auftritt; der Amerikaner Jonathan Lethem tut das Gleiche in seinem Thriller Anatomie eines Spielers. Die Geschichte des Wannsees wird also weitergesponnen, besungen und vereinnahmt für die großen Geschichten, nicht nur in Deutschland. Dabei ist die besondere historische, politische und kulturelle Bedeutung dieses Ortes noch nie zusammenhängend erzählt worden. Das verwundert umso mehr, als der Wannsee schon immer ein Anziehungspunkt für besondere Menschen war, für Große, aber auch für Größenwahnsinnige.
Heinrich von Kleist und Max Liebermann, Adolf Eichmann und Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Melitta Schenk Gräfin von Stauffenberg, Arnold und Hermann von Siemens sowie Cornelia Froboess, Henry Kissinger und Willy Brandt – Persönlichkeiten aus zwei Jahrhunderten, Menschen, die für Abgründe und Verbrechen ebenso stehen wie für geniale Erfindungen, für große Kunst wie für harmloses Vergnügen, für kaltblütige Politik wie für mutige Visionen.
Sie alle sind verknüpft durch diesen Ort, der wie wenige die Schrecken der jüngeren deutschen Geschichte mit ihren idyllischen Seiten verbindet. Wo Max Liebermann in seiner Sommervilla hinreißende Gemälde der klassischen Moderne schuf, während am Seeufer gegenüber Heinrich Zille das Strandleben der einfachen Berliner Familien porträtierte. Und wo auch die kleine Gedenkstätte am Grab des Heinrich von Kleist immer wieder umgestaltet wurde, je nach politischen und gesellschaftlichen Opportunitäten.
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden hier im Südwesten Berlins die Villenkolonien des in der Gründerzeit wohlhabend gewordenen Großbürgertums. Hier wuchs eine neue, von den Reichen und Mächtigen geprägte Kulturlandschaft, die ihresgleichen im Deutschen Reich und auch noch der Weimarer Republik suchte. In den ersten Jahren des Dritten Reichs lebten hier Opfer und Täter der Nazidiktatur oft noch Tür an Tür, bis die neuen Machthaber die jüdischen Nachbarn vertrieben und ihre Häuser und Grundstücke raubten. Auf der Wannseeinsel Schwanenwerder ließ sich Propagandaminister Joseph Goebbels nieder, zeitweise auch der Hitlervertraute Albert Speer. Während 1944 vom Hochbunker Heckeshorn am Wannseeufer die Luftverteidigung der Hauptstadt befehligt wurde, entwickelten wenige Kilometer entfernt, in der Tristanstraße, Oberst Stauffenberg und seine Mitverschwörer ihren Attentatsplan auf Hitler. Sie segelten auch gemeinsam auf dem Wannsee – es war die sicherste Methode, möglichen Abhörversuchen der Gestapo zu entgehen.
Auch nach dem Krieg blieb der Wannsee ein Brennpunkt der Politik. Nun richtete der amerikanische Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower auf Schwanenwerder sein Hauptquartier ein. Das mochte nicht unbedingt praktisch sein, doch besaß dieser Ort in der Nähe der Villen der besiegten Nazigrößen eine starke Symbolkraft. Später lebte hier der Verleger Axel Springer, während sich von seinem Haus am nahen Schlachtensee der Regierende Bürgermeister Willy Brandt auf den Weg in die große Politik und das Bundeskanzleramt machte.
Zu jener Zeit passierten täglich tausende West-Berliner den Ortsteil Wannsee, um über den Kontrollpunkt Dreilinden auf die Transitautobahn durch die DDR Richtung Westen zu gelangen. Für den ungehinderten Telefonverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik sorgte derweil der 1964 auf dem Schäferberg errichtete Fernmeldeturm. Mit 212 Metern ist er bis heute eine von fast jedem Punkt am Wannsee sichtbare Landmarke der deutschen Teilung. Die Weltgeschichte kehrte bis in die 1980er Jahre ab und an zurück, wenn die USA und die Sowjetunion auf der Glienicker Brücke nach Potsdam ihre Spione austauschten. Der erste beziehungsweise letzte Ort im Westen war für sie stets Wannsee.
