Wappen oder Zahl - Gerhard Ringmann - E-Book

Wappen oder Zahl E-Book

Gerhard Ringmann

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Beschreibung

Was passiert, wenn mir das bisherige Leben zwischen den Fingern zerrinnt? Plötzlich stehe ich mit leeren Händen da. Wie wandelt sich Angst in Hoffnung, Bitterkeit in Lebensfreude, blockierendes Leid in solidarisches Tun? Diesen Fragen geht ein Taxifahrer in Gesprächen mit seinen Gästen auf den Grund. Zwölf der Mitschnitte vermacht er nach dem Tode seinem Enkel. Weshalb erst jetzt?

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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Was passiert, wenn mir das bisherige Leben zwischen den Fingern zerrinnt? Plötzlich stehe ich mit leeren Händen da. Wie wandelt sich Angst in Hoffnung, Bitterkeit in Lebensfreude, blockierendes Leid in solidarisches Tun?

Diesen Fragen geht ein Taxifahrer in Gesprächen mit seinen Gästen auf den Grund. Zwölf der Mitschnitte vermacht er nach dem Tode seinem Enkel. Weshalb erst jetzt?

FÜR ELLA UND ALVA

INHALT

PROLOG

I. DAS TESTAMENT

II. FREIHEIT ODER BELIEBIGKEIT

Der Strafgefangene

Der Aufbauhelfer

Der Bundestagsabgeordnete

III. EINE NEUE KULTUR DES TEILENS

Die Grundschullehrerin

Die Frau aus dem Repair Café

Der Lagerarbeiter

Die Studentin aus Eberswalde

IV. WOHER KOMMT DIE KRAFT?

Der Lebensberater

Der Radioastronom

Der Schäfer

Die Kunstkuratorin

Die Schamanin

V. WAPPEN ODER ZAHL

Die Worte des Großvaters

PROLOG

Wie schnell sich zuweilen die Zeit wendet. Bei einer Routinekontrolle entdeckt der Arzt einen stark wuchernden Krebs. Das Kind stirbt durch einen Unfall auf dem Heimweg von der Schule. Eine Flutwelle im Ahrtal reißt Dörfer davon und begräbt Dutzende von Menschen in ihren zusammengestürzten Häusern. Eine Coronapandemie verbreitet sich in Windeseile über die Welt und bringt Millionen von Menschen den Tod. Der Krieg in der Ukraine wirft das Gespenst eines Dritten Weltkriegs als Menetekel an die Wand.

Was ist, wenn es mich trifft? Wenn mein Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt und nichts mehr von dem zählt, was einmal war? Der rote Faden ist gerissen, vermeintliche Sicherheiten und Gewissheiten sind unwiederbringlich dahin. Verloren blicke ich in eine ungewisse Zukunft.

Dieses Schicksal ereilt Karl Justus Göhlen. Von seiner Geschichte handelt dieses Buch.

Potsdam, Pfingsten 2022

Gerhard Ringmann

I. DAS TESTAMENT

1

»Ulrike, mein Schatz, komm mal bitte her. Es ist etwas ganz Schreckliches passiert.«

Die Mutter streckt dem Mädchen die Hände entgegen. Dann zieht sie die Kleine an sich und wiegt sie eine Weile leise in ihren Armen.

»Du weißt doch, dass Papa diese Woche auf einer Dienstreise in Portugal ist.«

»Natürlich. Übermorgen ist er wieder zurück. Papa hat mir versprochen, dass wir Samstag in den Zoo gehen.«

»Daraus wird leider nichts. Papa hatte gestern einen ganz schlimmen Autounfall. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte haben versucht, ihn zu retten. Aber sie haben es nicht geschafft. Papa ist heute früh gestorben.«

Ihre Stimme stockt.

»Ich weiß, wie schlimm das für Dich ist. Nun ist er beim lieben Gott im Himmel und wird ganz bestimmt immer an uns denken.«

»Das ist nicht wahr.«

Ulrike reißt sich aus der Umklammerung. Verzweifelt schreit sie ihre Mutter an.

