Warum wir mündig glauben dürfen - Tobias Faix - E-Book

Warum wir mündig glauben dürfen E-Book

Tobias Faix

4,7

Beschreibung

Das Vorgängerbuch "Warum ich nicht mehr glaube" hat zahlreiche Menschen ins Nachdenken und ins Gespräch miteinander gebracht. Viele Christen haben sich erstmals intensiv damit beschäftigt, warum junge Erwachsene den Glauben verlieren. Fast immer kam dabei die Frage auf: "Wie kann man das verhindern?" Das nun vorliegende Buch vertieft und erweitert die gewonnenen Erkenntnisse. Expertinnen und Experten wie Christina Brudereck, Alexander Garth oder Andreas Malessa denken in kurzen Beiträgen über die vier Themenbereiche "Zweifel & Identität", "Offenheit & Vielfalt", "Macht & Missbrauch" sowie "Mündigen Glauben stärken und fördern" nach und damit auch darüber, wie man zu einer Kultur des verantwortlichen Glaubens findet.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22819-9 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26664-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten

Internet: www.scmedien.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weiter wurden folgende Übersetzungen verwendet:

Neues Leben. Die Bibel, © 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten. (NLB)

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,

© 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)

Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica US, Inc., Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Verlags. (HFA)

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart. (EÜ)

Umschlaggestaltung: dyadesign, Düsseldorf – www.dya.de

Satz: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Einleitung – Von der Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ zu diesem Buch

1. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse von „Warum ich nicht mehr glaube“

2. Unser persönliches Zwischenfazit

3. Das Ziel dieses Buches

Teil 1 Auf dem Weg mit Zweifeln und Andersdenkenden

Arne Bachmann: Zweifelhaft glauben

Thorsten Dietz: Wie wir die Bibel verstehen können

Holger Böckel: Glaubensentwicklung im Lebenslauf

Alexander Garth: Auseinandersetzung mit dem „neuen“ Atheismus

Matthias Clausen: Brauchen wir eine neue Apologetik?

Heike Dreisbach: Die Praxisidee „Thomasmesse“ – ein Gottesdienst für Zweifler und andere gute Christen

Teil 2 Auf dem Weg der Einheit und Vielfalt

Peter Aschoff: Verdächtige Vielfalt?

Michaela Baumann/Eleonore Eich: Die Freiheit des Glaubens und die Grenzen der Gemeinde – soziologische Perspektiven

Michaela Baumann: Auf der Suche nach Schutz und Anerkennung – über die unheilige Beziehung zwischen geistlichem Missbrauch und religiösem Fundamentalismus

Christina Brudereck: Reisen, zweifeln, staunen – wie mein Glaube sich entwickelt hat

Heinrich Christian Rust: Gemeinde und Vielfalt – Chancen und Grenzen

Bianca Dümling: Kulturelle Vielfalt als Chance und Herausforderung

Christina Brudereck: Praxisidee – Zeit des Meisters

Teil 3 Auf dem Weg in Familien und Gemeinden

Andreas Malessa: „Deiner Mutter bricht das Herz!“ – wenn Kinder nicht mehr gläubig leben

Wilhelm Faix: Kinder im Glauben erziehen

Martina Kessler: Machtfallen in Gemeinden

Christopher Rinke: Verantwortungsvolle Leitungskultur

Edith Höll: Ehrenamtliche – gefördert oder überfordert?

Jennifer Paulus: Sexualität und Gemeinde – eine neue Perspektive

Teil 4 Auf dem Weg zu einem mündigen Glauben

Henning Freund: Glaube im Sturm –von der Resilienz zur Transformation des Glaubens

Jörg Ahlbrecht: Mythos „geistliches Wachstum“–eine biblisch-theologische Betrachtung

Tobias Künkler: Glaube als Beziehungsgeschehen

Roger Mielke: Wie Freiheit des Glaubens zur Mündigkeit führt – eine evangelische Perspektive

Godwin Haueis: Ich denke und glaube trotzdem – wie Gemeinden einen mündigen Glauben fördern

Rolf Krüger: Kritikfähig – konstruktiver Umgang mit negativen Medienberichten

Ursula Silber: Praxisidee „Dem Wort auf der Spur“– Bibel lesen mit Herz und Verstand

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einleitung –Von der Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ zu diesem Buch

Tobias Faix, Martin Hofmann, Tobias Künkler

Dieses Buch ist auf dem Hintergrund unserer Studie und des dazu erschienenen Buches „Warum ich nicht mehr glaube – Wenn junge Erwachsene den Glauben verlieren“ entstanden. Auch wenn dort im Schlusskapitel erste Konsequenzen für Christen und Gemeinden gezogen wurden, soll in diesem Buch den Fragen nach einem mündigen und gesunden Glauben und einer guten Gemeindekultur vertieft nachgegangen werden. Zunächst fassen wir noch einmal die wichtigsten Ergebnisse der Studie zusammen, damit auch den LeserInnen, die unser erstes Buch nicht kennen, klar ist, worauf die folgenden Beiträge immer wieder aufbauen. Als Zweites ziehen wir ein persönliches Zwischenfazit aus den vielen Reaktionen auf unsere Studie. Und schließlich stellen wir die Ziele dieses Buches sowie dessen Aufbau vor und geben einen Ausblick auf die unterschiedlichen Beiträge, die dann im Hauptteil folgen.

1. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse von „Warum ich nicht mehr glaube“

„Dekonversion“, zu Deutsch: „Entkehrung“, ist der Fachbegriff für das von uns untersuchte Phänomen und steht für „Nicht-mehr-Glauben“ oder „Glaubensverlust“. Kurz gesagt bezeichnet Dekonversion die Tatsache, dass zuvor Gläubige nicht mehr glauben wollen oder können bzw. dies irgendwann bewusst beschließen und sich nun als Nicht-mehr-Gläubige oder ehemalige Christen verstehen. Interessant dabei ist, dass Dekonversion im Bereich der Kirche und der Theologie kaum jemals von Interesse gewesen zu sein scheint. Dort liegt der Schwerpunkt oftmals eher auf der Be- als der Entkehrung.

Unser Anliegen war es, uns der Dekonversion ehemaliger junger Christinnen und Christen aus dem deutschsprachigen Raum zu nähern und uns ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Beweggründe erzählen zu lassen. Dabei ging es uns nicht um eine theologische Beurteilung, sondern darum, die Betroffenen und ihre Geschichten besser zu verstehen. Aufbauend auf einer Analyse populärer und wissenschaftlicher Literatur führten wir eine Online-Befragung durch, an der über 330 Personen teilgenommen haben, die alle von sich sagten, einst im christlichen Sinne geglaubt zu haben und dies nun nicht mehr zu tun. Aus dieser Gruppe haben wir nach zuvor festgelegten Kriterien fünfzehn Personen ausgewählt und ausführlich interviewt.

Es ging in der Studie in erster Linie darum, die Geschichten von Menschen zu hören und zu verstehen, ohne dabei zu pauschalisieren. Wir wollten vielmehr das Thema und die persönlichen Erlebnisse aufnehmen und überlegen, was daraus für Schlüsse gezogen werden können. Viele haben sich in ihren Glaubenskämpfen alleine gefühlt und haben von ihrer Kirche und Gemeinde wenig positive Unterstützung erfahren. Nach den Interviews fielen zuweilen Sätze wie: „Danke, Sie sind die Ersten, die sich wirklich für meine Geschichte interessieren.“

Manches von dem, was wir herausgefunden haben, ist nicht leicht zu verdauen. Wir stießen auf teils unbegreifliche Schicksale, verstörendes (Nicht-)Handeln Gottes, zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten von Glaubensgeschwistern u.v.m. Andererseits wurde uns aber nicht nur Negatives über Gläubige berichtet. Oft wurden sie auch als einfühlsam, unterstützend und offen erlebt, und dennoch kam es so weit, dass die Interviewten ihren Glauben verloren haben. Gerade deswegen sind wir davon überzeugt, dass es sich nicht nur lohnt, sondern dass es in gewissem Maße sogar unsere Verantwortung als Christen ist, uns mit diesem sensiblen Thema auseinanderzusetzen und als Einzelne wie als Gemeinschaften davon zu lernen.

