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Beim derzeitigen Streit um die gesellschaftliche und politische Ordnung, die wir haben und die wir wollen, spielt Autorität eine zentrale Rolle: Während die Autorität von Wissenschaft, Eliten und Experten enorm unter Beschuss steht, gibt es starke populistisch-konservative Bestrebungen, traditionelle autoritäre Strukturen zurückzugewinnen oder neu zu errichten. Mag sich die Moderne also die Abschaffung der alten Autoritäten auf die Fahnen geschrieben haben: Sie kehren wieder. Offenkundig haben Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach ihnen, bieten sie doch Orientierung und nehmen Entscheidungen ab. Catherine Newmark hinterfragt unser ambivalentes Verhältnis zu denjenigen, die mehr Wissen, Erfahrung, Macht und Verantwortung haben als wir selbst. Am Ende lautet die entscheidende Frage für sie nicht so sehr, ob wir auf Autoritäten hören sollten. Wir sollten uns vielmehr sehr gut überlegen, auf welche.
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Seitenzahl: 102
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Warum auf Autoritäten hören? Das scheint auf den ersten Blick eine ganz und gar altmodische Frage zu sein, eine Ermutigung für Ewiggestrige mit reaktionären Sehnsüchten nach hierarchischen Weltordnungen. Wozu haben wir denn Jahrzehnte, ja Jahrhunderte der Autoritätskritik hinter uns? Ist nicht die egalitäre Gesellschaft, in der zumindest theoretisch alle die gleichen Rechte haben, eine der größten Errungenschaften der Moderne? Institutionen wie die katholische Kirche mögen noch einem starken Begriff von Autorität anhängen – im Einklang mit ihren nach wie vor explizit antimodernen, ja die Moderne entschieden bekämpfenden Überzeugungen. Aber im Großen und Ganzen ist die Autorität in den westlichen Gesellschaften spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in Verruf geraten. Schon in den 1950er-Jahren betitelte die Philosophin Hannah Arendt einen Aufsatz mit »What Was Authority?«1, als sei Autorität definitiv ein Ding der Vergangenheit. Und der Schlag, den die emanzipatorischen Bewegungen ab den 1960er-Jahren – von den 68ern über die Frauenbewegung, die sexuelle Befreiung bis zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den antikolonialen Kämpfen – der Vorstellung von legitimen und notwendigen autoritären und hierarchischen Verhältnissen versetzt haben, hätte kaum härter ausfallen können.
Die Reichweite des Kulturwandels der letzten Jahrzehnte ist schwer zu überschätzen; der Niedergang der Autorität beginnt freilich schon viel früher. Bei Lichte besehen gehört Kritik an Autorität und Autoritäten zum Standardrepertoire der öffentlichen Debatte seit Beginn der Neuzeit. Ja, das Projekt der Moderne kann insgesamt als Versuch gesehen werden, an die Stelle einer hierarchischen, auf Autorität gegründeten Ordnung eine egalitäre Ordnung von freien Individuen zu setzen.
Und doch erlebt Autorität gerade wieder ein Comeback: in reaktionären und rechten Bewegungen, die gerne zu »traditionellen«, vormodernen Formen der Gesellschaft zurückfinden würden; in autoritären politischen Stilen – von Putin bis Erdoğan –, bei denen Bilder des starken Mannes inszeniert werden; und nicht zuletzt im die westliche Welt überziehenden »autoritären Populismus«.
Welche Sehnsüchte werden damit bedient, welche Bedürfnisse befriedigt? Auf welche Verwerfungen und Probleme moderner Gesellschaften weisen diese Bewegungen hin? Und was genau ist die Autorität, die da wieder Urständ feiert und von den einen so heftig gefordert, von den anderen so heftig bekämpft wird?
Und wie hängt diese Rückkehr der Autorität umgekehrt zusammen mit einem gleichzeitig mit Sorge beobachteten Vertrauensverlust in Politik, Wissenschaft, Medien, der auch ein Verlust der Autorität dieser Institutionen ist?
