12,99 €
Ein harter Austausch zu Nahost Der Anschlag vom 7. Oktober und der Gazakrieg haben die Lage im Nahen Osten dramatisch verändert. Aber auch in Deutschland: Plötzlich werden Dinge ausgesprochen, die lange ein Tabu waren, plötzlich radikalisieren sich auch hier die Haltungen. Selbst unter Freunden: Hamed Abdel Samad und Philipp Peyman Engel schreiben sich Briefe zur Lage im Nahen Osten und tauschen sich direkt und kontrovers zur Lage im Nahen Osten: Betreibt Israel in Gaza einen Genozid? Unterstützen die Palästinenser den Terror? Auf welcher Seite steht Deutschland? Und: Wie kann die Zukunft der Region aussehen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hamed Abdel-Samad und Philipp Peyman Engel verbindet seit vielen Jahren eine freundschaftlichkollegiale Beziehung. In vielen gesellschaftspolitischen Fragen sprachen sie mit einer Stimme, trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und kulturellen Prägungen. Doch mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, dem darauffolgenden Krieg in Gaza und dem regionalen Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran traten tiefgreifende Differenzen zutage, die ihre Beziehung auf die Probe stellten.
Ihre Sichtweisen geraten endgültig im Frühjahr 2025 aneinander, als Abdel-Samad das Vorgehen Israels in Gaza als »Genozid« bezeichnet, ein Wort, das für Engel eine rote Linie überschreitet. Die Empörung ist groß, nicht nur bei Engel, sondern auch in der deutsch-jüdischen Öffentlichkeit.
Es beginnt ein persönlicher, aber scharfer Briefwechsel über den Krieg, die deutsche Haltung gegenüber Israel und dessen neuen Plänen im Nahen Osten. Der Austausch ist von Spannungen geprägt, aber auch von gegenseitigem Respekt und dem Wunsch, die Gegenseite zu verstehen.
Hamed Abdel-Samad / Philipp Peyman Engel
Ein Streit
Hamed Abdel-Samad und Philipp Peyman Engel verbindet seit vielen Jahren eine freundschaftlich-kollegiale Beziehung, die auf einem gemeinsamen Wertefundament beruht: dem entschiedenen Eintreten gegen Rassismus, Antisemitismus und religiösen Extremismus sowie für Meinungsfreiheit, säkulare Demokratie und eine respektvolle Debattenkultur. In vielen gesellschaftspolitischen Fragen sprachen sie mit einer Stimme, trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und kulturellen Prägungen. Doch mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, dem darauffolgenden Krieg in Gaza und dem regionalen Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran traten tiefgreifende Differenzen zutage, die ihre Beziehung auf die Probe stellten.
Philipp Peyman Engel ist säkular erzogen, aber fest im jüdischen Kollektivgedächtnis verwurzelt. Als Sohn einer persisch-jüdischen Mutter und als Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen versteht er sich als leidenschaftlicher Verteidiger des Existenzrechts Israels. Kritik an dem jüdischen Staat, die über legitime politische Fragen hinausgeht, empfindet er oft als moralisch zweifelhaft, manchmal sogar als verkappten Antisemitismus. Für ihn ist die Solidarität mit Israel nicht verhandelbar.
Hamed Abdel-Samad hat eine andere Biografie: Der deutsch-ägyptische Politologe, Bestsellerautor und scharfe Religionskritiker ist in Ägypten als Sohn eines sunnitischen Imams aufgewachsen. Er war zeitweise Mitglied der Muslimbruderschaft und ist später zu einem wortmächtigen Gegner islamischer Ideologien geworden. Für seinen öffentlichen Bruch mit dem Islamismus zahlt er bis heute einen hohen Preis: Morddrohungen, Fatwas und seit über zwölf Jahren permanenten Polizeischutz. Während Islamisten ihn einst als »zionistischen Islamhasser« verteufelten, wird ihm heute – ironischerweise – aus Teilen des jüdischen Lagers Antisemitismus vorgeworfen. Grund dafür ist seine deutliche Kritik an Israel. Lesungen werden abgesagt, Veranstalter ziehen sich zurück und selbst die Jüdische Gemeinde Düsseldorf, die ihm 2015 die Josef-Neuberger-Medaille für sein Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus verliehen hat, distanzierte sich öffentlich von ihm.