Und noch heute verkauft der kleine Kiosk gegenüber der S-Bahn-Station Wannsee die große Geschichte klein aufbereitet. In dem Ständer vor dem Kiosk sind sie alle zu sehen, die Postkarten, die Berlins Schicksal erzählen, vom Bild des Schildes „Achtung! Sie verlassen jetzt West-Berlin“ bis hin zum kitschigen Gemälde eines Trabants, der im Flug die Mauer durchbricht. Die ganze Folklore, welche die deutsche Teilung auf ewig illustriert. Aber wo, wenn nicht hier am Wannsee, sollte man sich ein Stückchen Erinnerung mit nach Hause nehmen?
Wenn man vom Kiosk gegenüber der S-Bahn in Richtung der Wannseebücke läuft, kurz davor Richtung Wasser rechts abbiegt und bis an den See geht, dann steht man plötzlich vor den großen Schiffen. Es sind die Ausflugsboote des Reederverbands der Berliner Personenschifffahrt und der Reederei Stern und Kreis. Sie tragen große Namen wie Roland von Berlin und Wappen von Spandau. Ihre Touren heißen „Weltkulturerbefahrt“ oder etwas kleiner „Preußische Kulturfahrt“, so weit, so normal. Doch neben den Touristenschiffen liegt hier an der Anlegestelle auch die MS Goldberg, das „Jüdische Kulturschiff “.
Seit dem Jahr 2022 gibt es das Theaterschiff, es ist ein umgebauter Sand- und Kiestransporter, der 1964 in der DDR vom VEB Elbewerft Boizenburg gebaut wurde. Heute liegt das Kulturschiff mal in Spandau in seinem Heimathafen, mal am Wannsee, mal ankert es auch in der Berliner Mitte, am Schiffbauerdamm. Und wo immer es ist, hat es eine Mission: Auf der Bühne des Schiffs wird jüdische Kultur, Theater und Musik, lebendig gehalten. Selbstverständlich ist der Ankerplatz hier am Wannsee, nur wenige hundert Meter entfernt vom Haus der Wannseekonferenz, auch als ein Statement auf dem Wasser zu verstehen.
Die ganze Symbolkraft des Ortes findet sich auch im Wirken der American Academy wieder, die sich in einer alten Villa der Pflege der deutsch-amerikanischen Freundschaft widmet, nur ein paar Schritte entfernt von Ankerplatz der MS Goldberg. Über die Jahre sind mit ihrem Stipendiatenprogramm viele bedeutende Schriftsteller und Wissenschaftler der USA zu Gast in dem weitläufigen Anwesen am See gewesen, das einst der jüdischen Bankiersfamilie Arnhold gehörte.
Hier leben und arbeiten immer wieder diejenigen, die den Mythos und die gesellschaftliche Bedeutung des Sees am Rande eines politischen Machtzentrums erklären können und wollen. Und die die wechselvolle Geschichte im Blick haben, über die Ufer des Sees und auch des Atlantiks hinweg. In der American Academy schrieb George Packer einen Teil seiner großartigen amerikanischen Geschichte Die Abwicklung, die den Europäern schon vor Trump hätte zeigen können, dass jemand wie dieser Präsident kommen könnte. Der Wannsee, er ist auch ein hervorragender Ort zum Nachdenken über die Welt.