Der Prozess des Glaubensverlustes

So wie man davon ausgeht, dass die Bekehrung das Leben eines Menschen verändert, so wurde uns Ähnliches oft auch über die Entkehrung berichtet. Was alle Befragten eint, ist das Erleben, dass es sich bei ihrem Glaubensverlust um einen Prozess handelte. Zwar gab es bei Einzelnen auch bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse, die einen gewissen Wendepunkt darstellten, aber in der Regel hat sich der Prozess, bis es zur endgültigen Abwendung vom Glauben kam, über mehrere Jahre hingezogen. Dies hatte bei den meisten eine direkte Auswirkung auf ihr Umfeld, also ihre Partnerschaft, die Familie, den Freundeskreis und natürlich auf die Kontakte zu der Kirche oder Gemeinde, in die sie bisher gegangen waren.

Insgesamt stießen wir auf drei unterschiedliche Arten, wie die eigene Entkehrung erlebt wurde. Am häufigsten wurde uns von den Betroffenen eine Befreiung und Erleichterung geschildert. Das empfundene „Korsett“ des Glaubens wurde abgelegt, viele grundsätzliche Werte blieben aber erhalten. Bei der zweiten Gruppe war es ähnlich, jedoch entstand durch das Verschwinden des Glaubens ein (Sinn-)Vakuum, das erst neu gefüllt werden musste. Eher selten erlebten die Befragten einen unspektakulären Übergang vom Glauben zum Nicht-Glauben. Die Entkehrten entwickelten neue Bewältigungsstrategien und Werte gewissermaßen fließend und hatten keinerlei Probleme mit ihrem „neuen Leben“.

Unabhängig von diesen drei Umgangsweisen mit dem Verlust des Glaubens standen vier Leitmotive, die den Weg der Interviewpartner prägten, im Vordergrund unserer Studie.

Die vier Leitmotive

Auch wenn jeder Mensch in seiner Biografie einzigartig und individuell ist, finden sich stets Ähnlichkeiten, die helfen, Lebensgeschichten anhand von gemeinsamen Merkmalen in Gruppen zu ordnen. Bei der Betrachtung der fünfzehn Interviews unserer Studie war es erstaunlich, wie viele Gemeinsamkeiten es gab. Wir konnten daher vier Leitmotive identifizieren, von denen jeweils eines im Verlauf des Dekonversionsprozesses besonders dominant war: (1) Moral, (2) Intellekt, (3) Identität und (4) Gottesbeziehung. Diese Leitmotive tauchten jeweils in zwei verschiedenen Ausprägungen (Typen) auf, wobei zu bedenken ist, dass sie in den Lebensgeschichten nie völlig isoliert zutage traten, sondern meist in einer Mischung. Eines der Motive war dabei jedoch stets dominierend.1

(1) Moral spielt in fast allen Gemeinschaften eine mehr oder weniger starke Rolle. Vor allem in Kreisen, die Wert auf ein bewusstes Leben als Christ legen, soll der Glaube auch Auswirkungen im Handeln haben, was an sich ein neutrales Phänomen ist. Es kann jedoch auch problematisch werden, wenn beispielsweise Erwartungen nicht klar ausgesprochen werden, obwohl sie von allen unbewusst wahrgenommen werden. Werden von der Leitung sehr klare und rigide Maßstäbe für das richtige Verhalten kommuniziert, können sie mitunter zu einengenden Gesetzen werden. Zuletzt kann Moral, gerade auch in Verbindung mit Macht, benutzt werden, um Menschen, bewusst oder unbewusst, zu kontrollieren und ihr Verhalten zu manipulieren.

In unseren Interviews tauchten im Zusammenhang mit dem Leitmotiv Moral zwei Erscheinungsformen auf. Die Eingeengten fühlten sich durch die herrschenden Maßstäbe kontrolliert und vermissten die propagierte Freiheit im Glauben. Beim zweiten Typ, den Verletzten, kam die Moral – und mit ihr häufig auch Macht – nicht nur einengend an die Persönlichkeit heran, sondern überschritt diese Grenzen sogar in Form von Übergriffen und Verletzungen. Diese waren teils geistlich, teils psychisch, aber auch körperlich und sexuell.

Man kann festhalten, dass in diesen Fällen das Verhalten von anderen Christen einen entscheidenden Einfluss auf die Dekonversion hatte. Mit der Ablegung des Glaubens wurde auch versucht, wieder die Souveränität über das eigene Leben zu erlangen.

(2) Das Leitmotiv Intellekt hat mehr mit den Interviewpartnern selbst zu tun. Sie zweifelten an Dogmen und Lehre oder natur- bzw. geisteswissenschaftliche Erkenntnisse kamen in Konflikt mit christlichen Glaubensinhalten. An einem bestimmten Punkt konnten sie dann Glauben und eigenes Denken nicht mehr in Einklang bringen oder als getrennte Systeme nebeneinanderstehen lassen.

Die beiden Erscheinungsformen, die sich bei diesem Leitmotiv als typisch herausgestellt haben, sind die Zweifelnden, die in einem inneren Konflikt standen, wie sie zwei sich scheinbar widersprechende Weltsichten in Verbindung bringen sollten, und die Grübelnden, die ganz grundsätzlich ihre Erfahrungen und Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf die christliche Lehre hinterfragten.

(3) Noch stärker mit der Person der Interviewten hängt das Leitmotiv Identität zusammen. Hier spielt jedoch auch das soziale Umfeld eine große Rolle. Die Auseinandersetzung mit sich selbst kann dazu führen, dass der Glauben als nicht mehr stimmig oder zu einem gehörig betrachtet wird. Bei den Entwachsenen war es meist so, dass der bislang wenig reflektierte Kinderglaube im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter nicht mehr als adäquat empfunden wurde und sich auch kein dem Alter angemessener Glaube entwickelte. Die Distanzierung vom Glauben ging dann einher mit dem Erwachsenwerden. Er entsprach in diesen Fällen nicht mehr der gereiften Identität.

Die Zerrissenen hatten hingegen meist einen bewussten Glauben. Es entstanden jedoch irgendwann Widersprüche zwischen dem Glauben und der Art, wie er (in Gemeinde etc.) gelebt wurde, bzw. der eigenen Identität oder den Lebensentwürfen, die die Interviewpartner für sich entwickelten.

(4) Das letzte Leitmotiv spiegelt einen für das Christentum zentralen Punkt wider: die Gottesbeziehung. Das für viele am Beginn ihres Glaubens wichtige und tröstende Bild eines Gottes, der sich ihnen persönlich zuwendet, kann sich aufgrund der weiteren Lebensereignisse als fraglich erweisen. In der Folge kann es, ähnlich wie in einer gestörten menschlichen Beziehung, zur Trennung kommen.

Die Enttäuschten wollten diese Beziehung zu Gott oft auch emotional und im täglichen Leben erfahren, was jedoch nicht geschah, wohingegen die Geplagten durch verschiedene Schicksalsschläge in ihrem eigenen Leben oder auch in ihrem Umfeld in ihrer Gottesbeziehung erschüttert wurden. Sie litten persönlich (mit), sodass es unmöglich wurde, einem angeblich liebevollen Gott weiter zu vertrauen. Manche verwarfen das Konzept eines Gottes in einem einzigen Moment, andere distanzierten sich Schritt für Schritt in ihrem Denken und Handeln, bis Gott schließlich nicht mehr als Realität in Betracht gezogen wurde.

