Was bleibt - Michael H. F. Brock - E-Book

Was bleibt E-Book

Michael H. F. Brock

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Beschreibung

Die Seligpreisungen sind voller Sprengkraft; alle Hoffnung der Menschen auf eine veränderte Welt findet hier ihren Ausdruck. In fiktiven Gesprächen zwischen Maria von Magdala und Jesus werden diese Worte lebendig: Zukunft für die Armen, Hungernden, Weinenden. Das erfahren auch die Menschen, denen Jesus auf dem Weg nach Jerusalem begegnet: heilsame und vergebende Nähe. Einfühlsam und bewegend erzählt Michael H. F. Brock von Jesus, der durch seine Menschlichkeit eine Spur von Gott einpflanzt, die bis heute fasziniert.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Michael H. F. Brock

Was bleibt

Begegnungen mit Jesus

Patmos Verlag

Inhalt

Ein Wort voraus

Selig, ihr Armen

Lk 6,17–20

Selig die Hungernden

Lk 6,21a

Selig, ihr Weinenden

Lk 6,21b

Freut euch an jenem Tag

Lk 6,22–23

Weh euch

Lk 6,24–26

Liebt eure Feinde

Lk 6,27–29

Erbittet nichts zurück

Lk 6,30

Die goldene Regel

Lk 6,31–36

Richtet nicht

Lk 6,37–42

Vom Dornbusch liest man keine Trauben

Lk 6,43–49

Der Hauptmann von Kafarnaum

Lk 7,1–10

Der Gesang geschenkter Liebe

Lk 7,18–35

Vergebende Nähe

Lk 7,36–50

Hörst du Gottes Wort?

Lk 8,4–18

Der Sturm

Lk 8,19–25

Besessen in Gerasa

Lk 8,26–39

Fass mich nicht an

Lk 8,40–56

Von Kraft und Vollmacht

Lk 9,1–10

Da nahm er fünf Brote

Lk 9,10–17

Um Gott zu fragen, wer er sei

Lk 9,18–19.27

Das große Glück

Lk 9,28–36

Die Heilung

Lk 9,37–43

Das Kind neben dir

Lk 9,43–50

Auf dem Weg nach Jerusalem

Lk 9,51–62

Ausgesandt

Lk 10,1–24

Tu es, und du wirst leben

Lk 10,25–37

Man braucht nur eines

Lk 10,38–42

Der Autor

Und dem Johannes berichteten seine Jünger über all dies. Und Johannes rief zwei seiner Jünger her, schickte sie zum Herrn und ließ sagen: Bist du »der Kommende«? Oder sollen wir auf einen anderen warten? Bei ihm eingetroffen, sprachen die Männer: Johannes der Täufer hat uns zu dir gesandt und lässt sagen: Bist du »der Kommende«? Oder sollen wir auf einen anderen warten? Zu jener Stunde hatte Jesus viele von Gebrechen, Plagen und bösen Geistern heil gemacht und vielen Blinden den Blick geschenkt. Da hob er an und sprach zu ihnen: Geht und berichtet dem Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde blicken auf, Krüppel gehen. Aussätzige werden rein und Taube hören. Tote werden erweckt, Armen wird die Heilsbotschaft gebracht. Und selig ist, wer an mir kein Ärgernis nimmt.

Lukas 7,8–23 – übersetzt von Fridolin Stier

Ein Wort voraus

»Vielleicht ist es der Verlust von Nähe und Gemeinschaft, der Menschen in die Gewalt treibt. Betrachte jene, die du verachtest und fürchtest aus jener Nacht heraus, aus der sie kommen. Es ist das Fieber ihres Elends, das sie treibt, ihre Mutlosigkeit und betrogene Sehnsucht.« – So spricht Jesus in fiktiven Gesprächen zu Maria, jener aus Magdala. Zusammen entfalten sie die Seligpreisungen des Lukasevangeliums.

