Ware Mensch - Dietmar Roller - E-Book

Ware Mensch E-Book

Dietmar Roller

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Beschreibung

40 Millionen Menschen in Sklaverei. Noch nie waren weltweit so viele Menschen betroffen wie heute! Jeder kann sich heute einen versklavten Menschen leisten, denn billiger als jedes Smartphone ist die "Ware" Mensch. 80 Euro ist der aktuelle "Durchschnittspreis" weltweit. Millionen Kinder und Erwachsene werden in Fabriken, Haushalten, Bordellen und Minen festgehalten, ausgebeutet und missbraucht. Dietmar Roller, Experte für Entwicklungszusammenarbeit, kennt all die Orte, an denen Sklavenhändler sich außerhalb des Rechtssystems wie selbstverständlich bewegen. Er erzählt von konkreten Schicksalen, aber auch von Erfolgsgeschichten - und von sich selbst und seiner Leidenschaft für ein gerechtes Leben für alle Menschen. Er nimmt uns mit auf seine Suche nach Antworten: Wie kann Sklaverei endlich beendet werden? Was können wir dazu beitragen? Denn eins ist sicher: Das Thema hat mehr mit unserer Realität zu tun, als wir denken. Das Buch ist ein Augenöffner, aber vor allem ist es eins: ein Hoffnungsmacher.

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Kathrinschroeder

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Sklaverei heute von rechtlosen Kindern, die nach Gold schürfen, über sexuelle Ausbeutung, Ausbeutung von Flüchtlingen, Blutmineralien, Kindersoldaten - weltweit gibt es zahlreiche Menschen, deren Dasein sich nur als Sklaverei bezeichnen lassen. Egal ob diese Menschen hierbei verkauft werden wie wir es aus der Sklavereigeschichte kennen oder so wenig "Wert" haben, dass sie vom ersten "Besitzer" verbraucht und vernichtet werden, die heutige Welt kennt Sklaverei, obwohl weltweit geächtet, in vielen Formen. In diesem Buch werden die unterschiedlichen Mechanismen der Sklaverei genauso aufgezeigt, wie Möglichkeiten Menschen daraus zu befreien oder sogar durch Transparenz und Sichtbarkeit Sklaverei zu erschweren oder vielleicht sogar zu stoppen. Berührende Einzelgeschichten, eingewoben in den jeweiligen Kontext. Ein umfassendes und wichtiges Buch #WareMensch #NetGalleyDE! #KathrinliebtLesen #Sklaverei #Rezension #Bookstagram
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Inhaltsverzeichnis

Prolog:Unfall mit Folgen

Der Einsturz:Sklaverei ist noch immer Realität

Verlorene Kindheit:Restavek-Kinder in Haiti

Das Geschäft mit der Liebe:Zwangsprostitution in Europa

Wegwerfware Mensch:Schuldknechtschaft in Südasien

Sklaverei 2.0:Sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet auf den Philippinen

Verraten und verkauft auf der Flucht nach Europa:Sklaverei und Migration

Lohn- und Sozialdumping:Arbeitssklaverei in Europa und im Nahen Osten

Blutige Mineralien:Kampf um Rohstoffe in Bolivien und der Demokratischen Republik Kongo

Sklaverei beenden:Wenn Recht für alle gilt

Saubere Lieferketten:Kein Traum, sondern machbar

Es hat schon einmal funktioniert:Eine starke Bewegung gegen Sklaverei

Epilog:Keine Utopie

Zum Weiterlesen

Bildteil

Prolog:Unfall mit Folgen

„Die beiden wichtigsten Tage deines Lebens sind der Tag, an dem du geboren wurdest, und der Tag, an dem du herausfindest, warum.“Mark Twain

Mitten durch das Hochland Kenias, vorbei an kleinen Dörfern, dann wieder durch weite Landschaften, schlängelte sich die Straße durch die Täler und Hügel der Gegend. Freund fuhr und wir überholten einen Lastwagen. Der Fahrer sah uns wahrscheinlich nicht, denn plötzlich schwenkte er nach links aus und drängte uns von der Fahrbahn ab in die Böschung. Mein Freund verlor die Kontrolle über den Wagen, schaffte es aber irgendwie, uns wieder zurück auf die Straße zu manövrieren. Dem Mann, der dort am Straßenrand saß, konnten wir jedoch nicht mehr ausweichen. Er war sofort tot.

Was ist der Sinn des Lebens? Diese Frage hat sich mir bereits früh in meinem Leben gestellt. Ich wuchs umgeben von Wäldern und Feldern im schwäbischen Balingen auf. Am liebsten spielte ich draußen im Wald, baute mit meinen Freunden Baumhäuser oder träumte davon, Maschinen zu erfinden, mit denen ich um die Welt reisen könnte. Dann hätte ich nicht mehr in die Schule gehen müssen. Denn der Unterricht interessierte mich wenig. Meine Lese- und Rechtschreibschwäche fiel zwar früh auf, aber niemand kümmerte sich darum, mich speziell zu fördern. Meine Eltern waren davon überzeugt, dass sich das von selbst geben würde. Doch ich war immer der Letzte in der Reihe, wenn die Lehrerin uns Kinder nach der Menge von Diktatfehlern hintereinander aufreihte. Das nagte sehr an mir.