Ihre Sichtweisen geraten endgültig im Frühjahr 2025 aneinander, als Abdel-Samad das Vorgehen Israels in Gaza als »Genozid« bezeichnet, ein Wort, das für Engel eine rote Linie überschreitet. Die Empörung ist groß, nicht nur bei Engel, sondern auch in der deutsch-jüdischen Öffentlichkeit. Doch statt ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, entscheidet sich Engel für den schwierigeren Weg: das Gespräch. Es beginnt ein persönlicher, aber scharfer Briefwechsel über den Krieg, die deutsche Haltung gegenüber Israel und dessen neuen Plänen im Nahen Osten. Der Austausch ist von Spannungen geprägt, aber auch von gegenseitigem Respekt und dem Wunsch, die Gegenseite zu verstehen.
Es gibt nur ein Wort, das das, was gerade in Gaza passiert, genau beschreibt: Genozid. Schande über alle, die das unterstützen oder relativieren!
Hamed Abdel-Samad am 4. April 2025 auf X
Lieber Hamed,
ich bin schockiert. Ich habe deinen Post auf X gelesen, in dem du Israel des Völkermords, des Genozids, in Gaza bezichtigst. Auf Facebook sprichst du von angeblichen monatelangen systematischen Kriegsverbrechen in Gaza. Du schreibst, dass Israel den Frieden verhindere, indem es den ganzen Gazastreifen in Schutt und Asche lege und den Menschen dort die Lebensgrundlage entziehe.
Du schreibst: »Wer die Eroberungsphantasien der Islamisten kritisiert, muss auch die alttestamentarischen Eroberungsphantasien von Netanjahu und seiner rechtsradikalen Regierung kritisieren.« Du schreibst, man dürfe sich nicht wundern, dass die andere Seite mit noch mehr Gewalt reagiert, wenn man wie Israel angeblich wahllos täglich Kinder, Frauen und andere Zivilisten tötet.
Du schreibst: Stoppt den Völkermord!
Ich bin entsetzt. Ich kann nicht glauben, dass der Eintrag wirklich von dir stammt. Wir kennen uns schon sehr lange, Hamed. Du weißt, dass ich dich für dein Wirken und deinen Mut bewundere. Es gibt nicht viele Menschen, die einen höheren Preis für die Freiheit des Wortes gezahlt haben als du. Seit Jahren wirst du rund um die Uhr von mehreren Leibwächtern geschützt. Du musst fast so intensiv bewacht werden wie der Bundeskanzler.
Dein »Vergehen«: Du sprichst Klartext über Islamisten. Du legst dich mit deinen Waffen – dem geschriebenen und gesprochenen Wort – mit den Mullahs in Teheran an; du prangerst die frauenfeindliche und bigotte Auslegung des Islam in zahlreichen muslimisch geprägten Staaten an; du verteidigst unsere gemeinsamen humanistisch-universellen Werte wie nur wenige in diesem Land – koste es dich, was es wolle.
Ich kenne nicht viele Menschen, die sich der Wahrheit radikaler verpflichtet fühlen als du. Ich dachte immer: Wenn es jemanden gibt, der davor gefeit ist, kontrafaktische Behauptungen zu übernehmen, auch wenn sie von noch so vielen Menschen verbreitet werden, dann du.
Völkermord, Genozid, systematische Kriegsverbrechen: Ich möchte ganz ehrlich sein – deine Vorwürfe erinnern mich an die elenden antisemitischen Ritualmord- und Brunnenvergifterlegenden, die seit Jahrhunderten in immer wieder abgeänderter Form gegen Juden erhoben werden. Völkermord und Genozid: Es sind Vokabeln aus dem Lexikon der klassischen Antisemiten, bloß ein wenig angepasst an den »antikolonialen« Zeitgeist. Es sind Vokabeln, mit denen der jüdische Staat schon lange vor dem 7. Oktober 2023 und längst vor der Reaktion Israels auf den beispiellosen Terror der Hamas dämonisiert und delegitimiert werden sollte.