2. Unser persönliches Zwischenfazit

Über drei Jahre haben wir uns jetzt mit dem Thema Dekonversion beschäftigt, haben recherchiert, interviewt, analysiert, interpretiert, veröffentlicht, vorgetragen und diskutiert. Wir können uns an kein anderes Thema erinnern, das uns so berührt, mitgenommen und teils verärgert hat. Und dies nicht nur als Wissenschaftler, sondern gerade auch als Gläubige.

Es haben sich bei der Studie viel mehr und viel schneller interessierte Teilnehmer gemeldet, als wir gedacht haben. Daneben haben uns viele Leute kontaktiert, die aus verschiedenen Gründen nicht mitmachen wollten, sich aber sehr gefreut haben, dass dieses Thema endlich nicht mehr verdrängt wird. Dazu gehörten auch Freunde und Bekannte und sogar Menschen, die noch im hauptamtlichen Dienst in einer Kirche oder Gemeinde tätig sind. Wir haben lange Mails und Briefe bekommen und selbst in der Online-Befragung (bei der Antworten normalerweise sehr kurz ausfallen) wurde uns seitenweise erklärt, warum Menschen nicht mehr glauben können oder wollen.

Nicht immer spielten negative Erfahrungen mit Christen bzw. mit der Kirche oder Gemeinde eine Rolle im Prozess der Dekonversion. Dennoch waren wir teils entsetzt und betroffen über manche Abgründe, in die wir Einblick bekamen. Wir hörten von Leid, Not und Zerbruch, die nicht selten von Dingen ausgelöst wurden, die Menschen im Namen Gottes an anderen verübten. Oft geschah das nicht bewusst, manchmal sogar mit (scheinbar) guter Absicht. So wurden beispielsweise mit unglaublicher Vehemenz die eigenen Moralvorstellungen durchgesetzt, um ein scheinbar höheres geistliches Ziel zu erreichen oder Gottes Sache zu verteidigen. Hier scheint es viele blinde Flecken in Gemeinden zu geben, und dies in unterschiedlichen Facetten durch alle Konfessionen und Denominationen hindurch.

Besonders gesetzliche oder ungesund charismatisch orientierte Gemeinden bieten Menschen mit entsprechenden Persönlichkeitsstrukturen oft eine Plattform und damit auch eine Legitimation, Druck auf einzelne Mitglieder oder ganze Gruppen auszuüben und Einzelne zu Handlungen zu zwingen, die sie nicht wollen und als Verletzung ihrer Grenzen oder Beschädigung ihrer Würde empfinden. Gerade Menschen, die eine unsichere Persönlichkeit haben und/oder zum Perfektionismus neigen, sind anfällig gegenüber solchen falschen Autoritätspersonen. Dabei spielen Missbrauch und Manipulation im Namen des Heiligen Geistes oder der Bibel eine große Rolle.

In manchen Gemeinden sind Strukturen so aufgebaut, dass leitende Personen und ihre Meinungen (und ihre Theologie) unantastbar sind bzw. dass es keine Möglichkeit der Mitbestimmung oder Kritik gibt. Es gibt klare Hierarchien statt Mitspracherecht und Beteiligung, und in diesen Hierarchien steigt man häufig nur durch ein undurchsichtiges (angeblich von Gott eingesetztes) Berufungsverfahren auf. Es mangelt an Transparenz; Entscheidungen von Autoritätspersonen ebenso wie ihr Handeln können teilweise nicht nachvollzogen werden. Kritik ist nicht erwünscht und wird als eigener Fehler (beispielsweise mangelndes Gottvertrauen) zurückgespiegelt.

Das Thema Sexualethik und besonders die Auseinandersetzung mit Homosexualität sind in Kirchen und Gemeinden höchst umstritten. Wir wollen an dieser Stelle nicht in eine inhaltliche Diskussion einsteigen, sondern auf die Stimmen der Betroffenen hinweisen bzw. darauf, wie sie ihre Dekonversion in diesem Zusammenhang erlebt haben. Dabei kristallisierte sich bei unseren Gesprächspartnern in der Studie zum einen eine kleinere Gruppe von homosexuellen Menschen heraus und zum anderen eine größere Gruppe von Menschen, die sich für sie einsetzen und einen Platz in der Gemeinde für sie fordern.

Wir haben festgestellt, dass wir manche der Gründe für eine Dekonversion gut nachvollziehen konnten, dass wir uns für manche unserer Mitchristen auch geschämt haben und dass wir selbst anfingen, über bestimmte Fragen neu und anders nachzudenken. Offen gesagt: Wir sind damit noch nicht fertig. Manches haben wir auch während der Forschung zunächst mal zur Seite geschoben und merken jetzt, dass bestimmte Fragen wieder hochkommen, denen wir uns mit unserer Biografie, unseren Erfahrungen und unserem Glauben stellen möchten und müssen.

Im Kontrast zu all diesen traurigen und teils sogar niederschmetternden Berichten sind uns aber auch Berichte im Ohr, in denen Gemeinden und Christen ganz wunderbar, einfühlsam und vorbildlich auf Menschen mit Glaubenszweifeln und -krisen reagiert haben: von Ehepartnern, die den Weg unterstützten, von Freunden und Leitern, die sich Zeit genommen haben, zuhörten und begleiteten, von Gemeinden, die eine so offene und herzliche Atmosphäre haben, dass ihre ehemaligen Mitglieder trotz Glaubensverlusts und offiziellen Austritts nach wie vor gerne an deren Veranstaltungen teilnehmen.

Überrascht waren wir auch von den vielen direkten Rückmeldungen der LeserInnen, die wir nach Erscheinen des Buches „Warum ich nicht mehr glaube“ erhalten haben. Einige schrieben oder sagten uns: „Ich habe ganz Ähnliches erlebt wie Ines …“ Oder auch: „Die gleichen Zweifel wie Patrick habe ich auch …“ Während die einen dieses Wiedererkennen ermutigt, weil sie merken, dass sie nicht alleine sind, erleben andere hier eine Verunsicherung. Am Ende einer Lesung sagte eine Zuhörerin: „Vielen Dank für die vielen Fragen, die ich von heute Abend mitnehme.“

Gerade aus der Gruppe der Entkehrten haben wir viele Rückmeldungen bekommen, dass sie sich durch die Studie wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen. Dies hat uns sehr ermutigt, weiter am Thema dranzubleiben – unter anderem ist dieses Buch deshalb entstanden. Und auch bei Glaubenden führte die Studie zu einem tieferen Verständnis für andere und zu einem neuen Nachdenken über die eigene Gemeinde und den eigenen Glauben. Doch auch die Tragik, die viele Dekonversionen mit sich bringen, kam zutage. So haben sich Eltern bei uns gemeldet, deren Kinder nicht mehr glauben und die dies als sehr schmerzhaften Prozess erleben. Aufgrund solcher Erfahrungen werden in diesem Buch auch Fragen im Zusammenhang mit christlicher Erziehung angesprochen.

Besonders ermutigt hat uns, dass unsere Erkenntnisse und Ideen den Weg in den Gemeindealltag gefunden haben. Sie waren Thema in verschiedenen Medien, in Gemeindebriefen, Predigten, Jugend- und Hauskreisen, Seminaren und anderen Veranstaltungen; immer wieder wurde diskutiert, wie sich Gemeinde und Kirche verändern müssen, damit sichere Räume entstehen, in denen Zweifel ausgesprochen werden können, Glaube widerstandsfähig wird und Strukturen hinterfragt werden dürfen.

3. Das Ziel dieses Buches

Vor diesem Hintergrund wurde es uns wichtig, nicht bei der Studie stehen zu bleiben – auch wenn wir im Buch „Warum ich nicht mehr glaube“ im Schlusskapitel erste Konsequenzen für Christen und Gemeinden gezogen haben.