Hier in der Villa am Sandwerder wird der Henry-Kissinger-Preis an verdienstvolle Akteure der deutsch-amerikanischen Beziehungen vergeben, die amerikanische Botschaft feiert in der Academy am Wannsee immer wieder mit hunderten von Gästen den amerikanischen Nationalfeiertag an deutschen Ufern. Die alte Villa selbst hat von 1885 bis heute alle Wechselfälle, Tragödien und Aufbrüche in der deutschen Geschichte erlebt. Es gibt wohl wenige Orte auf der Welt, wo einst Joseph Goebbels zu Festen eingeladen war und Jahrzehnte später Prince als DJ auf dem Parkett stand, wie es die amerikanische Historikerin Monica Black in einem Essay zur American Academy subsumierte.3
Das Literarische Colloquium und das Gästehaus der Bundesbank sind zwei weitere Institutionen an diesem Seeufer, die der kulturellen und der politisch-ökonomischen Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse in stürmischen Zeiten verpflichtet sind. Somit bleibt Wannsee ein Ort, der fest eingebunden ist in die großen Debatten über die Zukunft der westlichen Demokratien, die heute so umkämpft ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein Schicksalsort der Deutschen, dessen ganze Geschichte bisher so noch nie erzählt wurde.
Diese zu verfolgen, nehmen wir uns mit diesem Buch vor. Unsere Wannseegeschichte folgt in ihrer Erzählung keiner strengen Chronologie, sondern betrachtet thematische Komplexe, verknüpft Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte und vermittelt so eine vielfältige Sicht auf einen kleinen Ort am Rande Berlins, der einen Platz in der Weltgeschichte für sich behaupten kann. Aktuelle Ortsbesichtigungen und Gespräche mit Zeitzeugen verknüpfen die Geschichte dabei immer wieder mit der Gegenwart.
Das alles mündet in die Erzählung einer besonderen gesellschaftlichen Topografie in bester Lage: So wie in den 1920er und 1930er Jahren lässt sich auch heute am Wannsee einerseits wieder ein Bild der neuen Berliner Elite gewinnen, was sich an zahlreichen Zugezogenen am See verdeutlichen lässt. Andererseits lässt sich genau wie damals auch wieder erkennen, wer der großen Stadt nur stundenweise entfliehen kann und das nicht nur im restaurierten Strandbad versucht.
Der Wannsee ist und bleibt ein Spiegel der besonderen Gesellschaft Berlins, der Gesellschaft der alten und der neuen Hauptstadt Deutschlands. Es lohnt sich, in diesen Spiegel zu schauen, um das Gesicht Berlins zu sehen – und die Zeugnisse der deutschen Geschichte, die wie Sedimente im See erkennbar werden: an einem Ort, der die Spuren der Macht und des Idyllischen wie kaum ein anderer vereint.
Der gepflasterte Dorfplatz liegt menschenleer und beschaulich im Schein der Mittagssonne. Es herrscht eine friedliche dörfliche Stille über Stolpe, bis plötzlich ein mächtiges Läuten vom Turm der Kirche einsetzt, die auf einer kleinen Anhöhe über dem Platz liegt. Es folgt ein Choral: „Lobe den Herrn“. Seit den 1930er Jahren verfügt die Kirche über ein in Berlin einzigartiges Spielwerk aus 18 Glocken, die von einer mächtigen eisernen Walze gesteuert werden. Auf ihr können in 240 Reihen mit 8640 Löchern Notenstifte eingeschraubt werden, die über die Uhr die Spielglocken anschlagen lassen. Passend zum Kirchenjahr werden die Choräle gewechselt, aber auch Papagenos Lied aus Mozarts Zauberflöte ist im Programm. Nur die beiden Lieder Lobe den Herrn und Üb immer Treu und Redlichkeit erklingen das ganze Jahr über. Damit beginnt das Glockenspiel jeden Morgen um acht Uhr. Es ist ein opulentes Klangerlebnis, das nicht recht zu der dörflichen Szenerie am Rande Berlins passen will.
Andererseits befinden wir uns am Ursprungsort jener Gemeinde, die heute unter dem Namen Wannsee einen weltweiten Klang hat. Da mag es dann doch wieder stimmen. Und so machen wir uns von hier aus auf, die Geschichte des Ortes Wannsee zu erkunden. Was sind seine Ursprünge, seine Brüche, seine Bedeutung, die doch weit über die Rolle eines hübsch gelegenen Vororts der Millionenmetropole hinausweist?
