Was die Nacht an den Tag bringt - Annette Hohberg - E-Book
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Was die Nacht an den Tag bringt E-Book

Annette Hohberg

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Beschreibung

Was bleibt von einer großen Liebe - und einer scheinbar glücklichen Ehe? Als Chiara aus ihrer Heimat Sizilien nach Bali reist, ist sie voller Erwartungen: Endlich wird sie Georg wiedersehen, den Mann, den sie liebt und mit dem sie sich ein neues Leben aufbauen will. Aber Georg kommt nicht, und Chiara beginnt zu zweifeln. Ihre Unruhe wächst von Stunde zu Stunde. Da lernt sie Elisabeth kennen, die sich sehr um sie bemüht und mit der sie schon bald so etwas wie Freundschaft verbindet. Doch Chiara ahnt nichts von Elisabeths Geheimnis, das Chiaras Glück zerstören wird. Auf Bali entscheidet sich das Schicksal der beiden Frauen... Ein eindringlicher Roman über zwei Frauen und ein dramatisches Geheimnis, das sie miteinander verbindet, der die Leser*innen in zwei faszinierende Landschaften entführt: nach Bali und nach Sizilien

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Annette Hohberg

Was die Nacht an den Tag bringt

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Was bleibt von einer großen Liebe – und einer scheinbar glücklichen Ehe?

Als Chiara aus ihrer Heimat Sizilien nach Bali reist, ist sie voller Erwartungen: Endlich wird sie Georg wiedersehen, den Mann, den sie liebt und mit dem sie sich ein neues Leben aufbauen will. Aber Georg kommt nicht, und Chiara beginnt zu zweifeln. Ihre Unruhe wächst von Stunde zu Stunde. Da lernt sie Elisabeth kennen, die sich sehr um sie bemüht und mit der sie schon bald so etwas wie Freundschaft verbindet. Doch Chiara ahnt nichts von Elisabeths Geheimnis, das Chiaras Glück zerstören wird. Auf Bali entscheidet sich das Schicksal der beiden Frauen…

Inhaltsübersicht

Widmung

Chiara

Johanna

Chiara

Johanna

Chiara

Johanna

Chiara

Johanna und Chiara

Für all die wunderbaren Menschen, die ich auf Bali kennenlernen durfte – und von denen einige im Laufe der Jahre zu Freund*innen geworden sind

Chiara

Sie trägt das weiße Kleid. Das Kleid, das sie am ersten Abend getragen hat. Dem ersten Abend mit ihm. Es hat große Taschen, das Kleid.

»Ich schleppe gern Dinge mit mir herum«, sagte sie damals.

»Es gibt doch Handtaschen«, sagte er.

Sie lachte. »Handtaschen mag ich nicht. Ich mag Freihändigkeit.«

Er lachte auch.

Sie haben viel gemeinsam gelacht.

Jetzt hat sie Steine in die Taschen des Kleides gesteckt. Die Steine hat sie am Strand gesammelt.

Sie sieht sich um. Da ist niemand außer ihr. Ein Hahn kräht, als könnte er den kommenden Tag nicht abwarten. Es ist kurz nach vier Uhr am Morgen.

Chiara setzt einen Fuß vor den anderen. Sie ist barfuß. Ihre Fußnägel hat sie korallenrot lackiert. Vorfreudig war sie damals gewesen. Sie wollte schön sein für ihn. Das Damals ist gerade mal zehn Tage her. Es ist kassiert worden vom Gestern. Das Heute ist so dunkel wie das Meer, vor dem sie nun stehen bleibt, und so schwer wie die Steine in den Taschen ihres Kleides.

Als das Wasser ihre Zehen berührt, zuckt sie kurz zusammen.

Nur nicht denken, denkt sie.

Sie nimmt die Arme zu Hilfe, damit sie schneller vorankommt. Sie spürt nun auch Steine unter ihren Füßen. Strauchelt. Geht weiter. Die Wellen sind nicht hoch. Kein Tosen. Vielmehr ein Plätschern.

Chiara schaut zurück. Ein paar Fischerboote liegen am Strand. Bunt lackierte hölzerne Auslegerboote auf schwarzem Sand. Zu dieser Stunde eher Silhouetten, die wie riesige Kraken das Ufer besetzen.

Das Wasser reicht ihr jetzt bis zu den Hüften. Sie taucht die Hände hinein. Der Finger, an dem sie bis gestern den Ring getragen hat, ist nackt. Der Blechring liegt in einem Bananenblatt auf der Terrasse jener Frau, die sie als ihre Rettung gesehen hatte und die …

Sie erlaubt dem Gedanken nicht, wieder Raum in ihr zu besetzen. Sie hat ihn in der letzten Nacht zu oft hin und her gewälzt. Wund gescheuert hat sie sich an ihm, bis sie schweißnass aus ihrem Bett gekrochen ist, sich das weiße Kleid übergeworfen und den Ring vom Finger gezogen hat. Sie benötigte etwas Seife, um ihn zu lösen. Bei der Hitze hier werden die Gelenke schnell dicker. Selbst so dünne Gelenke wie ihre.

Die Tür des Bungalows hat sie nur zugezogen. Den Schlüssel hat sie dagelassen. Sie würde schließlich nicht mehr zurückkommen von dort, wo sie hinwollte. Sie nahm die Hauptstraße, die zu dieser Uhrzeit nahezu unbefahren war. Ein Pritschenwagen kam vorbei, mit einem Schwein auf der Ladefläche. Das Schwein quiekte. Wahrscheinlich hatte es Angst. Schweine bekommen Angst, wenn sie spüren, dass es zu Ende geht. Die Angst zerriss für einen Moment die Stille des Morgens, bis sie mit dem Geräusch des sich entfernenden Dieselmotors verschwand.

In Chiara war keine Angst. Da war nur etwas merkwürdig Taubes. Als seien ihre Gefühle betäubt worden. Unter Narkose wird es still, und in ihr war es jetzt still.

Der Markt hatte noch geschlossen. Erst in etwa ein, zwei Stunden würde hier langsam das tägliche Treiben Anlauf nehmen. Jetzt lagen nur einige von gestern übrig gebliebene Sperrholzkisten und zertretene Kohlblätter am Eingang. Ein räudiger Hund tat so, als würde er die Hinterlassenschaften bewachen. Er hob knurrend den Kopf, als Chiara vorbeikam, doch selbst ein feindseliger Hund machte ihr keine Angst mehr.

Sie brauchte etwa eine Viertelstunde, um auf das Grundstück zu gelangen, das sie am Abend zuvor so überstürzt verlassen hatte. Vorsichtig öffnete sie das große Tor. Es quietschte etwas. Chiara schlich über den Rasen, warf einen Blick zur Terrasse des großen Gebäudes. Auf dem Tisch dort standen noch die zwei Weinflaschen, die sie mit den zwei Frauen geleert hatte. Etwas weiter, im Gästehaus, lag Johanna in ihrem Bett und schlief. Johanna. Allein der Name verursachte Chiara Übelkeit. Laut war es geworden gestern. Irgendwann hatten die aufeinander zurasenden Emotionen einen Totalschaden erlitten. Da gab es nichts mehr zu retten. Danach kam die Stille.

Chiara riss ein Blatt von einer Bananenstaude, legte es vor die Tür des Gästehauses und ihren Ring darauf.

»Ich werde ihn nicht abnehmen, solange ich lebe«, hatte sie Johanna anvertraut, zu einer Zeit, als sie noch Vertrauen zu ihr hatte.