Nachmittags suchte ich Zuflucht bei meiner Tante, der ich bei der Heimarbeit zusah, während sie mir Geschichten von Menschen aus fernen Ländern erzählte, die sie aus Büchern kannte. Stundenlang konnte ich in diese fremden Welten abtauchen. Genauso ging es mir, wenn mein Onkel von seinen Urlaubsreisen in die Arktis berichtete oder zu Hause am Esstisch, wenn Gäste aus dem Ausland von ihrer Heimat erzählten. Als Teenager war ich so neugierig darauf, die Welt selbst zu erkunden, dass ich in den Ferien arbeitete, um zusammen mit einem Freund zu seinem Onkel nach Kenia fliegen zu können. Mit 16 Jahren stieg ich zum ersten Mal in ein Flugzeug. Fasziniert sahen wir schon beim Anflug auf Nairobi frei umherlaufende Zebras.

Wir waren so begeistert von dem Land, dass wir mit 18 Jahren mit all unserem Ersparten wiederkamen. Wir begleiteten den Onkel meines Freundes zu sozialen Projekten, die nomadische Hirtenstämme im Norden des Landes unterstützten. Da er im südlichen Hochland lebte, waren wir viel mit dem Auto unterwegs. Mein Freund und ich hatten gerade in Deutschland den Führerschein gemacht, sodass wir uns beim Fahren mit dem Onkel abwechselten. Auf einer dieser Fahrten passierte der schreckliche Unfall. Erst waren wir wie betäubt, dann erfasste uns eine Welle der Panik. War das wirklich passiert?

Wir verbrachten eine Nacht bei der Polizei, bis wir zurück ins Haus des Onkels konnten. Der Gerichtsprozess wurde eröffnet und wir mussten bis zum Urteil im Land bleiben. Es folgten Wochen und Monate der Ungewissheit und des Wartens. Doch viel schwerer wog die Last, dass bei dem Unfall ein Mensch ums Leben gekommen war.

Wir fanden heraus, dass der Mann auf der Straße gesessen hatte, um Maiskörner aufzusammeln, die ein voll beladener Lastwagen zuvor verloren hatte. Er und seine Familie waren sehr arm. Jetzt fehlten seiner Frau und den Kindern der Ehemann, Vater und Versorger. Ich fühlte mich so schuldig an dem Unfall, als wäre ich selbst gefahren. Immer wieder suchten mich Alpträume heim. Die Zeit war schrecklich und gleichzeitig hat sie mein Leben im Rückblick positiv verändert. Die vielen wertvollen Gespräche mit dem Onkel meines Freundes halfen uns, den Unfall zu verarbeiten. Um uns ein bisschen nützlich zu machen, halfen wir tatkräftig beim Bau einer Schule in der Nähe des Masai Mara Nationalparks mit. Durch die praktische Arbeit versanken wir nicht in negativen Gedanken.

Wir wohnten in einem Zeltwagen neben der Baustelle und sahen abends, wie einige hundert Meter entfernt die Masai Morani, junge Krieger in unserem Alter, am Feuer sangen, tanzten und sich durch Mutproben beweisen mussten. Wir bekamen mit, dass die Mädchen im Dorf früh verheiratet und Vergewaltigungen still geduldet wurden. Ich lernte ein paar Worte Kisuaheli und mein Englisch wurde besser, als ich gedacht hätte. Schnell kam ich mit Menschen ins Gespräch und merkte zum ersten Mal, dass ich gut auf Menschen zugehen kann. Diese Erfahrungen stärkten mich. In mir steckte scheinbar mehr, als meine Schulnoten zeigten.

Vor Gericht kam es einige Monate später zum ersehnten Freispruch für meinen Freund. Wir konnten dem Staatsanwalt beweisen, dass es die Schuld des Lastwagenfahrers war. Endlich flogen wir nach Hause und ich beendete das letzte Schuljahr.

Die Wunde über das Geschehene ist noch immer da, doch aus der Verletzung ist etwas Neues entstanden. Mein Glaube an Gott und das Bild von ihm, das ich bis dahin durch meine christliche Erziehung hatte, wurden erschüttert, aber meine Fragen brachten mich nicht vom Glauben ab. Inmitten meiner Selbstzweifel, die mich meine gesamte Kindheit über begleitetet hatten, und den Schuldgefühlen über den Unfall, wuchsen Selbstvertrauen und der Mut, meinen Weg zu suchen und mein Potenzial zu entdecken.