»Autorität« ist sicherlich ein schillernder, changierender, nicht leicht festzunagelnder Begriff, das »begrifflich am schwersten zu fassende Phänomen und daher das am meisten missbrauchte Wort«, wie schon Hannah Arendt schreibt.2 Einerseits klingt darin das Autoritäre an, die Vorstellung von missbräuchlicher Herrschaft, und andererseits die Idee einer liebevollen Führung, der man sich anvertraut und die Verantwortung übernimmt. Was wir unter Autorität verstehen, hängt folglich auch davon ab, welche Bilder wir uns von ihr machen. Sehen wir vor uns eher den Sultan in voller Amtspracht (so eine der berühmteren populistischen Inszenierungen von Präsident Erdoğan der letzten Jahre) oder die Mutter, die liebevoll und fürsorglich, aber konsequent ihre Kinder erzieht?
Wenn man es historisch betrachtet, so sind das Private und das Politische bei der Autorität immer schon eng verwoben. Das abendländische Nachdenken über Herrschaft und Autorität ist durchzogen von seltsamen Metaphern, die das Herrschen und Beherrschtwerden begrifflich als ein Verhältnis von Vater und Kindern auffassen. Gott, König und Vater sind die Figuren, die klassischerweise Autorität haben – über die Welt, die Untertanen und die ganze Familie, inklusive Ehefrau.
Für die jüngere Gegenwart dürfte Erziehung das Feld sein, auf dem die Debatte über Autorität am explizitesten geführt wurde, eine Debatte, die zumindest meiner bescheidenen Erfahrung nach weiterhin als ungeklärt und unabgeschlossen angesehen werden muss.
Die Frage nach unserem Verhältnis zu Autorität und Autoritäten reicht aber auch heute weit darüber hinaus. Die Vorstellungen, die wir uns vom Führen und Geführtwerden machen, davon, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und Verantwortung abzugeben, überspannen noch immer die verschiedensten Bereiche und reichen vom Politischen über die Wissenschaft, die Arbeitswelt und die Gesellschaft im Allgemeinen bis hin zur Frage nach der Geschlechterbeziehung und eben derjenigen nach der Kindererziehung.
Trotz all der historisch wohletablierten Kritik an Autoritäten: Wir sind mit der Autorität allem Anschein nach noch lange nicht fertig.
Dieser Essay wird sicher kein Aufruf, man möge doch bitte zu einer irgendwie gearteten »guten alten« Autorität zurückkehren. Es geht mir vielmehr darum, darüber nachzudenken, was Autorität einmal war, was sie heute ist – und was sie sein könnte oder sollte. Die Frage, warum wir auf Autoritäten hören sollten, lässt sich nur beantworten, wenn wir vorher klären, was für Autoritäten es gibt, welchen wir uns anvertrauen können – und welchen wir misstrauen sollten.
Szene im Hotel. Gutbürgerlicher Frühstücksraum. Ein sehr nett aussehendes junges Paar mit zwei entzückenden Mädchen im süßesten Kleinkindalter. Alles wirkt wohlerzogen und wohlanständig, die Kinder sind offen, aber nicht vorlaut, sie freuen sich sehr darüber, »Guten Morgen« zu sagen zu fremden Erwachsenen, die sie anlächeln. Mein Mutterherz ist beglückt (wenn auch nicht ganz so beglückt wie über die Tatsache, dass ich zwei kinderfreie Tage in diesem Hotel verbringen darf). Die Eltern wirken entspannt, aber mein geübter Blick – auch meine Kinder waren einmal entzückend, und auch ich hielt mich gelegentlich mit ihnen in öffentlichen Räumen auf, in denen gemeinhin gepflegte Stille herrscht – meint, eine kleine Anspannung erkennen zu können, die in ihrer Körpersprache mitschwingt. Sie trauen der Situation nicht ganz – weil sie es nicht können. Es kommt zu keinem Trotzanfall, zu keinem Rumgerenne oder Gekreische. Alles läuft glimpflich ab. Und doch sind sie während der knappen halben Stunde, in der ich sie wahrnehme, permanent damit beschäftigt, die kleinen Anarchisten in Schach zu halten. Kinderstimmen werden unweigerlich laut, ob aus Empörung über das falsche Joghurt oder aus Begeisterung über das richtige. Immer muss man Lautstärke dämpfend auf die Kleinen einwirken, eine emotionale Situation entschärfen, die unkontrollierte Bewegung eines Ärmchens schnell abfangen. Bevor sie von der Schule in jenes still sitzende Leben eintrainiert werden, das uns alle später ungesund und zu dick machen wird, haben Kinder offensichtlich von Natur aus einen kaum zu unterdrückenden Hang zu Bewegung und Lautstärke. Und nun, angesichts dieses so vorbildlichen wie doch leicht nervösen Familienidylls, dessen Zeugin ich bin, frage ich mich, wie man jemals erfolgreich das früher standardmäßig erwartete Modell des »artigen Kindes« hergestellt hat. Das Kind, das man sieht, aber nicht hört, wie noch mein eigener Vater gerne sagte, auch wenn das schon zu unserer Zeit eher frommer Wunsch denn Realität war.
