Was für ein Sommer - Wolfgang Kemp - E-Book

Was für ein Sommer E-Book

Wolfgang Kemp

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Beschreibung

"Der bedeutende Kunsthistoriker Wolfgang Kemp ist auch ein großer Erzähler von Geschichten. Seine immer ironischen, klugen, manchmal sardonischen, durch einen sanften Dreh ins Absurde rutschenden Sommergeschichten sind ein großer Spaß. Natürlich lacht man immer gerne über die angestrengten, tölpelhaften, heillos überforderten anderen, aber bei Kemp gewöhnt man sich daran, auch sich selber nicht ganz ernst zu nehmen. So ganz ungeschoren kommt der Leser nicht davon. Was bei diesem Autor immer heiter beginnt und sich frivol und anspielungsreich fortsetzt, endet meistens im Desaster. Er ist als Geschichtenerzähler ein Balzac der kurzen Form. Wunderbar!" Michael Krüger "Die Bundesrepublik sei der freieste Staat der deutschen Geschichte, ist oft zu hören. Aber welches Gesicht hat diese Freiheit? Wenn ein Kunsthistoriker und Polyhistor vom Range eines Wolfgang Kemp sich dieser Frage widmet, will er den spezifischen Stil dieser Gesellschaft analysieren. Er kann nichts dafür, wenn das Ergebnis seiner Recherche einer grausamen Satire ähnelt, denn schön ist es nicht, das Gesicht unserer Freiheit." Martin Mosebach

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Wolfgang Kemp

Was für

ein Sommer

Acht Geschichten für Reisefertige oder bereits am Strand Liegende

Lieber Freund, was für ein Sommer! Ich denke Sie mir im Zimmer sitzen[d], mehr Omelette als Mensch.

Nietzsche, Briefe. An Heinrich Köselitz, 30.7.1887

Für Klaus und Erika Hegewisch

© 2019 Wolff Verlag Robert Eberhardt

Breitungen/Werra, Rußwurmsches Herrenhaus, Amtsstraße 27

Berlin, Kulmbacher Straße 15

Gestaltung: Guido Klütsch, Köln

Gedruckt in der Europäischen Union

ISBN: 978-3-941461-35-2

www.wolffverlag.de

Cover-Foto: Caroline Grondin

1

Ferienhaus mit Zestenschneider

2

Sommerspiele auf Schloss Lieberstett

3

Zwillinge sind eine Einzelerscheinung

4

Mit der Nomenklatura auf Naxos

5

The Boys of Summer

6

Wendekreise eines Krebses

7

Endgültig: Kein Sommerfest im Stadtteil Moorfeld

8

Panischer Schrecken

1 Ferienhaus mit Zestenschneider

»Jessica? Hallo. Hier ist Elke. Ich wollte mich mal erkundigen. Wie geht es euch?«

»Gut.«

»Wo seid ihr gerade?«

»Im Wohnzimmer.«

»Ah, verstehe, ihr verbringt den Abend zu Hause. Ich nehme an, ihr mögt den Krach auch nicht, den die Engländer veranstalten. Jeden Abend dieses fette Wummern. Mir ist völlig unklar, warum diese Leute sich das antun. Ist es zu kalt fürs Dach?«

»Im Moment ja.«

»Und tagsüber?«

»Ich weiß nicht, vielleicht 25 Grad.«

»Wulf! Jessica und Flic haben noch 25 Grad. Wulf und ich denken viel an euch. Ein Moment mal, Wulf sagt gerade etwas.

Richtig, wenn es noch kälter wird, solltet ihr wissen: Der Kamin im Wohnzimmer ist nur zur Dekoration da. Also bitte nicht benutzen. Ich weiß, es klingt albern, aber den Kamin bitte nicht anzünden, ja?! Sonst steht euch natürlich alles zur Verfügung. Ich würde nur sagen, in eurem eigenen Interesse, dreht die Gasbombe ab, bevor ihr das Haus verlasst.«

»Welche Gasbombe?«

»Welche Gasbombe! Du bist gut. Habt ihr euch denn noch nie etwas gekocht?«

»Nein, morgens brauchen wir nur die Kaffeemaschine.«

»Is this by any chance the owner of this little hut?«

»Habt ihr Besuch?«

»Das sind englische Freunde. Phil und Emma.«

»Phil und Emma. How lovely. Ich hoffe, du verstehst das richtig, was ich vorhin über die Engländer sagte. Es gibt natürlich solche und solche. Wir hatten leider immer mit solchen zu tun. Erzähle ich dir ein andermal.«