In Kenia habe ich viel Armut und Not bei den Menschen gesehen. Neben meiner Abenteuerlust erweckten die Erlebnisse Empathie und Liebe zu denen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Ich wollte etwas verändern im Hier und Jetzt. Also fing ich nach der Schule an, evangelische Theologie zu studieren und machte später meinen Master in Interkultureller Kommunikation mit einem Schwerpunkt in Sozialanthropologie. Ich entdeckte meine Freude am Lernen und beschäftigte mich besonders mit der Zusammenarbeit in interkulturellen Teams.

Doch prägend sind bis heute für mich die Erfahrungen bei den Menschen: Zehn Jahre arbeitete ich für eine kirchliche Organisation in Tansania, anschließend war ich als Programmvorstand viele Jahre weltweit für die Kindernothilfe und später als selbstständiger Berater für Nichtregierungsorganisationen in Krisen- und Konfliktgebieten unterwegs. Seit 2013 leite ich den deutschen Zweig der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission, die Menschen in Sklaverei und anderen Gewaltsituationen in Asien, Afrika und Lateinamerika Zugang zum Recht verschafft.

Was ist der Sinn des Lebens? Als Christ glaube ich, dass in jedem Menschen ein von Gott gegebenes Potenzial steckt. Die Entfaltung dieser Einzigartigkeit ist unsere wichtigste Aufgabe im Leben, der Sinn, nach dem wir alle suchen. Diese Würde, die sich für mich in der Gottebenbildlichkeit der Menschen verankert, lässt sich durch nichts und niemanden rauben.

Sklaverei war und ist bis heute einer der brutalsten Angriffe auf die unantastbare Würde eines Menschen. Sie nimmt dem Menschen die Freiheit, seine Gaben zur Entfaltung zu bringen. Deshalb ist Sklaverei mehr als das äußere Gefangensein, sie fesselt den ganzen Menschen. Dieses Unrecht erschüttert mich zutiefst und ich finde meinen Sinn heute darin, Menschen zu unterstützen, in Freiheit zu leben und ihr Potenzial zu entdecken.

Der Einsturz:Sklaverei ist noch immer Realität

„Wann werden wir lernen, dass Menschen einen unendlichen Wert haben, weil sie nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, und dass es Gotteslästerung ist, sie so zu behandeln, als wären sie weniger als das, und dass solch ein Verhalten letztlich auf die zurückfällt, die dies tun?“Desmond Tutu

„Weiter! Weiter!“, schnauzte der Mann. Seine muskulöse Gestalt und sein starrer Blick in dem zerfurchten Gesicht wirkten unheimlich. Der Junge vor ihm gab sich Mühe, schneller zu kurbeln und das Schaufelrad in ständiger Bewegung zu halten. Sein Arm war müde geworden. Nicht nur die Furcht vor dem Mann, dem er hörig war, trieb ihn an. Er wusste, dass es für seinen Freund viele Meter unter ihm im Stollen um alles ging,

An dem Schaufelrad, das in einem halbrunden Metallgehäuse befestigt war, hing ein Gartenschlauch, der in dem etwa fünfzig Meter tiefen Schacht neben dem Jungen verschwand. Am Ende des Schlauches war ein Trichter befestigt, über den der Freund unten mit Luft versorgt wurde. Die beiden Jungen, die nicht älter als acht oder neun Jahre alt waren, wechselten sich ab. Mal war der eine oben und kurbelte und der andere unten, mal war es andersherum. Sie wussten, dass ihr Leben von der wenigen Luft abhing, die unten ankam. Am Ende des Schachts waren sie allein in der Enge und Dunkelheit. Selbst ihre schmächtigen Körper konnten sich nur liegend weiterschieben. Stundenlang klopften sie mit ihrem Pickel im schwachen Licht der Taschenlampe, die mit einem Fahrradschlauch um ihren Kopf gebunden war, goldhaltiges Gestein ab.

Der Nordwesten Tansanias hat vermutlich das größte Goldvorkommen in ganz Ostafrika. Mehr als hundertausend Menschen graben hier in kaum gesicherten Stollen nach Gold – illegal neben den zugelassenen Minen ausländischer Firmen oder jenseits davon in bisher unerschlossenen Gebieten des Regenwaldes. Die Goldgräber kommen aus verschiedenen Regionen Tansanias und den Nachbarländern. Sie glauben den kursierenden Geschichten vom großen Reichtum und machen sich mit der Hoffnung auf den Weg, endlich die Armut hinter sich lassen zu können.