Zum einen gibt es einen großen Bedarf an weiterer wissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiet der Dekonversion. Zum anderen aber, und darauf ist nun in diesem Band das Hauptaugenmerk gerichtet, wollten wir auch den drängenden Fragen, die sich daraus für Kirchen, Gemeinden, in der Seelsorge und im täglichen Miteinander für Christen ergeben, Platz einräumen.

Auch dieses Buch ist kein Nachschlagewerk, in dem man für bestimmte Fragen die passende Antwort findet, oder ein Rezeptbuch mit der Universalmethode, wie man in sieben Schritten Nicht-mehr-Gläubige zurückgewinnt. Stattdessen soll es weiter zum Nachdenken anregen, Impulse setzen, Horizonte aufreißen und Mut machen, da, wo nötig, neue Wege zu gehen.

In dem Bewusstsein, dass es viele Menschen gibt, die sich schon intensiv mit einzelnen Themen, die sich aus der Studie ergeben haben, auseinandergesetzt haben, sind wir auf verschiedene Experten zugegangen und haben sie um ihren Beitrag gebeten. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Texte wurden bewusst aus verschiedenen Konfessionen und beruflichen Hintergründen ausgesucht und sind alle Fachleute auf ihrem Gebiet. Sie nehmen uns mit hinein in ihr eigenes Denken und Erleben. Das drückt sich aus in ihrem je eigenen Stil und in den persönlichen Anklängen in ihren Beiträgen. Der eine Text wird dadurch manchen vielleicht näherliegen als der andere. Doch ebenda, wo man sich an etwas stößt, was einem fremd ist, kann es sich lohnen, stehen zu bleiben und genauer hinzuschauen. Schließlich kann gerade der Umgang mit den Dissonanzen zwischen der eigenen Meinung und der Meinung anderer die Mündigkeit im Glauben schulen. Daher sind die Heterogenität der Texte und der Umgang damit beim Lesen und Reflektieren schon ein erster Schritt in Richtung des Buchthemas.

Gemeinsam mit allen Autorinnen und Autoren wollen wir auf diese Weise vielfältige Impulse setzen, sich mit der Frage nach einem mündigen Glauben auseinanderzusetzen. Darunter verstehen wir einen Glauben, der reflektiert und eigenverantwortlich gelebt wird, sich mit der eigenen Herkunft und Prägung sowie mit der Gesellschaft und ihren Veränderungen offen und auch immer wieder kritisch auseinandersetzt.

Doch solch ein reflektierter Glaube entsteht nicht allein dadurch, dass man jeden Sonntag im Gottesdienst sitzt, sondern durch die Beziehung zu Gott, anderen Menschen und die Beziehung zu sich selbst. Ein gesunder Glaube wirkt nicht kompensatorisch. Das heißt: Er dient nicht dazu, Defizite in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zuzudecken. Ein Mensch mit einem mündigen Glauben befindet sich in einer Entwicklung, in der er immer weniger darauf angewiesen ist, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Er lässt sich nicht in ein starres und festes Regelwerk pressen, sondern braucht Freiheit, sich zu entfalten. Wir sehen in der Entwicklung eines mündigen Glaubens die Chance, dass manche Faktoren, die eine Dekonversion begünstigen können, in ihrer Wirkung abgeschwächt werden: wenn Fragen und Zweifel nicht mehr mit Schuld und Unglaube assoziiert werden; wenn bewusst wird, dass das Ablegen eines kindlichen Gottesbildes Raum für das eines Erwachsenen schafft; wenn Christinnen und Christen die Freiheit finden, Manipulation und Machtspiele in ihren Gemeinden offen anzugehen und hier Veränderung zu bewirken.

In diesem Sinne wollen wir dazu ermutigen, sich kritischen Fragen und herausfordernden Situationen nicht zu verschließen, sondern sich mutig und mit Gottvertrauen in sie hineinzubegeben, ganz im Sinne des Paulus, der die Christen in Thessaloniki aufforderte, alles zunächst einmal zu prüfen und das Gute zu behalten. Dazu möchten wir mit diesem Band einladen, denn bei der Frage nach der Dekonversion geht es um Menschen: Menschen in konkreten Situationen, mit konkreten Fragen und einer individuellen Geschichte. Es sollte unsere Verantwortung als Christen sein, sie in ihrer Lebenssituation und ihrer Individualität ernst zu nehmen. Dazu gehört auch, die Geschichte Gottes mit uns selbst ernst zu nehmen und nicht starr bei dem zu verharren, was sich für uns einmal als richtig erwiesen hat, sondern unseren eigenen Glauben immer wieder im Licht der eigenen Lebens- und Lernerfahrungen zu hinterfragen. Wer stehen bleibt, kann nicht nachfolgen. Zudem liegt für uns das Herz des Evangeliums in der befreienden Liebe Christi, die uns in die Weite und nicht in die Enge führen möchte.

Niemals geht es uns darum, Gemeinde, Christen oder gar den Glauben an sich schlechtzumachen. Ganz im Gegenteil: Weil wir Gemeinde lieben und selbst glauben, ist es uns wichtig, auch die blinden Flecken bei uns selbst und anderen anzusprechen. Wir wollen stets bedenken, dass bestimmte Situationen von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden und dass dabei die eigene Persönlichkeit, die aktuelle Verfassung, biografische Prägungen etc. eine Rolle spielen.

Da ein mündiger Glaube nie wirklich fertig, sondern andauernd in Bewegung und Entwicklung ist, haben wir uns im Untertitel sowie beim Aufbau des Buchs für die Metapher des „Weges“ entschieden. Die verschiedenen Beiträge sollen nicht nur zum Nach- und Weiterdenken anregen, sondern die LeserInnen im besten Sinne des Wortes „bewegen“. So können manche Beiträge Wegbegleiter sein, andere ermutigen vielleicht zu neuen Wegen oder machen Wege sichtbar, die bislang verborgen waren. Wieder andere Artikel geben Orientierung oder Hinweise für den Weg eines mündigen Glaubens.

In den vier großen Abschnitten dieses Buchs wollen wir uns somit gemeinsam auf den Weg machen zu Themen, die in der Studie immer wieder auftauchten und bei uns und anderen Fragen aufwarfen. Es geht dabei in einem ersten großen Teil um den Umgang mit Fragen, Zweifeln sowie mit Andersdenkenden und damit verbunden auch mit den Grundlagen des eigenen Glaubens. Der zweite Teil orientiert sich an der Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und dem Wunsch nach Einheitlichkeit und Verbindlichkeit im Glauben gelebt werden kann. Im dritten Teil werden speziell Familien und Gemeinden in den Fokus genommen, da dort der Glaube am stärksten geprägt wird. Der vierte Teil schließlich setzt sich mit dem mündigen Glauben selbst auseinander – wie man ihn entwickeln, aber auch praktisch leben kann.

Wir freuen uns, wenn sich beim Laufen Gruppen bilden, die sich austauschen und sich gemeinsam auf den Weg machen, das Leben und ihren Glauben zu gestalten. Zwischen die unterschiedlichen Beiträge sind immer wieder Praxisideen eingestreut; kurze Artikel, die sehr konkrete Ideen und Methoden vorstellen und zum Ausprobieren anregen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Teil 1 Auf dem Weg mit Zweifeln und Andersdenkenden

Es braucht mehr Raum für Zweifel, Quergedachtes und eine eigene Meinung. Ein immer wieder vorkommendes Motiv bei den Entkehrten war die fehlende Möglichkeit, die eigenen Gedanken und Zweifel in der Gemeinde einzubringen und offen über sie zu sprechen. Dabei sind Zweifel und Anfragen etwas Normales, der eigene Glaube kann sich dadurch in verschiedenen Phasen des Lebens entwickeln und daran und darin reifen. Eine wertvolle Grundhaltung besteht dabei in der Einsicht, dass der eigene Glaube immer nur vorläufig und niemals perfekt oder fertig ist. Darum muss man sich immer wieder um ihn bemühen. Dies bedeutet, dass man sich vielleicht auf der einen Seite von lieb gewordenen Gewissheiten und Gewohnheiten verabschieden muss, dass auf der anderen Seite aber auch ein neuer Raum des Glaubens betreten werden kann, der viel größer und schöner ist und in dem zum Beispiel auch Zweifel ihren Platz haben.

