Warum Liebe weh tut - Eva Illouz - E-Book

Warum Liebe weh tut E-Book

Eva Illouz

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  • Herausgeber: Suhrkamp
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Warum tut Liebe weh, jedenfalls gelegentlich? Was fasziniert uns noch heute an Figuren wie Emma Bovary oder Heathcliff und Catherine, den unglücklich Liebenden aus Emily Brontës »Sturmhöhe«? Und vor allem: Was unterscheidet uns von ihnen? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Liebeskummer zu Zeiten Jane Austens und der Art und Weise, wie wir ihn heute erfahren und damit umgehen? »Ja«, sagt Eva Illouz, die Meisterin der soziologischen Analyse der Gefühlswelt moderner Menschen, und widmet sich in ihrem neuen Buch der Schattenseite der Liebe. Sie zeigt, inwiefern der Liebesschmerz wesentlich von den gesellschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Zeit geprägt wird und keineswegs ein rein individuelles Problem ist, wie uns etwa Beziehungsratgeber weismachen wollen. Das Leiden an der Liebe ist ein soziologisches Phänomen, das Illouz untersucht wie einst Marx die Ware im Kapitalismus: in Begriffen des Tauschs zwischen ungleichen Marktteilnehmern. In sechs Kapiteln entfaltet sie die Ursachen zeitgenössischen Liebesleidens sowie die Spezifika des heutigen Umgangs mit Beziehungskrisen. Die digitalen Heiratsmärkte spielen dabei ebenso eine Rolle wie die neuen Mechanismen der Partnerwahl und der strategische Umgang mit der romantischen Vorstellungskraft. Nach den großen Erfolgen von »Der Konsum der Romantik«, »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« und »Die Errettung der modernen Seele« schreibt Eva Illouz ihre faszinierende Soziologie des modernen Menschen fort, die immer auch kritische Bestandsaufnahme der Zeit ist, in der wir leben.

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Seitenzahl: 650

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Warum tut Liebe weh, jedenfalls gelegentlich? Was fasziniert uns noch heute an Figuren wie Emma Bovary oder den unglücklich Liebenden aus Emily Brontës Sturmhöhe? Aber vor allem: Was unterscheidet uns von ihnen? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Liebeskummer zu Zeiten Jane Austens und der Art und Weise, wie wir ihn heute erfahren und damit umgehen? Wie fühlt sie sich an, die Liebe in Zeiten des Internet?

»Über Liebe wird man nicht mehr diskutieren können, ohne sich auf dieses Buch zu beziehen.« Die Zeit

Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Zuletzt erschienen: Die Errettung der modernen Seele (2009 und stw 1997), Gefühle in Zeiten des Kapitalismus (stw 1857) und Der Konsum der Romantik (stw 1858).

Eva Illouz

Warum Liebe

weh tut

Eine soziologische Erklärung

Aus dem Englischen von

Michael Adrian

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an

eBook Suhrkamp Verlag 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-75430-6

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung: Das Elend der Liebe

Was ist die Moderne?

Die Liebe in der Moderne, die Liebe als Moderne

Warum wir die Soziologie brauchen

Soziologie und psychisches Leid

1.Die große Transformation der Liebe oder die Entstehung von Heiratsmärkten

Der Charakter und die moralische Ökologie der romantischen Wahl

Die große Transformation der romantischen Ökologie: Die Entstehung von Heiratsmärkten

Schluß

2. Die Angst, sich zu binden, und die neue Architektur der romantischen Wahl (mit Mattan Shachak)

Von der weiblichen Zurückhaltung zur männlichen Distanziertheit

Männlichkeit und der Niedergang der Verbindlichkeit

Die Dynamik der weiblichen Exklusivität

Hedonistische Bindungsangst

Willenlose Bindungsangst

Die neue Architektur der romantischen Wahl oder die Desorganisation des Willens

Das Halten von Versprechen und die Architektur der modernen Wahl

Sexuelles Übermaß und emotionale Ungleichheiten

Schluß

63. Das Verlangen nach Anerkennung: Liebe und die Verletzlichkeit des Selbst

Warum Liebe guttut

Von der Anerkennung der Klasse zur Anerkennung des Selbst

Anerkennung und ontologische Unsicherheit in der Moderne

Anerkennung versus Autonomie

Von der Eigenliebe zur Selbstbeschuldigung

Die moralische Struktur der Selbstbeschuldigung

Schluß

4. Liebe, Vernunft, Ironie

Verzauberte Liebe

Die Verwandlung der Liebe in eine Wissenschaft

Politische Emanzipation als Rationalisierung

Technologien der Wahl

Eros, Ironie

Schluß

5. Von der romantischen Phantasie zur Enttäuschung

Einbildungskraft, Liebe

Fiktionale Gefühle

Enttäuschung als kulturelle Praxis

Die Einbildungskraft und das Internet

Begehren als Selbstzweck

Schluß

Epilog

Danksagung

Literaturverzeichnis

7Lesen soll mich das Mädchen, das, sieht’s den Verlobten, nicht kalt bleibt,

Und der Knabe, den Lust anrührt, von der er nichts weiß.

Irgendein Jüngling, wie ich jetzt vom Bogen verwundet, erkenne

Jene Symptome, die ihm anzeigen eigene Glut,

Wundre sich lange und rufe: »Belehrt von welchem Verräter

Schrieb der Dichter da auf, was mir grad selbst widerfuhr?«

– Ovid

9Einleitung: Das Elend der Liebe

Doch diese Segnungen der Liebe sind selten: Zur Zeit kommen auf jede befriedigende Liebesbeziehung, auf jede kurze Zeit der Bereicherung, zehn niederschmetternde Liebeserfahrungen, gefolgt von lang anhaltenden »Tiefs« voller Liebeskummer, die häufig zur Zerstörung der Betroffenen führen oder zumindest einen emotionalen Zynismus auslösen, der es schwer oder unmöglich macht, je wieder zu lieben. Weshalb ist das so, wenn es nicht zwangsläufig im Prozeß der Liebe mit enthalten ist?

– Shulamith Firestone*

Heathcliff und Catherine sind die berühmt-berüchtigten Helden von Sturmhöhe, einem Roman aus jener langen literarischen Tradition, in der die Liebe als ein quälend schmerzhaftes Gefühl beschrieben wird.[1] Trotz der großen Liebe, die Heathcliff und Catherine füreinander entwickelten, während sie zusammen aufwuchsen, entscheidet sich Catherine, Edgar Linton zu heiraten, einen gesellschaftlich angemesseneren Partner. Als Heathcliff zufällig mithört, wie Catherine erklärt, eine Ehe mit ihm wäre unter ihrer Würde, nimmt er gedemütigt Reißaus. Catherine sucht ihn in den Feldern und wird, als sie ihn nicht findet, todsterbenskrank.

Madame Bovary ist die berühmt-berüchtigte Heldin des gleichnamigen Romans, der auf weitaus ironischere Weise die unglückliche Ehe einer romantischen Frau mit einem zwar gutmütigen, aber recht durchschnittlichen Provinzarzt beschreibt. Diesem ist es nicht gegeben, die romanhaften 10und gesellschaftlichen Phantasien seiner Frau zu befriedigen. Emma glaubt, den romantischen Helden, von dem sie so häufig las und träumte, in der Gestalt Rodolphe Boulangers, eines schneidigen Grundeigentümers, gefunden zu haben. Nach einer dreijährigen Affäre beschließen die beiden, miteinander durchzubrennen. An dem verhängnisvollen Tag jedoch erhält sie einen Brief von Rodolphe, mit dem dieser sein Versprechen bricht. Obwohl der Erzähler die romantischen Gefühle seiner Heldin zumeist ironisch schildert, beschreibt er Emmas Schmerz hier voller Mitgefühl:

Emma lehnte sich an das Fensterkreuz und las den Brief mit zornverzerrtem Gesicht immer wieder von neuem. Aber je gründlicher sie ihn studierte, um so wirrer wurden ihre Gedanken. Im Geist sah sie den Geliebten, hörte ihn reden, zog ihn leidenschaftlich an sich. Das Herz schlug ihr in der Brust wie mit wuchtigen Hammerschlägen, die immer rascher und unregelmäßiger wurden. Ihre Augen irrten im Kreise. Sie fühlte den Wunsch in sich, daß die ganze Welt zusammenstürze. Wozu weiterleben? Wer hinderte sie, ein Ende zu machen, sie, die Vogelfreie?

Sie bog sich weit aus dem Fenster hinaus und starrte hinab auf das Straßenpflaster.

»Mut, Mut!« rief sie sich zu.[2]