Wenn auf dem Dorfplatz unter einer prächtigen, uralten Eiche keine Autos parken würden, könnte man sich hier in das 19. Jahrhundert zurückversetzt fühlen. Die wichtigsten Häuser mit ihren Sandsteinfassaden aus dieser Zeit sind liebevoll restauriert, und in das alte Gasthaus, das in den 2010er Jahren lange leer stand, ist wieder eine Wirtschaft mit dem schönen und passenden Namen Zum grünen Baum eingezogen. Seit 1874 wird hier Gastlichkeit gepflegt. Das alte Schulhaus neben der Kirche wartet in einem prächtigen Blumengarten auf Besucher der Seniorengruppe, und schräg gegenüber hat ein Architektenbüro bei der Restaurierung seines historischen Gebäudes gezeigt, dass es nicht nur Neubauten entwerfen kann. Eine Tafel an der Mauer des Gasthauses nennt die Namen der Firmen und der Bürger des Initiativkreises, auf den die Sanierung des Platzes zurückgeht. Die gegenüber liegende, in den 1970er Jahren entstandene moderne Wohnanlage wird gnädig von den Blättern der auf dem Grundstück erhalten gebliebenen alten Laubbäume verdeckt. Wenn freitags die Händler des Wochenmarktes ihre Stände rund um die Eiche aufbauen, entsteht schnell wieder eine dörfliche Marktatmosphäre, wie sie vor 150 Jahren nicht so viel anders gewesen sein wird. Und wenn es dunkel wird, werfen die von Schinkel entworfenen Straßenlaternen ihren warmen Schein auf das Kopfsteinpflaster.
Im Umfeld dieses Dorfplatzes, der nach dem Tod Kaiser Wilhelms I. 1888 in Wilhelmplatz umbenannt wurde, ließen sich die ersten slawischen Siedler nieder, wahrscheinlich lange vor der ersten urkundlichen Erwähnung von Stolpe 1299. Sie lebten vom Ackerbau und dem Fischfang in der Havel. Die Herkunft des Namens Stolpe ist umstritten, er bedeutet wohl so viel wie Pfahl oder Pfosten. Im Brandenburgischen gab und gibt es viele Orte mit diesem Namen. Sie liegen meist an Gewässern, an denen man Pfähle für Stege und zum Festmachen von Booten brauchte oder einen Palisadenzaun als Grenzbefestigung errichtete. Nach den Schilderungen des Großmeisters in der Erforschung brandenburgischer Geschichten, Theodor Fontane, ist dieses Stolpe das älteste heute noch existierende Dorf der Region. Es bestand durch die Jahrhunderte ohne bemerkenswerte Entwicklungen; der Dreißigjährige Krieg traf Stolpe dann besonders schwer. Es musste nicht nur verheerende Plünderungen der schwedischen und kaiserlichen Truppen ertragen, auch die Pest kostete viele Menschenleben. 1618 wurden in dem Dorf neun Bauernstellen gezählt, nach dem Krieg gab es nur noch einige Kossäten, Landarbeiter oder Fischer ohne eigenes Land.
Dann begann ein bescheidener Aufschwung, der Mitte des 18. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Höhepunkt erreichte: 1764 beantragten die zehn Stolper Kossäten bei der königlich-preußischen Regierung, die von ihnen bearbeiteten Ländereien und die Fischereirechte als Eigentum übernehmen zu können. Fünf Jahre später entschied Friedrich der Große: „Die Stolper Bauern sollen freie Eigentümer sein.“ – 40 Jahre, bevor in Preußen die Leibeigenschaft aufgehoben wurde.1 Auf diesen Erlass gründet bis heute das Eigentumsrecht der Nachkommen der einstigen Stolper am Stölpchensee. Es wird von einer Eigentümergemeinschaft verwaltet, die Herrin über die Stege und Uferbefestigungen sowie die Angelrechte ist. Es ist eine in Berlin einmalige Konstruktion, die zahlreiche von staatlichen Stellen über die vergangenen 250 Jahre unternommene Eingriffsversuche überdauert hat. Und ein erster Hinweis darauf, dass die hiesigen Einwohner sich schon vor Jahrhunderten darauf verstanden, Privilegien zu erwerben und zu erhalten.