In diesem ersten Teil wird es daher darum gehen, wie man für sich selbst mit Fragen an den Glauben und die eigene Theologie umgehen kann: Sei es, dass diese Fragen von Nicht- oder Andersgläubigen, also von außen, an einen herangetragen werden, sei es, dass sie dem eigenen Nachdenken oder einfach der persönlichen Weiterentwicklung entspringen.

In seinem Beitrag „Zweifelhaft glauben“ geht Arne Bachmann der Rolle des Zweifels für einen mündigen Glauben nach. Er betrachtet unterschiedliche Arten von Zweifel und zeigt auf, dass Zweifel keinen Gegensatz zum Glauben darstellen. Auch fragt er, wie es dazu gekommen ist, dass wir Glauben manchmal mit Sicherheit verwechseln. Vor allem aber macht er deutlich, dass der Zweifel positiv und produktiv, ja sogar unerlässlich für den Glauben selbst ist.

Ein Thema, dass bei Entkehrten häufig angesprochen wurde, ist der Umgang mit der Bibel. Wie kann ich die Bibel einerseits voll und ganz in ihrer Autorität als Wort Gottes ernst nehmen, ohne dass ich andererseits völlig unkritisch mit ihr umgehe, ist eine Frage, die sich heute viele Christen stellen. Thorsten Dietz skizziert in seinem Beitrag „Wie wir die Bibel verstehen können“ einen konstruktiven dritten Weg. Allgemein verständlich arbeitet er aus der theologischen Disziplin der Bibelhermeneutik hilfreiche Hinweise heraus, wie wir mit der Bibel und ihren Aussagen sorgsam umgehen und dabei ihrem Anspruch gerecht werden können.

Holger Böckel bringt unter dem Titel „Glaubensentwicklung im Lebenslauf“ die Ergebnisse der Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ in Verbindung mit Modellen und Erkenntnissen zur Glaubensentwicklung aus der Religionspädagogik (Fowler) und Kognitionspsychologie. Dabei zeigt er auf, dass gerade in den Phasen des Übergangs von einer Glaubensphase in die nächste Brüche entstehen können, die den Glauben insgesamt infrage stellen. Seine Lösungsansätze sind eine Herausforderung für Religionspädagogen wie für kirchliche Gruppen im Allgemeinen, stellen sie doch auch Fragen an die eigene Person.

Eine interessante „Auseinandersetzung mit dem ‚neuen‘ Atheismus“ nimmt Alexander Garth vor. Selbst in der ehemaligen DDR aufgewachsen, befasst er sich pointiert und klug mit der aktuellen Strömung und den Argumenten des Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Dabei zeigt er auf, dass besonders ein fundamentalistisch geprägter Glaube für solche Argumentationen anfällig ist. Er endet mit fünf praktischen Hilfestellungen, wie der eigene Glaube in dieser Auseinandersetzung gestärkt werden kann.

Matthias Clausen fragt: „Brauchen wir eine neue Apologetik?“, und stellt fest, dass es auf viele Fragen und Zweifel handfeste Antworten gibt. Denn Glauben hat mit Denken zu tun, und so folgt Clausen den Spuren der bekannten Apologeten John Lennox und C.S. Lewis und macht plausibel deutlich, dass es sich lohnt, auf immer neue Fragen immer neue Antworten zu finden. Dabei betont er, dass Herz und Verstand zusammengehören.

Heike Dreisbach, Referentin für Erwachsenenbildung im Evangelischen Kirchenkreis Siegen, gehörte zum Gründungsteam der Thomasmesse Siegen. Sie beschreibt in ihrer Praxisidee „Thomasmesse – ein Gottesdienst für Zweifler und andere gute Christen“.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Zweifelhaft glauben

Arne Bachmann

Ein mulmiges Gefühl im Magen.

Ein Gedanke, den man weit von sich wegschieben will und der immer wieder auftaucht.

Die Frage: Was wäre, wenn?

Was wäre, wenn es sich nicht so verhielte wie gedacht?

Was wäre, wenn sich alles als Schwindel herausstellte?

Wenn der Grund zum Abgrund wird, der sich vor den Füßen auftut?

Das Gefühl, aller Gewissheiten beraubt zu sein, keine Orientierung mehr zu haben, nicht mehr so recht zu wissen, wohin. Nicht mehr so recht zu wissen, wer das eigentlich ist, der sich diese Fragen stellt.

Skepsis und Zweifel

So oder so ähnlich mag es sich anfühlen, wenn man dem Zweifel verfällt. Manchmal überfällt er einen sehr plötzlich und manchmal wird eher sehr schleichend Vertrauen untergraben, Gewissheiten verlieren sich und Standpunkte lösen sich auf. Hier lohnt es sich, zunächst einmal zu betrachten, was wir genau meinen, wenn wir sagen: „Ich zweifle.“

Zum einen gibt es einen Zweifel aus der Distanz, man könnte auch von Skepsis sprechen: Jemand berichtet davon, dass er nicht glaubt, dass die Amerikaner auf dem Mond gelandet sind. Vielleicht präsentiert er sogar Beweise, die er bei einer „ganz sicheren Quelle“ im Internet gefunden hat. Der Zweifelnde hat eigentlich mit der Mondlandung nichts zu tun, er hat keinen Bezug zu den Geschehnissen im Jahr 1969. Er zweifelt ohne allzu großen existenziellen Bezug zu der Sache. Ähnlich verhält es sich, wenn zum Beispiel ein naturwissenschaftlich geprägter Bekannter an Gott zweifelt und sagt: „Bevor man mir nicht Beweise vorlegt, glaube ich nicht an Gott.“

Es geht hier um Beweise, um Evidenz, um Fakten. Der Zweifelnde ist wie ein Richter, der möglichst objektiv eine Sache betrachten soll, die ihm vorgelegt wird. Dazu gibt es eine Beweisaufnahme. Alles Relevante wird gesichtet, abgewogen und am Ende ein Urteil gefällt. Die Vernunft ist hier die Richterin und Gott der Angeklagte.

Doch ist das wirklich der Zweifel, um den es geht? Um das nüchterne Abwägen von Fakten? Um Beweisaufnahme und Suche nach Evidenz? Dann würde es reichen, Apologetik, also die vernünftige Verteidigung christlicher Wahrheitsansprüche, zu betreiben, wie beispielsweise C.S. Lewis es tat. Dann würde es genügen, zu argumentieren, zu diskutieren und zu zeigen, wie der Glaube sinnvoll, gar vernünftig sein kann.

Doch irgendwie scheint das nicht auszureichen. Das scheint nicht die Art von Zweifel zu sein, um die es hier geht. Die Art von Zweifel, die uns hier beschäftigt, dreht sich nicht um den unbeteiligten Beobachter, der hinter den Jalousien seines Verstandes steht und neugierig herausschaut, ob es da draußen noch eine andere Welt gibt.

Wenn wir Schwierigkeiten haben, unserem Bekannten, der an der Mondlandung Zweifel hegt, Glauben zu schenken, ist es schon etwas anderes. Dieser Zweifel spielt sich auf der Beziehungsebene ab. Wir zweifeln nicht nur Aussagen an, die wahr sein könnten oder nicht, sondern wir ziehen eine ganze Person in Zweifel. Wir stufen unseren Bekannten als nicht vertrauenswürdig ein und entziehen ihm unser Vertrauen. Das setzt voraus, dass wir bereits in einem (mehr oder weniger engen) Vertrauensverhältnis standen.