So extrem er auch ist, ist uns Catherines und Emmas Schmerz immer noch verständlich. Wie das vorliegende Buch jedoch zeigen möchte, haben sich die Liebesqualen, wie sie diese beiden Frauen erleben, im Laufe der Zeit in Inhalt, Färbung und Struktur verändert. Zum einen ist der Widerspruch zwischen Gesellschaft und Liebe, den beide Romanheldinnen in ihrem Leiden austragen, kaum noch von Bedeutung. Es gäbe heute wohl keine nennenswerten ökonomischen Hürden oder normativen Verbote, die Catherine oder Emma daran hinderten, ihre Liebe zum ersten und einzigen Kriterium ihrer Wahl zu machen. Im Gegenteil, unser heutiges Verständnis von Angemessenheit würde von uns verlangen, 11dem Diktat unseres Herzens zu folgen und nicht unserem sozialen Milieu. Zweitens würde eine zögerliche Catherine oder eine in ihrer leidenschaftslosen Ehe gefangene Emma nicht mehr erkranken, durchbrennen oder dem Tode verfallen, sondern durch eine ganze Batterie von Experten gerettet werden: Psychologische Berater, Paartherapeuten, Scheidungsanwälte und Schlichtungsexperten nähmen sich der privaten Dilemmata zukünftiger oder gelangweilter Ehefrauen an und befänden über sie. Ohne die (oder ergänzend zur) Hilfe der Experten würde eine Emma oder Catherine unserer Tage das Geheimnis ihrer Liebe mit anderen teilen, wohl am ehesten mit Freundinnen, zumindest aber mit anonymen Gelegenheitsbekanntschaften aus dem Internet, was die Einsamkeit ihrer Leidenschaft um einiges lindern würde. Ein dichter Strom von Worten, Selbstanalysen und freundschaftlichem oder fachmännischem Rat träte zwischen ihr Verlangen und ihre Verzweiflung. Und schließlich wäre eine zeitgenössische Catherine oder Emma vielleicht am Boden zerstört vor Enttäuschung, aber wohl kaum mehr dem Tode nahe oder drauf und dran, Selbstmord zu begehen. Sie würde vielmehr eine Menge Zeit darauf verwenden, nachzudenken und mit Freunden und Fachleuten über ihren Schmerz zu sprechen, würde dessen Ursachen wahrscheinlich auf ihre eigene defizitäre Kindheit (oder die ihrer Liebhaber) zurückführen und wäre darüber hinaus ein wenig stolz, nicht auf ihre leidvolle Erfahrung, sondern genau darauf, mittels einer ganzen Batterie von Selbsthilfetechniken über sie hinweggekommen zu sein. Das moderne Liebesleid zieht einen nahezu endlosen Kommentar nach sich, dessen Zweck darin besteht, seine Ursachen zu verstehen und mit den Wurzeln auszureißen. Zu sterben, Selbstmord zu verüben oder ins Kloster zu gehen, zählt nicht mehr zu unseren kulturellen Repertoires und schon gar nicht mehr zu denen, auf die wir stolz sind. Damit ist natürlich nicht gemeint, daß wir »Post-« oder »Spätmodernen« nichts von den Qualen 12der Liebe wüßten. Ja, wir wissen vielleicht sogar mehr über sie als unsere Vorgängerinnen und Vorgänger. Sehr wohl ist damit aber die Behauptung verbunden, daß sich die soziale Organisation des Liebesleids tiefgreifend verändert hat. Das vorliegende Buch widmet sich dem Versuch, die Natur dieses Wandels zu verstehen.

Tatsächlich dürften die mit Intimbeziehungen verbundenen Qualen in unserer Zeit nur den wenigsten erspart geblieben sein. Diese Qualen erleiden wir in vielerlei Gestalt: sei es, daß wir auf der Suche nach dem Märchenprinzen/der Märchenprinzessin zu viele Frösche küssen, daß wir uns der Sisyphusarbeit der Partnersuche im Internet unterziehen oder daß wir einsam von Barbesuchen, Partys und Blind Dates nach Hause kommen. Kommen dann einmal Beziehungen zustande, ist es mit den Qualen nicht vorbei, insofern man in diesen Beziehungen gelangweilt, verängstigt oder wütend werden kann, schmerzhafte Auseinandersetzungen und Konflikte durchzustehen hat, ja vielleicht am Ende die Bestürzung, Selbstzweifel und Depressionen ertragen muß, die mit Trennungen und Scheidungen einhergehen können. Und dies sind nur einige der Möglichkeiten, warum die Suche nach Liebe für die allermeisten modernen Männer und Frauen eine quälend schwierige Erfahrung ist. Könnte die Soziologin die Stimmen der Menschen hören, die nach Liebe suchen, dann vernähme sie eine lange und laute Litanei des Jammerns und Stöhnens.

Obwohl diese Erfahrungen so weit verbreitet, ja nahezu kollektiven Charakters sind, beharrt unsere Kultur darauf, daß sie eine Folge gestörter oder unreifer Psychen darstellen. Unzählige Selbsthilfeleitfäden und -workshops wollen uns dabei helfen, unser Liebesleben besser in den Griff zu bekommen, indem sie uns auf die vielen verborgenen Weisen aufmerksam machen, wie wir unbewußt unsere eigenen Niederlagen herbeiführen. Die Freudsche Kultur, von der wir durchdrungen sind, hat die wirkmächtige Behauptung 13aufgestellt, daß sexuelle Anziehungskraft am besten durch unsere vergangenen Erfahrungen zu erklären sei und die je eigene Liebespräferenz sich früh im Leben im Verhältnis zwischen dem Kind und seinen Eltern ausbilde. Für viele bietet die Freudsche These, der zufolge die Familie das Muster des erotischen Lebenswegs zuschneidet, die Haupterklärung dafür, warum und wie wir dabei scheitern, unsere Liebe zu finden oder zu bewahren. Unbekümmert um logische Inkonsistenz, vertritt die Freudsche Kultur darüber hinaus sogar, daß unsere Partner, ob sie unseren Eltern ähnlich sind oder nicht, ein unmittelbares Spiegelbild unserer Kindheitserfahrungen darstellen – die ja ihrerseits der Schlüssel sein sollen, mit dessen Hilfe unser romantisches Schicksal zu erklären ist. Mit der Idee des Wiederholungszwangs ging Freud noch einen Schritt weiter und argumentierte, daß frühkindliche Verlusterlebnisse, wie schmerzlich auch immer sie waren, das ganze Erwachsenenleben über wiederholt werden, um sie auf diese Weise bewältigen zu können. Diese Idee hatte einen gewaltigen Einfluß auf die allgemeine Auffassung und Behandlung des Liebeselends, indem sie es zu einer heilsamen Dimension des Reifeprozesses erklärte. Mehr noch: Die Freudsche Kultur legt nahe, daß das Liebeselend im großen und ganzen unvermeidlich und selbstverschuldet sei.

Insbesondere die klinische Psychologie war dafür verantwortlich, die Idee in den Raum zu stellen (und ihr wissenschaftliche Legitimität zu verleihen), die Liebe und ihr Scheitern seien durch die seelische Geschichte des Individuums zu erklären und unterlägen folglich auch dessen Kontrolle. Obwohl der ursprüngliche Begriff des Unbewußten darauf ausgerichtet war, traditionelle, gleichsam von einem allwissenden Erzähler ausgehende Modelle von Verantwortung aufzulösen, trug die Psychologie entscheidend dazu bei, den Bereich des Romantischen und Erotischen in die private Verantwortung des Individuums zu verbannen. Ob 14beabsichtigt oder nicht, stellten Psychoanalyse und Psychotherapie ein respekteinflößendes Arsenal von Techniken bereit, mit denen die Individuen zwar eloquent zum Sprechen gebracht, aber auch unweigerlich für ihr Liebesleiden selbst verantwortlich gemacht wurden.

Die Vorstellung, das romantische Elend sei hausgemacht, hat im Laufe des 20. Jahrhunderts einen geradezu unheimlichen Siegeszug erlebt, vielleicht, weil die Psychologie gleichzeitig das tröstliche Versprechen abgab, es könne überwunden werden. Schmerzvolle Liebeserlebnisse wurden zum Gegenstand endloser psychologischer Kommentare und zu einer beeindruckend starken Triebfeder, die eine ganze Batterie von Experten (Psychoanalytiker, Psychologen und Therapeuten jeglicher Couleur), das Verlagswesen, das Fernsehen und zahlreiche andere Zweige der Medienbranche in Aktion treten ließ. Die ungewöhnlich erfolgreiche Selbsthilfeindustrie wurde vor dem Hintergrund der tiefverwurzelten Überzeugung möglich, daß unser Elend haargenau unserer psychischen Entwicklung entspricht, daß Sprechen und Selbsterkenntnis heilsam sind und daß die Bestimmung der Muster und Ursachen unserer Leiden uns dabei hilft, diese zu überwinden. Die Qualen der Liebe verweisen jetzt nur noch auf das Selbst, auf seine private Geschichte und seine Fähigkeit, sich selbst zu gestalten.

Gerade weil wir in einer Zeit leben, in der die Idee der individuellen Verantwortung uneingeschränkt herrscht, erfüllt die Soziologie eine nach wie vor unverzichtbare Aufgabe. War es Ende des 19. Jahrhunderts radikal zu behaupten, Armut sei nicht das Resultat von Charakterschwäche oder zweifelhafter Moral, sondern die Folge systematischer ökonomischer Ausbeutung, so müssen wir heute geltend machen, daß unsere privaten Niederlagen nicht nur unseren schwachen Psychen zuzuschreiben sind, sondern daß die Wechselfälle und Nöte unseres Gefühlslebens vielmehr durch institutionelle Ordnungen geprägt werden. Dieses 15Buch will mithin erreichen, daß die Analyse der Probleme zeitgenössischer Beziehungen aus einer anderen als der üblichen Perspektive in Angriff genommen wird. Denn diese Probleme bestehen nicht in dysfunktionalen Kindheiten oder mangelnder seelischer Selbsterkenntnis, sondern in jenem Bündel sozialer und kultureller Spannungen und Widersprüche, die das moderne Selbst und seine Identität strukturieren.