Im 19. Jahrhundert explodierte die Einwohnerzahl dann förmlich – von 139 im Jahre 1801 auf 1717 im Jahr 1895. Die meisten wohnten nun aber außerhalb des alten Dorfkerns. Der enorme Zuwachs resultierte vor allem aus der Gründung der „Colonie Alsen“, deren neue Häuser beiderseits der Königstraße entstanden. Sie ging auf eine Initiative des Berliner Bankiers Wilhelm Conrad zurück, der 1863 den Gasthof Stimmings Krug an der Wannseebrücke mit umfangreichem Landbesitz erwarb und den Plan entwickelte, auf dem zu Stolpe gehörenden bewaldeten Gelände eine höchst exklusive Villenkolonie entstehen zu lassen. Sein zunächst abenteuerlich anmutender Plan erwies sich als Volltreffer, denn er bediente das Bedürfnis zahlreicher vermögender Berliner, der expandierenden, immer enger und lauter werdenden Großstadt zumindest für die Sommermonate zu entfliehen und doch in der Nähe ihrer Geschäfte zu bleiben. Die Kolonie entwickelte sich zu einem außergewöhnlichen gärtnerischen und architektonischen Gesamtkunstwerk, auf dessen Entstehung und Bedeutung für das gesellschaftliche Leben Berlins wir im folgenden Kapitel ausführlich zurückkommen.
Das Jahr 1898 brachte einen entscheidenden Einschnitt. Das bisherige Dorf Stolpe schloss sich mit der auf seinem Gebiet liegenden Villenkolonie sowie einigen weiteren Ortsteilen wie Kohlhasenbrück, Steinstücken und der Pfaueninsel zum neuen Ort Wannsee zusammen. Das entsprach den Wünschen der wohlhabenden Neubürger um den Investor Wilhelm Conrad, die ihre ursprünglichen Sommerresidenzen zunehmend als ganzjährigen Wohnsitz nutzten. Wannsee hatte da doch einen ganz anderen Klang als Stolpe, zumal es noch 62 andere Orte mit diesem Namen in Deutschland gab, was im Post- und Reiseverkehr häufig zu Verwechslungen führte.
Die stürmische Entwicklung ging indes weiter: 1917 belief sich die Einwohnerzahl von Wannsee auf 5000 Personen. Wenig später wurden aus ihnen (wieder) Berliner: Aus ihrer Landgemeinde im brandenburgischen Landkreis Teltow wurde im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes 1920 ein Teil der deutschen Hauptstadt und ihres Bezirks Zehlendorf, der 2001 im neu gebildeten Bezirk Steglitz-Zehlendorf aufgehen sollte. Postalisch blieben die Berliner Neubürger allerdings noch eine Weile Brandenburger, wie der Heimatforscher Christoph Janecke in seinen Aufzeichnungen notiert hat: „Verrückte Welt! Das hat zur Folge, dass z. B. ein Brief an das zuständige, nah gelegene Berlin-Zehlendorfer Bezirksamt, Fernverkehrsporto in Höhe von 12 Pf. kostet. Schicken wir jedoch Post in die Stadt Potsdam oder nach Drewitz, also ‚nach außerhalb‘, bedarf es nur einer 8-Pf.-Briefmarke.“2
Bereits im 15. Jahrhundert dürfte die erste kleine Fachwerkkirche am Standort der heutigen Kirche entstanden sein. Mitte des 19. Jahrhunderts war sie dermaßen baufällig, dass die Potsdamer Aufsicht sie 1854 wegen Einsturzgefahr sperren ließ. Zuvor schon waren die Glocken gesprungen, was zu Unregelmäßigkeiten bei den Gottesdiensten führte – die wenigsten Stolper dürften damals Uhren besessen haben, wie Georg Brasch in seinem Wannseebuch anmerkt. Nun mussten die Gottesdienste im benachbarten Schulhaus stattfinden. Die Behörden planten einen bescheidenen Neubau, doch das passte König Friedrich Wilhelm IV. nicht, der nicht nur Landesherr, sondern auch Kirchenpatron in Potsdam war. Er war seit einer Italienreise als Kronprinz von der Sehnsucht besessen, sein Umfeld architektonisch nach diesem Vorbild zu prägen. In Stolpe sah er nun die Chance, ein solches Bauwerk mit einer optischen Fernwirkung in die brandenburgische Landschaft zu setzen. Er beauftragte den Schinkelschüler Friedrich August Stüler mit einem neuen Entwurf für die Kirche, der weitgehend seinen eigenen Vorstellungen und Skizzen folgte. Die erheblichen Mehrkosten wurden aus der königlichen Schatulle beglichen.