So scheint es ja auch beim Glauben an Gott zu sein. Der zweifelnde Gläubige steht ebenfalls nicht im Niemandsland, um sich zwischen zwei gleichwertigen Alternativen zu entscheiden, er sitzt nicht auf dem Richterstuhl der Vernunft, um Gott nach Beweisen für seine Existenz zu fragen. Er ist schon involviert, steht schon in einem Verhältnis, ist verstrickt. Er hat schon einen Bezug zu Gott. Er hat vertraut und sieht sein Vertrauen nun schwinden. Etwas, das Halt gab, droht wegzubrechen.

Das ist kein Zweifel aus der Distanz mehr, kein skeptisches Beäugen, sondern ein Prozess, der einem sehr nahegehen kann. Er kann sich als tiefe Verunsicherung, als Verzweiflung und Angst ausdrücken.

Wer so zweifelt, dem helfen keine Argumente, dem hilft kein gutes Zureden. So zu zweifeln, kann einen an Abgründe führen.

Doch noch schlimmer, als so zu zweifeln, ist es, so zu zweifeln und es nicht zu dürfen. Noch schlimmer ist es, diesen Zweifel verdrängen zu wollen. Ihn tief in sich zu verschließen. Mit niemandem so richtig darüber reden zu können. Zu merken, dass jedes Mal, wenn man darüber reden möchte, andere abblocken, weil sie fürchten, mit Zweifeln angesteckt zu werden. Oder zu merken, dass man plötzlich zum Seelsorgefall wird, der möglichst schnell therapiert werden muss. Man wird mit einem Mal anders behandelt – besonders freundlich oder besonders vorsichtig – und hat den Eindruck, man solle auf den rechten Pfad zurückgebracht werden.

Dadurch kann der Zweifelnde innerlich isoliert werden. Und irgendwann muss er sich entscheiden, entweder zu seinen Zweifeln zu stehen oder zu schweigen und so zu tun als ob. Vielleicht mag es ja genügen, etwas lauter zu singen, etwas mehr zu beten oder irgendeine geistliche Kur zu durchlaufen.

So wird der Eindruck genährt, Zweifeln wäre eine Ausnahmesituation. Ein Abfall vom rechten Glauben. Etwas, das man isolieren und durch Quarantänemaßnahmen eindämmen muss. Und in der Tat: In manchen Traditionen erwecken das Liedgut, die Predigten und die Gebete den Eindruck, als wäre der Glaube ein Höhenflug fernab des alltäglichen Lebens. Als wären Gewissheit, Vertrauen und spürbare Gottesnähe die Normalsituation des Glaubens.

Dazu müssen wir einen Blick darauf werfen, wie das Streben nach Sicherheit und unumstößlicher Gewissheit zu einem Götzen im westlichen Denken wurde.

Die Suche nach Sicherheit

Das westliche Denken wurde immer schon vom Zweifel begleitet. Von Sokrates wird berichtet, dass er durch Athen ging und die Gewissheiten seiner Mitbürger durch viele Fragen erschütterte. Er stellte alles infrage, damit die Leute darüber nachdachten, auf welchen Grundlagen sie ihr Leben aufbauten. Sokrates‘ berühmte Erkenntnis: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, war kein Ausdruck der Resignation. Es war nicht das schulterzuckende Zeichen, dass die Suche beendet war, sondern der Motor seiner Suche. Dieser Zweifel war ein Zeichen von Wachheit, vom Mut, (sich) Fragen zu stellen, und von Bewegung.

Doch benötigt diese Art des Fragestellens auch die Fähigkeit, Ungewissheit zu ertragen. Und das scheint nicht jedem Menschen gegeben zu sein. Deshalb wollte René Descartes ein für alle Mal mit dem Zweifel aufräumen. Sein Projekt, das als der Beginn der modernen Philosophie gilt, beginnt mit radikalem Zweifel. Was, wenn die ganze Welt da draußen nur ein schöner Schein ist? Was, wenn andere Menschen Automaten sind und mir nur etwas vorspielen? Was, wenn alles ganz anders ist?

Doch an einer Tatsache konnte Descartes nicht zweifeln: am denkenden und zweifelnden Ich. Das sollte fortan das Fundament sein, auf dem alle wahre Erkenntnis aufbaute. Von diesem Fundament ausgehend sollten durch komplizierte rationale Beweisführung alle weiteren Wissenschaften abgeleitet werden. Doch an einer Stelle konnte Descartes nicht ganz auf Gott verzichten: Er benötigte Gott, um sicherzustellen, dass nicht zum Beispiel ein böser Geist unser Denken verwirrt. So wurde Gott zum Lückenbüßer, der uns in unserem Denken Sicherheit geben soll. Gott wurde eingespannt in die Suche des Menschen nach unumstößlicher Sicherheit und sollte ein stabiles Fundament für unser Erkenntnisgebäude darstellen, an dem freilich allein der Mensch baut.

Auch wenn Descartes‘ Philosophie aus dem 17. Jahrhundert stammt, so sind wir doch in unserem Streben nach Sicherheit von ihr zutiefst geprägt. Besonders dort, wo sich unsere Welt immer schneller verändert, wo Ordnungen schwanken, Lebenskonzepte ihre Selbstverständlichkeit verlieren und unsere eigene Zukunft ungewiss erscheint, steigt die Tendenz, Gott als eine Art Rückversicherung zu nutzen. Dort, wo die gefühlten Risiken der Lebensführung steigen, wächst das Bedürfnis nach Stabilität. Diese wird in Form von bestimmten Vorstellungen gesucht, die absolute Wahrheit beinhalten. Zu Zeiten der Entstehung des christlichen Fundamentalismus waren das zum Beispiel die Jungfrauengeburt, die Irrtumslosigkeit der Bibel oder die Unfehlbarkeit des Papstes. Entscheidend ist hierbei, dass es sich um bestimmte Inhalte oder Institutionen handelt, auf die der Mensch sein Leben aufbaut, um dabei Gott als Garanten der eigenen Sicherheit zu benutzen.

Dies ist Götzendienst, da der Mensch Gott in sein eigenes Projekt der Selbstsicherung einspannt. Schon Luther erkannte das und nannte es die securitas: Gott wird dazu benutzt, um Sicherheit, Halt und Orientierung zu erlangen, und so wird die berechtigte Suche nach Gewissheit zu einem Götzen.

Gleichzeitig wird klar, warum Menschen sehr gereizt auf jeden Angriff auf ihr Gedankengebäude oder ihr sogenanntes Fundament reagieren: Mit dem Gedankengebäude selbst gerät die gesamte Identität ins Wanken. Und so muss der Mensch mit allen möglichen Mitteln jeden Zweifel von seinem eigenen Gedankengebäude fernhalten. Zuerst mit beißender Polemik, manchmal auch mit der Vermeidung von Situationen, in denen Zweifel aufkommen könnten, und nicht zuletzt auch mit Gewalt.