In Mguzu, etwa 15 Kilometer von der Kleinstadt Geita entfernt, verdienen tatsächlich nur wenige Goldgräber das große Geld und es sind die Skrupellosesten, die von der Knechtschaft der anderen profitieren. Mitten im Wald arbeiten Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Hilfe von Maschinen und können meist nur so viel schürfen, dass es zum Überleben reicht. Unter ihnen sind viele Männer, aber auch Frauen und Kinder. Schacht an Schacht graben sie sich in den Berg, der von einem Wirrwarr von Gängen durchzogen ist. Wem welcher Stollen gehört und wer das Anrecht auf die Goldfunde darin hat, wird bestenfalls mit Geld, oft aber durch Überfälle und Kämpfe geregelt. Das Recht der Stärkeren ist die einzige Ordnung. Die Goldsuche macht viele Menschen gierig und brutal. Die Atmosphäre ist explosiv, es herrscht eine Mischung aus Gewalt, Ausbeutung und Elend.

Immer den Schlaglöchern nach

Als ich 1990 zum ersten Mal nach Mguzu kam, wusste ich nicht, was mich dort erwarten würde. Erst einige Monate zuvor im April des Jahres war ich mit meiner Familie von Deutschland nach Geita gezogen, um in der Region und später in ganz Ostafrika kirchliche Entwicklungsprojekte zu koordinieren. In Geita war ich für ein Jugendzentrum verantwortlich, das neben Projekten für Kinder und Jugendliche junge Erwachsene in Handwerksberufen ausbildete. Auch die Aufklärung über HIV/Aids war ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Zu dieser Zeit gab es in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara weltweit die meisten Infektionen und Todesfälle. Nahezu ungehindert konnte sich das Virus verbreiten, denn die Menschen wussten zu wenig über die Krankheit und glaubten kuriosen Märchen, die sie irgendwo aufgeschnappt hatten. Niemand sprach offen über HIV/Aids und erst recht nicht über Sexualität.

Als Fremder mit den Menschen über ein solches Tabuthema zu sprechen, erforderte Kreativität und Vertrauen. Mein gerade abgeschlossenes Studium hatte mir gute Konzepte und Theorien an die Hand gegeben, die in der Praxis jedoch erst einmal unwichtig waren. Ich musste bei den Menschen ankommen, die ich unterstützen wollte, und verbrachte deshalb jede freie Minute bei ihnen. Wir aßen zusammen, lachten und ich verstand, was sie freute, ärgerte und sorgte. Straßenkisuaheli lernte ich schnell dank ihrer Hilfe.

Von Mguzu hörte ich viel, doch es klang verwirrend für mich. „Viel Zauber“ wäre an dem Ort und die Goldgräber wären „verrückt und unberechenbar“. Jeden Tag kamen sie in die Stadt, kauften auf dem Markt Lebensmittel, Werkzeuge und anderes Zubehör für ihre Arbeit und tauschten ihre Funde ein. Wir wohnten nahe der Bank, die das Gold ankaufte. Der tansanische Schilling war so wenig wert, dass die Menschen manchmal Millionen Schillingscheine, umgerechnet ein paar Hundert Euro, in Waschkörben aus der Bank trugen und auf dem Fahrrad nach Hause balancierten.

Meine Neugier ließ mich eines Tages mit meinem Motorrad den Goldgräbern von der Stadt nach Mguzu folgen. Es war einfach zu erkennen, wer zu ihnen gehörte. An ihrer Haut klebte rote schlammige Erde, die Kleidung hing abgewetzt an ihnen herunter. Die Straße durch den Wald war ungeteert und gespickt von Schlaglöchern. Es roch nach Holzkohlenfeuer, Rauchschwaden lagen über den Bäumen in der Ferne, wo vereinzelt einfach gebaute Lehmhütten standen. Wie viele Menschen hier lebten, wusste niemand genau. Manche schätzten Zehntausende. Sicherlich variierte die Zahl, je nachdem, ob gerade viel Gold in der Region gefunden wurde oder nicht. Dann zogen einige wieder weiter, um woanders ihr Glück zu suchen.

Ich erreichte eine Ansammlung von mehreren provisorisch gebauten Hütten. Es roch nach Kloake. Als Toiletten fungierten Löcher im Boden, die durch den Regen am Vortag übergelaufen waren. Fließendes Wasser gab es nicht und Strom war der Luxus von wenigen. Ich folgte der Straße weiter um eine Kurve und dann lag er mitten im Tropenwald direkt vor mir, der Berg, dessen nackter Hang von lauter Schächten zerlöchert war wie ein Schweizer Käse.

