Warum Weltverbesserer die Welt nicht verbessern - Henry Louis Lazarus - E-Book

Warum Weltverbesserer die Welt nicht verbessern E-Book

Henry Louis Lazarus

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Beschreibung

Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie will ich auf die Welt wirken? Bin ich eigentlich ein guter Mensch? All das sind Fragen, deren Antwort einfach erscheint. Klar sind wir gute Menschen und natürlich wollen wir die Welt verbessern. Gerade angesichts einer Vielzahl von Menschen, die momentan für höhere Ziele demonstrieren und protestieren und damit für das Gute kämpfen, erübrigt sich eine solche Fragestellung scheinbar. Doch so einfach ist es nicht. Im Eifer gut sein zu wollen, vergessen wir eine Sache: Unser gefühltes Wirken mit der Realität abzugleichen. Wir vermeiden es zu häufig die oben genannten Fragen ehrlich zu beantworten und belügen uns damit selbst. Was eine Tragödie ist, weil durch eine verfälschte Selbstwahrnehmung viel Positives trotz guter Intention nicht umgesetzt wird. Und weil wir auf diese Weise in unser eigenes Unglück laufen. Dieses Buch will nicht anklagen oder das Unglück der Welt auf andere schieben, es ist eine Einladung sich in ehrlicher Weise einmal selbst zu hinterfragen. Auf der Suche nach Antworten, die vielleicht schmerzhaft sind, aber letztlich dazu führen, dass wir besser darin werden Gutes zu tun.

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Mein Dank gilt meiner Freundin, die mich politikwissenschaftlich begleitet und moralisch unterstützt hat. Ohne sie wäre dieses Buch nicht zustande gekommen.

Geschrieben in der Hoffnung, dass Realismus und Idealismus vereint werden und unser Handeln gemeinsam bestimmen.