Sie würde nicht mehr lange leben. Diese Frau sollte das wissen.

Das Grundstück von Johannas Freundin lag am Meer. Wie Chiaras Bungalow. Und weil sie nicht wieder auf die Hauptstraße wollte, ging sie am Strand zurück. Stolperte vielmehr, weil die Dunkelheit keine Sicht zuließ. Auf ihrem Weg sammelte sie die Steine und füllte damit die Taschen ihres weißen Kleides.

 

Jetzt, im hüfthohen Wasser, werden die Steine schwerer. Das sollen sie auch, denn Chiara ist eine gute Schwimmerin.

Nun kommt die Sandbank. Die hat sie einkalkuliert. Danach geht es steil nach unten. Auch das weiß sie, und genau dort will sie sein. Weit unten.

Die Träger des weißen Kleides schneiden ihr in die Schultern. Sie halten das Gewicht der Steine nur mühsam. Es bleiben noch ein paar Schritte. Das würden die Träger schaffen, ohne zu reißen.

Dann geht es schnell. Sehr schnell.

Das Wasser ist plötzlich überall. In ihrer Nase, ihren Ohren, ihrem Hals. Es hat Kraft, das Wasser.

Arme und Beine wollen dagegenhalten, doch die Steine lassen ihnen keine Chance. Sie hat es so gewollt. Nun bekommt sie, was sie gewollt hat. Die Panik hat sie nicht gewollt, aber sie ist plötzlich da. Erfasst sie, will ihr den Brustkorb zerreißen. Es gibt kein Zurück auf ihrem Weg in die Tiefe.

Das Bild von Georg nimmt sie mit. Das Bild seines Lachens.

Es wird still. Noch stiller als ohnehin schon. Lässt sich Stille steigern? Über solche Fragen hat sie gern nachgedacht in ihrem Leben. Doch jetzt bleibt ihr keine Zeit mehr dazu. Das Leben ist angezählt.

Ein letztes Geräusch dringt wie von ferne durch zu ihr. Ein Sonarton in dem Wasser, das sie umgibt und das in sie eindringt. Chiara hört seine Stimme. Ganz klar und deutlich. »Ich will ohne dich nicht sein.«

Dann verliert sie das Bewusstsein.

 

Ein Ruck geht durch ihren Körper, als der Schwall Wasser aus ihrem Mund schießt.

Chiara öffnet die Augen. Sie sieht in das Gesicht eines Mannes, der über ihr sitzt, beide Hände auf ihrem Brustkorb. Er hat dunkle Haut und dunkle Augen und dunkles Haar. Er riecht nach Tabak. Tabak und Nelken. So riechen die Männer hier. Doch wo ist hier? Hier ist kein Ort, an dem sie sein wollte, sondern einer, von dem sie wegwollte.

»Miss. Are you okay?«

Chiara versucht ein Nicken. Dabei wird ihr übel. Sie dreht den Kopf zur Seite. Wasser läuft in den schwarzen Sand, auf dem sie liegt.

Der Mann erhebt sich und dreht sie nach links. Er hat raue Hände. Sie meint, Risse zu spüren. So viele Risse. Auf ihr. In ihr.

Sie schließt die Augen wieder.

Seine Hand klopft ihr auf die Wange. »Keep awake«, fleht er. Sein Englisch ist weich. Die Konsonanten abgeschliffen wie die Steine am Strand. Steine. Sie hat Steine gesammelt. Die Steine sollten ihr helfen. Die Steine haben versagt.

Sie will nicht wach bleiben. Sie wollte nie wieder aufwachen.

Ob es Sekunden sind oder Minuten, die vergehen, weiß sie nicht. Sie fühlt nur ein wildes Hämmern in ihrem Kopf. Ein hart schlagendes Metronom, das ihr jede Orientierung raubt.

Irgendwann nimmt sie den Geruch von Parfüm wahr. Eine Frau beugt sich über sie. Die Frau nimmt Chiaras Handgelenk. Fühlt den Puls.

»Können Sie mich hören?«, fragt sie auf Französisch.

Chiara nickt. Es geht jetzt besser mit dem Nicken.

»Verstehen Sie mich? Sprechen Sie Französisch?«

»Ja.« Das ist ihre Stimme. Ihre Stimme ist noch da.

»Versuchen Sie, sich aufzusetzen.« Die Frau schiebt ihr einen Arm unter die Schultern und zieht sie vorsichtig hoch.

Erst jetzt merkt Chiara, dass sie nackt ist. Das weiße Kleid, es ist weg. Die Frau legt ihr einen Sarong um die Schultern. Auch er riecht nach Parfüm.

»Ich heiße Cécile«, sagt sie. Sie redet langsam, setzt mit Bedacht ein Wort ans andere. »Ich bin Ärztin. Die Leute hier kennen mich. Der Fischer, der Sie aus dem Wasser geholt hat, hat seinen Freund zu mir geschickt.«

Chiara sieht zu dem Mann mit dem dunklen Gesicht. Er steht nun neben ihr. Hinter ihm haben sich einige Menschen versammelt. Frauen, Männer, Kinder. Barfuß. In Sarongs und Shorts. Sie alle blicken Chiara an. Ernst und Erschrecken in den Gesichtern.

»Wo … wo ist er gewesen?«, stammelt Chiara. »Der Mann? Ich … ich war doch allein. Da war niemand, als …«

»Er hat etwas an seinem Boot repariert. Er wollte wohl fertig sein, bevor es hell wird.« Die Ärztin, die Cécile heißt, sieht zum Himmel. Die Wolken sind nun grau und rosa. Die aufgehende Sonne lässt der Dunkelheit keine Chance mehr. Sie schiebt die Nacht weg. Ein neuer Tag zieht auf.

Ein neuer Tag. Einer, den Chiara nicht mehr erleben wollte.

»Sie können von Glück sagen, dass er da war und sofort gehandelt hat«, sagt Cécile. »Ohne ihn wären Sie jetzt tot.«

Glück? Das gab es mal. Es hat sie verlassen. Ist es ein Glück, das sie nun nackt hier auf dem schwarzen Sand liegt?

Chiara sieht die Frau an. Blaue Augen. Graues Haar, das zu einem losen Knoten im Nacken zusammengebunden ist. Ein rotes Kleid mit weißen Blumen darauf.

»Wo ist mein Kleid?«, fragt sie. Mein weißes Kleid, denkt sie.

»Er hat es Ihnen ausgezogen. Wegen der Steine in den Taschen.« Sie verstärkt den Druck ihres Armes. »Meinen Sie, dass Sie aufstehen können?«

Chiara fügt sich. »Ich versuche es.«

»Na dann … Ich halte Sie fest.«

Sie spürt wieder Boden unter den Füßen, schwankt etwas.

»Es geht schon«, murmelt sie.

»Wo soll ich Sie hinbringen?«

Chiara deutet mit dem Kopf dorthin, wo die Bungalows liegen. Ihrer ist einer von vielen.

Sie gehen langsam. Die Menschen folgen ihnen mit etwas Abstand. Chiara sieht, dass eine der Frauen einen nassen weißen Fetzen in der Hand hält. Das weiße Kleid.

Irgendwann erreichen sie die kleine Terrasse vor ihrem Bungalow.

Der Schlüssel, denkt Chiara. Ich habe ihn drinnen liegen lassen.