Für sich gesehen ist das keine neue These. Seit langem schon streiten feministische Autorinnen und Denkerinnen sowohl gegen die verbreitete Überzeugung, die Liebe sei die Quelle allen Glücks, als auch gegen das psychologisch-individualistische Verständnis unseres Liebeselends. Anders als eine populäre Mythologie es will, behaupten Feministinnen, ist die Liebe nicht die Quelle von Transzendenz, Glück und Selbstverwirklichung. Vielmehr gilt ihnen die romantische Liebe als einer der Hauptgründe für die Kluft zwischen Männern und Frauen, und sie sehen in ihr eine jener kulturellen Praktiken, durch die Frauen dazu gebracht werden, ihre Unterwerfung unter die Männer zu akzeptieren (und zu »lieben«). Denn wenn sie lieben, agieren Männer und Frauen nach wie vor die tiefen Spaltungen aus, die ihre jeweiligen Identitäten charakterisieren: Nach Simone de Beauvoirs berühmter Charakterisierung bewahren die Männer noch in der Liebe ihre Souveränität, während die Frauen in der Liebe nach Selbstaufgabe streben.[3] In ihrem kontroversen Buch Frauenbefreiung und sexuelle Revolution ging Shulamith Firestone noch einen Schritt weiter: Die Quelle der gesellschaftlichen Macht und Energie der Männer ist die Liebe, mit der Frauen sie noch immer zu versorgen pflegen, was nichts anderes heißt, als daß die Liebe der Zement ist, mit dem das Gebäude der männlichen Herrschaft errichtet 16wurde.[4] Die romantische Liebe verschleiert die Segregation nach Klasse und Geschlecht nicht nur, sie macht sie erst möglich. In Ti-Grace Atkinsons markanter Formulierung ist die romantische Liebe der »psychologische Angelpunkt der Frauenverfolgung«.[5] Die Stärke der feministischen Perspektive ist in mehr als einer Hinsicht offensichtlich. Besonders schlagend ist die feministische Behauptung, daß sich Liebe und Sexualität im Kern um einen Machtkampf drehen und daß Männer in diesem Machtkampf auf Dauer die Oberhand behalten, weil wirtschaftliche und sexuelle Macht zusammengehen. Die sexuelle Macht des Mannes besteht in der Fähigkeit, die Liebesobjekte zu definieren sowie die Regeln der Partnersuche und des Ausdrucks romantischer Gefühle festzulegen. Letztlich gründet die männliche Macht in dem Umstand, daß die Identitäten und die Hierarchie der Geschlechter im Ausdruck und der Erfahrung romantischer Gefühle ausgelebt und reproduziert werden – und daß umgekehrt Gefühle umfassendere wirtschaftliche und politische Machtunterschiede stabilisieren.[6]

In vielerlei Hinsicht ist es jedoch genau diese Annahme eines Primats der Macht, die ein Manko jener mittlerweile tonangebenden Strömung der feministischen Liebeskritik darstellt. Zu Zeiten, als das Patriarchat noch wesentlich mächtiger war als heute, spielte die Liebe eine viel gerin17gere Rolle für die Subjektivität von Männern und Frauen. Mehr noch: Die gewachsene kulturelle Bedeutung der Liebe scheint mit einer Schwächung, nicht mit einer Stärkung der männlichen Macht in der Familie sowie mit der Ausbildung eher egalitärer und symmetrischer Geschlechterverhältnisse einhergegangen zu sein. Zudem lebt ein Gutteil der feministischen Theorie von der Voraussetzung, daß Macht der grundlegende Baustein von Liebes- und anderen sozialen Beziehungen ist. Folglich muß sie die überwältigende Fülle an empirischen Belegen ignorieren, denen zufolge Liebe nicht weniger grundlegend ist als Macht und darüber hinaus eine starke unsichtbare Triebfeder für soziale Beziehungen darstellt. Indem sie die Liebe der Frauen (und ihr Verlangen, zu lieben) auf das Patriarchat reduziert, beraubt sich die feministische Theorie in vielen Fällen der Einsicht in die Gründe, warum die Liebe einen so mächtigen Einfluß auf moderne Frauen und Männer hat. Auch übersieht sie den egalitären Zug, der der Ideologie der Liebe innewohnt, sowie ihr Potential, das Patriarchat von innen zu unterwandern. Zweifellos spielt das Patriarchat eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die Struktur der Beziehungen zwischen Männern und Frauen, aber auch die unheimliche Faszination zu erklären, die die Heterosexualität nach wie vor auf beide Geschlechter ausübt. Diese Kategorie allein kann aber nicht erklären, warum das Liebesideal moderne Männer und Frauen so ungewöhnlich stark in seinen Bann zieht. Diesen Bann auf ein »falsches Bewußtsein« zu reduzieren heißt, die Antwort vorwegzunehmen, bevor die Frage überhaupt gestellt ist.[7]

In den folgenden Kapiteln möchte ich somit nach den institutionellen Gründen für das Elend der Liebe fragen, dabei aber zugleich voraussetzen, daß die Erfahrung der Liebe uns auf eine Weise im Griff hat, die nicht einfach mit einem 18»falschen Bewußtsein« zu erklären ist. Ich werde zu zeigen versuchen, daß der Grund, warum die Liebe so entscheidend für unser Glück und unsere Identität ist, eng mit dem Grund zusammenhängt, warum sie ein so schwieriger Teil unserer Erfahrung ist; beides hat damit zu tun, wie Selbst und Identität in der Moderne institutionalisiert werden. Wenn viele von uns »eine bohrende Furcht oder Unruhe« in Liebesdingen verspüren und den Verdacht haben, die Liebe ginge mit einem »Gefühl der Verärgerung, der Ruhelosigkeit und der Unzufriedenheit mit uns selbst« einher, um mich der Worte des Philosophen Harry Frankfurt zu bedienen,[8] so deshalb, weil die Liebe das »Gefangensein« des Selbst in den Institutionen der Moderne einschließt, widerspiegelt und verstärkt[9] – wobei diese Institutionen selbstverständlich durch die ökonomischen und die Geschlechterverhältnisse geprägt sind. Wie Karl Marx bekanntlich sagte: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«[10] Wenn wir lieben oder schmollen, dann tun wir dies, indem wir auf Ressourcen zurückgreifen und uns in Situationen befinden, die wir nicht selbst gemacht haben, und diese Ressourcen und Situationen sind es, die das vorliegende Buch untersuchen möchte. Auf den folgenden Seiten wird meine Generalthese lauten, daß sich etwas an der Struktur des romantischen Selbst grundlegend verändert hat. Sehr allgemein läßt sich dieser Wandel als einer in der Struktur des romantischen Willens beschreiben. Verändert 19hat sich also, was wir wollen und wie wir schließlich das, was wir wollen, mit einem Sexualpartner umsetzen (Kapitel 1 und 2); sodann das, was das Selbst verletzlich macht, uns also das Gefühl vermittelt, wertlos zu sein (Kapitel 3); und schließlich die Organisation unseres Begehrens – der Inhalt der Gedanken und Gefühle, die unsere erotischen und romantischen Wünsche auslösen (Kapitel 4 und 5). Wie der Wille strukturiert ist, wie Anerkennung konstituiert und wie Begehren ausgelöst wird, dies sind die drei Hauptachsen, entlang deren ich die Transformationen der Liebe in der Moderne analysiere. Letztlich geht es mir darum, mit der Liebe zu machen, was Marx mit den Waren gemacht hat: zu zeigen, daß sie von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen geformt und hervorgebracht wird; zu zeigen, daß die Liebe auf einem Markt ungleicher konkurrierender Akteure zirkuliert; und die These aufzustellen, daß manche Menschen über größere Kapazitäten als andere verfügen, um die Bedingungen zu definieren, unter denen sie geliebt werden.

Wie andere Soziologen auch betrachte ich somit die Liebe als einen besonders gut geeigneten Mikrokosmos, um die Prozesse der Moderne zu verstehen. Im Unterschied zu ihnen jedoch ist die Geschichte, die ich hier erzähle, nicht die eines heroischen Siegs des Gefühls über die Vernunft oder der Gleichberechtigung über geschlechtliche Ausbeutungsverhältnisse, sondern eine wesentlich doppelbödigere.

* Das Motto stammt aus Shulamith Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution [1970], übers. von G. Strempel-Frohner, Frankfurt/M. 1987, S.143. Das dem Buch vorangestellte Motto auf S. 7 stammt aus Publius Ovidius Naso, Liebesgedichte. Amores. Lateinisch-Deutsch, hg. u. übers. von Niklas Holzberg, Düsseldorf u. Zürich 2002, II, Vs. 5-10.

Was ist die Moderne?

Mehr als irgendeine andere Disziplin entstand die Soziologie aus der fieberhaften und besorgten Frage nach der Bedeutung und den Konsequenzen der Moderne: Karl Marx, Max Weber, Emile Durkheim, Georg Simmel – sie alle versuchten, die Bedeutung des Übergangs von der »alten« zur »neuen« Welt zu verstehen. Die »alte« Welt war: Religion, Gemein20schaft, Ordnung und Stabilität. Die »neue« Welt brachte atemberaubende Veränderungen, Säkularität, die Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen, wachsende Forderungen nach Gleichheit und eine quälend ungewisse Identität. Seit dieser außergewöhnlichen Übergangsperiode zwischen der Mitte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Soziologie stets mit denselben einschüchternden Fragen beschäftigt: Wird der Bedeutungsverlust von Religion und Gemeinschaft die Gesellschaftsordnung gefährden? Werden wir auch ohne die Dimension des Heiligen imstande sein, ein sinnerfülltes Leben zu führen? Besonders Max Weber ließen Dostojewskis und Tolstois Fragen keine Ruhe: Wenn wir uns nicht mehr vor Gott fürchten, was macht uns dann moralisch? Wenn wir nicht mehr auf sakrale, kollektive und verbindliche Bedeutungen verpflichtet sind und durch sie bestimmt werden, was wird unserem Leben dann einen Sinn verleihen? Wenn das Individuum – statt Gott – im Zentrum der Moral steht, was wird dann aus der »Brüderlichkeitsethik«, jener Triebkraft der Religionen?[11] Tatsächlich bestand die Aufgabe der Soziologie von Anfang an in dem Versuch, zu verstehen, worin der Sinn des Lebens nach dem Niedergang der Religion bestehen würde.

Die meisten Soziologen waren sich einig: Die Moderne eröffnete aufregende Möglichkeiten, aber auch verhängnisvolle Risiken für unser Vermögen, ein sinnvolles Leben zu führen. Selbst Soziologen, die einräumten, die Moderne bedeute einen Fortschritt gegenüber Unwissenheit, chronischer Armut und allgegenwärtiger Unterwerfung, sahen in ihr eine Verarmung unserer Fähigkeit, schöne Geschichten zu erzählen und in Kulturen von reichem Gepräge zu leben. Die Moderne ernüchterte die Menschen und ließ ihre mächtigen, doch süßen Einbildungen, die ihnen das Elend ihres 21Lebens erträglich gemacht hatten, wie Seifenblasen zerplatzen. Unverblendet und illusionslos sollten wir unser Leben ohne Verpflichtung auf höhere Prinzipien und Werte, ohne sakrale Inbrunst und Ekstase, ohne den Heroismus der Heiligen, ohne die Gewißheit und Wohlgeordnetheit göttlicher Gebote, vor allem aber ohne jene Dichtungen leben, die uns trösten und die Welt schöner machen.