VORWORT

EINLEITUNG

1. GRUNDLAGEN

Unsere Inkonsequenzen, Widersprüche und deren Bewusstwerdung

1.1 Der gute Mensch – ein gesellschaftlicher Status. Moral als Statussymbol und Machtinstrument

1.2 Verantwortung schlägt Moral – das Richtige tun aus den richtigen Gründen. Die Basis nachhaltigen Erfolgs

1.3 Der Widerspruch unserer Zeit ist der Widerspruch in uns – die Verantwortung des Einzelnen

1.4 Die Relativität absoluter Dinge – Armut

1.5 Menschenrechte für alle Menschen – entweder wir lehnen das Prinzip ab oder wir nehmen es ohne Wenn und Aber an

1.6 Eine Welt – offene Grenzen? Eine Frage zum Verhältnis von Realismus zu Idealismus

1.7 Vom Verhältnis des Nationalismus zum Internationalismus und was Freiheit und Unfreiheit damit zu tun haben

2. DER SACHE WEGEN

2.1 Vom Ende der Scheinheiligkeit

2.2 Mitleid als Zeichen, nicht abgestumpft zu sein

2.3 Suggerierte Machtlosigkeit

2.4 Das Ziel ist das Ziel – tue Gutes und schweig

3. VOM MÖGLICHEN UND UNMÖGLICHEN

3.1 Mein Weltbild: Teil der Natur

3.2 Affen, die Gott spielen – über unsere Identität

3.3 Ein Plädoyer für die Akzeptanz des Kapitalismus – warum Antikapitalismus verschwendete Energie ist

3.4 Streben nach Wachstum ist kein Problem, sondern unsere große Chance

3.5 Das Problem mit Utopien

3.6 Worum es im Antikapitalismus wirklich geht

3.7 Worum es gehen sollte

4. WIR SIND DIE MACHT

Die Kraft des Individuums

4.1 Nur auf uns selbst gucken – über gegenseitige Schuldzuweisung und die eigene Macht

4.2 Der Kampf mit sich selbst – die Messbarkeit der guten Tat

4.3 Dankbarkeit, Symbolik und Verantwortung und was alles miteinander zu tun hat

5. DER SINN DES GANZEN

Glückskapitel

6. MEIN APPELL

7. NACHWORT

Wie so viele andere Menschen auch will ich die Welt ein kleines Stückchen besser machen. Grundsätzlich gibt es viele, die das wollen. Und fast genauso viele scheitern. Nicht per se an der guten Sache, sondern vielmehr an sich selbst. Oftmals nämlich gibt es eine Lücke zwischen dem, was ein Mensch Gutes leistet, und dem, was ein Mensch Gutes zu leisten imstande wäre. Diese Lücke versuche ich mit dem Buch zu schließen. Dafür ist es notwendig, zwei scheinbare Gegensätze – die Realität und das Ideal – miteinander zu vereinen. Kurz vorweggenommen meine Interpretation der Begriffe: Idealismus ist der Wille, etwas Gutes zu leisten, Realismus ist die Fähigkeit dazu. Zusammen bilden sie die Essenz einer besseren Welt. In uns selbst fühlen wir beides. Einerseits die idealistische Seite, aber auch die, die sich kühlem und emotionslosem Realismus zugewandt fühlt. Sie wirken auf uns unvereinbar, weshalb viele Menschen glauben, man müsse sich entweder für den Realismus oder den Idealismus entscheiden. Nicht umsonst vollenden einige Menschen den Wandel vom brennenden, jungen Revolutionär zum Ultraspießbürger, der sich nur um die Länge seiner Grashalme kümmert, in nur wenigen Jahren. Die Wahrheit ist, Realismus und Idealismus sind keine Gegensätze. Sie als solche wahrzunehmen, ist eine verhängnisvolle Fehlauffassung, die dem Ziel, die Welt zu verbessern, monumental im Wege steht. Dabei wäre es gar nicht mal so schwer, die beiden Pole als notwendige und sich ergänzende Einheiten zu verstehen. Allein notwendig ist ein Mensch, der sich bewusst darüber ist, dass er Idealismus und Realismus in sich trägt und dass ein exzessives Ausleben nur einer dieser beiden Seiten allein auf der Entscheidung des Individuums beruht und nicht vorbestimmt oder naturgegeben ist. Im Prinzip muss man sich nur drei Fragen stellen und ehrlich beantworten: Will ich etwas Gutes bewirken? Wenn ja, wie kann ich etwas bewirken und bin ich wirklich so effektiv wie möglich? Was erst einmal oberflächlich klingt, birgt jedoch eine ungeahnte Komplexität, die zuweilen schmerzhafter sein kann, als man anfänglich vermuten würde. Die Beantwortung ist die Grundlage und der Schlüssel zu einer Welt, die so gut ist, wie sie es sein könnte. Und um nichts anderes geht es in diesem Buch. Es zielt darauf ab, die Welt radikal zu verbessern. Um dies zu erreichen, bricht es mit vielen der aktuellen Glaubenssätze und nimmt fast alle Menschen in die Pflicht. Dabei ist das Buch keine Anklage an eine bestimmte Gruppe von Menschen; es zielt nicht darauf ab, sich über andere zu erheben, sondern ist vielmehr ein Aufruf zu mehr Ehrlichkeit zu sich selbst. Eine revolutionäre und radikale Verbesserung der Welt wäre möglich. Nicht jedoch indem wir uns einem singulären Ziel verschreiben wie der Abschaffung des Kapitalismus. Der Weg zu einer besseren Welt führt über ein sich selbst verstehendes Individuum. Eines sei zu Anfang bereits gesagt: Dieses Buch ist keine Wohlfühloase; es ist nicht darauf ausgerichtet, die eigene Weltsicht zu stärken und andere schuldig zu sprechen. Vielmehr wird jeder Leser und jede Leserin in diesem Buch eingeladen, sich auf eine Reise mit sich selbst zu begeben und von der Schuldsprechung anderer abzulassen.

Denn viele politische Bewegungen, die angeben, die Welt verbessern zu wollen, versinken häufig geradezu in Selbstbestätigung. Oft angetrieben durch ein Lagerdenken: wir Guten gegen die anderen, die Bösen. In gegenseitigen Vorwürfen geht viel Gutes verloren. Deshalb geht es um jeden Leser selbst, losgelöst von den Parteien, Bewegungen und Lagern, denen sich der Leser als Individuum zugehörig fühlt. Vordergründig haben wir nämlich erst einmal Einfluss auf uns selbst – und da wartet genug Arbeit. Dieses Buch ist in verschiedenen Phasen meines Lebens geschrieben worden. Das Grundgerüst entstand vor gut 13 Jahren. Einer Zeit, in der ich noch zynischer und unerfahrener war. Entsprechend entstand in dieser Zeit ein Gerüst, in dem ich über die Diskrepanz zwischen der Vielzahl an guten Menschen und der geringen Anzahl echter guter Taten gestolpert bin. Das hat mich frustriert, denn wenig empfand ich als noch verwerflicher, als mit dem Image eines guten Menschen Eindruck schinden zu wollen, ohne aber wirklich die gute Sache anzustreben. Anschließend hatte ich lange Zeit das Vertrauen in die Idee des Textes verloren und erst in der Phase zwischen zwei Jobs, ungefähr acht Jahre später, weitergeschrieben. Dann, wieder zwischen zwei Jobs stehend, beendete ich das Buch.

Die Diskrepanz beginnt mit dem Umstand, dass die meisten Menschen im Grunde gute Menschen sind. Oder zumindest sein wollen. Denn wünschen wir uns nicht alle den Weltfrieden und stören wir uns nicht alle am Leid, am Hunger, am ganzen Unrecht, das auf der Welt geschieht? Ich glaube ganz ehrlich ja. Wenn wir könnten und es einfach wäre, würde sich so ziemlich jeder dafür entscheiden, den Welthunger zu besiegen oder für Weltfrieden zu sorgen. Der Menschheitstraum einer gerechten Welt lebt – nur umgesetzt wird er zaghafter als möglich. Aber was steht diesem Traum im Weg? Wir wollen Unrecht nicht zulassen und verzweifeln immerzu daran, nachhaltige Lösungen zu finden. Es gibt Unmengen an Erklärungen, warum die Welt nicht so gut ist, wie sie es sein könnte. Ob nun gegenseitige Schuldzuweisungen oder ideologische Ansätze Verwendung finden. Eins eint viele Erklärungen: Sie sind allesamt Formen von inkonsequenten Verhaltens- und Denkweisen. Und zwar von uns. Wir, also ich, ihr und viele andere Menschen, sind diejenigen, an die sich ein derartiger Appell richtet. Der Grund für ausbleibende Verbesserung liegt in uns und die Lösung in unseren Händen. Wir könnten, wenn wir wirklich konsequent und bewusst wären, die Welt zu dem Ort machen, den wir uns wünschen. Der Weltfrieden liegt nicht so weit entfernt, wie es scheint. Der Hunger in der Welt kann besiegt und die Umwelt gerettet werden. Und wir alle sind der Schlüssel dazu. Um all diese hehren Ziele erreichen zu können, müssen wir einen zuweilen schmerzhaften Weg gehen. Wir müssen uns selbst verstehen und in die Pflicht nehmen. Ausnahmslos.