Gemeinsam erleben sie die Welt der Kapitel sechs bis zehn des Lukasevangeliums. Es sind erzählte Geschichten. Sie sind frei erfunden und doch erlauben mir die Gedanken Einblicke in das Denken und Fühlen des Evangeliums nach Lukas auf eine sehr persönliche Weise. In meinen Erzählungen berühren und begegnen sich in Sprache und Bild Maria, die aus Magdala, und er, Jesus, sehr. Gemeinsam entwickeln sich Leben und Verkündigung aus Beziehung und wachsendem Vertrauen. Narrativ, erzählerisch nähere ich mich der Botschaft, der ich selbst auch folgen möchte. Mir wird es möglich, durch Fiktionen – wie gesagt frei erfunden – einzutauchen in eine Welt, die ich erspüren möchte. Ich komme dabei nicht als erstes als Theologe, der um alles schon wüsste. Auch bin ich kein Dogmatiker. Ich erzähle von einem Menschen, der durch seine Menschlichkeit eine Spur von Gott in diese Welt einpflanzte, die bis heute Menschen fasziniert. Gegen Ende stellt das Erleben jede Form von Religion in Frage und fragt, ob nicht das Königtum Gottes die bessere Alternative wäre. Ein Gott für alle Menschen. Und keine Trennung mehr in den Herzen und Häusern unserer Welt. Ich bin nicht weltfremd und weiß, dass Menschen ihr Begreifen und Verstehen immer in Form und Institution bringen müssen. Und solange Religionen den Kern bewahren, mögen sie ihre Berechtigung haben. Dennoch. Der Jesus in meinem Buch träumt größer, denkt weiter und tiefer von einer Beziehung zu Gott und den Menschen, die weit über das Begreifen einer Religion hinausreicht. In den Herzen der Menschen gilt es eine Sehnsucht zu wecken, die uns nicht mehr voneinander und vom Himmel trennt. Erst wenn wir eins werden, Gott und wir Menschen zu einer Einheit zurückfinden, wird in uns und zwischen uns spürbar, was heute weithin noch Traum ist. Es werde Frieden unter den Menschen im Namen des Vaters, der alles gemacht hat.

Bis dahin ist noch ein weiter Weg. Und doch schon spürbar in jeder Berührung, wenn Menschen voneinander berührt werden und zulassen können, dass Nähe nicht immer verletzt, sondern im Grunde den einzigen Weg beschreibt, wie wir leben dürfen und wachsen in unserer Person, um ein vertrautes Leben zu finden. Deshalb lasse ich auch Nähe zu. Beschrieben in Person der Maria, der aus Magdala, und ihm, Jesus. Ich tue es nicht, weil ich behaupten möchte, dass es so war. Ich tue es, damit ich ihm folgen kann zu einem heilsamen Leben. Und das geht nur über Beziehung und Nähe.

Ich bleibe beim Lesen der Bibel auch in den erzählten Gedanken sehr nahe der Übersetzung von Fridolin Stier, dessen Übertragung immer wieder eingestreut ist. Freude am Original zu wecken, ist Anliegen dieser Erzählung, die ich gerne geschrieben habe, damit lebendig bleibt und wird, was einst geschah. Mitten unter uns.