Die offensichtlichste Antwort lautet natürlich: durch jede Menge Zwang und Gewalt. Durch traditionelle schwarze Pädagogik mit ihrem gesamten Repertoire an Einschüchterung, emotionaler Erpressung und Manipulation – und Prügelstrafen. Und zumindest in den klassischen Oberschichten, denen »artige« Kinder besonders wichtig waren, sicherlich auch durch gezielte emotionale Distanzierung – und räumliche Trennung. Die ikonische Dowager Countess of Grantham bringt diese Strategie in einer Szene der britischen Fernsehserie Downton Abbey schön auf den Punkt. Seufzend erinnert sie sich an die »on-and-on-ness«, das Nie-Aufhörende, des Elternseins. Ihre kritische Gesprächspartnerin weist sie darauf hin, sie habe ihre Kinder doch wohl sowieso nur – von einem Heer an Kindermädchen und Gouvernanten frisch gewaschen und gestriegelt – einmal am Tag für eine Stunde nach dem Nachmittagstee gesehen. Woraufhin Lady Grantham, ohne mit der Wimper zu zucken, entgegnet: »Yes … – but it was an hour every day.«
Gesamtgesellschaftlich sind wir von der schwarzen Pädagogik ebenso wie vom streng abgetrennten Kinderbereich meilenweit weggekommen. (Auch wenn man sich fragen kann, ob das Ruhigstellen durch elektronische Medien, vom klassischen häuslichen Fernseher bis zum Handyspiel, das auch unterwegs funktioniert, nicht ähnliche Funktionen erfüllt wie das ehemals streng abgetrennte Kinderzimmer.) Aber um zu erklären, dass heutige Kinder eben nicht mehr artig in dem Sinne sind, wie ich es als Kind noch in den unsäglichen Mädchen-Jugendbüchern aus dem frühen 20. Jahrhundert gelesen habe, die aus mir nicht mehr ganz erklärlichen Gründen in den Buchbeständen meiner Familie überlebt hatten, reicht die Feststellung, dass sich der Umgang von Eltern mit ihren Kindern geändert hat, nicht vollständig aus. Dazu genügt ein vergleichender Blick in die jeweiligen Epochen selbst. Auch vor hundert Jahren haben nicht alle Eltern ihre Kinder pausenlos verprügelt und ihnen Privilegien – oder gleich ihre Liebe – entzogen, wenn sie bei Tisch nicht gerade saßen oder eine schlechte Note mit nach Hause brachten; und auch heute gibt es ganz unterschiedlich strenge Eltern.
Ein enger Kindheitsfreund von mir beispielsweise lebt schon länger in Frankreich und hat mit einer Französin zusammen eine Familie gegründet. Auf eine für mich und die meisten anderen aus unserem Freundeskreis höchst befremdliche Weise war es für ihn und seine Frau selbstverständlich, ihre Babys schreien zu lassen, bis sie von selbst gut durchschliefen, oder auch, später, ihnen gelegentlich den Hintern zu versohlen. Frankreich hat, dies am Rande, erst Ende 2018 – gegen großen Widerstand in der Bevölkerung – beschlossen, die Prügelstrafe gesetzlich zu verbieten.3 Deutschland tat dies im Jahr 2000 – also historisch gesehen auch vor noch nicht allzu langer Zeit. Ein international vergleichender Blick auf die jeweiligen rechtlichen Regelungen und auch auf die kulturelle Selbstverständlichkeit oder aber Ächtung von elterlichen Ohrfeigen und sonstigen Schlägen ist im Übrigen ein faszinierendes Thema und lässt erhebliche regionale Unterschiede zutage treten. Das von der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 bestimmte Recht auf gewaltfreie Erziehung hat sich jedenfalls durchaus noch nicht überall durchgesetzt. Und auch in Ländern, in denen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Prügelstrafe klar und mit innerer Überzeugung ablehnt, wie es in Deutschland der Fall ist, gibt es nicht nur unkontrollierte Ausrutscher, sondern auch ideologische Gegenstimmen, die sich weiterhin für ein elterliches Züchtigungsrecht aussprechen.