Es geht also um uns. Darum, wie wir uns selbst wahrnehmen, um unsere tatsächliche Wirkung auf die Welt und was das für die Rettung der Welt bedeutet. Einfach gesagt halte ich es für äußerst wahrscheinlich, dass, wenn wir uns besser verstehen würden, ehrlicher zu uns wären, auch mal knallhart die Realität anerkennen würden, die Welt dann eine viel bessere wäre. Sich selbst mit der Realität zu konfrontieren, ist jedoch äußerst schmerzhaft. Lieber drehen wir uns um ein von uns kreiertes Weltbild. Eines, das nicht hart gegenüber uns selbst ist. Es ist häufig eher darauf ausgelegt, uns vor der Realität zu schützen. Um das zu tun, bedienen wir uns vieler Formen von Inkonsequenz. Konsequentes, brutal ehrliches Denken und Handeln umgehen wir mit all unserer visionären Vorstellungskraft, die wir dazu nutzen, Unterbewusstes im Unterbewusstsein zu belassen. Dies äußert sich in allen Lebenslagen, in politischen Glaubenssätzen und in allem, was wir denken und tun. Inkonsequenz ist der kürzeste Weg; einer, der wenig Schmerzen verspricht, aber häufig im Selbstbetrug endet. Ich möchte anhand einiger Beispiele auf verschiedene Arten der Inkonsequenz zu sprechen kommen und erläutern, warum sie uns und der Welt schadet und was das alles mit Nationalismus, Menschenrechten, Ungerechtigkeiten und der gesellschaftlichen Polarisierung zu tun hat.

All das hängt nämlich zusammen. Nichts von dem, was so auf der Welt geschieht, das Gute wie auch das Schlechte, passiert einfach so und für sich allein. Alles hat eine Ursache und einen Zusammenhang, der uns bewusst sein könnte und sollte. Doch statt uns Gedanken zu machen über diese Zusammenhänge - über die Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft - verschwenden wir in großem Ausmaß positive Energien, weil wir ineffizient handeln und inkonsequent denken. Wir geben anderen Schuld an den Ungerechtigkeiten unserer Erde, aber verkennen unsere eigenen Möglichkeiten. Die Vision dieses Buches ist folgende: Was bloß würde passieren, wenn diese Energien nicht verschwendet, sondern zum Beispiel konkret dafür eingesetzt würden, einem Kind zu einem Schulabschluss zu verhelfen? Was bloß würde passieren, wenn man die Schuld nicht immer bei anderen sucht? Seien es Großkonzerne oder Politiker. Was würde nur passieren, wenn eine ganze Generation von Weltverbesserern die Welt tatsächlich verbessern würde? Nur auf das Ziel ausgerichtet. Was wäre das wohl für eine wundervolle Welt, in der diejenigen, die die Welt verbessern wollen, auch tatsächlich erfolgreich darin sind? Keine verschwendete Energie mehr, keine Glorifizierung. Nur noch die gute Tat und sonst nichts.

Ich werde in diesem Buch viele Thesen und Behauptungen aufstellen, an denen man sich stören kann. Denn sie nehmen jeden Menschen in die Pflicht und kritisieren sicherlich Bewegungen und Ansichten, denen sich viele Menschen zugehörig fühlen. Es wird kaum einen Leser geben, der oder die sich nicht in irgendeiner Form ertappt oder angegriffen fühlen wird. Gerade auch jene, die sich schon eher selbst als gute Menschen begreifen. Okay, ich gebe zu, das klingt jetzt nicht nach besonders guter Werbung für ein Weiterlesen, dennoch möchte ich euch dazu einladen. Denn das Credo ist, dass die Welt nur zu dem Ort wird, der sie sein kann, wenn sich wirklich jeder selbst einmal hinterfragt hat. Deshalb werden viele Fragen aufgeworfen, die genau das zum Ziel haben. Ich will darum bitten, sich nicht an einzelnen Aspekten oder Beispielen aufzuhalten, um sie als Grund zu nehmen, nicht weiterzulesen. Jedes einzelne Thema steht immerzu nur im Gesamtkontext des Buches. Was erst absurd scheint, ergibt am Ende womöglich sogar Sinn. Und nur um diesen Gesamtkontext wird es in diesem Buch gehen. Um die Zusammenhänge, derer man sich bewusst werden muss. Am Ende – und das wird die Quintessenz von allem sein – werde ich anführen, warum das Ergebnis dieser Anstrengung jedoch keineswegs Erschöpfung, sondern vielmehr Glück ist. Als bewussterer und konsequenterer Mensch lebt es sich glücklicher, so viel sei vorweggenommen.