Michael H. F. Brock

Selig, ihr Armen

Lk 6,17–20

Du wirst nicht weglaufen können vor den Menschen, die arm und krank ihre Hände ausstrecken nach deiner Nähe und sehnsüchtig verlangen, von dir berührt zu werden, sagte Maria leise. Sie waren gemeinsam den Berg hinaufgestiegen, schweigend. Lange hatte er geschwiegen. Es war, als wäre ein kleines Stück Himmel immer zwischen ihnen gewesen seit jener Nacht, da er sie berührt hatte an ihrem Herzen. Manchmal nahm er sie mit, wenn er hinaufstieg, um dem Lärm der Straße und dem Verlangen der Menschen zu entrinnen. Sie vertraute seinem Schweigen. Das Schweigen eines Menschen kann fürchterlich erdrückend sein. Seines war leicht. Und in seinem Schweigen konnte sie ihre Augen schließen und spüren, wie der Hauch des Windes ihr Haar umstreichelte. Ich habe keine anderen Hände als all die anderen, sprach er, Jesus, als der Abendwind die erste Kühle des scheidenden Tages in ihre Gesichter blies. Und er betrachtete seine Hände still. Maria saß neben ihm und sah ihm zu, wie er betrachtend sprach. Was haben sie nicht alles schon berührt, meine Hände? Sie waren hart geworden in den Jahren, von Schwielen überzogen vom Hauen der Steine für die Dächer der Häuser in fremden Städten. Eigentlich waren sie zu klein für einen Handwerker, zu schmal. Und doch sah man ihnen die Jahre harter Arbeit an. Der Zeigefinger der rechten Hand zitterte ein wenig. Sie waren wie Trinkschalen, seine Hände. Sie waren nicht gleichförmig. Die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Kraftlos schienen sie zu sein, so wie sie jetzt in seinem Schoß lagen. Und das Wasser würde durch seine Hände rinnen. Er war sich sicher. Es waren keine anderen Hände. Sie hatten weder heilende Wirkung noch konnten sie zärtlich sein. Sie waren es nie. Konnten es nicht sein. Durften es nicht sein.

Maria sah ihn weinen, und seine Tränen flossen in seine Hände. Sie spürte das Zittern seiner Hände, als sie ihre Hände um seine legte. Er sah auf und blickte in ihre Augen. So als wollte er sagen: Maria, ich bin doch nur ein Mensch. Wie kann ich all das Elend berühren? All jene heilen, die schreiend nach mir verlangen. Nur zitternde Hände können heilen, sprach Maria. Denn nur wer um seine Grenzen weiß, wird die Begrenztheit berühren können. Deine Gedanken sind das Besondere, sprach Maria, nicht deine Hände. Deine Hände werden immer nur so berühren können, wie deine Gedanken es ihnen eingeben. Zärtlichkeit geschieht im Herzen. Deine Hände berühren. Aber dein Herz entscheidet über die Schönheit oder die Brutalität ihrer Berührung. Die Menschen sehnen sich nach deinem Herzen und strecken ihre Hände deinen Augen entgegen. Sie sehen in den verzweifelten Augen deine Sehnsucht, die sich mischt mit den Träumen vom Himmel. Ja, Menschen spüren deinen Kampf und sie glauben daran, dass du auf den Bergen deine Kraft erhältst, sie in der Steppe zu heilen, Jesus. Sprach es und schaute in seine Augen.

Und tausend Fragen fand sie in seinen Blicken. Wenn ich den Armen Reichtum erbitten würde vom Vater? Was bliebe anderes, als Gewalt zu predigen in einer Welt der Armut, Umsturz. Was meint Veränderung im Angesicht des Elends? Ich will sie nicht vertrösten, sprach Jesus. Und doch kann ich sie nicht trösten mit der Revolution der Verzweiflung. Ich bringe ihnen das Schwert. Aber es wird ihr Herz durchbohren, noch bevor es die Klinge eines anderen Menschen berührt haben wird. Ich werde Reichtum pre­digen und im gleichen Augenblick werden Menschen hungers sterben. Maria, wie verzweifelt ist meine Botschaft in den Ohren der Armen.