Eines steht bei der Hamas und ihren Verbündeten vom Libanon über Jemen bis hin zu Katar außer Zweifel: Ihr Beitrag zur menschlichen Zivilisation ist mehr als überschaubar. Keine Rechtsstaatlichkeit, kein funktionierender Staat, von humanistischen Werten kann dort keine Rede sein. Und doch haben sie die Schlacht um die Köpfe der jungen Leute im Westen gewonnen. Die palästinensische Propaganda wird geradezu begierig aufgenommen und weiterverbreitet. Ganz egal, wie verlogen sie ist. Israelische Soldaten schlachten massenhaft Kinder ab, heißt es. Die israelische Armee richtet unschuldige Menschen hin, die auf Essen warten, heißt es. Je abartiger die Schlagzeile, desto begieriger wird sie geglaubt! Traurigerweise nun auch von dir, Hamed.
Ich frage dich: Hat Israel nicht wie jeder andere Staat auf der Welt das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu wehren? Sollen die Israelis sich einfach umbringen lassen? Hat Israel nicht wie jeder andere Staat sogar die Pflicht, seine zahlreichen nach Gaza deportierten Staatsbürger zu befreien? Hat Israel nicht wie jeder andere Staat auf der Welt das Recht, in Frieden und Freiheit mit seinen Nachbarn zu leben?
Würde Deutschland es akzeptieren, über Jahrzehnte von seinen Nachbarn mit Zehntausenden Raketen attackiert zu werden? Würde Deutschland untätig bleiben, wenn sein Nachbar weitere Terroranschläge im Stil des 7. Oktobers 2023 ankündigen würde? Hamed, es war das schlimmste Pogrom an Juden nach dem Holocaust! Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung wären am 7. Oktober 12000 Bundesbürger ermordet worden. Würde Deutschland nicht darauf reagieren?
Warum schreibst du in deinem Post nicht davon, dass die Hamas die Geiseln unverzüglich freilassen muss, um diesen Krieg und all das Leid – in Gaza und Israel – endlich zu beenden? Warum schreibst du nicht auch, dass die viel zitierte arabische Solidarität mit den »palästinensischen Brüdern und Schwestern« verlogener nicht sein könnte? Dass insbesondere die arabischen Staaten die Möglichkeit hätten, palästinensische Flüchtlinge temporär aufzunehmen, um so der notleidenden Zivilbevölkerung zu helfen?
Du und ich, wir beide sind Autoren, wir haben nur das Wort. Das mag nicht viel sein, aber weil es bei uns auf jedes Wort ankommt, muss doch jedes Wort genau das ausdrücken, was wir wirklich sagen wollen; wir müssen unsere Wörter mit allergrößtem Bedacht wählen. Wer, wenn nicht wir, sollte genau hinschauen?
Was hat dich bloß geritten, Hamed? Ist es eine kalkulierte Provokation? Ist es ein strategischer Versuch, deinen zahlreichen muslimischen und jüdischen Lesern weltweit die jeweils andere Position ein bisschen näherzubringen? Oder ist es wirklich deine Überzeugung?