Wir leben im Wohlstand und trotzdem beklagen wir uns ständig. Wir haben zu wenig, der andere hat mehr. Wir haben ein so hartes Leben, müssen so viel arbeiten und nehmen ständig zu. Die Welt zerbricht, der Staat ist zu ungerecht. Ach, wann überstehen wir die Krise, wann geht es endlich bergauf? Dieses Mantra begleitet uns auf Schritt und Tritt. Mal mit Recht, manchmal aber auch nicht.

Dabei vergessen wir eine Sache: Eigentlich geht es den meisten von uns ziemlich gut. Wir haben vieles – vielleicht zu viel. Kleidung, so viel zu essen, dass wir Sport treiben müssen, um nicht zuzunehmen, ein warmes Heim. Wir haben so viel und wahrlich genug, um glücklich zu sein. Auch wenn Deutschland von Energiekrisen geschüttelt wird, so kann unser Unglück zumeist nicht auf materiellem Missstand basieren. Aber in der Unendlichkeit der Dinge, die wir nicht haben, verliert sich diese Gewissheit. Warum sage ich das in dieser Art? Weil es uns bewusst werden muss. Ein aktives Bewusstsein der Realität ist die höchste Form der Konsequenz.

Wenn wir verstehen, wie viel Glück wir haben, erst dann können wir das Unglück anderer ansatzweise verstehen. Dieses Unglück ist groß. Allein im Jemen litten nach Schätzungen von UNICEF im Jahre 2022 ungefähr 2,2 Millionen Kinder an akuter Mangelernährung.1 Darüber hinaus warnt der Chef des UN-Welternährungsprogramms, dass dort 13 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind.2 Vom Hungertod! Für uns ein Begriff, der abstrakter nicht sein könnte. Die Hälfte davon sind Kinder. Wir lesen in den Nachrichten über vieles. Debatten über die Coronakrise und das Impfen, über das erneute Vorrunden-Aus der Nationalmannschaft bei der Fußball-WM, die Aktionen verschiedener Umweltbewegungen, Elon Musks Übernahme von Twitter (mittlerweile X) und alles übertönt tiefgreifende und bedeutende Themen. Zum Beispiel, dass Millionen Menschen sterben werden – einen qualvollen, langsamen und unnötigen Tod. Und wir sehen nicht einmal hin.

Ich sage nicht, dass die Krisen, wie wir und die ganze Welt sie vermehrt erleben, nicht dramatisch sind. Schließlich ist die Welt durch Corona eine Zeit lang stehen geblieben und fast jedes Land kämpft im Zuge von Krieg und drohender Rezession um den Erhalt von Wohlstand und Frieden. Inflation, steigende Energiepreise und eine schrumpfende Mittelschicht sind eine reale Bedrohung für den Status quo. Doch gleichzeitig können wir uns bewusst machen, dass selbst ein schlechter werdender Status quo noch immer mehr ist als die meisten anderen Menschen haben. Wenn man nicht weiß, wie man die Familie im nächsten Monat ernähren soll; wenn man in einem Kriegsgebiet lebt; wenn man sich eine medizinische Versorgung nicht leisten kann; wenn das eigene Volk ausgelöscht werden soll, man sich unter Einsatz des Lebens dagegen wehrt und man machtlos auf internationale Unterstützung hofft; wenn man weiß, dass die eigenen Kinder keine Schulausbildung bekommen werden, dann sind das Probleme, die essenziell sind. Essenzieller als vieles, was wir erleben. Aus dieser Perspektive heraus, liegt es eigentlich nahe, die eigenen Probleme ganz demütig hinten anzustellen; denn wir haben solche Sorgen im Regelfall nicht. Sie sind uns fremd und zu abstrakt, um sie verstehen zu können. Und weil wir diese Nöte häufig nicht kennen, sind vergleichsweise harmlosere Dinge ganz vorne auf der Liste unserer Nöte. In gewisser Weise ist dieser Umstand Ausdruck unseres immensen Wohlstands. Sich über Nichtigkeiten zu ärgern und zu streiten, sind Probleme einer reichen Gesellschaft, in der niemand hungern muss und jedem Kind die Möglichkeit gegeben ist, beziehungsweise die Pflicht obliegt, zur Schule zu gehen. Wir, im reichen Teil der Welt, haben es sehr gut. Es geht darum, diesen Unterschied wahrzunehmen.

Diese uns fremde Welt, in der es Menschen am Nötigsten mangelt, hat mit unserer wenig zu tun. Trotzdem ist sie real. Doch wir schieben diesen Unterschied von uns weg, denn wir wollen diejenigen sein, die man zu bemitleiden hat. Und wir sind gut im Verdrängen. Während es nämlich unbestritten zum Beispiel diese krasse Armut gibt, in der andere um das tägliche Überleben kämpfen, übertrumpfen wir uns in Deutschland nicht darin, denen zu helfen, die unsere Hilfe am dringendsten brauchen würden, wir übertrumpfen uns stattdessen im oberflächlichen »Gutsein«. Man kommt in Deutschland gefühlt kaum fünf Meter weit, ohne auf einen selbsternannten Weltverbesserer zu treffen. Schließlich spielt Moral eine enorm große Rolle in unserer Gesellschaft; sie ist zuweilen zum Statussymbol geworden. Doch gleichwohl kreisen unsere Gedanken über unsere kleine und nationale Welt. Wir sehen uns zwar gern als große Wohltäter, aber wollen dafür so wenig wie möglich tun. Dadurch bleibt jener Fortschritt, der möglich wäre, aus. Eine grundlegende Inkonsequenz, die wir mit einer beinahe unendlichen Anzahl von kleinen Inkonsequenzen unterfüttern und unterstützen. Immer mit dem Ziel, uns unser eigenes Wirken schönzureden. Fangen wir jedoch an, auch uns selbst gegenüber konsequent zu sein, sehe ich große Chancen, nicht nur die Armut effektiv zu bekämpfen, ich sehe auch die Lösung anderer Probleme wie der Klimakrise in greifbarer Nähe.