Nirgendwo sticht eine derartige Ernüchterung so ins Auge wie im Reich der Liebe, das in der westeuropäischen Geschichte über Jahrhunderte hinweg von den Idealen der Ritterlichkeit, Galanterie und Romantik bestimmt worden war. Das männliche Ritterlichkeitsideal orientierte sich an einer grundlegenden Maßregel, nämlich die Schwachen couragiert und loyal zu verteidigen. Die Schwäche des weiblichen Geschlechts war somit in ein kulturelles System eingebunden, das diese Schwäche anerkannte und verklärte, indem es die männliche Macht und die weibliche Schwäche in liebenswerte Eigenschaften verwandelte, etwa in einen »Beschützerinstinkt« für die einen und in »Sanftmut« und Zartgefühl für die anderen. Zu lieben hieß folglich, die kulturellen Definitionen und Attribute von Weiblichkeit und Männlichkeit zu verherrlichen und mit Leben zu erfüllen. Das kulturelle System der Liebe, das sich auf den religiösen Sinn und später auf die romantische Ideologie stützte, verklärte die Frauen und stellte sie auf ein Podest, während es gleichzeitig den Männern Gelegenheit bot, ihren Heldenmut, ihre Ehre und eine vergrößerte Version ihres Selbst zur Schau zu stellen. Die gesellschaftliche Auslöschung der Frau konnte demzufolge mit der absoluten Hingabe des Mannes in der Liebe erkauft werden, die ihrerseits just der Schauplatz war, auf dem die Männer ihre Männlichkeit ausstellen und ausagieren konnten. Ja, daß den Frauen ökonomische und politische Rechte vorenthalten wurden, war mit der Zusicherung (und, wie wir vermuten dürfen, dem Ausgleich) verbunden, daß sie in der Liebe nicht nur von den 22Männern beschützt würden, sondern ihnen auch überlegen wären. Es überrascht daher nicht, daß die Liebe historisch so ungemein verlockend für die Frauen war: Sie versprach ihnen den moralischen Status und die Achtung, die ihnen sonst in der Gesellschaft versagt blieben, und sie verklärte ihr soziales Los: als Mütter, Frauen und Geliebte andere zu umsorgen und zu lieben. Die Liebe war somit hochgradig verführerisch, weil sie die tiefgreifenden Ungleichheiten im Herzen der Geschlechterverhältnisse zugleich verschleierte und in ein schöneres Licht rückte.

Die Hoch- oder Hypermoderne – hier im engeren Sinne verstanden als die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – brachte eine Radikalisierung der gesellschaftlichen Tendenzen der frühen Moderne mit sich. Sie unterwarf die Kultur der Liebe sowie die in ihr implizierte Ökonomie der Geschlechtsidentität einem – mitunter tiefgreifenden – Wandel. Diese Kultur bewahrte, ja stärkte das Ideal der Liebe als einer Macht, die das alltägliche Leben zu transzendieren vermag. Doch als sie die beiden politischen Ideale der Geschlechtergleichheit und der sexuellen Freiheit ins Zentrum der Intimität rückte, entkleidete sie die Liebe jener ritualisierten Ehrerbietigkeit und mystischen Aura, in die sie bis dahin gehüllt gewesen war. Alles, was heilig an der Liebe war, wurde nun profan, und die Männer waren endlich gezwungen, nüchternen Sinnes die wahren Bedingungen zu sehen, unter denen Frauen lebten. Es ist dieser zutiefst gespaltene und doppelte Aspekt der Liebe – als Quelle existentieller Transzendenz und als bis in die Grundfesten umkämpfter Schauplatz, auf dem die Geschlechtsidentität ausagiert wird –, der die zeitgenössische romantische Kultur charakterisiert. Genauer gesagt: Die eigene geschlechtliche Identität und den Kampf der Geschlechter auszutragen heißt, den institutionellen und kulturellen Kern sowie die Dilemmata der Moderne auszutragen, Dilemmata, in deren Mittelpunkt die kulturellen und institutionellen Schlüsselmotive Authentizität, Autono23mie, Gleichheit, Freiheit, Bindung und Verpflichtung* sowie Selbstverwirklichung stehen. Die Untersuchung der Liebe ist kein nebensächlicher, sondern ein zentraler Beitrag zur Untersuchung des Kerns und der Grundlagen der Moderne.[12]

Die heterosexuelle romantische Liebe ist einer der besten Schauplätze, um die Bilanz einer solchen ambivalenten Perspektive auf die Moderne zu ziehen, insofern wir in den vergangenen vier Jahrzehnten sowohl einer Radikalisierung von Freiheit und Gleichheit innerhalb der romantischen Bindung als auch einer radikalen Aufspaltung von Sexualität und Emotionalität beigewohnt haben. Die heterosexuelle romantische Liebe umfaßt die beiden wichtigsten kulturellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts: zum einen die Individualisierung der Lebensstile und die Intensivierung emotionaler Lebensprojekte, zum anderen die Ökonomisierung sozialer Beziehungen, das Umsichgreifen ökonomischer Modelle zur Gestaltung des Selbst und sogar seiner Gefühle.[13] Sex und Sexualität wurden von moralischen Normen befreit und in individualisierte Lebensstile und Lebensprojekte integriert, während die kulturelle Grammatik des Kapitalismus mit Macht in den Bereich heterosexueller romantischer Beziehungen eingedrungen ist.

Als sich beispielsweise die (heterosexuelle) Liebe zum konstitutiven Thema des Romans entwickelte, bemerkte 24kaum jemand, daß sie sich eng mit einem anderen Thema verband, das nicht weniger zentral für den bürgerlichen Roman und die Moderne insgesamt war: das der sozialen Mobilität. Wie die beiden oben angesprochenen Fälle von Catherine und Emma nahelegen, war die romantische Liebe fast immer zwangsläufig mit der Frage der sozialen Mobilität verquickt. Das heißt: Eine der zentralen Fragen des Romans (und später des Hollywoodkinos) war und ist, ob– und wenn ja, unter welchen Bedingungen – Liebe über soziale Mobilität triumphieren kann beziehungsweise umgekehrt, ob die sozioökonomische Vereinbarkeit zweier Menschen eine notwendige Voraussetzung für die Liebe bilden sollte. Mit anderen Worten: Das moderne Individuum wurde gleichzeitig emotional und ökonomisch, romantisch und rational geformt. Der Grund hierfür ist, daß die Schlüsselstellung der Liebe für die Ehe (und den Roman) mit der nachlassenden Bedeutung der Ehe als Werkzeug zum Schmieden von Familienbündnissen zusammenfiel und die neue Rolle der Liebe für die soziale Mobilität kenntlich machte. Weit davon entfernt jedoch, einen Niedergang ökonomischer Berechnung einzuläuten, vertiefte die Schlüsselstellung der Liebe diese in Wirklichkeit, weil Frauen und Männer nun immer häufiger durch die soziale Alchimie der Liebe gesellschaftlich auf- (und ab-)stiegen. Weil die Liebe die Übereinstimmung von Eheschließung und Strategien der ökonomischen und gesellschaftlichen Reproduktion weniger explizit und formal machte, umfaßte und vermengte die moderne Partnerwahl in zunehmendem Maß sowohl emotionale als auch ökonomische Erwartungen. Die Liebe beinhaltete nunmehr rationale und strategische Interessen und verschmolz so die wirtschaftlichen und emotionalen Dispositionen der Akteure zu einer einzigen kulturellen Matrix. Eine der zentralen kulturellen Transformationen, die mit der Moderne einhergingen, bestand somit in der Vermengung der Liebe mit ökonomischen Strategien sozialer 25Mobilität. Das ist auch der Grund, warum das vorliegende Buch eine Reihe methodologischer Vorannahmen macht: Es beschäftigt sich eher mit der heterosexuellen als mit der homosexuellen Liebe, weil erstere mit einer Leugnung ökonomischer Motive bei der Wahl des Liebesobjekts sowie mit einer Verschmelzung der ökonomischen und der emotionalen Logiken verbunden ist. Diese beiden Logiken sind zuweilen harmonisch und bruchlos versöhnt, genausooft aber zersplittern sie das romantische Gefühl von innen heraus. Die Vermengung von Liebe und ökonomischem Kalkül verleiht der Liebe eine Schlüsselstellung im modernen Leben und bildet zugleich den Mittelpunkt der widersprüchlichen Zwänge, denen sie unterworfen worden ist. Dies ist somit einer der roten Fäden, anhand deren ich die Liebe in der Moderne neu interpretieren möchte, um zu zeigen, inwiefern Wahlfreiheit, Rationalität, Interesse und Konkurrenz die Art und Weise verändert haben, wie wir einen Partner suchen, kennenlernen, umwerben und wie wir dabei unsere eigenen Gefühle befragen und über sie entscheiden. Eine weitere Vorannahme des vorliegenden Buches besteht darin, daß es die Liebe stärker aus weiblicher als aus männlicher Perspektive betrachtet, genauer noch: aus der Perspektive von Frauen, die sich für die Ehe, Kinder und einen Lebensstil der Mittelschicht entscheiden. Wie ich im folgenden aufzuzeigen hoffe, ist es nämlich die Kombination dieser Sehnsüchte und ihre Position in einem freien Markt der sexuellen Begegnungen, die neue Formen der emotionalen Herrschaft von Männern über Frauen hervorbringen. Somit ist dieses Buch für viele von Belang, aber nicht für alle.

* Der englische Ausdruck commitment, der in diesem Buch eine tragende Rolle spielt, verfügt in den hier relevanten Kontexten über ein Bedeutungsspektrum, das von Hingabe, Engagement, Verbindlichkeit und Verpflichtung bis zur Bindung im Sinne einer festen Beziehung reicht. Er wird im folgenden nach Möglichkeit mit Bindung oder Verbindlichkeit, gelegentlich aber auch mit Verpflichtung wiedergegeben. [Anm. d. Übers.]