Ich fuhr langsamer, denn immer mehr Menschen liefen auf der Straße. Ich hielt am Guesthouse an, das das Zentrum des Ortes zu sein schien. An ein Hotel erinnerten die kreisförmig angeordneten Lehmhütten, die als einzelne Zimmer dienten, kaum. Vor den Türen wuschen einige Frauen Wäsche, ihre kleinen Kinder blickten mich schüchtern an. Als Fremder fiel ich sofort auf. Der Besitzer des Guesthouses kam auf mich zu und ich stellte mich auf Kisuaheli vor. Er lächelte, als er meine noch fremd klingenden Worte hörte und fasste fragend zusammen: „Du hast was mit der Kirche zu tun?“ Ich nickte. „Komm am Sonntag zum Predigen“, schlug er kurzerhand vor. „Wir machen hier immer Gottesdienst.“

Am nächsten Sonntag kam ich wieder. Der Gottesdienst bestand überwiegend aus Singen und Tanzen. Dann kam eine kurze Andacht, ein Bibelvers wurde vorgelesen und immer wieder berichtete jemand unter großem Applaus und Jubel der anderen, wie Gott sein Gebet erhört hatte. Nach dem Gottesdienst aßen die Menschen zusammen und erzählten, was sie gerade beschäftigte. Sie wirkten unbeschwert. Später verstand ich, dass der Sonntagmorgen für sie der einzige Moment in der Woche war, wo sie das Elend um sich herum vergessen konnten. Ich kam häufiger. Die Gastfreundschaft und Herzlichkeit beeindruckten mich. Die Menschen hatten wenig, doch sie teilten miteinander, sodass es für jeden irgendwie reichte.

Mit der Zeit lernte ich Einzelne besser kennen: Die Kinder, die überall herumsprangen und mich erst aus der Ferne interessiert beobachtetet hatten und dann mit Fragen löcherten. Ich hörte den Frauen zu, die zu dritt oder zu fünft in den kleinen Zimmern des Guesthouses mit ihren Kindern, meist noch Babys, wohnten. Und ich traf viele Goldgräber. Irgendwann sagte einer von ihnen zu mir: „Komm mit uns mit und guck, wo wir arbeiten!“

Auf der Suche nach der Goldader

Einige Tage später folgte ich den Goldgräbern den Zickzackweg am Hang des Berges hinauf. Jeder Schacht, zu Beginn etwa einen Quadratmeter groß, ging senkrecht von einer kleinen Holzterrasse ab. Oben war das Loch mit Holz umrandet und befestigt, darunter ging es ohne Sicherung 20, 50, manchmal sogar 70 Meter in die Tiefe. Links und rechts im Schachtinnern waren kleine Löcher als Hilfe zum Klettern ausgeschlagen. Ein falscher Tritt war lebensgefährlich. Auf der Suche nach der Goldader oder an ihr entlang ging unten im Schacht waagerecht ein Gang 70 bis 80 Meter in den Berg. Die goldhaltigen Gesteinsbrocken sammelten die Arbeiter in einem Eimer, der von oben über eine Seilwinde hochgezogen wurde.

Auf mich wirkten die vielen Terrassen am Hang chaotisch, doch untereinander war genau geregelt, wem welches Gebiet, ein sogenannter Claim, gehörte. Meistens gehörten sie Kaufleuten, die selten selbst auftauchten und ein Team angeheuert hatten, das vor Ort die Arbeit regelte. Wächter passten auf, dass kein Gold in den eigenen Taschen der Arbeiter verschwand.

Am Ende waren die Gänge in den Stollen so eng, dass nur noch Kinder kriechend weiterkamen. Liegend schlugen sie dort über Stunden Zentimeter für Zentimeter goldhaltiges Gestein heraus. Nach einer kurzen Pause oben an der Luft kletterten sie wieder hinunter. Tagein, tagaus. Manche Kinder wurden bis zu zehn Stunden unten gelassen. Sie kamen erst abends wieder hoch und sahen kein Tageslicht mehr.

Die Kinder und Jugendlichen waren schätzungsweise zwischen acht und 14 Jahre alt. In den Stollen arbeiteten nur Jungen, denn die Goldgräber glaubten, dass Frauen und Mädchen das Gold verfluchten und Unglück brächten. Anfangs dachte ich, dass die Kinder die Söhne der Goldgräber wären, doch meistens war das nicht der Fall. Jedes Kind hatte eine andere Geschichte im Gepäck. Gemeinsam trugen sie die Last, dass sie sehr arm, weit weg von zu Hause und schrecklich einsam waren.

Manche Kinder waren einst mit ihrer Familie nach Mguzu gekommen, um nach Gold zu suchen. Doch die Familie war zerbrochen und ein Teil der Familie weitergezogen. Andere Kinder waren allein gekommen, um Arbeit zu finden. Ich war in Dörfern ringsum unterwegs gewesen, in denen alle Erwachsenen an Aids gestorben waren. Die Kinder blieben auf sich allein gestellt zurück. Die Älteren übernahmen Verantwortung für die Kleineren und mussten, egal wie, Geld verdienen, um zu überleben. Sie wurden irgendwo aufgegabelt oder kamen selbst nach Mguzu und arbeiteten in einem Team mit, das für einen oder mehrere Stollen zuständig war.