Warum aber schreibe ich diese Zeilen? Worum geht es konkret? Ganz einfach: Ich habe Hoffnung. Denn es gibt wahrhaftig viele gute Menschen. Wahnsinnig viele Menschen, die die Welt retten und anderen Menschen helfen wollen. Man sah und sieht es an den vielen aufopferungsvollen Menschen, die sich gesellschaftlich involvieren und unser Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Man sieht es an allen Bewegungen, Organisationen und Einzelnen, die die Welt und die Gesellschaft stärken. So viele Menschen es gibt, die die Welt tatkräftig und einzigartig verbessern, gibt es gleichsam viele, die sich den eigenen Einfluss auf die Welt schönfärben. Die sich entweder durch Inkonsequenz auftun oder nur profilieren wollen. Deren Wirkungsgrad aber bei der eigentlichen Sache gegen Null geht. Wer sich nämlich zum Ziel setzt, ein guter Mensch zu sein, aber im Prinzip nicht mehr machen will, als notwendig ist, um so gesehen zu werden, der wird immer nah der Wirkungslosigkeit agieren. Was dazu führt, dass grundsätzlich positive Energien verschwendet werden, weil sie dafür aufgebracht werden, ein bestimmtes Bild zu vermitteln, und nicht dafür, ein Ziel zu erreichen.

Es bewegt sich viel. Aber all das ist nur ein Bruchteil dessen, was möglich wäre. Meiner Meinung nach werden sogar derart viele Energien verschwendet, dass, wenn wir nur einen Schritt konsequenter wären, zu uns selbst nur ein wenig ehrlicher wären, sich die Welt spürbar und schnell verbessern würde. Was uns dabei im Wege steht und wie wir jenes überkommen können, möchte ich in diesem Buch erklären. Mit dem Ziele, die Welt so gut zu machen, wie sie tatsächlich sein könnte.

1https://www.unicef.ch/de/aktuell/news/2022-03-15/jemen-akuter-hunger-noch-niedagewesenem-ausmass-wird-noch-weiter-zunehmen

2https://www.tagesschau.de/ausland/asien/jemen-hunger-113.html

Unsere Inkonsequenzen, Widersprüche und deren Bewusstwerdung

Vorab noch eines: Alles, was ich schreibe, entspringt meiner eigenen Inkonsequenz und meiner Bewusstwerdung dessen. Die Beispiele und die zugrunde liegenden Prinzipien kann ich beschreiben, weil ich sie zunächst an mir selbst ausgemacht habe. Auch wenn die Beispiele, die ich verwenden werde, sich zuweilen auf andere Personen und auf Bewegungen beziehen, deren Teil ich nicht bin. Ausgehend von meiner Person und meinen eigenen Verfehlungen, versuche ich, die Gesellschaft, deren Produkt ich bin, zu verstehen. Ein Grundgedanke dabei ist: Die Welt um sich herum zu verstehen, war schon immer ein guter Weg, sich selbst zu verstehen. Und sich selbst zu begreifen, ist der beste Weg zu verstehen, wie und warum Dinge um einen herum geschehen. Es ist eine Wechselwirkung. Die Welt wird immer fremd bleiben, wenn man nicht bereit ist, sich im gleichen Atemzug selbst zu betrachten und zu hinterfragen. In der Kritik, die ich äußern werde, schließe ich mich ausdrücklich mit ein. Deswegen schreibe ich in der »Wir«-Form. Ich bin kein großer Schriftsteller, kein Philosoph. Aber ich habe eine Idee und die würde ich gern teilen.

Ich werde auf einige der Strategien eingehen, mit denen wir uns meiner Meinung nach selbst daran hindern, unsere Macht zu erkennen und zu nutzen. Also Strategien, die die Selbstreflexion verhindern. Ich schreibe über die Relativität absoluter Begriffe, über Ländergrenzen kontra Menschenrecht, über Scheintaten und Selbstdarstellung, über Ineffektivität, Abstraktion, warum ein Systemwechsel nicht möglich ist und warum der Versuch, das System zu wechseln, der Verbesserung der Welt im Wege steht. Also über alle inkonsequenten Denkmuster und ein Stück weit auch scheinheilige Verhaltensmuster, die uns davon abhalten, die Welt wirklich in dem Maße besser zu machen, wie wir dazu eigentlich in der Lage wären.