Meine Hände sind nicht groß genug, das Elend aller zu berühren. Meine Arme nicht lang genug, das Elend zu umarmen, und meine Kraft nicht stark genug, alle Armut zu vertreiben. Und doch, sprach Maria, bei jeder Berührung werden sie spüren, dass Armut keine Strafe ist und das Elend nicht gottgewollt. Erzähl ihnen vom Himmel, Jesus. Erzähl ihnen von den Liedern des Himmels in deinem Herzen. Erzähl ihnen, wie der Himmel auf die Erde kam, das Elend zu umarmen. Erzähl ihnen, wie der Himmel sich öffnete über deinem Haupt in den Tagen am Jordan und wie der Vater sprach, als wärest du der Sohn, der einzige. Und erzähl ihnen, wie du in der Wüste dem Elend der Macht widerstanden und wie sehr du geweint hast in den Armen deiner Mutter, bis du den Mut aufbrachtest, gegen alle Erfahrung zu lieben. Und das Elend zu umarmen die einzige Chance ist, der Armut entgegenzutreten mit deiner Liebe.

Du kannst der Mutter mit ihren fünf Kindern nicht die Last der Tage nehmen. Aber du kannst ihren schmerzenden Rücken berühren und ihre Tränen streicheln. Du kannst dem verwirrten Geist des Alters die Jugend nicht zurückgeben. Aber du kannst den Verletzungen Erbarmen entgegenrufen und Verzeihung gewähren und dem Tyrannen Vergebung zusprechen. Du kannst der Witwe nicht die Einsamkeit rauben und in der Wüste die Steine nicht in Blumen verwandeln. Aber deine Tränen können die Blumen erblühen lassen inmitten der Wüsten. Du bist stark genug, die Verzweiflung zu lieben und die Armut zu küssen. Maria sprach leise, aber sie hörte nicht auf. Und ihre Worte saugte er auf wie die Strahlen der Sonne in nebelumhüllter Zeit. Das Reich Gottes, sprach Maria, ist nicht die Belohnung für dein Gutsein. Und nicht der Lohn für die Reichen. Das Reich Gottes ist ein Geschenk des Himmels für die Elenden. Was hast du denn mit mir gemacht, sprach Maria. Du hast mir meine Vergangenheit nicht zurückgegeben. Weder Schönheit noch Reichtum. Und doch. Du hast mir meine Armut genommen. Der Preis der Armut war das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Du nahmst mich in deine Armut, im Angesicht des Reichtums schenktest du mir zurück, was ich lange verloren hatte: die Würde des Angenommen-Seins. Ich spürte einen Menschen in meiner Nähe. Und mehr braucht es oft nicht, als einen Menschen zu spüren. Kranke werden nicht gesund ohne die Nähe eines Menschen und Arme fliehen in ihrem Elend doch nur, weil sie sich in ihrer Einsamkeit alleine glauben. Es ist, wenn es geschieht, dass ein Mensch dich berührt, wie wenn der Himmel aufleuchtet zu lebendigen Farben der Treue. So als würde dir das Leben neu geschenkt aus dem Herzen eines Menschen, der nichts anderes vermag, als bei dir zu sein. Was dich gesund macht, ist die Liebe des Menschen.

Und woher, Maria, nimmt dieser Mensch die Kraft, sie aufzubringen? Ist er nicht in seinem Elend schon einsam genug? Kann er einem Armen den Reichtum zusprechen, und sei es den Reichtum der Liebe, wenn er selbst arm ist und elend in seiner eigenen Einsamkeit? Wird nicht der Blick zum Himmel zu einem einzigen Schrei der Verzweiflung und die Antwort ist meist das Schweigen des Himmels selbst? Ja, mein Freund, sprach Maria leise und zart. Das mutet dir der Himmel zu. Denn du weißt, wie sich die Verlorenen fühlen. Darum wirst du nicht auftreten und behaupten, du brächtest Veränderung. Es liegt auch nicht in deiner Macht, die Verhältnisse der Macht zu wenden oder die Fassaden der Torheit einzureißen. Aber du weißt, wie sich die Verlorenen fühlen, wenn sie allein gelassen werden. Und du ahnst es bereits. Auch der Himmel wandelt die Welt nicht. Die Welt wandelt sich in den Herzen der Armen, allein durch deine Menschlichkeit und Nähe.