Dieses Team war alles an Zugehörigkeit, was sie hatten. Ein Schlafplatz in oder vor der Hütte des Teams und eine Schale Maisbrei am Abend waren ihr Lohn. Sie mussten tun, was ihnen befohlen wurde, und wenn sie widersprachen, gab es Schläge. Wie gut oder schlecht es für die Kinder lief, hing von ihrem Team und dessen Anführer ab.

Am Nachmittag und Abend brachten die Arbeiter Säcke voll mit goldhaltigem Gestein den Hang hinunter, wo die Goldwäscherinnen und Goldwäscher schon warteten. In einer Reihe nebeneinander standen etwa drei Meter lange mit Sackleinen ausgelegte Holzrutschen, ind die sie die zuvor zerstoßenen Steine mitsamt der schlammigen Erde ausschütteten.

Häufig erledigten Frauen und Kinder diese Arbeit. Mit Wasser spülten sie die lose Erde und die kleinen Steine weg. Die übrigen schweren goldhaltigen Teile vermischten sie in einer Schüssel mit Quecksilber. Die feinen Goldpartikel wurden vom Quecksilber angezogen und nach und nach sammelte sich das quecksilberhaltige Gold am Boden der Schüssel. Durch das Erhitzen des Gemisches verdampfte das Quecksilber und übrig blieb das reine Gold.

Dieses Verfahren wird seit der Antike bei der Goldgewinnung verwendet. Es ist einfach, aber hochgiftig für die Umwelt und Menschen. Manche Kinder in Mguzu hörten auf zu wachsen und erlitten lebenslange Behinderungen, genauso Babys, die durch ihre Mütter in der Schwangerschaft vergiftet wurden. Andere Kinder genauso wie Erwachsene zeigten verlangsamte Reaktionen und ihre Körper wirkten kränklich und schwach.

Im Goldgräbersumpf

Aber die auslaugende Arbeit war nicht alles, was das Leben in Mguzu schwer machte. Das Gold hatte auf viele Arbeiter eine magische Wirkung und zog sie in einen Bann aus Gier und Machthunger, der manche über Leichen gehen ließ. Ausbeutung, Schlägereien und Raub gehörten zur Tagesordnung und sogar Todschlag blieb nicht aus. Nach drei, spätestens fünf Jahren Arbeit in Mguzu waren die meisten körperlich und psychisch am Ende: vergiftet, verkrüppelt, süchtig oder traumatisiert.

Abends spielte sich das Leben am Guesthouse ab. An der Bar gab es massenweise billiges selbst gebrautes Bier. Die Männer rauchten Banghi, das dort angebaute Marihuana, oder schluckten Halluzinogene, die sie aus der giftigen Pflanze Stechapfel zusammengemischt hatten. Im Rausch waren sie unberechenbar. Sie wollten Raum und Zeit für ein paar Stunden vergessen, lagen wie ohnmächtig auf dem Boden. Bei manchen lösten die Drogen auch Panikattacken oder Psychosen aus. Viele Männer suchten nach Feierabend Ablenkung durch Sex. Neben dem körperlichen Bedürfnis waren sie hungrig nach Liebe und Zuneigung, auch wenn sie gekauft war.

Die Prostitution florierte in den Hütten des Guesthouses. Manche der Frauen waren in der Hoffnung auf Arbeit nach Mguzu gekommen, doch mussten feststellen, dass die Prostitution noch das Beste war, was es hier für sie gab. Nach Hause konnten sie nicht zurück, denn die Scham war groß, ohne Geld wiederzukommen, oder es fehlten die Mittel, um nach Hause zu fahren.

Auch Minderjährige arbeiteten hier. Sie waren von anderen Frauen, die schon länger hier lebten, von irgendwoher mitgebracht worden und schafften unter ihrer Fuchtel an. Viel Geld konnte hier keine Frau verdienen. Für ein paar Schilling mussten sie sich jedem anbieten. Ihre Körper waren ausgemergelt und ihre Haut war blass durch die Mangelernährung.

HIV griff ungehindert um sich. Babys kamen unterernährt und krank zur Welt. Immer wieder starben Mädchen und Frauen an Aids, aber niemand sprach offen darüber. Das Geschäft ging pausenlos weiter. Als ich davon erfuhr, konnte ich nicht tatenlos bleiben. Ich sprach mit den Frauen über die Krankheit und lud sie nach Geita ins Jugendzentrum ein. Manche von ihnen kamen.

Auch die kleine Kirchengemeinde, die sich sonntags traf und die alle Schichten in Mguzu repräsentierte, versuchte dem Elend etwas entgegenzusetzen. Sie unterhielt eine kleine soziale Einrichtung in der Nähe des Guesthouses und linderte für manche die größte Not durch Essensausgaben und Kleiderspenden. Auch andere Menschen in Mguzu oder in der Region wollten die Umstände der Menschen verbessern. Doch niemand konnte den größeren Rahmen wirklich verändern.