1.1 Der gute Mensch – ein gesellschaftlicher Status. Moral als Statussymbol und Machtinstrument

Je wohlhabender eine Gesellschaft ist und je weniger sie sich über die Befriedigung der Grundbedürfnisse Gedanken machen muss, desto wichtiger werden ihr Statussymbole, Ansehen und jene Dinge, die diese in der Gesellschaft definieren. In der heutigen Gesellschaft hat dabei insbesondere die Moral eine zunehmend wichtige Rolle eingenommen. Wir leben in einer äußerst weit entwickelten Wohlstandsgesellschaft, die es uns erlaubt, Moral als Errungenschaft vor uns herzutragen. Wir kümmern uns um Nachhaltigkeit, um Tierwohl, um die Rechte von Minderheiten, reden über Sexismus, über Hartz IV beziehungsweise das Bürgergeld, über Menschenwürde und über Gleichstellung. Alles sehr wichtige Themen und das werden sie auch immer bleiben. Problematisch ist jedoch, dass diese Themen benutzt werden. Sie werden benutzt, um der Selbstdarstellung zu dienen. Nie kam der Mensch ohne irgendeine Art der Statusausübung aus. Waren und sind dies häufig teure Güter, Häuser, Autos oder Uhren, mit denen die Ranghöhe und Erhabenheit innerhalb einer Gesellschaft geklärt wird, ist es zunehmend nun auch die Moral. Wer am moralischsten wahrgenommen wird, der hat das größte gesellschaftliche Ansehen, wird gehört und hat, wenn auch nicht immer fachlich, zumindest auf moralischer Ebene immer recht. Momentan sind sicherlich unter anderem die Vertreter der Klimaproteste oder die selbst ernannte »Letzte Generation« zu nennen, die viel mit Moral arbeiten. Grundsätzlich unterstütze ich Umweltbewegungen, da sie sich aber als Beispiel einer Gruppierung, die Moral zu einem Hauptargument gemacht hat, besonders gut eignet, werde ich mich dieses Beispiels im Verlauf des Buches immer mal wieder bedienen.

Aber wo ist das Problem dabei, viel mit einem absoluten Begriff der Moral zu arbeiten? Nun, Moral hat häufig zur Folge, dass Menschen bewertet und in Schubladen sortiert werden, und das nach einem sehr binären Muster. Doch eine Bewertung wie »verwerflich« oder »fortschrittlich« ist nichts anderes als der Versuch, die Menschen und ihr Verhalten in klar definierte und nicht verhandelbare Kategorien einzusortieren. Man ist entweder gut oder aber man ist schlecht. Doch dass eine solch einfache Kategorisierung in einer komplexen Welt schnell an seine Grenzen stößt, sollte offensichtlich sein.

Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment über das Fliegen und dessen moralische und absolutistische Implikation. Nehmen wir folgendes an: Wer viel fliegt und keine Reue zeigt beziehungsweise nicht kompensiert, verwirkt zugleich sein Recht, sich in andere ebenso moralische und/oder klimapolitische Themen einzubringen. Es gilt das Prinzip des »ganz oder gar nicht«. Entweder man ist ein vollständig moralisch integrer Mensch oder man ist es überhaupt nicht. Dazwischen gibt es nicht mehr viel. Dabei sind Kompensationen durchaus umstritten und sind, wenn sie nicht überprüfbaren Mindestanforderungen wie dem Gold-Standard3 oder sogar dem Permanenz-Prinzip für Carbon Removals4 folgen, eher eine Form des Greenwashings des eigenen Gewissens. Was dazu führt, dass es letztlich zwei Klassen von Passagieren gibt: die reichen, die sich beides erlauben können, den Luxus und das gute Gewissen, und die einkommensschwächeren Passagiere, die schon Schwierigkeiten hatten, den Flug zu finanzieren. Doch dabei sollte es eigentlich genau andersherum sein. Wenn überhaupt, sollten es die Gutverdiener sein, also jene, die viel und regelmäßig fliegen, die ein schlechtes Gewissen haben. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Auch denen, die weit seltener fliegen als die oftmals auf Nachhaltigkeit bedachten Gutverdiener, wird irrwitzigerweise ein moralischer Vorwurf gemacht, wenn sie einmal im Jahr mit der ganzen Familie in den Urlaub fliegen und nicht kompensieren. Wer nämlich viel fliegt, also für viel Nachfrage sorgt, dann seine Flüge kompensiert, der beruhigt damit das eigene Gewissen – ist aber letztlich doch die Person, die mehr Emissionen verursacht. Die Kompensation macht den Flug nicht ungeschehen. Die Otto-Normal-Familie hat diesbezüglich einen weit geringeren negativen Einfluss auf die Nachfrage. Selbst wenn sie ihre Flüge nicht kompensiert. Man sieht: Es ist schwierig, hier in klare Kategorien einzuteilen. Sorgen die Kompensationen dann auch noch dafür, dass man unbesorgter und infolgedessen genauso viel oder gar mehr fliegt als ohnehin schon, dann führen die geleisteten Kompensationen sogar dazu, sich selbst zu egalisieren. Selbst wenn sie die höchsten Standards erfüllen. Denn: Wenn man kompensiert, hat dies ein gutes Gewissen zur Folge. Was wiederum dazu führt, dass man das eigene Flugverhalten kaum einschränkt. Das Resultat wäre ein unverändert hoher Einfluss der Vielflieger auf die Nachfrage, weil sie sich mit der Kompensation effektiv von ihrer Verantwortung freikaufen. Bei ihnen ist das gute Gewissen steter Reisebegleiter. Man könnte auch von einer neuen Form von Bourgeoisie sprechen. Weil sie sich weiterhin den Luxus des ausgiebigen Reisens leisten können, aber eben auch das Statussymbol eines moralischen Lebens für sich beanspruchen. Das Fliegen ist hierbei nur ein mögliches Beispiel von vielen.