Die Liebe in der Moderne, die Liebe als Moderne

Zu den üblichen Verdächtigen, die man zur Erklärung des Siegeszugs der Moderne heranzieht, zählen das wissen26schaftliche Wissen, die Druckerpresse, die Entwicklung des Kapitalismus, die Säkularisierung und der Einfluß demokratischer Ideen. Die Herausbildung eines emotionalen Selbst dagegen kommt in kaum einer Darstellung vor. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe,[14] ging die Ausbildung der Moderne tatsächlich mit der Hervorbringung eines reflexiven emotionalen Selbst einher, eines Selbst, das sich und seine Identität in erster Linie in emotionalen, um die Bewirtschaftung und Bekräftigung seiner Gefühle kreisenden Kategorien definierte. Das vorliegende Buch möchte das kulturelle Ideal und die Praxis der romantischen Liebe im kulturellen Kern der Moderne verankern und dabei vor allem ihre entscheidende Bedeutung für die Modellierung der eigenen Biographie und die Konstitution des emotionalen Selbst hervorheben. Wie Ute Frevert schrieb: »Gefühle machen Geschichte. […] Gefühle sind aber nicht nur geschichtsmächtig, sondern auch […] geschichtsträchtig.«[15]

Der Philosoph Gabriel Motzkin bietet einen Ansatz, wie wir über die Rolle der Liebe in dem langen Prozeß der Herausbildung des modernen individuellen Selbst nachdenken können. Nach seiner Darstellung machte der christliche (paulinische) Glaube die Gefühle der Liebe und der Hoffnung zu sowohl sichtbaren als auch zentralen Größen – und schuf damit ein emotionales (im Unterschied etwa zu einem intellektuellen oder politischen) Selbst.[16] Motzkin begründet dies damit, daß der Prozeß der Säkularisierung der Kultur unter anderem in einer Säkularisierung der religiösen Liebe bestand, die zweierlei Form annahm: Sie verwandelte die profane Liebe in ein sakrales Gefühl (das später als roman27tische Liebe gepriesen wurde), und sie verwandelte die romantische Liebe in ein Gefühl, das im Widerspruch zu den von der Religion verhängten Restriktionen stand. Die Säkularisierung der Liebe spielte somit eine wichtige Rolle im Prozeß der Emanzipation von der Autorität der Religion.

Wollte man diese Analysen zeitlich genauer einordnen, so scheint die protestantische Reformation eine wichtige Stufe in der Herausbildung eines modernen romantischen Selbst gewesen zu sein, stand sie doch im Zeichen einer Reihe von Spannungen zwischen dem Patriarchalismus und den neuen gefühlsmäßigen Erwartungen, die sich mit dem Ideal der Kameradschaftsehe verbanden. »Die puritanischen Autoren ermutigten zur Formulierung neuer Verhaltensideale in der Ehe, wobei sie die Bedeutung der Intimität und der Intensität der Gefühle zwischen den Ehepartnern betonten. Die Ehemänner wurden angespornt, auf das geistige und seelische Wohlergehen ihrer Frauen zu achten.«[17]

Lawrence Stone, Francesca Cancian und Anthony Giddens haben in ihren Studien geltend gemacht, daß die Liebe zumal in den protestantischen Kulturen eine Quelle der Gleichberechtigung der Geschlechter darstellte, weil sie mit einer starken Wertschätzung der Frauen einherging.[18] Aufgrund der religiösen Ermahnung, die eigene Gemahlin mit Zartgefühl zu lieben, verzeichneten die Frauen eine Verbesserung ihres Status und ihrer Fähigkeit, Entscheidungen auf Augenhöhe mit den Männern zu treffen. Anthony Giddens und andere behaupten darüber hinaus, daß die Liebe eine zentrale Rolle für die Konstruktion der weiblichen Autonomie gespielt hat. Deren Ursprung sei in dem Umstand zu 28sehen, daß das kulturelle Ideal der romantischen Liebe im 18. Jahrhundert, sobald es von der religiösen Ethik abgelöst war, Frauen nicht weniger als Männer dazu anhielt, ihr Liebesobjekt frei zu wählen.[19] Tatsächlich erfordert und begründet ja schon die Idee der Liebe den freien Willen und die Autonomie der Liebenden. Motzkin und Fisher gehen sogar so weit zu sagen, daß »die Entwicklung demokratischer Konzeptionen von Macht eine langfristige Folge der Voraussetzung einer weiblichen Gefühlsautonomie ist«.[20] Die empfindsame Literatur- und Romanproduktion des 18. Jahrhunderts verstärkte diesen kulturellen Trend, weil das von ihr propagierte Liebesideal theoretisch und praktisch dazu beitrug, die Macht zu destabilisieren, die Eltern– insbesondere Väter – über die Ehen ihrer Töchter ausübten. Somit war das Ideal der romantischen Liebe in einer wichtigen Hinsicht ein Hebel der Frauenemanzipation: Es war ein Mittel der Individualisierung und Autonomie, auf welchen Umwegen eine solche Emanzipation auch immer verlaufen sein mag. Weil die Privatsphäre im 18. und 19.Jahrhundert stark aufgewertet wurde, konnten Frauen ausüben, was Ann Douglas mit Harriet Beecher Stowe als »the pink and white tyranny« bezeichnet, also das Streben »amerikanischer Frauen im 19. Jahrhundert nach Macht durch den Einsatz ihrer weiblichen Identität«.[21] Zwar beließ die Liebe die Frauen unter der Vormundschaft der Männer, doch legitimierte sie dabei zugleich ein Modell des Selbst, das privater, häuslicher und individualistischer Natur war und das vor allem emotionale Autonomie erforderte. So verstärkte die romantische Liebe innerhalb der Privatsphäre jenen moralischen Individualismus, der die Ausbildung der 29Öffentlichkeit begleitet hatte. Tatsächlich ist die Liebe das paradigmatische Beispiel und die eigentliche Antriebskraft eines neuen Modells der Geselligkeit, das Giddens als eines der »reinen Beziehung« bezeichnet hat.[22] Eine solche reine Beziehung fußt auf der vertragstheoretischen Annahme, daß sich zwei gleichberechtigte Individuen aus emotionalen und individuellen Gründen zusammentun. Sie wird von zwei Individuen um ihrer selbst willen begründet und kann nach Belieben eingegangen und aufgelöst werden.

Während die Liebe zweifellos eine beträchtliche Rolle bei der Herausbildung des von Historikern so genannten »affektiven Individualismus« gespielt hat, neigt die Geschichte der Liebe in der Moderne jedoch dazu, sich als eine heroische zu präsentieren, als eine Geschichte, die von der Knechtschaft zur Freiheit geführt habe. Wenn die Liebe siegt, dann treten dieser Lesart zufolge Zweck- und Vernunftehen von der Bühne ab, auf der nun Individualismus, Autonomie und Freiheit triumphieren. Zwar teile ich die Überzeugung, daß die Liebe sowohl das Patriarchat als auch die Institution der Familie in Frage gestellt hat, doch machte die »reine Beziehung« die Privatsphäre auch normativ unbeständiger und das romantische Bewußtsein zu einem unglücklichen. Was die Liebe zu einer so chronischen Quelle von Unbehagen, Desorientierung und sogar Verzweiflung werden läßt, kann meiner Ansicht nach nur durch die Soziologie und nur durch ein Verständnis des kulturellen und institutionellen Kerns der Moderne erklärt werden. Aus diesem Grund glaube ich auch, daß die hier entwickelte Analyse für die meisten Länder relevant ist, die an der Entwicklung der Moderne teilhatten – einer Moderne, die auf Gleichheit, Vertragsdenken, der Integration von Männern und Frauen in den kapitalistischen Markt so30wie institutionalisierten »Menschenrechten« als dem Kern der Person beruht. Denn diese transkulturelle und institutionelle Matrix, die sich in vielen Ländern auf der ganzen Welt findet, hat die traditionelle ökonomische Funktion der Ehe und die traditionellen Weisen, die Geschlechterbeziehungen zu regulieren, zerrüttet und verwandelt. Zugleich ermöglicht es uns diese Matrix, über den hochgradig ambivalenten normativen Charakter der Moderne nachzudenken. Meine Analyse der Liebe unter den Bedingungen der Moderne ist kritisch, aber sie ist kritisch aus einer ernüchtert modernen Perspektive, das heißt aus einer Perspektive, für die ausgemacht ist, daß die Moderne zwar Zerstörung und Elend in großem Stil verursacht hat, für ihre zentralen Werte (politische Emanzipation, Säkularismus, Rationalität, Individualismus, moralischer Pluralismus, Gleichheit) aber gegenwärtig keine überlegene Alternative in Sicht ist. Dennoch muß es ein ernüchtertes Unterfangen bleiben, für die Moderne einzutreten, weil diese in ihrer westlichen kulturellen Ausprägung noch nie dagewesene Formen emotionalen Elends und der Zerstörung traditioneller Lebenswelten herbeigeführt, ontologische Verunsicherung zu einem dauerhaften Merkmal des modernen Lebens gemacht und zunehmend auf die Organisation von Identität und Begehren übergegriffen hat.[23]