Welches Elend müssen wir durchwandern, Maria, sprach Jesus, und wie viel Krankheit müssen wir erdulden und wie arm müssen wir werden, bis wir begreifen, dass uns der Reichtum nicht vor Einsamkeit schützt und Gesundheit kein Gut auf Dauer ist. Menschen, Maria, die sich zu sicher fühlen, werden tief fallen müssen. Und gebe Gott, es wird ein Mensch auch bei jenen sein, die sich unabhängig geglaubt und siegessicher. Sie werden ohnmächtig sein in ihrer Erbärmlichkeit. Ich bete zum Vater, dass auch sie einst eine Hand halten wird, bevor der Tod ihnen die Gewissheit rauben wird.

Ach Maria, sprach er, und nahm sie in den Arm. Hielt sie fest und sprach leise und zart: Selig, ihr Armen, denn euer ist das Königtum Gottes.

Selig die Hungernden

Lk 6,21a

Kennst du die Unruhe, die Getriebenheit, die verzweifelte Suche, die der Hunger auslöst, Maria? Armut, sprach er, Jesus, kann dir die Würde nicht rauben. Ob du reich bist oder arm, es spielt nicht die entscheidende Rolle. Du bleibst derselbe Mensch in Reichtum und Armut. Nur, wenn dich die Armut in den Hunger treibt, verlierst du deine Würde. Du wirst zum getriebenen Tier eines sich verzehrenden Durchlebens von körperlichen Schmerzen, die der Hunger verursacht. Verzweifelt wird die Suche nach einem Stück Brot und du beginnst zu kriechen unter den Tischen. Dein Herz schlägt schneller und schneller und dein Magen windet sich vor Schmerzen, bis die Kräfte dich verlassen. Der Hunger treibt dich in eine Ruhe, die in Trägheit übergeht. Deine Gedanken werden langsamer und dein Geist hört auf zu denken. Du willst nur noch daliegen, nichts mehr denken, die Schmerzen sollen aufhören und die innere Verkrampfung lässt jede Bewegung schmerzen. Du liegst da, hörst deinem Atem zu. Deine Zunge bewegt sich über deine Lippen, so als wollte sie das Zerbersten der Lippen noch verhindern, die längst brüchig geworden sind. Die Strahlen der Sonne schmerzen in deinen Augen und der Magen bläht sich auf, so als wolle er sich noch einmal aufbäumen gegen die Leere. Deine Füße können die Last des Körpers nicht mehr tragen und du bleibst liegen. Irgendwo am Straßenrand liegen die hungers sterben. Irgendwann wehren sie sich nicht mehr. Und kein Schrei ist zu hören. Die Hungernden schreien nicht, sie weinen. Und ihr Blick geht starr ins Leere. Ich bin ihr Wasser, sprach Jesus zu Maria. Ich werde ihre Lippen benetzen und ihnen Tropfen für Tropfen zurückgeben, was ihnen genommen wurde. Ein Stück Brot, dann ihre Würde. Es werden viele sein, sprach Maria. Es werden viele sein. Wir müssen die Satten beschämen, Maria. Nur die Scham wird sie zur Vernunft bringen. Jeder Bissen soll ihnen im Halse stecken bleiben im Angesicht des Elends. Bis ihnen ihr Brot nicht mehr schmeckt, das sie niemals geteilt haben. Ungeteiltes Brot wird ihnen schmecken wie vertrocknetes Fleisch. Fünf Brote und ein paar Fische müssen genügen, den Hunger der Vielen zu stillen. Ich werde geben, bis Brot übrig bleibt. Körbeweise. Maria weinte, als sie ihn fragte, wie dies geschehen soll. Ich werde, so sprach er, das Wenige segnen, bevor ich es teile. Unter Tränen werde ich das Brot erheben zum Himmel und ich werde meinen Vater bitten, er möge das Wenige segnen, damit keiner mehr Not leiden möge. Vielleicht beschämt es die Reichen und sie tun es uns gleich? Setze nicht auf soziale Veränderung, bat ihn Maria, sie wird nicht kommen. Menschen ändern sich nicht. Auch nicht im Angesicht von Armut und Hunger. Sie werden Menschen einfach sterben lassen. Sie haben es immer getan. Die Satten haben keine Augen für den Hunger, und sie besitzen keine Scham. Sie besitzen nur den Blick für sich selbst und ihresgleichen. Menschen verändern sich nicht. Auch die Satten bewegen sich nicht. Sie bewegen sich nicht in ihrer trügerischen Zufriedenheit. Selbstgerecht laben sie sich an den Tischen und liegen auf ihren Pritschen, bis sie ersäuft sind und trunken in ihrer Selbstgerechtigkeit.