»Sag, dass das nicht stimmt. Papa lebt. Die Ärzte haben sich vertan.«

»Leider nicht, mein Hase, ich habe vorhin mit dem Krankenhaus telefoniert. Die haben mir alles genau erklärt. Papa ist ganz friedlich eingeschlafen. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Ulrike ihre Mutter an. Ihre kleinen Hände umklammern Hilfe suchend ihren Teddybären. Dann fängt sie lautlos an zu weinen. Dicke Tränen kullern ihr die Wangen herab.

2

»Frische Brötchen, Salami, Erdbeermarmelade. Bananen, Vanillepudding, Eier. Haribos, Bierchen, Chips.«

Nils wuchtet die vollen Einkaufstüten auf den Tisch.

»Ich sage nur: 4. Etage Hinterhaus, 72 Stufen ohne Fahrstuhl. Eine Höllenschinderei!«

Der pummelige Student streicht sich die verschwitzten braunen Haare aus dem krebsrot angelaufenen Gesicht. Dann lässt er sich mit einem theatralischen Stöhnen in den abgewetzten Lesesessel fallen.

»Den Abwasch erledigt. Müll weggebracht. Altglas sortiert. Das volle WG-Programm für einen Monat«, kontert Frieder.

Der Mitbewohner mit den hellblauen Augen und einer stattlichen Länge von fast zwei Metern schielt neugierig Richtung Badezimmertür.

»Ich frage mich, ob unser feiner Herr Tibor diese menschliche Größe auch nur ansatzweise zu würdigen weiß.«

Aufs Stichwort erscheint der Dritte im Bunde im Türrahmen und stellt seinen nackten Adoniskörper zur Schau.

»Danke, Männer, für die lieben Worte. Ihr seid die Allergrößten. Ich werfe gleich die Kaffeemaschine an und haue ein paar Eier mit Schinken in die Pfanne. Heute lassen wir es krachen.«

»Gute Initiative«, lobt Nils, »käme noch besser, wenn Du Dir kurz mal etwas überstreifst. Jetzt gibt es nur noch ein Problem. Das ist dieser Brief.«

Er wedelt mit einem Umschlag.

»Ich habe ihn im Flur aus dem Kasten gezogen. Ein gewisser Friedrich Göhlen bekommt Post von einem Rechtsanwalt.«

»Was hast Du Lappen jetzt schon wieder angestellt?«, legt Tibor los.

»Gar nichts, Du Nuss«, wehrt sich Frieder, schnappt sich das Kuvert und schlitzt es vorsichtig mit einem scharfen Küchenmesser auf.

Dann liest er sich das Schreiben aufmerksam durch.

Berlin, 26. März 2018

Sehr geehrter Herr Göhlen,

in der Nachlasssache des Herrn Karl Justus Göhlen, geboren am 17. Juli 1942 in Heinersdorf bei Grünberg, Nieder schlesien, verstorben am 2. Januar 2018 in Berlin, lade ich Sie zur Testaments eröffnung für Dienstag, den 15. Mai 2018, 17 Uhr, in mein Büro, Knese beckstr. 5, 10719 Berlin, ein.

Sollten Sie an diesem Termin verhindert sein, wäre ich für eine kurze Nachricht dankbar.

Mit freundlichen Grüßen

Helmut Ossenbühl, Rechtsanwalt

»Da hat sich aber jemand krass vergurkt«, schießt es Frieder durch den Kopf. »Opa ist doch schon seit Urzeiten tot.«

»Was ist los, Alter«, drängelt Tibor, der sich zwischenzeitlich bunte Boxershorts und ein schwarzes Marken-T-Shirt übergeworfen hat.

»Du schaust so geplättet drein.«

»In diesem Wisch steht, ich werde erben. Ist aber leider nur Fake.«

Frieder legt den Brief auf den Küchentisch.

»Könnt ja selber schauen.«

»Von einer Erbschaft träume ich schon lange«, tönt Tibor.