Doch es eilt schon jemand herbei mit einem Zweitschlüssel. Einer der Angestellten. Er verbeugt sich, schließt dann die Tür auf und lässt die beiden Frauen eintreten.

Chiaras Blick fällt auf das Bett. Die zerwühlten Laken, in denen noch der Schweiß und die Wirrnis der letzten Nacht stecken.

Vorsichtig geleitet Cécile sie dorthin. Chiara setzt sich auf den Bettrand. Ihr gegenüber steht die Tür des Kleiderschranks weit offen. Der Bügel, an dem das weiße Kleid hing, ist leer. Eine Leerstelle zwischen all den bunten Stoffen. Sie hatte ihre schönsten Sachen mitgenommen auf diese Reise. Sie hatte schön sein wollen für ihn.

»Sie legen sich jetzt erst einmal hin«, sagt Cécile. »Ich hole in der Zwischenzeit etwas, das Sie beruhigen wird.« Sie ruft einen Satz nach draußen. Auf Balinesisch oder Indonesisch. Jedenfalls in einer Sprache, die Chiara nicht versteht.

Die Frau mit dem nassen weißen Fetzen tritt ein.

»Das ist Kadek«, erklärt Cécile. »Sie bleibt so lange bei Ihnen, bis ich zurück bin.«

Kadek nickt Chiara mit einem schüchternen Lächeln zu. Sie nimmt auf einem Sessel Platz und hängt das weiße Kleid über die Armlehne.

Chiara lässt sich in das Kopfkissen fallen und zieht die Beine ins Bett. Sie scheinen schwerer als sonst. Alles an ihr scheint schwerer.

Sie sieht an die Zimmerdecke aus Bambus. Ein großer Ventilator dreht dort müde seine Runden, als wollte er jeden Moment aufgeben. Sie folgt seinen Bewegungen. Seine Müdigkeit scheint eins zu werden mit ihr. Auch sie hat aufgeben wollen.

Nach etwa einer Viertelstunde ist Cécile zurück. Kadek erhebt sich, bringt kurz die Hände vor der Brust zusammen und senkt den Kopf. Dann verlässt sie den Bungalow.

Die Ärztin setzt sich an das Kopfende des Betts und stellt ein Wasserglas auf dem Nachttisch ab. Ihr Blick streift einen breiten silbernen Armreif, der dort liegt.

»Ich habe hier einen Tranquilizer für Sie. Und ein Schlafmittel. Sie nehmen jetzt jeweils eine Tablette. Die Wirkung setzt sehr schnell ein. Es ist wichtig, dass Sie erst einmal zur Ruhe kommen. Ich sehe später nach Ihnen, und dann reden wir darüber, was eigentlich passiert ist.«

»Ich wollte …«

»Nicht jetzt«, unterbricht Cécile sie. »Ich sagte, später. Jetzt ist keine Zeit für irgendwelche Erklärungen.«

»Warum tun Sie das alles?«

Cécile lächelt. Es ist ein mitfühlendes Lächeln. »Weil ich Ärztin bin und weil Sie Hilfe brauchen.«

»Woher kennen die Leute Sie hier so gut?«

»Ich wohne seit einigen Jahren im Nachbarhaus. So, und nun schlucken Sie die beiden hier runter.« Sie hält Chiara ihre Handfläche hin. Darin liegen zwei Tabletten, eine rosa, eine weiß, eine etwas größer als die andere.

Chiara setzt sich auf und greift nach dem Wasserglas. Es tut gut, dass ihr diese Frau sagt, was sie zu tun hat. Wie ein Kompass, der ihr die Richtung vorgibt, die sie verloren hat.

»Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie eingeschlafen sind«, sagt Cécile und nimmt Chiaras Hand in ihre. Es ist eine feste, warme Hand. Eine Hand wie ein Geländer. Eine Hand, an der sich Chiara zurücktasten kann in das, was einmal ihr Leben gewesen ist.

Der letzte Spätsommer. Der Markt in Palermo. Das Teatro Massimo. Carlo. Und Georg. Immer wieder Georg.

* * *

Chiara hatte sich für den Mercato Vucciria entschieden. Der war kleiner als der Bellaro. Die umliegenden Gassen waren enger, die Graffitis an den Fassaden aggressiver, die Häuser schmutziger. Auch die Sprüche, die sich die Händler zuriefen, waren schmutziger. Das Derbe hatte hier seinen Platz. Auf dem Bellaro wurden Touristen umschmeichelt mit dem, was sie für sizilianische Lebensart hielten. Man lächelte sie an und verbeugte sich, während man die etwas zu weichen Früchte mit den dunklen Stellen auf die manipulierte Waage legte und mehr verlangte als handelsüblich. Es war den Standbesitzern nicht zu verdenken. Sie machten eben Geschäfte mit Blauäugigkeit und Ahnungslosigkeit, und sie machten gute Geschäfte. Und wenn mal wieder ein Urlauber versuchte, Garnelen mit Messer und Gabel zu essen, lachten sie ihm ins Gesicht und hinter seinem Rücken über ihn. Auf dem Vucciria dagegen bemühte man sich gar nicht erst, nett zu sein. Man hielt sich nicht auf mit guter Miene und freundlichen Floskeln. Spott wurde ausgegossen wie das Spülwasser, mit dem die blutigen Fische gesäubert wurden und das in den Rinnsteinen rundum versickerte.

Dafür war das Angebot besser. Auberginen und Tomaten waren frischer, Tintenfische fester, Kapern würziger. Wenn die Ware abverkauft und das Eis in den Auslagen der Fischstände weggeschmolzen war, wurde der Laden dichtgemacht und das Geld gezählt. Bei geschäftstüchtigen Händlern war das bereits am späten Vormittag der Fall.

Um das Beste zu bekommen, musste man also früh dort sein. Chiara wusste das. An der Tür ihres Schmuckgeschäfts in Tràpani hing heute ein Schild mit der Aufschrift »Chiuso«, auch wenn ihr dadurch ein paar Einnahmen durch die gegen Mittag anlegenden Kreuzfahrtschiffe verloren gingen. Eine Korallenkette hier, ein Silberring dort – die Passagiere mochten Souvenirs, und weil viele zudem Chiaras heitere Art mochten, liefen die Geschäfte gut. An diesem Morgen jedoch war sie zeitig aufgestanden und mit ihrem alten zerbeulten Fiat nach Palermo gefahren. Eine gute Stunde auf der Autobahn, dann durch den hektischen Straßenverkehr der Inselhauptstadt. Gehupe und Missachtung aller Vorfahrtsregeln machten ihr nichts aus. Sie kannte all das, wie ein Fisch seinen Schwarm kennt. Sie schwamm einfach mit.

Ihren Wagen parkte sie in der Nähe des kleinen Parks gleich beim Hafen, dort, wo Carlo wohnte, und lief die paar Schritte zum Vucciria.

Sie wusste, wer die besten Venusmuscheln hatte. Den Händler begrüßte sie mit Namen und einem knappen Kopfnicken. Er sah kurz auf, eine Zigarette im Mundwinkel. So etwas wie die Andeutung eines Lächelns zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Nicht mehr als ein leichtes Zucken, und das war schon viel.

»Vongole?«, fragte er.

Chiara nickte.

Er griff nach einem Netz mit Muscheln, besah es sich von allen Seiten, legte es zurück und wählte ein anderes.