Den Hunger zu stillen, sprach Jesus, darf keine Tugend werden, derer man sich bedienen darf oder eben auch nicht. Das Recht auf Würde darf nicht zu einer Ware werden, die du dir verdienen musst. Das Königtum Gottes darf nicht zum Ausverkauf werden und zum Lohn deines Handelns. Vor aller Religion muss das Brot stehen. Und allein die Erinnerung an Hunger darf Grund deines Glaubens sein, aber nicht der Hunger selbst. Ich verachte jene, die den Hunger nicht kennen, sprach Jesus, denn sie vermissen im Grunde nichts und werden keine Reifung anstreben in ihrem Leben. Sie kennen nur Genuss und Moral. Der wahre Hunger aber treibt dich an. Der Hunger nach Schönheit und Gerechtigkeit. Der Hunger nach Frieden und der Trost der Zärtlichkeit. Diesen Hunger möchte ich nicht vermissen.

Also lass uns den Menschen Brot geben, sprach Maria, damit die Menschen aus der Lethargie des Hungers erwachen. Schenke ihren Körpern die Kraft zurück, damit der Geist wieder zu denken beginnen kann. Lass sie satt werden, aber lass sie ihre Bedürftigkeit niemals missen. Nur hungernde Menschen erbitten sich Veränderung.

So wird es sein, Maria. Es gibt einen unmoralischen Hunger und einen Hunger nach Leben, der dich treibt und nach Veränderung verlangt. Der unmoralische Hunger ist der Hunger, der zum Tode führt. Ihn wollen wir ächten ein für alle Mal. Aber es gibt auch einen Hunger, den ich niemals missen möchte. Es ist der Hunger nach Gerechtigkeit, den ich nur auf dem Wege der Barmherzigkeit erreichen werde. Nur eine Welt, in der jeder Mensch das bekommt, was er zum Leben braucht, ist eine Welt, die sich in der Nähe von Gottes Königtum ereignet. Kein Mensch möge sich auf Gott berufen, wenn neben ihm ein Mensch hungers stirbt. Aber jeder möge zu Gott beten, wenn er den Hunger verspürt nach der Nähe eines Menschen, der ihm in seinem Elend die Hand hält. Dies, so sprach Jesus, nenne ich die Schönheit des Lebens, die niemals äußerlich sein will. Schönheit ist die innere Übereinstimmung mit dir selbst. Und der Hunger ist, dein eigenes Leben leben zu wollen und zu dürfen. Dieser Hunger möge niemals vergehen. Der Hunger, der dich müde macht, wird dich träge machen und der Schmerz wird dich am Ende umbringen. Aber der Hunger, so sprach er, Jesus, der dich antreibt, in dir ein neues Leben zu entdecken, wird dich aufbrechen lassen in ein neues Leben. Der Hunger der Einsamkeit wird dich ebenfalls umbringen oder dich aufbrechen lassen. Es ist ein ganz schmaler Pfad zwischen Tod und Leben an jedem neuen Tag.