»Wie kommst Du darauf, dass da was nicht stimmt?«, will Nils wissen. »Sieht doch alles seriös aus. Das Schreiben stammt von einem amtlichen Rechtsanwalt. Und ist sauber auf Büttenpapier geschrieben, mit Adresse, Stempel und allem Zippizappi.«

»Papier ist geduldig und auch Juristen können irren. Das Problem ist nicht die Erbschaft an sich, das Problem ist der Erblasser. Großvater ist seit Jahrzehnten tot. Nun schreibt der Anwalt, er sei erst am 2. Januar 2018 verstorben.«

»Das ist in der Tat krude«, pflichtet Nils ihm bei, »aber so was lässt sich bestimmt aufklären. In unseren Breitengraden muss es möglich sein, eine Leiche sauber zu identifizieren.«

»Das glaube ich auch«, erwidert Frieder, »und solange halte ich den Ball ganz flach. Ich kann ja zur Sicherheit mal meine Mutter anrufen, auch wenn sie dann bestimmt gleich heulen wird. Sie hat mir die alte Geschichte schon tausendmal erzählt. Wie Opa sie hochhob und zum Abschied kräftig drückte. Sein Lächeln, als er den Koffer nahm. Die Kusshand, die er ihr zuwarf, bevor er ins Taxi zum Flughafen stieg. Dann war er für alle Zeiten weg. Sie war da gerade fünf.«

»Krass.«

Nils schüttelt den Kopf.

»Deine Mutter tut mir echt leid. Aber sieh es mal anders herum. Wenn das stimmt, was der Anwalt schreibt, was wäre Dein Großvater für eine coole Socke? Jahrzehntelang von der Bildfläche verschwinden und dann aus dem Off mit ’ner Erbschaft winken. So was muss man erst mal bringen.«

3

Am Eingang des Stahnsdorfer Waldfriedhofs steigt Frieder vom Rad und schließt es an den Fahrradständer an.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin, Mama. Habe mich in der Entfernung voll verschätzt.«

Zügig geht er auf seine Mutter zu und nimmt die kleine zierliche Frau herzlich in den Arm. Das Kinn des Jungen berührt sanft ihren Scheitel. Genüsslich saugt er den Duft ihrer zum Zopf gebundenen hellbraunen Haare auf.

»Macht doch nichts, mein Junge. Schön, dass Du überhaupt kommst. Ich hatte vor Deinem Anruf gestern nicht damit gerechnet. Du siehst gut aus, mein Sohn.«

»Du auch, Mama. Wartest Du schon lange?«

»Nicht der Rede wert. Ich habe beim Gärtner schon ein paar Pflanzen für Omas Grab besorgt. Das muss ich nach dem Winter gleich als erstes in Ordnung bringen. Also lass uns gehen.«

»Komm, ich nehme Dir die Tüten und den Korb mit dem Gartengerät ab.«

»Danke. Das ist lieb von Dir. Schau Dich mal um.

Ist das nicht ein herrlich gepflegter Park mit alten Bäumen und verwunschenen Grabstellen mitten drin?«

»Finde ich auch. Ich war erst ein einziges Mal hier. Das war zu Omas Beerdigung. Es regnete in Strömen und wir gingen den langen Weg zur Friedhofskapelle zu Fuß. Trotz des großen Schirmes hatte ich anschließend klatschnasse Beine. Warum war Papa eigentlich nicht dabei?«

»Ich hatte ihm keine Traueranzeige geschickt.«

»Weshalb nicht?«, fragt Frieder verblüfft.

»Der wäre sowieso nicht gekommen. Für uns hatte er doch nie Zeit.«

»Das habe ich anders in Erinnerung.«

»Ist jetzt auch egal«, wimmelt die Mutter ab. »Was macht eigentlich Dein Studium?«

»Wir schreiben morgen eine Strafrechtsklausur. Wenn ich die schaffe, habe ich den kleinen Strafrechtsschein im Sack. Dann werde ich mich in den kleinen Öffentlichen stürzen. Da schreiben wir in der nächsten Woche auch eine Klausur. Thema: Was ist ein Verwaltungsakt?«

»Du bist so fleißig mein Junge. Ich drücke Dir für die Prüfungen ganz fest die Daumen. Die werden bestimmt was werden. Warst ja schon in der Schule immer ein kleiner Überflieger.«

Sie packt Frieder am Arm.