»Und ein Kilo Sardinen«, fuhr Chiara fort und sah zu, wie er die silbrig glänzenden Fische erst auf die Waage und danach in eine Plastiktüte schüttete. Dabei fiel etwas Asche von seiner Zigarette ab.

Den Betrag rechnete er schnell im Kopf aus. Es war ein guter Preis. Die Scheine und Münzen, die er ihr als Wechselgeld aushändigte, waren feucht. So feucht wie die Fische, die er verkaufte.

»Wie geht’s in Tràpani?«, fragte er beiläufig. Jetzt nahm er die Zigarette aus dem Mund; er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Es läuft«, erwiderte sie. »Die Touristen bringen das nötige Geld. Meinem Vater in seiner Trattoria und mir im Laden. Und gute Fische gibt es auch. Jeden Morgen am Hafen.«

Er zog die Augenbrauen hoch, was so viel heißen sollte wie: Palermos Fische sind die besten und die auf dem Vucciria die allerbesten.

Sie lachte.

»Keine Lust, wieder herzuziehen?« Er reichte ihr Muscheln und Fisch.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Da oben ist es ruhiger. Und wenn ich will, komme ich einfach zu Besuch. So wie heute.«

Er brummte etwas in sich hinein. Es war seine Art, ihr einen schönen Tag zu wünschen.

Mit der linken Hand ergriff Chiara die Tüte, mit der rechten winkte sie ihm zu. Sie wusste, dass sie das Beste aus seinem Angebot bekommen hatte.

Sie besorgte noch Salat, Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln, Petersilie, Rosinen, Kapern, frisches Brot und Pasta. Es würde ein einfaches Essen werden. Spaghetti alle Vongole und gegrillte Sardinen auf Tomatensugo. Carlo hatte einen kleinen Holzkohlengrill auf seiner Dachterrasse; dort hatten sie zusammen schon so einige Fische auf den Rost gelegt.

Chiara freute sich auf das Wochenende mit ihrem Freund. Sie hatte ihn jetzt seit drei Wochen nicht gesehen. Er fehlte ihr – und sie fehlte ihm. Das hatte er ihr gestern am Telefon gesagt. »Chiara, carissima«, nannte er sie, und es klang zärtlich, wenn er es aussprach. Er hatte eine weiche Stimme. So ganz anders als die meisten sizilianischen Männer. Wenn die in der Trattoria von Chiaras Vater beisammensaßen, konnte man es hören, das Kratzende und Kantige dieser Insel. Ein Chor von Reibeisen.

Für den Sonntagabend hatte Carlo Karten für das Teatro Massimo besorgt. Eine Sopranistin aus Skandinavien sollte auftreten, mit Liedern von Schubert und Debussy und Fauré. Das war nach Carlos Geschmack. Die große Oper lag ihm. Und er wusste, dass Chiara es genoss, mit ihm auszugehen. Er ließ es sich nicht nehmen, ihr dabei zuzusehen, wenn sie sich zurechtmachte. Heute hatte sie ein smaragdgrünes Seidenkleid eingepackt, dazu Sandalen mit grünen Riemchen und hohen Absätzen. Schmuck sowieso. Etwas Silbernes für die Ohren und fürs Handgelenk. Der Hals sollte frei bleiben. Nicht zu viel anhängen, sagte sie oft zu ihren Kundinnen. Weniger wirke mehr.

Jetzt verließ sie den Vucciria Richtung Corso Vittorio Emanuele. Sie überquerte die Hauptstraße und wandte sich wieder Richtung Giardino Garibaldi. Kurz dahinter bog sie in eine Gasse ein, und dann stand sie vor dem grauen Gebäude, in dem sie einige Jahre selbst gelebt hatte. Nach ihrem Auszug hatte Carlo die große Wohnung behalten. Er hatte sich ein Atelier dort eingerichtet, in dem er Fotos und Grafiken bearbeitete. Er war erfolgreich geworden als Grafikdesigner, hatte inzwischen namhafte Auftraggeber in der ganzen Stadt.

Chiara besaß noch einen Schlüssel, und nach wie vor hatte sie ein Gefühl von Nach-Hause-Kommen, wenn sie die steilen Treppen hinauf in den fünften Stock stieg. Einen Aufzug gab es nicht. Es war ein sehr altes Haus, und an so einigen Stellen im Treppenhaus blätterte bereits der Putz von den Wänden.

Als sie Carlos Wohnung betrat, die auch mal ihre gewesen war, nahm sie sofort den vertrauten Geruch wahr. Sein Eau de Toilette hatte Carlo nie gewechselt. In dessen herb-würzige Note mischte sich ein leichter Hauch von Zigaretten. Carlo rauchte nicht viel, aber mit Genuss. Manchmal rauchte Chiara mit, weil sie es mochte, wie er ihr erst eine Zigarette aus einem silbernen Etui anbot und ihr dann mit seinem alten Dupont-Feuerzeug Feuer gab. Er zelebrierte die Dinge.

»Ciao, Chiara, carissima«, rief er aus der Küche.

»Ciao, Carlo.« Sie warf ihre Tasche auf den Boden und stellte die Tüten mit den Lebensmitteln auf dem Tresen in der Mitte des Raums ab.

Sie umarmten sich und hielten sich eine Weile fest.

»Wie schön, dich zu sehen!«, sagte er.

Sie nickte. »Ich hab dich auch vermisst.«

»Caffè?« Er wartete keine Antwort ab und drehte sich zu einer Espressomaschine um. Ein paar Handgriffe, und schon lief der starke Kaffee in hauchdünnem Strahl in zwei Tassen.

Chiara rührte sich einen Löffel Zucker hinein. »Ich hab uns Vongole und Sardinen vom Vucciria mitgebracht.« Sie wies mit einem Nicken auf die Tüte. »Gemüse, Brot und Pasta sind auch dabei. Ich wusste nicht, ob du noch Nudeln im Haus hast, daher …«

»Ich habe immer Nudeln hier, aber frische Pasta ist natürlich besser.«

»Dachte ich mir.«

Er holte alles aus der Tüte, öffnete die Tür des Kühlschranks und räumte Muscheln und Fisch hinein. »An Rosinen und Kapern hast du auch gedacht.«

»Ich weiß ja, wie du den Sugo magst.«

»Warum hast du mich nur verlassen?«

»Weil ich meinen Laden in Tràpani habe. Und weil mein Vater mich dort braucht, obwohl er es nie zugeben würde.«

Der Vater. Der Vater mit seiner Trattoria. Der Vater, der nach dem Unfalltod seiner Frau mit einer vierzehnjährigen Tochter dagestanden und zunächst nicht gewusst hatte, wie das Leben weitergehen sollte. Er hatte es gut gemacht, alles in allem. Die Trattoria hatte ihm Halt gegeben. Die tägliche Routine. Nachbarn und Freunde und Stammkunden hatten ihm geholfen. Hatten ihn getröstet und Einkäufe für ihn erledigt und Chiara bei den Hausaufgaben unterstützt. Nach der Schule war die Tochter nach Palermo gezogen. Um dort bei einem Goldschmied in die Lehre zu gehen. Carlo hatte Chiara bei Freunden kennengelernt. Ein junger Mann aus Neapel, der in Palermo an Werbekampagnen für Hotels und Tourismusbüros arbeitete und eine Bleibe suchte. Bald suchten sie gemeinsam und fanden die große Wohnung im fünften Stock des alten grauen Hauses. Sie gaben sich als junges Paar aus; das machte vieles einfacher.