Mir ging es genauso. Nach einem heftigen Meningitisausbruch organisierte ich zusammen mit dem lokalen Krankenhaus eine große Impfaktion. Ich versuchte immer wieder durch einzelne Aktionen zu helfen, doch an der Gesamtsituation veränderte es nichts.

Das Elend saß nicht nur überall, es war auch tief verwurzelt. Mythen und Zauberei spielten eine wichtige Rolle für die Menschen. „Wenn du kein Gold findest, ist es gut, wenn unten etwas Lebendiges geopfert wird“, waren sie überzeugt. Unten am Berg wurden Hähne und andere Opfertiere gehalten. Wer eine Pechsträhne hatte, brachte ein Tier zum Schacht und schlachtete es dort. Je wertvoller und größer das Opfer war, desto größer sollte der Goldsegen werden. Wenn Menschen durch Unfälle im Stollen verunglückten, wurde ihr Tod von manchen deshalb als Glücksfall gedeutet. Mörderisch wurde es, wenn verunglückte Kinder gar nicht erst gerettet wurden, weil ihre Anführer den vermeintlichen Goldsegen nicht verpassen wollten.

Unfälle und einstürzende Stollen gab es wegen der wenigen Absicherungen in den Schächten und Stollen und bei schlechtem Wetter fast regelmäßig. Vier Jahre nach meinem ersten Besuch bei den Goldgräbern war ich gerade dort, als ein Stollen in etwa 30 Metern Entfernung einstürzte. Ich sah eine Staubwolke und hörte Geschrei von denen, die oben am Schacht waren. Alle drumherum kamen sofort angerannt. Ein Mann stieg schnell den Schacht hinab in das staubige „Etwas“ unter ihm. Ich weiß nicht mehr, wie lange er dort unten war. Es dauerte gefühlt eine halbe Ewigkeit bis der Mann nach oben rief: „Ich habe ihn!“ Dann zogen sie einen Jungen, dessen Körper zerschunden und dessen Gesicht von Todesangst verzerrt war, den Schacht herauf. Der Schock saß ihm in allen Gliedern. Seine Augen waren rot unterlaufen, seine Beine halb zerquetscht. Wie alt er war, weiß ich nicht, denn ich konnte nichts anderes sehen als seine Augen, die apathisch ins Leere starrten.

Dieses Erlebnis brachte auch in mir etwas zum Einsturz. Ich hatte viel Leid gesehen, doch jetzt wurde es unerträglich für mich. Konnte ich diesem Elend denn nichts entgegensetzen? Was würde den Menschen und vor allem den Kindern hier wirklich helfen? Wenn ich an den verschütteten Jungen denke, habe ich – bis heute – ein schlechtes Gewissen. Auch wenn ich damals nicht gewusst habe, was ich hätte tun können, irgendetwas hätte ich tun müssen, um ihn nicht weiterhin seinem Schicksal zu überlassen. Sein Gesicht sehe ich bis heute vor mir. Sein Leid hat auch meinem Herzen ein Quäntchen Leid zugefügt. Und das war mehr als genug, um mich nicht mehr in Ruhe zu lassen. Dieses Unrecht durfte nicht ungehindert weitergehen.

Was ist Sklaverei?

Die Beschäftigung von Kindern im Bergbau zählt nach internationalen Abkommen, die auch Tansania unterzeichnet hat, bis heute zu den schlimmsten Formen von Kinderarbeit. Über eine Millionen Kinder arbeiten laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weltweit in Minen und Steinbrüchen, die meisten von ihnen in abgelegenen Gebieten in kleinen, illegalen Minen, die nicht oder nur kaum kontrolliert werden. 20 Prozent des Goldangebots weltweit kommen aus solchen Minen. Eine Schätzung der Universität Manchester von 2017 ging davon aus, dass in Tansania über 30.000 Kinder in Goldminen arbeiten. Weit mehr Kinder sind auch in Burkina Faso, Mali und in der Demokratischen Republik Kongo betroffen.

Vor 30 Jahren habe ich die Situation der Kinder in Mguzu als schlimme Form von Kinderarbeit bezeichnet. Doch bald wurde mir deutlich, dass es um mehr ging: Dieses Unrecht war Sklaverei! Die Mehrheit der Kinder war ohne Familie in Mguzu und einem Boss hörig, der sie wie ein Werkzeug benutzte, um mit ihnen Geld zu verdienen. Sie waren sein Eigentum und mussten tun, was immer er sagte – ohne jede Rücksicht auf ihre Gesundheit, Bedürfnisse und ihr emotionales Wohlergehen. Der verschüttete und verletzte Junge musste nach zwei Stunden wieder in den eingestürzten Stollen hinabsteigen, um aufzuräumen. Sein Gesicht war immer noch erstarrt vor Angst.

„Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten“, heißt es in Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Sklaverei gilt weltweit als unrechtmäßig und unmoralisch. Doch wie viele Menschen dachte auch ich lange Zeit, dass dieses Problem der Vergangenheit angehört. Der Sklavenhandel war doch seit dem 18. und 19. Jahrhundert abgeschafft und nur noch ein Thema für den Geschichtsunterricht. Über Sklaverei zu sprechen, galt als politisch inkorrekt und in den 1990er-Jahren fehlte jeder öffentliche Diskurs dazu.

Mit dem Thema Sklaverei ging es mir lange Zeit ähnlich wie mit einem Chamäleon, das sich zu Beginn unserer Zeit in Geita in unser Wohnzimmer verirrt hatte. Unsere Kinder waren begeistert von dem Tier, das sich perfekt an seine Umgebung anpassen konnte und somit fast unsichtbar wurde. Sklaverei ist ebenso wandelbar und anpassungsfähig in ihren hässlichen, grauenvollen Fratzen, versteckt in dunklen Ecken und Nischen oder gut getarnt inmitten des öffentlichen Lebens und globalen Handels. So existiert Sklaverei heutzutage nicht nur immer noch, sondern ist verbreiteter als je zuvor.

Es ist schwierig zu schätzen, wie viele Menschen aktuell in Sklaverei festgehalten werden. Die ILO ging 2017 mit der Walk Free Foundation sowie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) von 40,3 Millionen Menschen in Sklaverei weltweit aus. Zehn Millionen von ihnen sind Kinder. Für sie ist Sklaverei nicht nur eine Realität, sondern ihre größte Not. Sie sind Billigware und jederzeit ersetzbar.

Ausbeutung, Missbrauch, Gewalt, Gefangennahme, Hunger, Isolation und bittere Verzweiflung sind ihr Alltag. Sie schuften in Fabriken, in der Landwirtschaft, auf Baustellen, in Haushalten und Dienstleistungsbranchen oder werden sexuell ausgebeutet. Für ihre Ausbeuterinnen und Ausbeuter ist Sklaverei ein lukratives Geschäft, das nicht gefährdet werden darf und unter Einsatz von Gewalt geschützt wird. Denn mit versklavten Menschen kann ständig neuer Gewinn gemacht werden, im Gegensatz zu Waffen oder Drogen, die sich nur einmal verkaufen lassen.

Die Kinder in Mguzu waren aufgrund von bitterer Armut und verzweifelten Umständen zu den Goldgräbern gekommen oder dorthin gebracht worden. Armut gilt überall auf der Welt als Hauptursache für Kinderarbeit und für die Gefahr, in ausbeuterische Verhältnisse und Sklaverei zu geraten.

Ausbeutung und Sklaverei haben viel gemeinsam, doch nicht jede Ausbeutung ist auch Sklaverei. Eine Person, deren Arbeitskraft ausgebeutet wird, kann dieses Arbeitsverhältnis theoretisch jederzeit verlassen. Bei schweren Formen von Arbeitsausbeutung ist der Übergang zu Sklaverei jedoch fließend. Sklaverei meint die willentliche und systematische Ausbeutung eines Menschen, um Profit zu machen. Betroffenen werden alle Rechte abgesprochen. Sie gelten als Eigentum eines anderen Menschen und werden wie Ware benutzt, verkauft und weggeschmissen, wenn sie nicht mehr funktionieren. Ihre Not nutzen Kriminelle gezielt aus, indem sie sie anfangs täuschen und ihnen zum Beispiel dringend benötigte Kredite anbieten, gute Arbeit oder andere Hilfe versprechen. Die Betroffenen werden durch Gewalt oder Bedrohung festgehalten und können sich kaum oder gar nicht aus ihrer Lage befreien. Die Flucht ist lebensgefährlich. So definieren die Vereinten Nationen (UN) Sklaverei im Jahr 2000 als „Trafficking“ im so genannten Palermo-Protokoll.

Worum es wirklich ging

Ein, zwei Jahre nach dem Einsturz des Jungen in Mguzu, besuchte ich einen Freund und Kollegen von mir in Mwanza, Tansanias zweitgrößter Stadt 60 Kilometer von Geita entfernt. Er leitete das Straßenkinderprojekt Kuleana und erzählte mir, dass die meisten Kinder auf der Straße aus der Region Geita gekommen waren. Sie hatten bei Goldgräbern gearbeitet und die Flucht geschafft. In Mwanza war das Leben keinesfalls einfach, die Kinder aßen aus Mülltonnen und schliefen unter Brücken, doch alles war besser, als noch länger für einen brutalen Anführer zu schuften. Hier waren sie frei.

Ich blieb im engen Kontakt mit der Arbeit in Mwanza. Wir beobachteten, dass auch von dort aus Straßenkinder in die Goldregionen rund um Geita verschwanden. Sie waren leichte Beute für Menschenhändlerinnen und Menschenhändler, denn sie mussten den heimatlosen Kindern nicht viel versprechen, damit sie ihnen folgten.