Ich bin ratlos. Und enttäuscht. Du weißt, was deine Bücher und dein Engagement mir bedeuten. Ich habe, und das ist keine Übertreibung, mit deinen Büchern als Student selbstständig denken gelernt. Sie haben mich geprägt. Als junger Mann bin ich nicht nur mit dem klassischen Springerstiefel-Antisemitismus in Berührung gekommen, sondern immer wieder auch mit judenfeindlichen Anfeindungen aus der muslimischen Community. Und auf einmal war da ein deutscher Autor aus Ägypten, der sich hinstellt, allen Juden seine Solidarität erklärt und gegen alle Widerstände seine muslimischen Mitmenschen wachzurütteln versucht. Wie mich das beeindruckt hat! Und was du dafür alles geopfert hast! Deine persönliche Freiheit, ganz sicher auch ein unbeschwertes, freies und glückliches Leben, wie es andere Intellektuelle führen können. Mir hat immer imponiert, dass deine einzige Richtschnur das freie, selbstständige Denken war. Die größtmögliche Annäherung an die Wahrheit.
Und nun lese ich dein Statement und denke: Das hätte genauso auch von den Juden hassenden »Yalla-Intifada«-Schreihälsen an der FU Berlin stammen können, die offenkundig nur ein Ziel haben: nämlich Israels völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung und staatliche Souveränität infrage zu stellen und Israel international zu isolieren. Auf dass der jüdische Staat, der Jude unter den Staaten, dieser Stachel im Fleisch der Islamisten und der »antiimperialen Linken«, sich endlich auf immer auflösen möge.
Darf man Israel kritisieren? Natürlich! Was denn sonst? Es gibt keinen Staat, der in Deutschland öfter und härter kritisiert wird als Israel. Israel-Bashing ist deutscher Volkssport. Mal aus guten, mal aus weniger guten Gründen. Aber wir sollten Israel doch bitte an denselben Standards messen wie alle anderen Staaten auch. Würdest du rückblickend sagen, die Amerikaner haben im Zweiten Weltkrieg einen Genozid, einen Völkermord an der deutschen Zivilbevölkerung verübt? Wohl kaum. Und zu Recht. Warum dann hier?
Zur Erinnerung: Am 7. Oktober 2023 fielen palästinensische Terroristen in Israel ein und ermordeten mehr als 1200 Menschen. Unschuldige Menschen. Alte, Kinder, Babys, Holocaustüberlebende, Frauen. Mütter wurden von den Terroristen vor den Augen ihrer Kinder sexuell missbraucht und ermordet. Familienväter wurden vor den Augen ihrer Kinder misshandelt und ermordet. Mehr als 250 Israelis wurden nach Gaza verschleppt.
Seitdem versucht Jerusalem, diese Geiseln zu befreien und nach Hause zu holen. Noch immer, fast zwei Jahre nach der Terrorattacke, sind etwa 60 von der Hamas entführte israelische Geiseln in Gaza, die dort ausgehungert, misshandelt und vergewaltigt werden. Fast die gesamte Welt schweigt darüber, niemand wird kommen und sie befreien. Einzig Israel wird an dieser Situation etwas ändern können.
Immer wieder hat Israel versucht, dieses Ziel auch auf diplomatischem Weg zu erreichen, und hat zahlreichen Vermittlungsvorschlägen zugestimmt. Doch die Verhandlungen über weitere Geisel-Freilassungen wurden von der Hamas über Monate systematisch blockiert. Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken haben das in der Vergangenheit immer wieder bestätigt. Israel kann es sich nicht leisten abzuwarten, denn die Zeit arbeitet gegen die Geiseln: Erinnerst du dich an die grausamen Bilder der ausgehungerten Verschleppten, die bei uns unwillkürlich die Erinnerung an Schoa-Überlebende hervorriefen?
Nach dem Scheitern der diplomatischen Gespräche sind, wie leider schon oft zuvor, Angriffe auf die Hamas der einzige Weg, die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Um die übrigen Geiseln zu befreien, muss Israel den militärischen Druck auf die Hamas erhöhen. Die Erfahrung der vergangenen 18 Monate zeigt, dass die Hamas um ihr eigenes Überleben fürchten muss, damit sie zu Zugeständnissen bereit ist. Die einzige Sprache, die palästinensische Terroristen verstehen, ist die Sprache der Gewalt: Wenn die Hamas nicht alle Geiseln freilässt, werden sich die Militärschläge gegen sie – unter größtmöglichem Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung – verschärfen.