Warum wir die Soziologie brauchen

Für William James, den Großvater der modernen Psychologie, bestand der Ausgangspunkt für den Psychologen in der Überlegung, daß »permanent in der einen oder anderen Form gedacht wird« und Denken, wie er festhielt, etwas Persönliches ist: Jeder Gedanke ist Teil eines persönlichen 31Bewußtseins, das dem Individuum zu einer Entscheidung darüber verhilft, mit welchen Erfahrungen der Außenwelt es sich auseinandersetzt und welche es ignoriert.[24] Im Gegensatz dazu sah die Soziologie ihre zentrale Aufgabe vom ersten Tag an darin, die soziale Grundlage von Überzeugungen zu entlarven. Für Soziologen gibt es keinen Gegensatz zwischen dem Individuellen und dem Sozialen, weil die Inhalte von Gedanken, Wünschen und inneren Konflikten auf einer institutionellen und kollektiven Grundlage beruhen. Wenn etwa eine Gesellschaft und Kultur sowohl die intensive Leidenschaft der romantischen Liebe als auch die heterosexuelle Ehe als Modelle für das Erwachsenenleben propagiert, dann prägt sie nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Erwartungen, Hoffnungen und Träume vom Glück. Doch soziale Modelle bewirken noch mehr: Indem sie die Institution der Ehe mit dem Ideal der romantischen Liebe konfrontieren, bauen moderne Gemeinwesen gesellschaftliche Widersprüche in unsere Erwartungen ein, Widersprüche, die ihrerseits zu psychischen Realitäten werden. Die institutionelle Organisation der Ehe, die auf Monogamie, einer Lebensgemeinschaft und dem Zusammenlegen der ökonomischen Ressourcen zum Zweck der Wohlstandsmehrung fußt, schließt die Möglichkeit aus, eine romantische Liebe als intensive und alles verzehrende Leidenschaft aufrechtzuerhalten. Dieser Widerspruch zwingt die Akteure zu einem gehörigen Maß an kultureller Arbeit, um die beiden konkurrierenden kulturellen Rahmenbedingungen zu bewältigen und miteinander zu versöhnen.[25] Dieses Nebeneinander zweier kultureller Rahmenbedingungen macht seinerseits anschaulich, daß die der Liebe und Ehe oftmals innewohnenden Gefühle der Wut, Frustration und Enttäuschung in gesellschaftlichen und kulturellen Ordnun32gen gründen. Während Widersprüche ein unvermeidlicher Bestandteil der Kultur sind und die Menschen üblicherweise mühelos zwischen ihnen schalten und walten, sind manche von ihnen doch schwieriger zu bewältigen als andere. Wenn sie unmittelbar an die Möglichkeit rühren, Erfahrungen zu versprachlichen, lassen sie sich nicht so einfach harmonisch ins Alltagsleben integrieren.

Daß Individuen die gleichen Erfahrungen unterschiedlich interpretieren oder daß sich uns soziale Erfahrungen zumeist durch psychologische Kategorien vermittelt darstellen, bedeutet nicht, daß diese Erfahrungen privat und einzigartig sind. Eine Erfahrung findet stets innerhalb einer Institution statt, die sie organisiert (das gilt für einen Patienten im Krankenhaus ebenso wie für einen renitenten Teenager in der Schule oder eine wütende Frau in ihrer Familie). Erfahrungen zeichnen sich durch Formen, Intensitäten und Beschaffenheiten aus, die daraus resultieren, wie Institutionen das Gefühlsleben strukturieren. So hat beispielsweise viel von der Wut und Enttäuschung im Eheleben damit zu tun, wie die Ehe die Geschlechterbeziehungen strukturiert sowie institutionelle und emotionale Logiken vermengt, etwa den Wunsch nach Verschmelzung und Gleichheit unter Absehung vom sozialen Geschlecht mit der Distanz, die der Vollzug von Geschlechterrollen unweigerlich mit sich bringt. Zu guter Letzt muß eine Erfahrung, damit sie einem selbst und anderen verständlich ist, eingespielten kulturellen Mustern folgen. Ein Kranker kann sich seine Krankheit als Strafe Gottes für seine vergangenen Missetaten erklären, als biologischen Zufall oder auch als Folge eines unbewußten Todeswunschs; alle diese Interpretationen sind Ausfluß ausgefeilter Erklärungsmuster, die von historisch situierten Personengruppen angewandt und anerkannt werden, und bewegen sich im Rahmen dieser Erklärungsmuster.

Das heißt nicht, daß ich die Vorstellung erheblicher psychischer Unterschiede zwischen Menschen bestreite oder in 33Abrede stelle, daß diese Unterschiede eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Mein Einwand gegen das vorherrschende psychologische Ethos ist vielmehr ein dreifacher: Erstens hat das, was wir für individuelle Bestrebungen und Erfahrungen halten, in Wirklichkeit häufig einen sozialen und kollektiven Gehalt; zweitens sind psychische Unterschiede oft – wenn auch nicht immer – nichts weiter als Unterschiede in den gesellschaftlichen Positionen und Aspirationen; und drittens besteht der Einfluß der Moderne auf die Ausprägung von Selbst und Identität genau darin, die psychischen Attribute der Individuen offenzulegen und zu entscheidenden Faktoren ihrer romantischen wie gesellschaftlichen Schicksale zu machen. Die Tatsache, daß wir psychologische Wesen sind – daß also unsere Psychologie so großen Einfluß auf unsere Geschicke hat –, ist selbst eine soziologische Tatsache. Indem sie die moralischen Ressourcen und sozialen Zwänge abbaut, die vormals den Bewegungsspielraum der Individuen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung definierten, setzt die Struktur der Moderne die Individuen ihrer eigenen psychischen Struktur aus und macht auf diese Weise die Psyche so verletzlich wie wirkmächtig für das soziale Schicksal. Die Verletzlichkeit des Selbst in der Moderne läßt sich somit wie folgt zusammenfassen: Mächtige institutionelle Zwänge prägen unsere Erfahrungen, doch kommen die Individuen mit Hilfe der psychischen Ressourcen, die sie im Laufe ihrer sozialen Entwicklung angehäuft haben, mit diesen Zwängen zu Rande. Es ist dieser Doppelaspekt der modernen, zwischen dem Institutionellen und dem Psychischen angesiedelten sozialen Erfahrungen, den ich im Hinblick auf die Liebe und das Leiden an ihr dokumentieren will.

34Soziologie und psychisches Leid

Seit ihren Gründungstagen bestand der wichtigste Forschungsgegenstand der Soziologie in kollektiven Formen von Leid: Ungleichheit, Armut, Diskriminierung, Krankheiten, politische Unterdrückung, Kriege und Naturkatastrophen bildeten das wichtigste Prisma, durch das die Soziologie die Qualen der Condition humaine erforschte. In der Analyse dieser Formen kollektiven Leids war die Soziologie überaus erfolgreich, doch versäumte sie es, auch das gewöhnliche psychische Leid innerhalb sozialer Beziehungen zu analysieren: Ressentiments, Erniedrigungen und unerwidertes Begehren sind nur einige der zahlreichen Beispiele für solche alltäglichen und unsichtbaren Formen von Leid. Die Soziologie schreckte davor zurück, emotionales Leid – das sie zu Recht als tragende Säule der klinischen Psychologie betrachtet – zu ihrem Zuständigkeitsbereich zu zählen, um nicht in die trüben Gewässer eines individualistischen und psychischen Gesellschaftsmodells hineingezogen zu werden. Wenn die Soziologie aber für die modernen Gesellschaften relevant bleiben will, muß sie zwingend die Gefühle untersuchen, in denen sich die Verletzlichkeit des Selbst unter den Bedingungen der Spätmoderne spiegelt, eine Verletzlichkeit, die zugleich institutioneller wie emotionaler Natur ist. Dieses Buch versucht den Nachweis zu führen, daß die Liebe ein solches Gefühl ist und daß eine sorgfältige Analyse der Erfahrungen, die mit ihr einhergehen, uns wieder zu der primären sowie unverändert notwendigen und hochaktuellen Aufgabe der Soziologie zurückführt.

Wenn wir über die Modernität des Liebesleidens nachdenken wollen, könnte der Begriff »soziales Leid« passend scheinen. Doch ist ein solcher Begriff für meine Zwecke nicht sehr nützlich, weil er so, wie die Anthropologen ihn verstehen, weiträumige sichtbare Folgen von Hungersnöten, 35Armut, Gewalt und Naturkatastrophen bezeichnet[26] und weniger sicht- und greifbare Formen des Leidens ausblendet, zu denen etwa Beklemmungen, das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit oder Depressionen zählen, die allesamt in das gewöhnliche Leben und gewöhnliche Beziehungen eingebettet sind.

Seelisches oder psychisches Leid hat zwei Haupteigenschaften: Wie Schopenhauer schrieb, rührt Leid von dem Umstand her, daß wir durch »Erinnerung und Vorhersehung« leben.[27] Leid ist, mit anderen Worten, durch die Vorstellungskraft vermittelt, durch die Bilder und Ideale, aus denen sich unsere Erinnerungen, Erwartungen und Sehnsüchte zusammensetzen.[28] Soziologischer formuliert heißt dies, daß Leid durch kulturelle Definitionen des Selbst vermittelt ist. Zweitens geht Leid typischerweise mit einem Verlust unserer Fähigkeit einher, Sinnzusammenhänge zu erfahren. Folglich nimmt Leid, wie Paul Ricœur sagt, häufig die Form einer Klage darüber an, daß es blind und willkürlich sei.[29] Weil Leid ein Einbruch des Irrationalen in das alltägliche Leben ist, verlangt es nach einer rationalen Erklärung, einer Interpretation des »verdienten Lohns«.[30] Anders 36gesagt: Eine leidvolle Erfahrung wird um so unerträglicher sein, je weniger sich ihr ein Sinn abgewinnen läßt. Wenn unser Leid nicht erklärt werden kann, leiden wir doppelt: unter dem Schmerz, den wir erfahren, und unter unserer Unfähigkeit, ihm eine Bedeutung zu verleihen. Somit verweist uns jede Erfahrung von Leid stets auf die Erklärungssysteme, die zu ihrer Interpretation herangezogen werden. Erklärungssysteme wiederum unterscheiden sich darin, wie sie dem Schmerz einen Sinn verleihen. Sie unterscheiden sich darin, wie sie Verantwortung zuschreiben, welche Aspekte der Leiderfahrung sie thematisieren und hervorheben und in welcher Form sie Leid in andere Erfahrungskategorien übersetzen (oder nicht), ob diese nun »Erlösung«, »Reifung«, »Wachstum« oder »Weisheit« heißen. Wie ich hinzufügen möchte, mag das moderne seelische Leid zwar eine ganze Reihe – physiologischer wie psychischer – Reaktionsformen umfassen, geprägt ist es jedoch durch den Umstand, daß das Selbst – seine Definition und sein Selbstwertgefühl– unmittelbar auf dem Spiel steht. Seelisches Leid beinhaltet eine Erfahrung, die die Integrität des Selbst bedroht. Das Leiden in zeitgenössischen intimen zwischenmenschlichen Beziehungen spiegelt die Situation des Selbst unter Bedingungen der Moderne wider. Das romantische Leid ist keine Marginalie verglichen mit mutmaßlich schwerwiegenderen Formen des Leids, weil es, wie ich zu zeigen versuchen werde, die Dilemmata und Formen der Machtlosigkeit des Selbst in der Moderne ausstellt und austrägt. Wie ich anhand einer Vielzahl von Quellen dokumentieren werde,[31]37sind Erfahrungen des Verlassenseins und der unerwiderten Liebe genauso entscheidend für die eigene Lebenserzählung wie andere Formen sozialer Demütigung.