Kirche am Stölpchensee
Während das 1859 geweihte, gediegene Bauwerk damals in deutlichem Kontrast zu dem dörflich-ärmlichen Umfeld aus Bauernkaten, Fischerhütten und Wiesen stand, entfaltete es eine überragende architektonische Wirkung, die bis heute Bestand hat. Der Blick über den See auf Stolpe wird auch heute, über 150 Jahre später, noch von dem mächtigen Vierungsturm beherrscht, der auf eine Idee des Königs zurückgehen soll. Schon Fontane stellte anerkennend fest, „dass der Turm in der Landschaft eine gute Wirkung hat“. Dem konnten auch die modernen Bauten fragwürdiger architektonischer Qualität am Seeufer aus späteren Jahrzehnten nichts anhaben. Ähnliches gilt für die in der Umgebung von Wannsee liegenden Kirchen von Sacrow und Nikolskoe, die ebenfalls die Handschrift des königlichen Amateurarchitekten Wilhelm IV. tragen.
Das Land Berlin stellte die Kirche 1971 unter Denkmalschutz. „Wie von König Friedrich Wilhelm IV. gewollt, dominiert die Dorfkirche den Ort. […] Sie dominiert nicht nur, gleichsam einem Münster, über alle Alt- und Neubauten, sondern auch die Uferzone des Stölpchensees wird weithin von ihr beherrscht“, heißt es dazu in der Denkmaldatenbank. „Mit den umgebenden Natursteinmauern, Toren und Treppen entstand ein kleiner, landschaftsbezogener Pfarrbezirk, von dem ein eigener romantischer Reiz ausgeht.“3
Der Maler Philipp Franck hat einen anschaulichen Bericht über die Entwicklung Stolpes um die Jahrhundertwende hinterlassen. Als der damalige Lehrer der Königlichen Kunstschule zu Berlin im Jahre 1890 in Potsdam wohnte und oft mit dem Zug nach Berlin fuhr, habe er im Vorüberfahren zwischen den Bahnstationen Neubabelsberg und Wannsee auf der linken Seite durch eine Lichtung des Kiefernwaldes hindurch ein idyllisches Dorf an einem See gesehen, notierte er in einem Beitrag für das Wannseebuch von Georg Brasch.
Der Arzt und zeitweilige Gemeindevorsteher von Wannsee hat mit seinem als „Heimatbuch“ bezeichneten Werk 1926 ein erstes literarisch-künstlerisches Denkmal für seinen Ort gesetzt. „Es will den Begriff ‚Wannsee‘ in Wort und Bild umreißen“, schrieb er im Vorwort. „Denen, die Wannsee kennen, will es ihr Wissen und ihre Liebe vertiefen. Denen, die es nicht ernsthaft kennen, will es ein Mittler sein zu besserem Kennenlernen.“4 Und so wird uns dieses liebevoll gestaltete Buch, das ein von Max Liebermann gezeichnetes Titelbild schmückt, begleiten bei dem ganz ähnlichen Unterfangen dieses Werks, fast einhundert Jahre später.
Doch zurück zu Philipp Franck und seiner Beschreibung: „Alles atmete Frieden, kaum ein Mensch war zu sehen. Nur dann und wann strich ein kleiner Kahn lautlos über das Wasser, in dem ein Fischer schweigend ein Netz auswarf und wieder einzog. Das war das Dörfchen Stolpe.“5