Das zweite Ziel dieses Krieges ist die Vernichtung der Hamas. Es sollte keiner großen Begründung bedürfen, dass brutal mordende Terroristen mit aller Härte bekämpft werden müssen. Es gehört zum erklärten Ziel der Hamas, Israel auszulöschen. Und mit Menschen, die einen umbringen wollen, kann es keine Kompromisse, keinen Frieden, keine Zukunft geben. Europa mit seiner überwiegend friedliebenden Nachbarschaft mag das lange nicht verstanden haben. Aber Putins Überfall auf die Ukraine sollte den Europäern klargemacht haben, wie es ist, von Mördern bedroht zu werden, deren Ziel eine andere Landkarte ist. Es wird Zeit, dass die Terrororganisation Hamas ein für alle Mal vernichtet wird. Auch um der palästinensischen Zivilbevölkerung künftig ein Leben in Frieden und Freiheit zu ermöglichen.
Seitdem Israel sich gegen den Terror der Hamas zur Wehr setzt, werden wir Zeugen, wie mit Desinformationen Politik gemacht wird, auch im Westen. Israel hat den Krieg der Bilder schon längst verloren. Und ja: Genau das war von Anfang an der diabolische Plan des mittlerweile vom israelischen Militär ins Jenseits beförderten ehemaligen Hamas-Chefs Yahya Sinwar. Das Opfer wird zum Täter. Derjenige, der sich wehrt, gilt als Aggressor. Das berechtigte und planvolle Vorgehen der israelischen Armee gegen den Terror wird zum angeblichen Völkermord. Israel wird allerorten, und nun auch von dir, die systematische Auslöschung palästinensischen Lebens vorgeworfen. Wie passt das mit den Warnungen der Zivilbevölkerung vor den Angriffen aus der Luft zusammen? Mit der Einrichtung von Fluchtrouten? Damit, dass die israelische Behörde COGAT Millionen Tonnen an humanitärer Hilfe für die Menschen in Gaza abgefertigt hat? Dass mehrere Hundert israelische Soldaten im Gazastreifen getötet wurden, weil diese eben nicht ohne Rücksicht auf eigene Verluste gegen den palästinensischen Terror vorgehen?
Angaben von Terroristen über die Höhe der Opferzahlen im Gazastreifen werden ungeprüft übernommen. Ebenso Hamas-Märchen über die angeblich absichtliche Tötung von Zivilisten. Gleichzeitig bleiben Angaben über die erfolgreiche Ausschaltung von skrupellosen Terroristen, die in unfassbarem Ausmaß Schuld auf sich geladen haben, unerwähnt.
Zur unbequemen Wahrheit gehört aber auch, dass Israel seit dem 7. Oktober mit einem Dilemma konfrontiert ist. Es gibt in dieser Situation keine richtige, schon gar keine leichte Entscheidung. Israel hat nur die Wahl zwischen mehreren schlechten Optionen, von denen es die am wenigsten schlechte identifizieren muss. Doch Nicht-Handeln ist keine Alternative. Israel muss Fakten schaffen.
Es wird Zeit, dass die Welt aufwacht und Israels Situation nach dem 7. Oktober begreift. Es darf keine Äquidistanz zwischen einer Mörderbande auf der einen Seite und einem demokratischen Staat auf der anderen Seite geben. Auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Geiseln und den vom Terror geplagten israelischen Staatsbürgern ist unerträglich. Der Westen wird gerade vergiftet – durch die Akzeptanz der Hamas-Propaganda auch in der deutschen Politik, Presse und Zivilgesellschaft. Ich sehe, dass dieses Gift auch bei dir Wirkung zeigt.
Hoffentlich verzeihst du mir meine Ehrlichkeit, Hamed. Ich hoffe, wir können – hart in der Sache und trotz aller Unterschiede – zivilisiert miteinander diskutieren.