Aber zurück zu meinem Kindheitsfreund, mit dem ich ungeachtet unserer unversöhnlichen pädagogischen Differenzen nach wie vor ein herzliches Verhältnis pflege, wie man es eben mit Kindheitsfreunden so tut; dessen Frau ich elegant und kompetent finde, wie es bei Französinnen eben oft der Fall ist; und dessen streng erzogene, tadellos schlafende und überhaupt rundum reizende Kinder vor allem durch ihren widerspruchslosen Konsum von fast jeglicher Kombination von Gemüse und Soße gelegentlich ein vages Gefühl von Neid bei mir auslösen. Zumal mit Blick auf meine eigenen, auf nackte Nudeln spezialisierten Kinder. Still und heimlich frage ich mich sogar gelegentlich, ob nicht dieses viel »traditionellere« französische Modell auch seine Vorteile habe – ein Gedanke, den ich dann immer schnell wieder unterdrücke.
Wie überrascht war ich demnach, als besagter Freund vor einiger Zeit selbst auf das Thema Kindererziehung zu sprechen kam, das ich mit ihm sonst eher zu vermeiden suche, denn wo die Gegensätze unüberbrückbar sind, da hilft nur beherztes Beschweigen. Jedenfalls teilte er mir seine eigene verwunderte Beobachtung mit, dass unser beider Kinder heutzutage mit uns in einem respektlosen Tonfall sprächen, wie wir es in unserer Kindheit nie gewagt hätten.
Nun stammen wir beide aus einem Jahrgang Mitte der 70er-Jahre, und sowohl seine als auch meine Eltern orientierten sich an den in diesem Jahrzehnt so intensiv diskutierten alternativen Erziehungsidealen – unsere Freundschaft verdankt sich immerhin dem gemeinsamen Besuch einer Waldorfschule. Auf Artigkeit gedrillte Kinder im Sinne früherer Zeiten waren wir beide schon längst nicht mehr. Vielmehr wurde auch bei uns der Akzent klar auf persönliche Entfaltung und freie Erziehung gelegt. Und doch teile ich seine Beobachtung, was unsere Kinder angeht.
So etwas wie »Respekt« scheint auch mir nicht zu ihrem basalen Verhaltensrepertoire zu gehören. Sie sind je nachdem höflich oder trotzig, kooperativ oder widerborstig, angenehm oder anstrengend. Vom Wissens- und Erfahrungsvorsprung ihrer Eltern und anderer Erwachsener sind sie allenfalls noch auf pragmatische Weise beeindruckt. Eher denn als Respektspersonen scheinen sie uns als praktische Instrumente für die Umsetzung eigener Projekte zu sehen, zu denen sie motorisch oder intellektuell noch nicht in der Lage sind. »Ausziehen«, bedeutete mir einmal ein Knirps in unserem Kinderladen, den ich kaum kannte, der aber offensichtlich gerade für das Vorhaben, sich seines Pullis zu entledigen, einen verfügbaren Feinmotoriker suchte.
Was unsere Kinder nicht gewohnt sind, ist das fraglose Gehorchen. Was sie kaum kennen, ist der schlichte Befehl. Ein »Weil ich es dir sage« zieht bei ihnen fast gar nicht, denn in ihrer Welt ist es üblich, dass man ihnen Dinge erklärt und nicht einfach ansagt. Womit sie vertraut sind, ist nicht die Logik der Überordnung und Unterordnung, sondern diejenige des vernünftigen Kommunizierens. Auch wenn sie das natürlich je nach Bedarf durchaus eigenwillig einsetzen. »Ich bestimme über meinen Körper«, erklärt mir meine Fünfjährige entschieden, als ich ihr ebenso entschieden sage, dass sie