Als Chiara schließlich ihren Abschluss gemacht hatte, wollte der Lehrmeister sie übernehmen. Sie war begabt, schön und fast immer gut gelaunt. Das zog die Kunden an. Doch ihr Vater kaufte ihr einen kleinen Laden in Tràpani. Ein Geschenk zum Geburtstag. Es war seine Art, ihr zu sagen, dass sie ihm fehlte. Etwas in ihr zögerte, aber das ließ sie ihn nicht spüren. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte; dafür liebte sie ihren Vater zu sehr. Sie willigte also ein. Obwohl es ihr leidtat. Nicht zuletzt um Carlo, ihren Freund.

»Ist ja nur eine Autostunde entfernt«, sagte sie damals zu ihm, als sie ihre Habseligkeiten in Umzugskartons packte.

Er saß auf einem Schemel, den sie gemeinsam auf dem Flohmarkt erstanden hatten, und sah ihr zu.

»Was soll ich nur ohne dich anstellen?«, fragte er.

»Ich werde dich oft besuchen«, versprach sie.

Sie hatte Wort gehalten. All die Jahre, die seitdem vergangen waren. Weil sie ihn vermisste. Weil sie diese schmutzige und lärmende und tränentreibend schöne Stadt vermisste. Und weil sie das Leben vermisste, das hier aus jeder Schweißpore und jeder Mauerritze kroch. Da war ständig Bewegung, da wurde deklamiert und krakeelt, da stand nichts still. Und wenn es etwas gab, das Chiara nicht leiden konnte, dann war es Stillstand.

Sie trank den letzten Schluck Kaffee, und dann taten sie und Carlo, was sie immer taten. Er zeigte ihr seine neuesten Arbeiten, und sie gab ihre Kommentare ab. Sie war streng in ihrem Urteil, und das schätzte er. Wenn sie sagte: »Das ist nichts geworden, das kannst du vergessen«, wusste er, dass er noch einmal von vorn anfangen musste. Sie besaß einen untrüglichen Sinn für Stil, und oft schon hatte er seine Entwürfe in den Papierkorb geworfen.

Heute lobte sie ihn. »Du wirst immer besser, Carlo.«

Er sah zu Boden. Ein bisschen verlegen. Wie ein Schüler, der unverhofft eine gute Note bekommen hatte.

Sie lachte und stieß ihn in die Seite. »Nicht so bescheiden, mein Lieber. Ich vermute mal, deine Kunden werden begeistert sein. Erhöhe also ruhig demnächst dein Honorar ein bisschen. Die werden schon zahlen.«

»Was wäre ich ohne meine Geschäftsfrau?«

Sie zuckte die Schulter. »Das hab ich im Blut. Schon als Mädchen habe ich bei meinem Vater abends die Einnahmen in der Kasse gezählt. Ich mag es, wenn die Dinge sich lohnen.«

Er räumte seine Entwürfe zusammen und ging zurück in die Küche. Sie folgte ihm, holte ihre Reisetasche und brachte sie ins Gästezimmer. Die Fensterläden dort waren geschlossen. Wegen der Hitze, die jetzt bereits durch die Ritzen kroch. Palermo Anfang September; da gab der Sommer noch einmal alles.

Die Dachterrasse lag um diese Zeit schon im Schatten. Von dort aus sah man Richtung Meer, das der Sonne Tag für Tag die Bühne zum Aufgang bereitete. Als Chiara und Carlo noch zusammengewohnt hatten, hatten sie oft hier oben gefrühstückt und über die Häuserdächer aufs Wasser gesehen, begleitet vom ungeduldigen Hupen der Autos unten in den Straßen.

Auf die beiden Liegen hatte Carlo Polster gelegt. Sie würden den Tag verbummeln, wie schon so viele Tage zuvor. Lesend. Redend. Schweigend. Die Anwesenheit des anderen, nicht mehr und nicht weniger brauchten sie, und das nahmen sie sich in diesen Stunden, die ihnen wertvoll waren, weil sie nicht mehr die Regel waren.

»Was macht die Liebe?«, fragte Carlo an diesem Nachmittag irgendwann.

Chiara öffnete die Augen und blinzelte. Sie war für ein paar Minuten eingeschlafen. »Die Liebe? Ach je …«

»Niemand in Sicht?«, fasste er nach. »Du hast schon länger nichts mehr erzählt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es gab jemanden. Erst kürzlich. Es ging ein paar Wochen, ab und an sind wir zusammen zum Essen und danach ins Bett gegangen, aber dann habe ich das Ganze beendet.«

»Warum diesmal?«

»Der Mann hatte so etwas Gesetztes und Steifes. Da war keine Spontaneität, keine Kreativität, kein Humor. Er sah gut aus, das ja, aber es hat einfach nicht gepasst.«

»Es passt nie bei dir.«

Sie zuckte zusammen, als hätte sie ein Insekt gestochen.

Carlo entging das nicht. »Ich hab doch recht, oder?«

»Da war eben noch nicht der Richtige dabei«, entgegnete sie. »Aber jetzt hör auf, wie mein Vater zu reden. Der macht sich auch ständig Sorgen um mich, weil noch kein Schwiegersohn in Sicht ist. Mit Mitte dreißig nur ein paar mehr oder weniger lange Beziehungen, das zählt nicht wirklich als Erfolg bei ihm. Er ist eben Sizilianer …«

»Immerhin ein Sizilianer, der eine Deutsche geheiratet hat.«

Chiara lächelte. »Meine Mutter hat ihm sicher etwas Weltoffenheit beigebracht und vorgelebt, was das mit der Emanzipation auf sich hat. Sonst hätte er mich niemals nach Palermo ziehen lassen, sondern darauf bestanden, dass ich sofort einen Ehemann finde.«

»Na ja, mit Fabio und dir hätte es ja damals durchaus was werden können …«

»… wenn ich nicht kurz vor der Verlobung Cesare kennengelernt und mich Hals über Kopf verliebt hätte. Nun, das Ende vom Lied kennen wir.«

Cesare hatte sie von heute auf morgen verlassen. Weil er sich nicht fest binden wollte. Und Fabio war kein Mann, der verzeihen konnte. Er hatte jeglichen Kontakt zu Chiara abgebrochen. Inzwischen hatte er eine andere, und zwei Kinder hatte er auch bereits. Sicher würden noch weitere folgen. Alle ein, zwei Jahre ein dicker Bauch, das war Chiara erspart geblieben.

Sie seufzte. »Papa bedauert es, dass du nicht sein Schwiegersohn sein kannst, Carlo.«

»Nun, ich …«

»Ich weiß, ich weiß, aber er mag dich sehr. So wie ich auch.« Sie sah ihn an und griff mit ihrer rechten Hand hinüber zur anderen Liege. Sein Unterarm fühlte sich zart und sehnig zugleich an. Er war ein Mann, in dem Kraft steckte. Er trieb viel Sport, das sah man ihm an. Die strubbeligen schwarzen Haare ließen ihn jungenhaft wirken. Die dunklen Augen hatten etwas Tiefgründiges; wenn er lachte, schienen sie sich aufzuhellen, als würde die Sonne hineinscheinen.

»Warum bist du nur schwul?«, fragte sie. Sie hatte diese Frage schon öfter gestellt. Sich und ihm.