Ein Glaube, der zweifeln kann

An dieser Stelle wird plötzlich klar, dass das Projekt der Selbstsicherung, auch wenn es im frommen Gewand daherkommt, so gar nichts mit dem christlichen Glauben zu tun hat. Denn da geht es doch darum, dass sich Gott immer wieder in Beziehung zu uns setzt. Folglich kommt es in letzter Konsequenz nicht auf unsere Stimmung, auf unsere Rechtgläubigkeit und unser Wohlverhalten an. Die göttliche Barmherzigkeit ist eine Grundlage, die gewisser ist als unsere theologischen Gedankengebäude. Sich auf die göttliche Zuwendung einzulassen, ist geradezu das Gegenteil jedes Sicherheitsstrebens. Wir können uns selbst nicht gewiss machen. So heißt es im ersten Johannesbrief: „Wenn das Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz“ (1. Johannes 3,20; EÜ). Das ist geradezu das Gegenteil des Fundamentalismus. Nicht ich klammere mich ängstlich an bestimmte Glaubenswahrheiten, nicht ich suche verzweifelt nach der einen selig machenden Erfahrung, sondern alles hängt daran, dass sich Gott in Jesus Christus mir schon zugewandt hat. Der pietistische Theologe Siegfried Kettling sagte dazu einmal:

„Kein Gedanke kann mich von Christus trennen. Solange ich noch irgendeinen Gedanken, der je gedacht wurde, aus Philosophie oder Fremdreligion, aus der Diskussion Glaube und Naturwissenschaft, aus konservativer oder modernistischer Theologie, irgendeinen Gedanken, der mich von außen erreicht oder von innen in mir aufsteigt, fürchten muß [SIC!], so lange glaube ich nicht: Herr ist Jesus! Das Verdrängen ,gefährlicher‘ Gedanken macht nicht frei, sondern fanatisch.“2

Das bedeutet, dass Zweifel nichts ist, das man von sich wegschieben muss. Zweifel sind nur dann gefährlich, wenn es vor allem darum ginge, selbst die Kraft aufzubringen, an Gott festzuhalten. Gnade selbst im klassisch lutherischen Sinne bedeutet aber, dass Gott uns dort noch hält, wo wir ihn nicht mehr festhalten können. Dort, wo uns der Glaube nicht mehr tragbar erscheint, werden wir dennoch getragen. Und wenn es so genau nicht darauf ankommt, sich seines Glaubens in jedem Moment gewiss zu sein, dann darf man zweifeln. Weil man die Annahme wagt: Wenn es Gott gibt, dann wird er mich nicht aufgrund meiner Zweifel loslassen.

Ebenso ist es mit der Erfahrung der Nähe Gottes. Wäre Gott der, der immer nur nahe ist, dann würde er schnell in unser Projekt der Selbstsicherung eingespannt. Doch der auferstandene Christus weist jede Vereinnahmung von sich, wenn er sagt: „Berühre mich nicht!“ (Johannes 20,17). Jesus Christus entzieht sich hier jedem Versuch, ihn zu begreifen, das heißt: ihn in den Griff zu kriegen. Er ist aber nicht abwesend, sondern ist uns nahe, indem er sich entzieht. Etwas paradox formuliert: Gerade dort, wo wir Gott vermissen, ist er uns vielleicht am nächsten. Denn dort geraten wir in die Nähe zu Jesus Christus, den Gottverlassenen, der am Kreuz schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46). So sind die Absurdität und Sinnlosigkeit des Lebens, die Gottverlassenheit und Gottesferne nicht etwa eine Bedrohung des Glaubens, sondern werden am Kreuz Teil des Glaubens.

Der christliche Glaube will nicht einfach alle Rätsel des Lebens aufschlüsseln und zeigen, dass am Ende alles Leid einen Sinn gehabt hat. Am Kreuz zeigt sich, dass Sinnlosigkeit und Absurdität real sind, dass sie auch manchmal den Sieg davontragen. Doch Ostern ist das Zeichen dafür, dass diese Absurdität nicht das letzte Wort haben wird. Folglich kann es ein Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott sein, wenn man sich dieser Absurdität und den Zweifeln aussetzt. Und zu den intensivsten Erfahrungen im Glauben gehört es, gemeinsam zu zweifeln, gemeinsam Gott zu vermissen und so zu erfahren: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20).

Ein Glaube, der zweifeln lässt

Doch ist dies immer noch zu wenig. Hier wäre der Zweifel mehr ein notwendiges Übel. Etwas, das man eben erträgt. Und dort, wo der Zweifel Vertrauen untergräbt, Ängste freisetzt und lähmend wirkt, kann man ihm auch kaum etwas abgewinnen. Aber es gibt eine Seite am Zweifel, die durchaus kreativ sein kann. Zweifel raubt der Welt ihre Selbstverständlichkeit und öffnet so neue Horizonte. Somit kann er auch Ausdruck von Wachheit und Lebendigkeit sein. Er versetzt Festes in Bewegung und sorgt für eine Unruhe, in der etwas Neues Form gewinnen kann.

Denn man kann sich seiner Sache manchmal zu gewiss sein; daher kann ein völliges Fehlen von Zweifeln ein Indiz dafür sein, dass man seine Welt schon so hingenommen hat, wie sie ist. Von Jesus Christus wird aber berichtet, wie er Gewissheiten infrage gestellt hat, wie er überhaupt die Art von Fragen gestellt hat, die Zweifel wecken und Horizonte öffnen. Die Welt hinterfragen, sich selbst hinterfragen, noch seine eigenen Zweifel anzweifeln, darum geht es auch im christlichen Glauben.

Der christliche Glaube gleicht mehr der Feier eines Geheimnisses und beinhaltet so auch Momente der Unbestimmtheit, der Ungewissheit und Offenheit. So ist es vielleicht auch angebracht, sich und anderen Zeiten intensiver Unbestimmtheit zuzugestehen. Bei manchen wird es notwendig sein, sich für eine Zeit lang von ihren Glaubensgemeinschaften zu distanzieren, damit sie ihren Glauben bewahren können. Besser wäre es allerdings noch, wenn in den Glaubensgemeinschaften selbst mehr Platz für solche Prozesse wäre. Dabei scheint es wichtig, auch neue Fragen zuzulassen und mit althergebrachten Wahrheiten zu ringen, um dann festzustellen, dass nicht alle unsere menschlichen Gedankengebäude so unumstößlich sind, wie sie manchmal den Anschein erwecken. Der Zweifel stellt alte Orientierungen infrage und im günstigsten Fall öffnet er uns für eine Neuorientierung. Dieses Eröffnen von Neuem ist die positive Seite des Zweifels. Zweifel setzt Prozesse in Gang. Und mögen diese auch riskant sein, so ist es manchmal noch riskanter, auf einem Standpunkt zu beharren, denn man gerät in Gefahr, sich vor dem Leben abzuschirmen.

Manchmal lässt sich aus dem Zweifel eine Vorwärtsbewegung gewinnen, ein Umdenken herbeiführen, ein Veränderungsprozess anstoßen. Und manchmal sorgt der Zweifel dafür, dass nun gerade das Altbekannte am Glauben neu erschlossen werden muss. Wenn beispielsweise Schöpfung nicht mehr zwangsläufig als ein wundersames Handeln Gottes in sieben Tagen begriffen wird, dann kann man entweder aufhören, an die Schöpfung zu glauben, oder sich auf eine Entdeckungsreise begeben, wie Schöpfung noch verstanden werden kann. Man kann sich damit beschäftigen, was andere gedacht, geglaubt und geschrieben haben, und kann die Frage auch eine Zeit lang in der Schwebe lassen.

Doch neben alldem ist eine Warnung auszusprechen. Es gibt eine Gefahr beim Zweifel, die nichts damit zu tun hat, dass Gewissheiten untergraben werden oder der Glaube bedroht wird. Die Beschäftigung mit den eigenen Zweifeln, das Ringen um eigene Formulierungen des Glaubens und das Stellen von Sinnfragen kann manchmal zu einer exzessiven Beschäftigung mit sich selbst führen. Dann wird man unempfindlich für den anderen. Daher: Wenn die Unbestimmtheit des Glaubens zu bedrückend wird, ist manchmal die sinnvollste Kur dagegen, von sich selbst wegzuschauen. Das kann sich zum Beispiel im engagierten Einsatz für andere zeigen. Denn wenn man nicht mehr damit rechnet, alle Fragen und Zweifel ganz geklärt zu bekommen, wird man auch freier, sich für andere einzusetzen und Gott unterwegs zu begegnen.