»Jetzt nach links und dann sind wir auch bald da.«

»Ich sehe schon die Birke.«

Frieder hakt sich mit der freien Hand bei der Mutter unter. Die letzten paar Meter gehen sie langsam und mit Bedacht. Dann stehen sie vor dem Grab. Auf einem großen Findling im Schatten der Birke steht es in schlichten Lettern: Anna Lina Göhlen, geb. Becker, geboren am 12. Oktober 1943 in Bad Essen, gestorben am 10. September 2012 in Berlin.

Nach einer Weile unterbricht Frieder die andächtige Stille.

»Mama, bevor Du mit der Gärtnerei loslegst, muss ich Dich mal etwas fragen. Wollen wir uns auf die Bank setzen?«

»Gern, mein Junge, das ist mein Lieblingsort.«

Sie nehmen am Rande des Grabes Platz.

»Was hast Du auf dem Herzen?«

Frieder räuspert sich.

»Weißt Du, ich habe in den letzten Tagen darüber nachgedacht, wie es war, als Oma noch lebte. Da besuchten Papa und wir sie alle vierzehn Tage. Erst zuhause in ihrer Wohnung am Schlachtensee und später dann im Altersheim. Diese Nachmittage habe ich gehasst. Alle meine Freunde waren auf dem Fußballplatz. Nur ich saß stundenlang in der überheizten Bude. Musste das dauernde Gestöhne über falsch parkende Autos auf dem Bürgersteig und den Lärm vom Biergarten gegenüber über mich ergehen lassen. Und das ewige Lamentieren über die vollen Wartezimmer der Ärzte und die Rücksichtslosigkeit der Jugend. Jedes Mal die gleiche Platte. Nur über Opa wurde nie gesprochen. Warum eigentlich nicht?«

»Jetzt fängst auch Du noch damit an.«

»Wer kam denn sonst auf diese Idee?«

»Weiß ich nicht. Aber letztes Jahr, kurz vor Weihnachten, lag plötzlich ein dicker Brief in meinem Kasten. Auf dem Umschlag mein Name, Ulrike Göhlen. Auf der Rückseite der Name Deines Großvaters, Karl Göhlen. Keine Briefmarke, keine Adresse, nichts. Den hatte jemand heimlich bei mir eingeworfen. Ich hielt das natürlich für einen schlechten Scherz.«

»Und was stand in dem Brief?«

»Keine Ahnung. Habe ihn sofort in den Kamin gefeuert.«

»Bis Du wahnsinnig? Hättest mich wenigstens fragen können. Ich hing Weihnachten tagelang bei Dir ab und Du verlierst über den Brief kein einziges Wort.«

Frieder stampft wütend mit dem Fuß auf den Boden.

»Ich wollte das schöne Fest nicht mit meinen Spinnereien belasten.«

»Was für Spinnereien? Der Brief war doch echt.«

»Schon«, antwortet die Mutter bedrückt. »Aber irgendjemand hat mir doch den bösen Streich gespielt. Bis heute zermartere ich mir den Kopf, wer das war. Das kann nur ein Insider gewesen sein.«

»Vielleicht war es dieser.«

Frieder fingert das Anwaltsschreiben aus seiner Jacke.

»Lies das mal bitte.«

Die Mutter überfliegt den Brief.

»Das darf nicht wahr sein«, stammelt sie entsetzt.

Sie buchstabiert das Schreiben nochmals Zeile für Zeile durch. Am Todeszeitpunkt des Erblassers bleibt sie lange hängen. Dann schaut sie Frieder mit großen Augen an.

»Kann es sein, dass mir beim Verbrennen des Briefes ein entsetzlicher Fehler unterlaufen ist?«

Der Junge greift behutsam die Hand seiner Mutter.