Da war es, sein Lachen. »Du kennst meine Antwort.«

»Jaja, weil du Männer magst«, seufzte sie. »Ich hab wirklich gern Gemeinsamkeiten mit dir, aber auf diese könnte ich gut verzichten. Wir könnten unsere Suche augenblicklich einstellen und hätten es gut miteinander, so als Ehepaar.«

Sie hatten dieses Thema schon oft gehabt. Sie spielten damit. Doch manchmal wurde aus diesem Spiel Ernst. Immer dann, wenn bei ihm oder ihr plötzlich jemand anderer ins Spiel kam. Ich darf doch gar nicht eifersüchtig sein, sagte sich Chiara in solchen Momenten. Sie war es trotzdem. An Carlos Verhalten spürte sie, dass es ihm ähnlich ging. Er wünschte sich einen Mann für sie, das wusste sie, aber sobald einer auf dem Platz erschien, zeigten sich Haarrisse in ihrem sonst so harmonischen Miteinander. Fabio hatte er nie leiden können. Einen Macho hatte er Chiaras einstigen Verlobten mal genannt, als er zu viel Wein getrunken hatte. Weil sie insgeheim wusste, dass er recht hatte, hatte sie umso aggressiver reagiert. Chiara und Fabio, das war die größte Bewährungsprobe gewesen für Chiara und Carlo. Sie hatten beide keine Gefangenen gemacht.

»Du bist ja auch schon seit einiger Zeit Single«, nahm sie jetzt den Faden wieder auf.

»Ist vielleicht auch besser so«, erwiderte er. »Die Liebe lenkt einen nur ab.«

Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Ich würde mich sehr gern etwas ablenken lassen«, sagte sie schließlich. »Glaubst du, dass mir irgendwann einmal ein Mann vom Himmel vor die Füße fällt?«

»Das tun sie meistens. Sie fallen einem von einem Tag auf den anderen ins Leben, und dann haben sie nichts Besseres zu tun, als dort alles in Unordnung zu bringen.«

»Du machst mir Mut.« In ihr Lachen mischte sich eine Ahnung von Bitterkeit. Wie ein Spritzer Angostura, der imstande war, jegliche Süße aufzulösen. Die Alchemie der Gefühle, sie besaß ihre Rätsel, spürbar, doch nicht begreifbar.

Gegen sechs Uhr erhob Chiara sich und ging in die Küche. Carlo folgte ihr und sah zu, wie sie Zwiebeln und Tomaten schnitt, Knoblauch hackte und von den Kapern das Salz abwusch, in dem sie konserviert waren. Die Rosinen weichte sie in etwas Weißwein ein. Sie goss sich und Carlo jeweils ein Glas ein.

»Auf uns. Und auf die Liebe, die irgendwo da draußen auf uns wartet«, sagte sie und stieß ihr Glas gegen seines. Sie bemühte sich, ihrer Stimme Zuversicht beizumischen; so ganz gelang ihr das nicht.

Sie gab Olivenöl in eine große Pfanne und dünstete erst die Zwiebelstückchen darin, bevor sie die Tomaten zufügte. Sie stellte die Weinflasche und einen Messbecher mit Gemüsebrühe neben den Herd. Zum Nachgießen.

»Hast du noch Thymian auf der Terrasse?«, fragte sie.

Er lief hinaus und kam mit einem kleinen Büschel zurück.

Sie löste die Blättchen von den Stielen und rührte sie unter die Tomaten. Sie holte die Zuckerdose aus dem Küchenschrank, griff mit den Fingern hinein und ließ eine Prise auf das Gemüse rieseln. Eine der getrockneten Chilischoten, die Carlo in einem Schraubglas aufbewahrte, kam ebenfalls in die Pfanne. Kapern, Rosinen, Salz und Pfeffer würden später folgen.

»Jetzt haben wir viel Zeit«, sagte sie. »Der Sugo wird besser, je länger er vor sich hin köchelt, aber das weißt du ja.«

Er nickte. Das Kochen überließ er gern ihr. Das war immer so gewesen. Sie war schließlich die Tochter eines Trattoria-Besitzers, er der Sohn einer Universitätsprofessorin.

»Du kannst schon mal den Grill draußen anheizen«, sagte sie. »Je stärker die Glut nachher, umso besser. In etwa einer halben Stunde essen wir die Muscheln.«

Während er nach draußen ging, säuberte sie die Venusmuscheln, setzte Wasser für die Pasta auf, hackte Petersilie und Knoblauch und nahm noch eine von Carlos Chilischoten.

Sie arbeitete schnell. Die Handgriffe in der Küche waren von klein auf eingeübt. »Du solltest Köchin werden«, hatte ihr Vater früher gesagt, wenn sie neben ihm stand und ihm zusah und irgendwann selbst zu Messer, Kochlöffel und Pfannenwender griff. Als seine Frau noch lebte, hatte der Vater selbst gekocht; in der Zwischenzeit taten das andere für ihn, während er sich um seine Gäste kümmerte wie Chiaras Mutter vor ihrem Unfall. Doch die Tochter wurde größer, und ihre Pläne wurden andere. Sie sah ihre Zukunft nicht in der Küche einer Trattoria. Sie wollte erst mal fortgehen. In die Stadt. Sie wollte Schmuck machen und das Leben feiern und junge Leute treffen. Leute wie Carlo. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt. Sie hatte all das bekommen, bis der Vater sie wieder eingefangen hatte. Es war ihr schwergefallen, in Schuhe zu steigen, die sie bereits abgelegt hatte.

Chiara sah auf die Fotogalerie, die Carlo an der Küchenwand aufgehängt hatte. Lauter Schwarz-Weiß-Aufnahmen bekannter Schauspieler. Lauter Männer. Schöne Männer. Markant, nachdenklich, herausfordernd, verträumt. Blond oder dunkelhaarig. Das Haar wild zerzaust oder glatt gekämmt. Mit Dreitagebart oder frisch rasiert. Manche mit Brille.

Irgendwo da draußen muss es einen geben, dachte Chiara. Einen für sie. Bis sie ihn traf, würde sie genießen, was das Leben ihr bot. Und das war gar nicht so wenig, beschloss sie. Abgelegte Schuhe hin oder her …

Als sie die Spaghetti abseihte und noch tropfend in den Topf mit den Vongole gab, stieg ihr der Duft des Meeres in die Nase. Jedes Mal, wenn Muscheln sich öffneten, gaben sie etwas von dem Element frei, das sie umgeben hatte. Das war stets der Augenblick, in dem Chiara spürte, warum sie ihre Heimat Sizilien liebte. Trotz allem oder gerade deshalb. Eine Insel, von Wasser umgeben. Wenn die Menschen hier ihr Herz öffneten, war das wie mit den Muscheln. Die Seele wurde fühlbar.

Sie und Carlo aßen und tranken, und als sie die Sardinen auf den Rost des Grills legten, öffneten sie bereits die zweite Flasche Wein. Und als der Himmel zum Nachtprogramm ansetzte und einen nicht ganz halben Mond zum Leuchten brachte, lehnte sich Chiara zurück und schloss für einen Moment die Augen.

»Es ist gut, wie es jetzt ist, Carlo«, sagte sie.

Sie wusste, dass er nickte. Sie kannte ihn.

Sie blieben noch bis weit nach Mitternacht hier oben sitzen. Die Hitze des zurückliegenden Tages hinterließ Restwärme. Von irgendwo da unten drang Musik zu ihnen herauf. An einem Samstagabend legte sich Palermo nicht schlafen. Es presste die Nacht aus wie eine der Zitronen, die hier auf der Insel wuchsen. Bis aller Saft draußen war. So machte man es eben mit dem Leben. Nur nichts ungenutzt lassen.