Viele Grüße
Philipp
Lieber Philipp,
dass du über meine Worte empört bist, freut mich. Ja, genau das sollst du sein. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der sanfte Formulierungen ausreichen. Die Katastrophe hat längst alle Grenzen der Vorstellungskraft gesprengt. Wer jetzt noch auf diplomatische Floskeln setzt, macht sich mitschuldig. Was hast du von mir erwartet? Etwa, dass ich Israel auffordere, sich zurückzuhalten und Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, wie es unsere frühere Außenministerin immer getan hat? Worte, die, so sorgfältig sie auch gewählt gewesen sein mögen, im Lärm der Bomben und im Schweigen der Weltgemeinschaft untergegangen sind. Und während die Zahl der Toten immer größer wird, während Kinder verhungern, fließen deutsche Waffen weiter nach Israel, als wären es Hilfspakete.
Danke, dass du mich daran erinnerst, dass ich immer Klartext gesprochen habe, über Islamisten, über die Mullahs, über frauenfeindliche Barbarei im Namen des Islam. Ich habe meine Sicherheit aufs Spiel gesetzt und Freundschaften verloren, um die Werte zu verteidigen, die wir angeblich teilen: Freiheit, Menschenwürde, universelle Rechte. Genau aus diesem moralischen Impuls kritisiere ich Israel heute. Genau aus diesem Grund sage ich: Was Israel in Gaza tut, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wer dazu schweigt, verrät die Werte, die er vorgibt zu verteidigen.
Viele jüdische Freunde nannten mich früher einen Aufklärer. Sie applaudierten mir und nannten mich mutig, wenn ich den Islamismus kritisierte. Es sind dieselben Stimmen, die mich heute als Antisemiten verunglimpfen, bei Veranstaltern meiner Lesungen intervenieren und gezielt Druck ausüben, damit meine Auftritte abgesagt werden. Ihr erklärtes Ziel ist es, meinen Ruf und meine berufliche Existenz zu zerstören. Aber ich klage nicht. Denn ich weiß: Wahrhaftigkeit fordert Opfer. Ich habe nicht die Seiten gewechselt, Philipp. Ich bleibe bei den Werten, nicht bei den Flaggen. Ich habe mich längst von jeder ethnischen, religiösen oder nationalen Identität befreit. Deshalb kann ich jeden kritisieren, der diese universellen Menschenrechte missachtet, unabhängig davon, woher er kommt. Wahrheit kennt keine Stammbäume. Prinzipien sind blind für Identität, oder sollten es zumindest sein.
Du hingegen – verzeih mir die Schärfe – scheinst immer noch in den unsichtbaren Fesseln deiner jüdischen Identität gefangen zu sein. Diese tribale Bindung färbt dein Bewusstsein, lenkt deine Prinzipien, lässt dich Recht und Unrecht, Täter und Opfer verwechseln. Für mich ist Identität zwanzig Prozent Schutz und achtzig Prozent Last. Ein Teil unserer Identität gibt uns Sicherheit, aber der Rest verschlingt unsere Individualität und stürzt uns in Loyalitätskonflikte. Seit fast einem Jahrhundert kämpfen Juden und Palästinenser nicht nur um Land. Sie kämpfen um eine Erzählung, um Mythen, um eine unbewegliche Identität, eine Identität, die sich in der Rolle des ewigen Opfers eingeschlossen hat und nicht mehr herausfindet. Was beiden entgeht: Im Laufe der Jahre sind sie sich immer ähnlicher geworden. Mit heiligem Eifer bekämpfen sie beim anderen genau das, was sie in den eigenen Reihen nicht nur dulden, sondern aktiv fördern: Ausgrenzung, religiösen Fanatismus und hemmungslose Gewalt als politisches Werkzeug. Dieser Konflikt wäre längst Geschichte, wenn rationale Stimmen wie deine und meine häufiger den Mut gehabt hätten, nicht nur den Gegner, sondern auch die eigene Seite zu kritisieren. Stattdessen haben zu viele geschwiegen oder sich als Sprachrohr der Hardliner in den eigenen Reihen missbrauchen lassen.