»Vorgestern hätte ich das noch definitiv ausgeschlossen. Jetzt halte ich es durchaus für möglich. Vielleicht war es Opas Abschiedsbrief an Dich.«

4

Am 15. Mai steigt Frieder in die guten Jeans und streift ein weißes Baumwollhemd über. Dann schnappt er sich die weißen Sneaker, holt das Leinensakko aus dem Schrank und macht sich auf den Weg in die Knesebeckstraße.

Um 16.55 Uhr klingelt er an der Tür der Anwaltskanzlei. Ihm ist ganz mulmig zumute. Eine geschäftig herumwuselnde Vorzimmerdame begrüßt ihn förmlich und führt ihn in ein Wartezimmer. Das Mobiliar hat seine besseren Jahre bereits hinter sich. Wie auch die beigen Wände, die seit mindestens fünfzehn Jahren auf neue Farbe warten. Dazu die sechs schmucklosen Kupferstiche, lieblos penibel an die Wand gedübelt. Eine Tasse Kaffee nimmt Frieder dankend an.

Nach wenigen Minuten erscheint der Rechtsanwalt, ein älterer Herr jenseits der 70. Er ist sorgfältig gekleidet, trägt Fliege und passt in seiner steifen Art auch sonst zum Inventar. Helmut Ossenbühl bittet Frieder in sein Arbeitszimmer, einen ca. 40 Quadratmeter großen holzvertäfel ten Raum. Dort nehmen sie in einer Sitzecke am Fenster Platz. Nachdem er die Personalien überprüft hat, schaut der Anwalt den Jungen freundlich lächelnd an.

»Ich nehme an, Herr Göhlen, dies ist Ihre Premiere als Erbe. Und es ist, trotz der 40 Dienstjahre, die ich mittlerweile auf dem Buckel habe, in gewisser Weise auch eine Premiere für mich. Das liegt an den besonderen Umständen des Falles, die ich Ihnen schildern möchte, bevor ich das Testament verlese. Sind Sie damit einverstanden?«

Frieder nickt.

»An den besonderen Umständen ist wohl was dran. Ich zerbreche mir seit Wochen den Kopf, ob ich hier auf der richtigen Veranstaltung bin. Was macht Sie sicher, dass es sich bei dem Toten um meinen Großvater handelt? Mir wurde gesagt, er sei bereits seit 1979 tot.«

»An der Identität des Erblassers gibt es keine Zweifel«, erläutert der Jurist. »Ich bin mir da aus einem doppelten Grunde gewiss. Erstens kannten wir uns. Ihr Großvater und ich haben Anfang der Achtziger Jahre Seite an Seite eine Reihe von Schlachten der Kleingärtner gegen das Bezirksamt geschlagen. Die Stadt Berlin ging damals den Lauben piepern in Schöneberg an den Kragen. Sie wollte viele Parzellen zugunsten der Stadtautobahn und neuer Wohnviertel platt machen. Ihr Großvater war der geistige Kopf des Protestes.«

Frieder kombiniert.

»Keine Zweifel an der Identität des Erblassers? Also doch kein Fake. Laubenpieper in Schöneberg? Eine Tellerwäscherkarriere in Amerika scheidet aus. Seite an Seite mit dem verstaubten Rechtsanwalt? Was muss sein Opa für ein Spießer gewesen sein.«

»Herr Göhlen, geht es Ihnen gut? Darf ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«

»Alles okay.«

Frieder streicht sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich war nur gerade mit meinen Gedanken woanders. Welches ist der zweite Grund, von dem Sie sprachen?«