Es gibt auch die Gottsatten. Die über alles Bescheid wissen. Und Gott zu besitzen glauben. Sie werden seine Stimme niemals vernehmen. Denn Gott sitzt nicht an den Tischen der Satten. Gott sitzt an den Tischen der Hungernden. Ohne Sehnsucht verliert sich alles in Besitz. Aber kein Mensch darf einen anderen Menschen besitzen wollen und schon gar nicht Gott. Es sind die Besitzenden, die ihren Hunger verloren haben. Sie verwalten das Leben und knechten die Menschen der Sehnsucht.

Maria lächelte, als sie ihn ansah und sie beide stehen blieben. Und sprach: ich werde dich nie besitzen, aber ich werde immer Hunger verspüren nach deiner Nähe. Sie versuchte zu scherzen. Das Gespräch war ihr viel zu traurig geworden. Aber er blickte sie an und sprach, da hast du viel gespürt, Maria. Menschen dürfen einander niemals besitzen. Sie dürfen einander Gastfreundschaft erlauben und Wege miteinander beschreiten, aber sie dürfen sich selbst niemals aufgeben. Das Wissen um ihre Bedürftigkeit dürfen sie teilen, damit sie fähig bleiben, einander die Hand zu reichen. Aber ihre Bedürftigkeit darf nicht in Abhängigkeit führen, sonst liefern sie einander aus. Und keiner darf dem anderen ausgeliefert sein. Du darfst deine Liebe verschenken, aber niemals deine Freiheit. Du darfst die Hand eines Menschen streicheln, aber niemals darfst du ihn in Ketten legen.

Sie beschlossen auf dem Berg zu bleiben. Noch heute Nacht, Maria und Jesus. Und sie erlaubten sich, einander zu erzählen von ihren Träumen. Auch von ihren Ängsten und Gefühlen. Das war etwas sehr Besonderes. Sie ließen einander ihr Herz offen und erlaubten sich einen Spaziergang durch die hungernden Teile ihrer Seele. Es war der Hunger nach Nähe.

Selig, ihr Weinenden

Lk 6,21b

Als längst die Worte schwiegen, weinten beide, Maria und Jesus, hinein in eine Nacht, die so still war und rein wie selten eine Nacht, damals, als alles begann. Sie erlaubten sich ihre Tränen. Vielleicht das größte Geschenk, das zwei Menschen einander schenken können. Sie erlaubten sich ihre Tränen. Es waren Tränen der Angst und der Verlassenheit. Tränen der Sehnsucht gegen allen Anschein. Es waren Tränen ihrer Liebe gegen den Tod. Es waren die Tränen des Abschieds gegen das Vergessen. Tränen der Leidenschaft gegen allen äußeren Schein.

Beide kannten sie die Menschen gut. Die Menschen verbergen nichts lieber als ihre Tränen. Sie machen angreifbar und verunsichern. Und also weinen die meisten Menschen nicht mehr. Nicht öffentlich. Manche gar nicht mehr. Sie sind so sehr gefangen in ihrer Welt des Äußeren, in der es keinen Platz mehr gibt für Tränen. Es ist dies die größte Untugend der Menschen, dass sie meinen, immer stark sein zu müssen.

Soldaten weinen nicht. Priester nicht und die Mächtigen weinen ebenso wenig wie der Nachbar von nebenan. Was zählt, ist die Fassade der Stimmigkeit. Alles, was einen Menschen verletzbar machen könnte, lassen wir verschwinden in einem Getto des Lachens, sprach Jesus, als Maria erwachend ihre Tränen aus den Augen wischen wollte. Mir sind die Menschen, die niemals weinen, unheimlich, sprach Maria in den beginnenden Morgen. Ich möchte einen Menschen verstehen und spüren können. Ja, manchmal fürchte ich mich vor dem reinen Lachen der Menschen, die keine Tränen mehr kennen. Ihr Lachen wirkt oft kalt, weil die Erleichterung einer durchweinten Nacht nicht zu spüren ist. Wenn das Lachen eines Menschen zur Fassade wird, werden Gedanken und Gefühle undurchdringbar und die Mauern zum Selbstschutz eines verunsicherten Lebens.