Statussymbole waren schon immer nur den Gutverdienern vorbehalten, so nun auch beim neuen Statussymbol der Moral. Es ist überhaupt nicht so, dass es sinnlos wäre, Spenden an Umweltorganisationen zu leisten. Wenn diese aber dazu führen, dass die einflussreichen 10 Prozent5 ihr eigenes Verhalten nicht überdenken, sind Kompensationen im Sinne der CO2-Neutralität gelinde gesagt nutzlos und trügerisch. Oder zumindest nicht mehr die moralisch einwandfreie Wahl. Gut und Böse sind oft nicht so einfach auf moralischer Basis zu definieren, wie es zunächst scheint. Das Prinzip, erst Gut und Böse klar und binär zu definieren, um dann gegen Bezahlung doch weiterhin Sünden zu begehen, ist mindestens so alt wie die Kirche und hat sich in der Grundlage kaum verändert. Exemplarisch dafür ist beispielsweise, dass Alena Buyx, seit 2020 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, anlässlich der WM in Katar kundgetan hatte, dass ihre Familie zwar die Spiele der WM verfolge, aber die eigene Schuld mit Spenden kompensiere.6 Was impliziert, dass eine Kompensation durch Spenden gleichbedeutend damit ist, die Spiele gar nicht geschaut zu haben. Es muss sich in diesem Sinne nur die Waage halten: Man tut etwas Schlechtes oder was man als solches definiert hat, aber gleicht dies durch gute Taten aus und behält dadurch ein reines Gewissen. Und je höher die Mittel sind, gute Taten zu tun, desto schlimmer oder häufiger können auch die verwerflichen Dinge sein, die man tun darf. So ist es völlig egal, wie häufig man fliegt. Solange man nur jedes Mal kompensiert, kann man ein besseres Gewissen haben als die Familie, die einmal im Jahr unkompensiert fliegt. Dieses Prinzip hat früher einen Keil in Gesellschaften geschlagen und tut es auch heute noch. Denn je ärmer man ist, desto weniger kann man sich den Luxus eines reinen Gewissens leisten. Das zeigt sich nicht nur im Kleinen, sondern unter anderem auch in dem Vorschlag westlicher und reicher Länder, die Entwicklungsländer sollten sich, überspitzt formuliert, doch gefälligst emissionsarm weiterentwickeln und industrialisieren.

Ein ganz anderes Beispiel: das Autofahren. Um das Auto und den Individualverkehr ist nämlich ein regelrechter Kulturkampf entbrannt. Wer heutzutage ein Auto fährt, der sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, das ihm das Klima egal sei. Automatisch wird angenommen, dass der Autofahrer kein Klimagewissen habe und damit einer derer sei, die dem Wandel und dem Fortschritt im Wege stehen und geläutert werden müssen. Schließlich stünden dem Autofahrer ja auch Alternativen zur Verfügung. So lässt sich wohl herleiten, warum ein häufig genannter Vorwurf von Fridays for Future (FfF) an die ältere Generation ist, dass diese in Saus und Braus gelebt habe und damit die Zukunft der jungen Menschen in Gefahr gebracht hätte.

Ich bin zwar auch absolut davon überzeugt, dass wir unbedingt den Wandel hin zu sauberen Energien schaffen müssen und auch ich habe mich über SUVs in der Hamburger Innenstadt echauffiert, aber dieser unerschütterliche, wenn nicht gleich starrköpfige Anspruch, jeder Besitzer eines Autos ist in die Kategorie »schlecht« einzuteilen, bis er sich dafür gerechtfertigt und erklärt hat, ist grundlegend verkehrt. Diejenigen, die aus dem Fahren eines Autos einen moralischen Vorwurf ableiten, sind sich ihrer Sache nichtsdestotrotz unheimlich sicher. Schließlich sind die wenigsten davon selbst im Besitz eines Autos. Gerade auch deshalb eignet sich das Auto und insbesondere ein SUV für die Klimabewegung so gut als Objekt der Abscheu. Was aber ein Autobesitzer sonst so tut und macht, ist dabei nicht von Interesse. Allein dieser eine Aspekt seines Lebens reicht, um jene Person in die Kategorie »schlecht« einzuordnen.

Führungspersönlichkeiten von Umweltbewegungen werden unterstützt, gehört und eingeladen. Einfach weil sie selbstbewusst fordern, dass man ihnen zuhören solle. Was einzigartig und gut ist. So helfen sie älteren Generationen, die jungen Menschen zu verstehen und sie sind erfolgreich darin, den Fokus auf eine grünere Zukunft zu legen. Folgerichtig hätte Greta Thunberg, die Initiatorin der Bewegung, sogar beinahe den Friedensnobelpreis bekommen. Sie wäre die jüngste Preisträgerin der Geschichte gewesen. Das Problem, das diese jungen Bewegungen haben, ist aber folgendes: Ihr auf moralischen Vorwürfen beruhender Duktus versucht, Entscheidungen zu erzwingen. Und das eben mit den klar definierten moralischen Kategorien. Es soll ein Schuldbewusstsein erzeugt werden bei den »Älteren«. Und auch jene, die Kritik an der Bewegung äußern, sollen dazu angehalten werden, diese aufgrund ihres schuldhaften Wirkens nicht zu wiederholen. Allein so wird aber keine Entscheidung erzwungen werden können. Man kann niemanden zur Unterstützung zwingen und die Kritiker zum Schweigen bringen. Entscheidungen mit einer Tragweite, wie sie von FfF oder der »Letzten Generation« gefordert werden, müssen zwangsläufig und immer auf Konsens abzielen. Anders wird man nicht annähernd in einem Maße erfolgreich sein können, wie man es vorhat und wie es wahrscheinlich auch notwendig wäre. Und genau deshalb kann und wird es für diese Bewegungen nicht funktionieren, wenn man die Autofahrer oder wen auch immer, der oder die durch die moralischen Raster fällt, aus der Diskussion auszuschließen versucht.