»Am 28. Dezember letzten Jahres tauchte er wieder auf. Ein großer, gelassener und in sich ruhender Mann, dem anzumerken war, dass er aufgrund einer fortgeschrittenen Erkrankung nicht mehr lange zu leben hatte. Es sei Zeit, sein Erbe zu regeln, sagte er, und dazu brauche er meine Hilfe. Ich möge, wenn es so weit sei, sein Testament vollstrecken, das er mir in einem Umschlag aushändigte. Das sei alles. Ein enger Freund werde nach seinem Tode das Gewerbe abmelden, die Wohnung auflösen und alle Verbindlichkeiten begleichen. Seine Asche werde bei einer Bestattung auf hoher See verstreut. Anschließend werde sich der Freund bei mir melden und mich bitten, Sie zur Testamentseröffnung vorzuladen. Der Freund war am 15. März bei mir. Den Rest kennen Sie. Selbstverständlich habe ich mir von Ihrem Großvater bei seinem Besuch den Personalausweis zeigen lassen und die ID-Nummer in meinen Akten notiert. Das gehört zu meinen Pflichten. Auch war er unter der angegebenen Adresse im Bezirksamt Schöneberg gemeldet. Den Totenschein und den Bestattungs nach weis habe ich hier. Sie können sie gerne einsehen.«

»Ist schon gut«, winkt Frieder ab. »Das wird schon seine Ordnung haben. Auch wenn es für mich spooky bleibt. Mein ganzes Leben hieß es, Opa sei tot. Frag’ nicht weiter nach. Und jetzt taucht er plötzlich auf und setzt mich zu seinem Erben ein.«

»Ihre Verwirrung kann ich nachvollziehen. Auch teile ich Ihr Unverständnis über das ungewöhnliche Prozedere. Natürlich habe ich Ihren Großvater nach den Gründen befragt und er gab freimütig zu, dass er nicht nur Ihr Geburtsdatum und Ihre aktuelle Adresse kenne, sondern auch über Ihre Lebensumstände bestens informiert sei. Er habe Sie seit Ihrer Geburt intensiv begleitet, ganz diskret aus der Ferne, so dass Sie nichts davon bemerkten. Aber aus mir nicht bekannten Gründen habe er es sich versagt, zu Lebzeiten Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Erst jetzt, auf den allerletzten Drücker, sei die Zeit gekommen. Sie seien schließlich volljährig und hätten einen Anspruch auf die Wahrheit.«

»In welchem Irrenhaus bin ich hier gelandet?«, platzt es aus Frieder heraus, »jetzt hat mich Opa auch noch mein Leben lang gestalkt.«

Helmut Ossenbühl wiegt bekümmert den Kopf.

»Es tut mir aufrichtig leid, Herr Göhlen, aber so sieht es wohl aus. Das muss sehr schmerzlich für Sie sein.«

Ratlos zuckt er mit den Schultern.

»Wenn Sie einverstanden sind, verlese ich jetzt das Testament.«

»Okay. Kann ja nicht mehr schlimmer kommen.«

Der Anwalt zieht einen Briefumschlag aus der Akte. Darin befindet sich ein kurzes handschriftlich verfasstes Schreiben:

Berlin, 26. Dezember 2017

Mein letzter Wille

Ich, Karl Justus Göhlen, geboren am 17. Juli 1942, setze meinen Enkel Friedrich Göhlen, geboren am 2. Januar 1999, zu meinem alleinigen Erben ein.

Friedrich erbt von mir ein Taxi und den Inhalt eines Bankschließfachs bei der Raiffeisenbank in Berlin. Herr Rechtsanwalt Ossenbühl wird dafür sorgen, dass er die Wagenpapiere und den Schlüssel zum Bankschließfach erhält.

Karl Justus Göhlen

Zufrieden legt der Anwalt das Testament zur Seite.

»Das ist der Göhlen, den ihn kenne. Ihr Großvater hasste gedankenloses Gerede wie die Pest. Als Pragmatiker brachte er die Dinge immer auf den Punkt. So wie hier. Sie wissen nun, was es mit der Erbschaft auf sich hat und wie Sie an das Erbe kommen. Wenn Sie wollen, besorge ich Ihnen bei Gericht den Erbschein. In etwa drei Monaten können Sie mit diesem Legitimationspapier in der Hand über das Erbe frei verfügen. Es sei denn«, der alte Herr zögert und schaut den Jungen prüfend an, »Sie überlegen es sich anders und schlagen das Erbe innerhalb der nächsten sechs Wochen aus. Dann brauchen Sie sich über all das keinen Kopf zu machen.«

Frieder streicht sich nervös über den Hemdkragen.