Man könnte an dieser Stelle zu Recht skeptisch einwenden, daß Dichter und Philosophen schon seit langem um die verheerenden Folgen der Liebe wissen und das Liebesleid immer schon einen zentralen Topos gebildet hat, der in der romantischen Bewegung mit ihrer wechselseitigen Spiegelung und Definition von Liebe und Liebesleid an ihr einen Höhepunkt fand. Doch möchte ich in diesem Buch den Nachweis führen, daß es etwas qualitativ Neues in der modernen Erfahrung des Liebeskummers gibt. Spezifisch modern am Liebesleid sind die Deregulierung von Heiratsmärkten (Kapitel 1), die Transformation der Architektur der Partnerwahl (Kapitel 2), die überwältigende Bedeutung der Liebe für die Ausbildung eines sozialen Selbstwertgefühls (Kapitel 3), die Rationalisierung der Leidenschaft (Kapitel 4) sowie die Art und Weise, wie die romantische Vorstellungskraft gebraucht wird (Kapitel 5). Wenn dieses Buch also davon handelt, was am Liebesleid wirklich neu und modern ist, zielt es trotzdem nicht darauf ab, die vielfältigen Erscheinungsformen von Liebesqualen vollständig zu behandeln, sondern lediglich einige von ihnen; auch bezwei38felt es nicht, daß viele Menschen ein glückliches Liebesleben haben. Doch treten Liebeselend und Liebesglück in einer spezifisch modernen Form in Erscheinung, und dieser Form möchte ich im folgenden meine Aufmerksamkeit widmen.

391. Die große Transformation der Liebe oder die Entstehung von Heiratsmärkten

Was schreiben Sie mir da, meine Teure? Wie kann ich denn zu Ihnen kommen? Was würden die Leute sagen, mein Täubchen? Ich müßte doch über den Hof gehen, und unsere Hausgenossen würden es bemerken und Nachforschungen anstellen, – es würde Gerede und Klatscherei geben; sie würden der Sache einen falschen Sinn beilegen. Nein, mein Engelchen, es ist schon besser, wenn ich Sie morgen bei der Abendmesse wiedersehe; das wird vernünftiger und für uns beide unschädlicher sein.

– Fjodor Dostojewski

Welches Mädchen am Winesburger College fand [im Jahre 1951] einen Jungen »begehrenswert«? Ich jedenfalls hatte vom Vorhandensein solcher Gefühle unter den Mädchen in Winesburg oder Newark oder wo auch immer noch nie gehört. Soweit ich wusste, wurden Mädchen nicht von solchen Gefühlen beflügelt; sie wurden beflügelt von Grenzen, von Verboten, von strikten Tabus, die allesamt nur der Verwirklichung dessen dienten, was die meisten meiner Kommilitoninnen in Winesburg als ihr vorrangiges Ziel betrachteten: mit einem zuverlässigen jungen Lohnempfänger ebenjenes Familienleben, von dem sie durch den Besuch des Colleges vorübergehend ausgeschlossen waren, von neuem entstehen zu lassen, und dies so schnell wie möglich.

– Philip Roth*

Seit langem wird die Liebe als eine Erfahrung gezeichnet, die uns überwältigt und unseren Willen übergeht, als eine unwiderstehliche Macht, die sich unserer Kontrolle entzieht. In diesem und dem folgenden Kapitel stelle ich dagegen eine auf den ersten Blick wenig einleuchtende Behauptung auf: Um die Transformation der Liebe in der Moderne zu ver40stehen, ist es mit am ergiebigsten, sie anhand der Kategorie der Wahl zu betrachten. Dies liegt nicht nur daran, daß zu lieben bedeutet, eine Person unter möglichen anderen auszuzeichnen und somit die eigene Individualität schon im Akt der Wahl eines Liebesobjekts zu begründen. Es hat auch damit zu tun, daß jemanden zu lieben heißt, mit Fragen des Wählens konfrontiert zu sein: »Ist er/sie der/die Richtige für mich?« – »Woher weiß ich, daß diese Person die richtige für mich ist?« – »Werde ich nicht vielleicht einem noch besseren Partner begegnen?« Diese Fragen verbinden die Dimension der Gefühle mit der Dimension der Wahl, die eine eigene, ausdifferenzierte Form von Handlung darstellt. In dem Maß, in dem ein modernes Selbst dadurch definiert ist, daß es selbst zu entscheiden und auszuwählen beansprucht– am offenkundigsten in den Bereichen des Konsums und der Politik –, kann uns die Liebe zu wichtigen Einsichten in die soziale Grundlage der Kategorie der Wahl in der Moderne verhelfen.

Die Wahl ist das entscheidende kulturelle Kennzeichen der Moderne, weil sie, zumindest in den Arenen der Wirtschaft und der Politik, den Gebrauch nicht nur der Freiheit, sondern auch von zwei Vermögen verkörpert, die den Gebrauch der Freiheit rechtfertigen, nämlich jener der Rationalität und der Autonomie. In diesem Sinne ist die Wahl einer der mächtigsten kulturellen und institutionellen Vektoren für die Prägung des modernen Selbst: Sie ist zugleich ein Recht und eine Form von Kompetenz. Wenn die Wahl ein eingefleischter Bestandteil der modernen Individualität ist, dann ist die Frage, wie und warum Menschen sich entscheiden, eine Beziehung einzugehen oder nicht, wesentlich für das Verständnis der Liebe als einer Erfahrung der Moderne.

Ökonomen, Psychologen und selbst Soziologen neigen dazu, die Wahl für ein natürliches Merkmal des Verstandsgebrauchs zu halten, für eine Art feststehende, unveränderliche Eigenschaft des Geistes, definiert als die Fähigkeit, 41Präferenzen festzulegen, auf der Grundlage dieser abgestuften Präferenzen widerspruchsfrei zu handeln und unter Einsatz der effizientesten Mittel Wahlentscheidungen zu treffen. Indes ist die Wahl alles andere als eine einfache Kategorie und nicht weniger durch die Kultur geprägt als andere Merkmale des Handelns. In dem Maß, in dem die Wahl eine Hierarchie zwischen rationalem Denken und Gefühlen impliziert, in dem Maß, in dem sie eine implizite Wertschätzung der Fähigkeit zu wählen selbst sowie die kognitiven Mechanismen zur Organisation des Wahlvorgangs umfaßt, können wir sie als kulturell und gesellschaftlich geprägt bezeichnen – als eine Eigenschaft, die gleichermaßen eine der Umwelt und eine der Gedanken und Überzeugungen ist, die der Wählende über die Wahl hat.[1]

Eine der zentralen Transformationen, der die Liebe in der Moderne unterworfen war, hat unmittelbar mit den Bedingungen zu tun, unter denen romantische Wahlentscheidungen getroffen werden. Diese Bedingungen sind von zweierlei Art: Die eine betrifft die Ökologie der Wahl oder die gesellschaftliche Umwelt, die einen dazu treibt, Entscheidungen in einer bestimmten Richtung zu treffen. Endogame Regeln etwa, die Mitglieder derselben Familie oder Angehörige anderer rassischer und ethnischer Gruppen als potentielle Partner ausschließen, sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie eine Wahl innerhalb einer sozialen Umwelt und durch diese eingeschränkt ist. Die sexuelle Revolution hingegen verwandelte die Ökologie der sexuellen Wahl, indem sie eine beträchtliche Zahl von Verboten bei der Wahl eines Sexualpartners beseitigte. Die allgemeine soziale Umwelt, die das Wählen beschränkt oder erleichtert, stellt ihre Ökologie dar. 42Die Ökologie der Wahl kann das Resultat gewollter und bewußt konzipierter Grundsätze[2] oder aber ungeplanter gesellschaftlicher Dynamiken und Prozesse sein.

Die Wahl ist aber noch durch einen anderen Aspekt gekennzeichnet, den ich als Architektur der Wahl bezeichnen möchte.[3] Die Architektur der Wahl hat mit Mechanismen zu tun, die subjektbezogen und kulturell geprägt sind: Sie betreffen sowohl die Kriterien, mittels deren man ein Objekt (Kunstwerk, Zahnpasta, künftigen Ehepartner) beurteilt, als auch die Modi der Selbstbefragung, also die Art und Weise, wie eine Person ihre eigenen Gefühle, ihr Wissen und ihr logisches Denken hinzuzieht, um zu einer Entscheidung zu kommen. Die Architektur der Wahl besteht aus einer Reihe kognitiver und emotionaler Prozesse und hängt, genauer gesagt, mit der Art und Weise zusammen, wie emotionale und rationale Formen des Denkens im Prozeß der Entscheidung überwacht werden. Eine Wahl kann das Resultat eines aufwendigen Prozesses der Selbstbefragung und der Prüfung alternativer Vorgehensweisen oder aber das Ergebnis einer »unmittelbaren« Spontanentscheidung sein. Alle diese Wege folgen jedoch spezifischen kulturellen Verläufen, die wir noch näher beleuchten müssen.

Sechs kulturelle Komponenten der Architektur der Wahl springen ins Auge:

(1) Schließt die Wahl ein Nachdenken über die indirekten Konsequenzen der eigenen Entscheidungen ein,[4] und wenn 43ja, welche Konsequenzen werden bedacht und ausgemalt? So dürften beispielsweise die gestiegenen Scheidungsraten eine neue Wahrnehmung der Konsequenzen einer Heirat bei der Entscheidung zur Eheschließung bedingt haben. Die Scheu vor dem Risiko und die Vorwegnahme des Bedauerns (anticipation of regret) können ihrerseits zu kulturell auffälligen Merkmalen mancher Entscheidungen (etwa der zur Heirat) werden und somit den Prozeß des Wählens verändern. Andererseits können Entscheidungen auch getroffen werden, ohne über die indirekten Folgen des eigenen Handelns nachzudenken – man denke etwa an die Finanzgenies, die nach dem Kollaps der Finanzmärkte ihre Wahrnehmung der Konsequenzen ihrer vor der Krise von 2008 gefällten Entscheidungen verändert haben müssen. Ob Konsequenzen im Vordergrund des Entscheidungsprozesses stehen und um welche es sich handelt, ist somit kulturell variabel.