Der Klimawandel ist eine ernste Bedrohung und eine Aufgabe, die größter Eile bedarf. Auch sehe ich das politische Engagement positiv, schließlich wurden notwendige Veränderungen nie von den Regierenden – den oftmals älteren Generationen – angestoßen. Es braucht junge Revolutionäre. Aber diese Beispiele zeigen, wie klar die Kategorien momentan aufgeteilt sind und wie vereinfacht die Moral benutzt wird, um für diese Kategorisierungen zu sorgen; auch wenn diese nicht ohne Widerspruch auskommen. Einerseits ist es moralisch verwerflich, einen SUV zu fahren, andererseits ist es okay zu fliegen, wenn man kompensiert und sich so moralisch freikauft. Weil Fliegen etwas ist, auf das man nicht verzichten will, aber in einer Großstadt nicht auf ein Auto angewiesen ist. Dabei ist die Klimabewegung nicht allein. Dieses Prinzip zieht sich durch unsere Gesellschaft wie ein roter Faden. Jeder, der etwas auf sich hält, hat Dinge vorzuweisen, ob es Meinungen oder Gewohnheiten wie Ernährung sind, die unanfechtbar und eindeutig gut sind. Es liegt gleichsam in der Natur der Sache, dass dies offensiv nach außen kommuniziert wird. Genauso wie man Autos oder Häuser zeigt und dabei den scheinheiligen Eindruck der Bescheidenheit zu wahren versucht. Moral ist ein Statussymbol geworden, mehr denn je.

Eine zum Statussymbol verkommene Moral ist ein Problem. Dient sie nämlich nur dazu, die Welt in einfache Kategorien aufzuteilen, so wirkt sie ihrem eigenen Zweck entgegen. Denn so führt sie zu einer Polarisierung der Gesellschaft, die in ihrem Wesen letztlich unmoralisch weil unehrlich und egozentrisch ist. Die Moralisierung ist deshalb ein Problem, weil sie gesellschaftlichen Diskurs unterbindet. Wenn eine Person auf moralischer Grundlage anhand nur weniger Kriterien als »schlecht« kategorisiert wird und infolgedessen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden soll, dann verringert sich die Anzahl der Diskutanten, die wahrscheinlich einen wertvollen Beitrag hätten leisten können. Moral wird in diesem Sinne gar zum Machtinstrument.

Je enger die moralische Grundlage gesetzt wird, desto mehr Menschen werden aus einem Diskurs herausgedrängt. Die Zahl derer, die sich dazu berufen sehen, gesellschaftliche Lösungen zu finden und die sich für moralisch integer genug halten, das auch zu tun, wird dabei immer kleiner. Bis zu einem Punkt, dass am Ende nur ein kleiner und elitärer Zirkel übrig bleibt, der den Anspruch erhebt, für die gesamte Gesellschaft zu sprechen und zu entscheiden. Jedoch wird dieser kleine, nicht demokratisch gewählte und exklusive Kreis niemals in der Lage sein, Lösungen zu finden, die gesamtgesellschaftlich funktionieren, wenn überhaupt theoretisch; und erst recht werden die Lösungen dieses Zirkels der moralisch überlegenen Menschen keine breite Akzeptanz finden und sind somit zwangsläufig in jeder Hinsicht zum Scheitern verurteilt. Man kann dieses Phänomen an verschiedenen Stellen beobachten. Ein Paradebeispiel ist Twitter. Auf dieser Plattform ist es üblich, Menschen rigoros zu blockieren. Ist eine Person von einer anderen Person blockiert, kann sie keine Beiträge mehr von der blockierenden Person lesen und entsprechend auch nicht mehr an Diskussionen teilnehmen. Es ist üblich, dass nicht nur Extremisten und Internet-Trolle, für die diese Funktion eigentlich existiert, blockiert werden. Der Kreis zieht sich viel weiter. Manch ein reichweitenstarker Account geht regelrecht hausieren mit Blockierlisten. Es gibt eine wahre Kultur des Blockierens. Was man auch daran sehen kann, dass Werkzeuge gebastelt werden, die automatisch blockieren, sobald ein Account einem in Verruf geratenen Nutzer folgt. Man kann also blockiert werden, ohne jemals in Interaktion mit der blockierenden Person gestanden zu haben. Zwar ist Twitter in Deutschland weniger relevant als in anderen Teilen der Welt, aber es ist ein gutes Beispiel für die Entwicklung fruchtloser Debatten. Das Ziel dabei ist ein möglichst widerspruchsfreier Raum. Man will