»Was würde es kosten, wenn ich die Erbschaft antrete?«, tastet er sich an eine Antwort heran.

»Für Sie wäre der Vorgang der Erbübertragung kostenfrei. Ihr Großvater hat meine diesbezüglichen Bemühungen vorab honoriert und die anfallenden Gerichtsgebühren bei mir hinterlegt. Das Taxi steht abgemeldet auf dem Garagenhof eines Taxi unternehmers in Schöneberg. Er hat auch den Schlüssel und zeigt Ihnen jederzeit gern den Wagen. Die Adresse und seine Telefonnummer habe ich hier.«

Der Anwalt schiebt Frieder einen Zettel mit den Angaben zu.

»Die Gebühren für das Bankschließfach sind bis zum Jahresende bezahlt.«

»Dann spricht aus finanziellen Gründen nichts dagegen, das Erbe anzutreten«, resümiert der Junge.

»Nein.«

»Trotzdem brauche ich noch ein paar Tage Bedenkzeit. Mir schwirrt der Kopf, das ist alles grade ein bisschen viel für mich.«

»Ist doch ganz normal, Herr Göhlen. Das ginge mir an Ihrer Stelle nicht anders«, versucht ihn der Anwalt zu trösten. »Kommen Sie zur Ruhe, erholen Sie sich von dem Schock. Wenn Sie sich im Klaren sind, was mit der Erbschaft passieren soll, rufen Sie mich an. Dann regeln wir den Rest.«

5

»Du also bist Kalles Enkel und sehnst Dich nach seinem Taxi.«

Hubert Altmann mustert den schmalen blonden Milchbubi mit dem unsicheren Blick. Abgesehen von der Körpergröße sieht er seinem Großvater in keiner Weise ähnlich. Mit einem leichten Kopfnicken bittet er den Jungen in seine Wohnung.

»Willste ’nen Bier?«

»Nein danke. Ein Glas Wasser würde reichen.«

»Sehr vernünftig«, lobt der Taxiunternehmer, schlurft in die Küche und kommt mit einer Wasserkaraffe in der einen und einem leeren Glas in der anderen Hand zurück.

»Dann wollen wir mal unser Taxireich in Augenschein nehmen. Bitte folge mir unauffällig.«

Sie durchqueren den schmalen Flur der Altbauwohnung, das mit Bücherregalen voll gestellte Wohn zimmer und treten durch die offene Tür auf den kleinen Balkon. Er bietet soeben Platz für einen kleinen Klapptisch und zwei Stühle. Hier, vom dritten Stock aus, haben sie einen guten Blick auf den Garagenhof. Sie schauen weiter auf ein paar Pappeln im Nachbargarten, die sich sanft im Wind wiegen, und auf die dicht befahrene Stadtautobahn.

»Dies ist mein Arbeitsplatz. Hier habe ich alles, was ich brauche und kann Dir sofort sagen, wie die Geschäfte laufen.«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragt Frieder verblüfft.

»Nichts läge mir ferner als das.«

Hubert blickt dem Studenten treuherzig ins Gesicht. Dann weist er mit dem Zeigefinger nach unten.

»Schau in den Garagenhof. Du erkennst die beiden Taxen, die da hinten in der Ecke parken und schon seit über einer halben Stunde auf einen Auftrag warten. Der Rubel könnte also besser rollen. Immerhin sind die drei anderen Wagen derweil auf Tour. Und ganz rechts da, an der Mauer, steht das Auto Deines Opas. Da frisst es kein Brot.«

»Heißt das, mein Großvater war bei Ihnen angestellt?«

»Gott bewahre. Das wäre nicht lange gut gegangen. Kalle war ein freiheitsliebender Kopf und ein großer Lebenskünstler dazu. Der fuhr nur so lange, wie er Lust hatte oder zum Leben brauchte. An manchen Tagen hatte er Hummeln im Hintern. Da war er von morgens bis abends in seinem Boliden auf der Straße. Zuweilen fuhr er auch ganze Nächte durch, um sich anschließend wochen lang auf die faule Haut zu legen und das Leben zu feiern. Der hätte in keinen Dienstplan gepasst.«

»Und warum steht sein Taxi auf Ihrem Garagenhof?«

»Frag’ mich mal was Einfacheres. Zum Beispiel, seit wann wir uns kennen.«

»Also gut: Wie lange kennen Sie sich?«

Frieder wagt ein erstes vorsichtiges Lächeln.