Chiara schlief bis in den späten Vormittag hinein. Carlo hatte bereits alles aufgeräumt, als sie zum Frühstück erschien. Draußen auf der Terrasse war der Tisch gedeckt. Weißbrot, Schinken, Feigenmarmelade, Akazienhonig. Zwei Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft. Eine Kanne mit heißer Milch; den Kaffee dazu ließ Carlo gerade aus der Maschine in zwei Tassen laufen.

»Gut geschlafen?«, fragte er.

Chiara nickte. »Wie ein Stein.«

Sie blinzelte, als sie durch die Terrassentür ins Freie trat. Wieder schien die Sonne. Wieder würde es ein heißer Tag werden.

* * *

Sonntag, das hieß bei ihnen Passeggiata. Chiara und Carlo zelebrierten ihre Rituale, und der Spaziergang durch die Stadt gehörte dazu. Als sie noch zusammengewohnt hatten, hatten sie damit begonnen. Wenn Chiara jetzt am Wochenende zu Besuch kam, nahmen sie die alte Gewohnheit wie selbstverständlich wieder auf. Ein Milzbrötchen hier, ein Sorbetto dort, im Vorbeigehen. Sie liebten die kleinen Happen so ganz nebenbei. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, sich mittags in ein Lokal zu setzen. Das hätte ihr Schlendern gestört. Die Freude darüber, in Bewegung zu bleiben und zuzugreifen, wann immer sie Lust hatten.

Chiara hatte sich bei ihrem Freund untergehakt. Sie wirkten wie ein Liebespaar. Das wussten sie, und sie hatten ihren Spaß daran. Ihr Spiel eben; der Ernst hatte sich fürs Erste davongemacht. Immerhin waren sie gerade beide ohne Mann, das erleichterte die Sache.

Sie schlenderten den Cassaro hinunter. An der Piazza Quattro Canti stauten sich die Touristen, viele mit Teleskopstangen, an denen Smartphones steckten. Die Leute sahen auf die kleinen Displays, kaum jemand sah noch auf die Steinfiguren, die an den vier Ecken des berühmten Platzes in der barocken Fassade saßen. Die Schönheit dieses Ortes, seine Magie entging den meisten. Alle waren damit beschäftigt, Instagram-taugliche Bilder zu fabrizieren. Beweisfotos schießen, nannte Carlo das, und jedes Mal schüttelte er darüber den Kopf.

»Die sehen nur noch austauschbare Kulissen und sich selbst darin«, fluchte er. »Diese Typen haben verlernt hinzuschauen. Kaum einer nimmt sich die Zeit, die Dinge wirklich wahrzunehmen. Man drückt auf den Auslöser und rennt weiter zum nächsten Motiv. Es ist wie eine Jagd, bei der die Jäger am Ende die Verlierer sind. Sie haben alles in ihren Handys, aber in ihren Herzen herrscht Leere.«

Chiara legte den Kopf an seine Schulter. »Ich mag es, wenn du dich aufregst.«

Er sah sie erstaunt an. »Warum das?«

»Weil dann alles an dir so lebendig ist. Viele Männer beginnen irgendwann, innerlich abzusterben. Sie werden stumpf. Vielleicht ist auch das der Grund, warum es mir so schwerfällt, jemanden zu finden.«

»Du magst eben keine Kompromisse.«

»Ich sag’s ja. Wir passen gut zusammen.«

Sie schaute an den von jahrelangen Autoabgasen schwarz gewordenen Steinmauern hinauf. »Es ist gut, dass der Platz für den Verkehr gesperrt wurde«, sagte sie. »Lange hätten diese Steine den Dreck nicht mehr ausgehalten.«

Carlo nickte. »Dafür haben wir jetzt diese Handy-Fetischisten hier. Aber du hast recht. Die verpesten wenigstens nicht die Luft.«

Sie zeigte auf die vier Wasser speienden Figuren ganz unten an der Fassade, deren leises Plätschern in dem Lärm der Menschenmenge unterging. »Denen scheint all das nichts anzuhaben. Die machen einfach ungerührt ihren Job und spucken auf das ganze Treiben.«

»So kann man’s auch sehen.« Er legte den Arm um sie. »Komm, wir gehen zu deinem Lieblingsplatz.«

San Giovanni degli Eremiti. Das Auge im Innern des Orkans – hier wurde spürbar, was das hieß. Draußen drehte die Stadt den Lärmpegel hoch und höher, drinnen vernahm man wieder das Geräusch der eigenen Schritte. Eine Klosterkirche, gebaut auf den Überresten einer arabischen Moschee und eines noch älteren Benediktinerklosters.

»Die Zeiten überlagern sich«, sagte Chiara. »Und alle haben Schönheit hinterlassen, obwohl sie sich einst so bekriegten. Vielleicht siegt am Ende eben doch die friedliche Eintracht.«

Carlo wusste, dass sie nicht nur diesen Ort meinte. Unzählige Male waren sie bereits dort gewesen. Hatten den Campanile und die orientalischen roten Kuppeln betrachtet. Den Kreuzgang, dessen Säulen und Bögen islamische Verzierungen trugen. Alles griff ineinander. Chiara mochte die Gegensätze, liebte das vermeintlich Widersprüchliche, das zur Koexistenz zusammenfand. Das zeigte sich auch in dem Schmuck, den sie machte. Altes Handwerk und neue Techniken – es waren die Brüche, die sie interessierten und aus denen das entstand, was Carlo ihren Kern nannte.

Heute setzten sie sich in den Kreuzgang. Umgeben von Palmen, Zitrusbäumen, Kakteen. Sie waren fast allein. Außer ihnen war da nur ein Fotograf. Einer mit Stativ, das er sorgfältig ausrichtete. Einer, der sich Zeit ließ.

»Solche gibt es auch«, sagte Carlo und wies mit einem Nicken seines Kopfes zu dem Mann.

»Du bist ebenfalls ein solcher«, erwiderte sie. Sie stellte ihre Füße auf die Mauer und zog die Knie zu sich heran.

»Übermorgen ist der Todestag meiner Mutter«, sagte sie unvermittelt.

»Wie viele Jahre …?«

»Etwas über zwanzig«, unterbrach sie ihn.

»Du sprichst selten über sie.«

»Vielleicht, weil es noch immer wehtut. Ich vermisse sie, obwohl die Erinnerung an sie verblasst.«

»Du hast sie immer als eine sehr schöne Frau beschrieben. Über ihre Art hast du jedoch kaum geredet. Was war sie für ein Mensch?«

»Neugierig. Sie war neugierig. Wollte immer alles wissen. Fragte den Leuten ein Loch in den Bauch. Gab keine Ruhe, bis ich ihr nicht haarklein erzählt hatte, was in der Schule vorgefallen war. Aber das mochte ich auch an ihr. Sie war niemals gleichgültig. Ja, sie hatte diese Lebendigkeit, von der ich vorhin geredet habe. Das Leben war für sie ein riesiges Reservoir, aus dem sie schöpfte, und andere Menschen waren ihre Quellen.«

»Klingt so gar nicht deutsch.«

»Ach, du und deine Vorurteile! Nicht alle Deutschen sind steif und pedantisch. Meine Großeltern zum Beispiel, also die Eltern meiner Mutter, waren liebenswert-chaotische Menschen. Ich erinnere mich noch an die Ferien, die ich als Kind bei ihnen verbracht habe. In ihrem Haus herrschte heillose Unordnung, aber es wohnte ein Geist darin, der mich Geborgenheit fühlen ließ. Leider leben auch sie nicht mehr.«

»Ich erinnere mich, dass du mal erzählt hast, deine Eltern hätten sich auf Sizilien kennengelernt.«

»Ja, ja. Mama kam mit einer Gruppe von Biologiestudenten nach Sizilien. Sie wollten irgendwelche Pflanzen hier in unseren Naturparks untersuchen. Eines Abends landeten oder vielmehr strandeten sie in einer Trattoria in Tràpani. Der Sohn des Padrone konnte seine Augen nicht von der blonden Deutschen lassen …«

»Sie war blond? Und du …« Er griff in Chiaras Haare.