(2) Findet im Rahmen des Entscheidungsprozesses eine formelle Konsultation statt? Folgt man beispielsweise expliziten Regeln, oder hält man sich an seine Intuition? Konsultiert man einen Experten (Orakel, Astrologen, Rabbi, Psychologen, Anwalt, Finanzberater), um seine Entscheidung zu treffen, oder beugt man sich Gruppenzwang und Gemeinschaftsnormen? Sofern ein Experte hinzugezogen wird, was genau wird in dem formellen Entscheidungsprozeß geklärt: die eigene »Zukunft«, die Gesetzeslage, die eigenen unbewußten Wünsche oder rationalen Eigeninteressen?

(3) Welche Formen von Selbstbefragung werden genutzt, um zu einer Entscheidung zu finden? Man kann sich auf sein intuitives, gewohntes Weltwissen verlassen, um eine Wahl zu treffen, oder systematisch nach möglichen Handlungsweisen suchen und diese abwägen, wobei man eine geistige Landkarte der verfügbaren Optionen entwerfen kann oder auch nicht. Man könnte aber auch aufgrund einer Erleuchtung in Form einer Epiphanie entscheiden. Zum Beispiel be44obachten moderne Männer und Frauen in zunehmendem Maß ihre eigenen Gefühle, wobei sie für diese Introspektion auf psychologische Modelle zurückgreifen, um die Gründe für ihre Gefühle zu verstehen. Solche Prozesse der Selbstbefragung variieren historisch und kulturell.

(4) Gibt es kulturelle Normen und Techniken, um den eigenen Begierden und Wünschen zu mißtrauen? Die christliche Kultur etwa stellt die eigenen (sexuellen und anderen) Wünsche und Begierden von Haus aus unter Verdacht, während eine Kultur der Selbstverwirklichung durch Konsum dergleichen kaum praktiziert und im Gegenteil die Auffassung befördert, Begierden seien ein legitimer Grund für Entscheidungen. Kulturell konstruierter Argwohn (oder dessen Abwesenheit) dürften den Verlauf und das Ergebnis von Entscheidungsprozessen beeinflussen.

(5) Was gilt als akzeptabler Grund für eine Entscheidung? Sind rationale oder emotionale Formen der Bewertung legitime Grundlagen, um eine Wahl vorzunehmen, und auf welchem Gebiet sind sie jeweils am ehesten anzutreffen? So schreibt man dem Kauf eines Hauses und der Wahl eines Partners ein unterschiedliches Maß an rationaler beziehungsweise emotionaler Begründung zu. Selbst wenn wir in Wirklichkeit auf dem Immobilienmarkt wesentlich »emotionaler« und auf dem Heiratsmarkt »rationaler« agieren, als wir zugeben würden, beeinflussen kulturelle Modelle der Affektivität und Rationalität die Art und Weise, wie wir unsere Entscheidungen treffen und verstehen.

(6) Wird das Wählen als solches um seiner selbst willen geschätzt? (Die moderne, auf individuellen Rechten basierende Konsumkultur unterscheidet sich erheblich von vormodernen Kulturen, was die Wertschätzung des Wählens um seiner selbst willen betrifft.) So ist beispielsweise bei der Partnerwahl in Taiwan die Bindung an eine andere Person aus Gründen, die nicht mit dem Paar zu tun haben (wie sozialen Normen, sozialen Netzwerken oder den gegebenen 45Umständen),[5] sehr viel häufiger als in Amerika. Die Kategorie der Wahl selbst unterscheidet sich in beiden Kulturen tiefgreifend.

Was Menschen als ihre Präferenzen verstehen, ob sie diese in emotionalen, psychologischen oder rationalen Kategorien begreifen, wie sie sich selbst im Hinblick auf ihre Präferenzen prüfen, all dies ist durch Sprachen des Selbst geprägt, die die Architektur der Wahl ausmachen.[6] Wenn sich die praktischen kognitiven und emotionalen Grundlagen der Architektur der Wahl historisch und kulturell unterscheiden, dann läßt sich das moderne Selbst sinnvoll durch die Umstände und Gepflogenheiten charakterisieren, die seine Wahlentscheidungen beeinflussen. Im vorliegenden und dem folgenden Kapitel versuche ich die Veränderungen in der Ökologie und der Architektur der romantischen Wahl zu beschreiben.

* Die Mottos stammen aus Fjodor Dostojewski, Arme Leute [1846], übers. von H. Röhl, Frankfurt/M. 1997, S.22 f.; sowie aus Philip Roth, Empörung, übers. von W. Schmitz, München 2009, S.55 f.

Der Charakter und die moralische Ökologie der romantischen Wahl

Um die differentia specifica der zeitgenössischen modernen Liebe zu verstehen, möchte ich zunächst einen kulturellen Prototyp in den Blick nehmen, der modern genug ist, um den Mustern des affektiven Individualismus zu entsprechen, der sich aber doch hinreichend von unserem heutigen unterscheidet, um die relevanten Merkmale unserer zeitgenössischen romantischen Praktiken deutlicher hervortreten zu lassen. Für diese Analyse konzentriere ich mich auf literari46sche Texte, weil sie kulturelle Modelle und Idealtypen besser als andere Daten versprachlichen. Ich habe insbesondere die literarische Welt der Jane Austen ausgewählt, die berühmt ist für ihre Beschäftigung mit dem Ehestand, der Liebe und dem sozialen Status.

Mir dienen Austens Texte nicht als tatsächliche historische Dokumente romantischer Praktiken, sondern als kulturelle Zeugnisse jener Annahmen, die das Selbst, die Moral und die zwischenmenschlichen Beziehungen im England des 19.Jahrhunderts organisieren. Ich ziehe ihre Romane somit nicht als Belegmaterial für die historische Komplexität der Ehepraktiken im England der Regency-Ära heran. Auch habe ich nicht vor, Austens Plots und Charaktere in ihrem Facettenreichtum zu beleuchten, wie es eine herkömmliche literaturwissenschaftliche Lektüre zweifellos vorzöge. Meine reduktionistische Herangehensweise ignoriert die Vielschichtigkeit und Komplexität ihrer Texte und konzentriert sich vielmehr auf das System kultureller Annahmen, das die in der Austenschen Welt verhandelten ehelich-romantischen Praktiken der Mittelklasse organisiert. Austen ist bekannt für ihre Kritik an dem zügellosen Egoismus, der in der Eheanbahnung herrschte, und warb für ein Verständnis der Ehe, das auf Zuneigung, gegenseitigem Respekt und Gefühlen beruhte (die allerdings in gesellschaftlich akzeptierten Normen verankert sein mußten). Kurz gesagt: Austens Texte interessieren mich, weil sie ein Bild der Liebe als Kompromiß zwischen klassenregulierter Ehe und individueller Wahl zeichnen und auf das kulturelle System verweisen, in dem Gefühle strukturiert wurden, also auf die Rituale, Regeln und Institutionen, die den Ausdruck und die Erfahrung von Gefühlen beschränkten.

Soweit literarische Texte systematisch kodifizierte kulturelle Annahmen – über das Selbst, die Moral oder Verhaltensrituale – beinhalten, können sie dabei helfen, kulturelle Modelle zu konstruieren, die sich von unseren eigenen un47terscheiden, Idealtypen, die uns als Kontrastfolie eine Analyse unserer eigenen romantischen Praktiken erleichtern. Indem ich Parallelen zwischen Austens kulturellem Modell und den tatsächlichen Ritualen des Freiens in der Mittelklasse und oberen Mittelklasse des 19. Jahrhunderts ziehe, hoffe ich, einige Elemente der modernen gesellschaftlichen Organisation der Ehe zu verstehen. So wie Maler helle Hintergrundfarben verwenden, um die Gegenstände im Vordergrund ihres Gemäldes hervorzuheben, dient die Austensche Welt hier als eine bunte Leinwand, um die soziale Organisation romantischer Gefühle in den zeitgenössischen modernen Liebespraktiken deutlicher herauszustellen.

Die Liebe zum Charakter und der Charakter der Liebe

In ihrem Meisterwerk Emma erläutert Jane Austen das Wesen von Mr. Knightleys Liebe für Emma wie folgt: Emma

war oft nachlässig und launisch gewesen, hatte seinen Rat in den Wind geschlagen oder ihm sogar mutwillig widersprochen; ohne im Geringsten seine Verdienste anzuerkennen, hatte sie sich mit ihm gestritten, weil er ihre falsche und anmaßende Selbstgerechtigkeit nicht hinnehmen wollte – und doch hatte er sie aus Familiensinn, Gewohnheit und menschlicher Überlegenheit geliebt und sich um sie von Kindesbeinen an gekümmert mit dem Ziel, sie zu bilden, und begierig darauf, sie vor Fehlern zu bewahren, worin ihn weit und breit niemand unterstützt hatte.[7]

Das hier umrissene Bild der Liebe entspringt unmittelbar dem, was Männer und Frauen im 19. Jahrhundert als »Charakter« bezeichneten. Im Gegensatz zu einer langen abendländischen Tradition, in der die Liebe als ein die Urteilskraft überwältigendes und das Liebesobjekt bis zur Blindheit 48idealisierendes Gefühl gilt, wird sie hier fest in Knightleys Urteilsvermögen verankert. Dies ist der Grund, warum Emmas Fehler nicht weniger hervorgehoben werden als ihre Tugenden. Die einzige Person, die Emma liebt, ist auch die einzige, die ihre Fehler sehen kann. Jemanden zu lieben heißt