»Dein Opa und ich liefen uns im Oktober 1963 erstmals über den Weg. Wir hatten uns zum Studium bei den Wirtschaftswissenschaftlern der Freien Universität eingeschrieben. Zufällig saßen wir in der Eröffnungsveranstaltung nebeneinander. Mir war sofort klar, das war ein Lineal-Otto ersten Ranges. Packte er doch allen Ernstes seinen Notizblock aus, um mitzuschreiben und ja nichts zu verpassen. Alter Schwede, was für ein Scheiß. Mein Ehrgeiz war deutlich gebremster. Ich hatte nicht vor, im Kapitalismus Karriere zu machen. Wollte nur die Fratze des Systems durchschauen und herausfinden, wie es zu knacken war. Mit anderen Worten: ich plante die Weltrevolution.«

Der Taxiunternehmer wuchtet die rechte Faust in die Höhe.

»Darüber kriegte sich wiederum Dein Opa nicht ein. Und so entwickelte sich zwischen uns ein weltanschauliches Pingpongspiel. Tagsüber zogen wir fröhlich durch die Uni und beschnupperten, je nach Klassenstandpunkt begierig oder entsetzt, den sich steigernden revolutionären Geist und die hilflose Reaktion des Kathetermuffs. Anschließend belagerten wir die Kneipen und maßen uns in hitzigen Diskussionen nächtelang an der Kraft unserer Argumente.«

»Das klingt nach bewegten Zeiten«, wirft Frieder anerkennend ein.

»Da brannte der Christbaum, mein Freund. Von so was könnt ihr Weicheier heute nur träumen.«

Huberts Gesicht glüht.

»Nur eines klappte dummerweise nicht. Kalle, dieser verblendete Karrierist, widersetzte sich standhaft meiner Agitation. Er fuhrwerkte an seinen Scheinen herum, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Selbst als es ’67 an der Uni richtig munter wurde und die mit Blutzoll bezahlten Proteste auf den Straßen explodierten, schleimte Kalle unverdrossen den Klausurergebnissen hinterher. Er war nicht doof und die Professoren auch nicht. Sie liebten ihn, seine Angepasstheit und seinen Fleiß, warfen ihm serienweise Bestnoten und am Ende verdientermaßen ein Prädikatsexamen hinterher. Ich war da schon längst auf Dauerkrawall gebürstet. Der Straßenkampf um den Mariannenplatz hielt mich tage- und nächtelang in Atem. Finanziell hielt ich mich mit Taxifahren über Wasser. Als nach 29 Semestern meine wissenschaftliche Karriere mit der Zwangsexmatrikulation endete, meldete ich mein eigenes Taxigewerbe an. Ich wurde freier Unternehmer. Ab da war ich als Weltverbesserer endgültig gescheitert.«

»Was Ihnen finanziell nicht geschadet haben dürfte.«

»Nö.«

Hubert grummelt leise vor sich hin.

»Auch wenn ich von der Taxifahrerei nicht reich geworden bin. Kalle war karrieremäßig deutlich besser drauf. Er stieg in die große Wirtschaft ein und heuerte bei Schering an. Schnell avancierte er zum erfolgreichen Chefeinkäufer des Arzneimittelriesen. Auf Firmenspesen ging es kreuz und quer durch die Welt. Kalle drückte knallhart die Lieferantenpreise und verdiente sich damit eine goldene Nase. Dann verloren wir uns für ein paar Jahre aus den Augen. Bis er eines Tages vor meiner Haustür