»Mein Vater hat sich bei mir durchgesetzt. Von ihr habe ich die langen Finger und die dünnen Gelenke.«

»Wie ging es weiter mit deinen Eltern?«

»Na ja, meine Mutter hat in Freiburg schnell zu Ende studiert und ist danach sofort nach Sizilien gezogen. Die Biologie hat sie an den Nagel gehängt. Die zwei heirateten, sie wurde schwanger, ich kam auf die Welt, und irgendwann stand mein Vater in der Küche der Trattoria, und meine Mutter unterhielt die Gäste. Das konnte sie gut. Niemand wusste besser als sie über die Leute Bescheid, die zu uns kamen. Ihre Neugier eben …«

»War’s eine gute Ehe?«

Chiara überlegte. »Ja, ich denke schon. Sie waren grundverschieden. Er der sizilianische Mann, der die Traditionen seiner Insel lebte, sie die selbstbewusste Frau, die sich nicht reinreden ließ. Aber er liebte sie und sie ihn. Das war wohl der Kitt, der alles gut halten ließ. Sie haben ihre Verschiedenheiten gelebt, und irgendwie hat es funktioniert.«

»Gab es nie Auseinandersetzungen?«

»Ach, richtig gestritten haben sie sich nur selten. Er mochte es zum Beispiel nicht, dass sie so schnell Auto fuhr. Er sagte immer, sie sei schlimmer als die Sizilianer.« Chiara schluckte. »Tja, er hat bitter recht behalten. Es war ein riskantes Überholmanöver, bei dem meine Mutter ums Leben kam. Sie war sofort tot. Die Straße, auf der es passierte, meide ich bis heute. Ich fahre immer einen Umweg. Wie mein Vater.«

»Hatte er danach nie den Wunsch, wieder zu heiraten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte mich. Und seine Erinnerungen. Das hat ihm gereicht, um weiterzumachen. Er ist stark, mein Vater, und zäh auf seine Art.«

»Da kommst du wohl nach ihm.«

»Einerseits, ja. Aber ich habe auch etwas Leichtsinniges. Manchmal denke ich, ich erkenne die Gefahren nicht. Wie meine Mutter.«

»Wie meinst du das?«

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Vielleicht muss ich das noch herausfinden. Ich spüre es. Ab und an scheint es nach mir zu greifen, aber ich bekomme es nicht richtig zu fassen. Eine Art Phantom, das in mir Verwirrung stiftet.«

Sie war jetzt ganz ernst. So kannte er sie kaum. »Weißt du, immer wieder mal fühle ich den Drang, mich in Wagnisse zu stürzen, von denen ich nicht weiß, wie sie ausgehen. Auf eine gewisse Weise mag ich Grenzüberschreitungen. Habe ich dir schon mal erzählt, dass ich mir als kleines Mädchen zweimal den Arm gebrochen habe?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin immer auf alles raufgeklettert. Mauern, Gerüste, Leitern. Mich reizte es, die Gefahr herauszufordern. Da oben habe ich gespürt, wer ich bin und was ich kann. Meist ist es gut gegangen, nur diese beiden Male eben nicht. Aber das hat mir nicht viel ausgemacht. Ich bekam einen Gips und war um zwei Erfahrungen reicher. Gott sei Dank hatte ich einen guten Kinderarzt. Der hat das perfekt wieder hinbekommen.«

»Du hast bislang noch nie so viel von früher erzählt.«

»Ich kann dir nicht sagen, warum ich es ausgerechnet heute tue. Vielleicht wegen übermorgen. Vielleicht aber auch, weil ich immer öfter darüber nachdenke, warum ich so bin, wie ich bin, und wohin mich das noch führt. Irgendwie komme ich mir manchmal vor wie ein Schiff, das bislang keinen Hafen gefunden hat.«

»Ach, Chiara. Du bist schön, du bist talentiert, du hast einen gut gehenden Laden und einen liebevollen Vater …«

»… und nicht zu vergessen einen liebevollen Freund.« Jetzt lachte sie wieder. Sie lachte den Ernst weg. Als würde sie Staub von ihrer Seele pusten.

»Lass uns gehen«, sagte sie. »Es ist bald fünf Uhr, glaube ich. Und ich möchte mich noch duschen und natürlich umziehen für heute Abend.«

»Welche Farbe hat dein Kleid?«

»Grün. Du wirst es mögen.«

Es wurde ein Abend, an den sie noch lange zurückdenken sollten. Ihr letzter, bevor alles anders wurde.

Das Teatro Massimo war voll besetzt. Einige Touristen, ein paar junge Leute – und viele ältere sizilianische Ehepaare. »Die Upper Class Palermos«, raunte Carlo. Männer in perfekt sitzenden dunklen Anzügen, mit Einstecktuch und unbewegter Miene. Nicht wenige von ihnen machten seit jeher Geschäfte mit der Mafia; da wurde Undurchschaubarkeit zur Lebensversicherung. Wie erfolgreich – oder auch skrupellos – sie waren, ließ sich an Anzahl und Wert der Schmuckstücke ablesen, an denen ihre Frauen schwer trugen. Brillanten, Perlen, Gold – diese Währung verstand hier jeder. Der Besuch der Oper war mehr als nur Kunstgenuss. Schon immer gewesen. Auch heute noch war das so. Obwohl man der Mafia seit Langem den Kampf angesagt hatte, existierten die Bande der Familien weiter. Die Mächtigen zeigten sich und ihre Macht, und in der Pause wurden bei Spumante Seilschaften gefestigt.

Davon scheinbar ungerührt gab die skandinavische Sopranistin ihr Bestes. Sie sang sich regelrecht hinein in die Seele ihres Publikums, und nachdem ihr alle stehend applaudiert hatten, lächelte sie vielsagend, legte den Blumenstrauß, den sie bereits in den Händen hielt, auf dem Flügel ab und stimmte »Mamma« an, jenen italienischen Schlager von Cesare Andrea Bixio aus den Dreißigerjahren. Ein Gassenhauer inzwischen, aber einer, der niemanden ungerührt ließ. Chiara sah sich um, und sie sah, wie die alten Sizilianer ihre Einstecktücher herausholten und sich die eine oder andere Träne von der Wange wischten. Die Stimme dieser Frau und dieses Lied brachen das Unbewegliche der Mienen auf. Legten frei, was darunterlag. Für einen Moment besetzte die pure Emotion dieses alte Theater im Herzen der sizilianischen Hauptstadt.

Chiara summte die Melodie noch vor sich hin, als sie und Carlo längst draußen waren.