Weiterführende Literatur

Richard Beck, The Authenticity of Faith. The Varieties and Illusions of Christian Experience, Abilene 2012.

Alan Jamieson, Chrysalis, The Hidden Transformation in the Journey of Faith, Milton Keynes 2008.

Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 2001, insbesondere: § 12 die Gewissheit des Glaubens als Entsicherung.

Siegfried Kettling, Und der sagte ja, Stuttgart 1979.

Arne Bachmann promoviert in Theologie über den Gemeinschaftsbegriff. Außerdem leitet er das Ökumenische Wohnheim für Studierende in Heidelberg. Er engagiert sich im Netzwerk Emergent Deutschland, welches Räume für einen fragenden, zweifelnden und neu durchdachten Glauben in der Spätmoderne schaffen will.

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Wie wir die Bibel verstehen können

Thorsten Dietz

1. Die Bibel als Problem?

Der Verlust des Glaubens bzw. die Abkehr von diesem kann viele Gründe haben. Gar nicht so selten werden von Betroffenen Fragen in Bezug auf die Bibel genannt. Glaubensschwierigkeiten haben nicht wenige, „weil es schwer ist, mit den Widersprüchen in der Bibel zu leben“3, wie z.B. Magdalena formuliert. Bei einigen sind es Widersprüche zwischen ihrer naturwissenschaftlicher Bildung und der Bibel4, andere nennen das ethische Problem, biblische Aussagen etwa über die Ausrottung ganzer Völker oder die Todesstrafe für sexuelle Vergehen heute nicht mehr als göttliche Wahrheit akzeptieren zu können.5

Offenbar baut sich hier für viele eine Spannung auf. Als Christ, so glauben sie, müssten sie die Bibel als absolute Wahrheit akzeptieren. Aber in der Schule bzw. im Studium werden sie mit Einsichten konfrontiert, die ihnen das schwer, ja, unmöglich machen. Dieser empfundene Widerspruch der Bibel zum naturwissenschaftlichen Weltbild, zur historischen Forschung, zu moralischen Werten wie Freiheit und Toleranz bedeutet für viele eine unerträgliche Spannung. Noch schlimmer: In manchen Gemeinden scheint es unmöglich zu sein, offen über solche Konflikte zu reden. Die Abkehr vom Glauben ist daher für viele eine Befreiung aus einer nicht anders lösbaren Spannung; und damit auch Folge eines Bibelverständnisses, das keine Zweifel und keine offenen Fragen duldet. Entscheidend sind an dieser Stelle offenbar solche Fragen, die man als hermeneutische Fragen bezeichnet: Wie verstehen wir die Bibel? Mit welcher Brille, mit welchem Vorverständnis gehen wir an sie heran? Was soll das heißen, dass sie „Wort Gottes“ genannt wird, und wie können wir mit ihr umgehen?

2. Die Bibel und ihre Botschaft

Offenbar gibt es ganz unterschiedliche Vorverständnisse, was „Wort Gottes“ bedeuten könnte. Für die einen ist damit ein fehlerloses Buch gemeint. Andere denken eher an die persönliche Erfahrung, unmittelbar von Gott angesprochen zu werden. Wieder andere suchen einen Maßstab für alle Lebensentscheidungen – und nicht wenige sind verwirrt, was sie sich unter „Wort Gottes“ vorstellen können oder dürfen …

Schon in der Bibel hat dieser Ausdruck unterschiedliche Bedeutungen. So kennt die Bibel das Wort Gottes als sein schöpferisches Wort, durch das er Dasein und Leben schenkt und erhält: Und Gott sprach – und es wurde (1. Mose 1,3 etc.). Die ganze Wirklichkeit ist vom Wort Gottes begründet und erschaffen, getragen und erhalten, durchdrungen und erfüllt (Hebräer 1,3).

Sodann erzählt die Bibel viele Begebenheiten einer geschichtlichen Offenbarung Gottes durch sein Wort: „Und es geschah des Herrn Wort“, heißt es immer wieder bei den Propheten (Jeremia 2,1; Hesekiel 3,16 etc.). Gott redet, vermittelt über die Propheten, und auch dieses Reden ist vielgestaltig. Mal geben sie eine unmittelbare Anrede Gottes an das Volk weiter (Jesaja 1,2), mal berichten sie von einer Vision oder einem Bild (Jesaja 6; Amos 7,1-9), mal tun sie den Willen Gottes durch eine Zeichenhandlung kund (Hesekiel 24,15-27; Hosea 3), dann wieder durch geschriebene Texte (Jeremia 29,1-23).

Schließlich gilt im Neuen Testament Jesus Christus selbst als Gottes Wort, das von Anfang an war (Johannes 1,1-18), das die letzte und abschließende Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte ist: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens …“ (1. Johannes 1,2; vgl. auch Hebräer 1,2; 2. Korinther 1,20; Johannes 5,39; Lukas 24,27).

Wie verhalten sich die verschiedenen Formen des Wortes Gottes zum schriftlichen Wort Gottes der Bibel? Gibt es in der Bibel Ansätze, die eine solche Verhältnisbestimmung vornehmen? Vor allem bei Paulus können wir eine Klärung finden.6

a) Als das entscheidende Wort Gottes bezeichnet Paulus das Evangelium von Jesus Christus (Römer 1,9; Galater 1,7; Philipper 1,27; auch Markus 1,1). Genauer: Das Evangelium ist das Zeugnis vom Handeln Gottes in Christus (1. Korinther 15,1-5). Dabei handelt es sich um das Evangelium Gottes (Römer 1,1; 15,16; Markus 1,15), um Gottes bzw. Christi eigenes Wort (Galater 1,11-12; Römer 10,17), durch das der Heilige Geist wirkt und Glauben schafft (Römer 1,16-17). Der Inhalt des Evangeliums ist Christus selbst (1. Korinther 2,2 und Galater 1,11-12). Darum ist das Evangelium das Wort vom Kreuz (1. Korinther 1,18) bzw. das Wort von der Versöhnung (2. Korinther 5,19), durch das Menschen Frieden (Epheser 2,17), Heil (Epheser 1,13) und Leben (2. Timotheus 1,10) erfahren.

b) Wir kennen das Evangelium nur durch das Zeugnis der Evangelisten und Apostel. Dieses Evangelium ist präsent in der Verkündigung der von Christus gesandten Apostel (Galater 2,7-8), es ist zugleich nicht deckungsgleich mit jeder Äußerung eines Apostels (vgl. Galater 1,8!). Von der apostolischen Verkündigung redet Paulus als „Zeugnis“ (1. Korinther 1,6), „Predigt“ (Römer 10,16), „Ermahnung“ (1. Thessalonicher 2,3) oder „Verkündigung/Evangelisation“ (Römer 1,15; 1. Korinther 1,17; 9,16.18; 2. Korinther 10,16). Im Konfliktfall zwischen den Aposteln Paulus und Petrus beruft sich Paulus auf das aller apostolischer Verkündigung vorgegebene Evangelium Gottes (Galater 1,6-12; Galater 2,5.14). Das Evangelium und die apostolische Verkündigung sind daher für uns nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden.

c) Weil Jesus Christus selbst der Inhalt des Evangeliums ist, kann keine sachliche oder systematische Lehre das Zentrum des christlichen Glaubens zum Ausdruck bringen. Das Evangelium gibt es nur in lebendiger Kommunikation. Es ist keine Theorie, sondern eine Mitteilung der Liebe Gottes, Zusage und persönliche Anrede (2. Korinther 5,20). Zugleich haben wir diese Botschaft nicht ohne ihre apostolische Verkündigung (Lukas 10,16; Epheser 2,20) und ihre alttestamentliche Verheißung (vgl. Römer 1,2).