»Tell them, their beadstead is great for screwing. It really is.«

»Was sagt er? Du, pass mal auf: Ich höre da so ein Knistern im Hintergrund. Ist das bei uns, ich meine, bei euch? Es geht mich nichts an, aber ...«

Phil schaute misstrauisch in Richtung Telefon und warf einen weiteren Korb voll Kiefernzapfen in das rasch niederbrennende Kaminfeuer. Es knackte, und manchmal gab es kleine Explosionen.

Niemand, der sie kannte, hätte den Sobotkas sein Ferienhaus angeboten. Elke und Wulf Senftenberg dagegen taten es. Sie taten es schon am ersten Tag ihrer Bekanntschaft, als sie vor einer Almhütte an demselben Tisch zu sitzen kamen: zwei Mountainbiker im grellen Plastik-Outfit ihrer Zunft und zwei Bergwanderer in Bundhosen und Stiefeln. Handfestes Schuhzeug, wie Elke lachend und beinahe entschuldigend sagte. Wie alle Urlauber sprachen auch diese von früheren Urlauben. Es stellte sich heraus, dass Jessica und Flic Sobotka schon überall gewesen waren, das Prinzip Last-Minute hatte sie nomadisch über Europa, Vorderasien und Teile der Karibik verteilt. Elke sagte, sie könne das nicht, so einfach ins Ungewisse aufbrechen. Schon beim Kofferpacken denke sie daran, wie jedes Teil seine Bestimmung haben werde. Außerdem hätten sie etwas gegen die Vielfliegerei; das sei der einzige Nachteil ihres Ferienhauses auf Rhodos. Sie hätten es zu einer anderen, einer gedankenlosen Zeit gekauft. Elke schaute die Sobotkas verständnisheischend an. Die Senftenbergs verfolgten seit 15 Jahren ein striktes Regime: Frühjahr und Herbst auf Rhodos, im August dagegen (zu heiß für Griechenland!) Bergwandern in Österreich. Griechenland, da mussten die Sobotkas passen. Kreta ja, Türkei selbstredend, Antalya, Marmara, Kalkan und der vierte Ferienort, dessen Name ihnen nicht einfiel, obwohl Flic dort in den Seeigel getreten war. Die griechischen Inseln, der Dodekanes, da gerieten die Senftenbergs so sehr ins Schwärmen, dass Wulf, der zurückhaltendere der beiden, spontan sagte:

»Vielleicht haben Sie ja Lust, einmal in unserem Haus Ferien zu machen. Wir würden es Ihnen zur Verfügung stellen.«

Und schaute dabei Elke an: »Oder was meinst du?«

Die Sobotkas schauten sich eigentlich nie an. Ganz bestimmt nicht, um sich zu vergewissern, was der andere dachte. Sie redeten und bewegten sich stattdessen parallel und in einem so hohen Maße synchronisiert, dass auch die sprunghaftesten Bewegungen von Thema zu Thema wie nach Plan zu erfolgen schienen. Man könnte sich im Fall der Sobotkas eine Lochkarte vorstellen, die durch beider System lief. So wie sie beim Weben komplizierter Muster im Jacquard-Webstuhl zur Anwendung gelangt.

Die Sobotkas bestellten eine Runde Köpfli, was ihnen zufolge das Getränk der Saison war, und sie machten das Du, zu dem sie sofort gegriffen hatten, quasi offiziell. Die Senftenbergs hätten mit dem Du noch länger abgewartet und hatten das mit dem Köpfli nicht gewusst. Sie tranken ihren Becher mit der Aufmerksamkeit des Ethnologen aus. Und nahmen dann noch einen. Daraufhin bot auch Elke den Sobotkas das Haus an.

»Wulf und ich sind Anhänger der Sharing Economy. Ihr leiht euch beim Nachbarn den Bohrer und hütet für zwei Stunden dessen Kinder. Oder Cradel-to-Cradel eben, auch das ist ein ganz wichtiges Prinzip für uns. Aber ich bin mir sicher, ihr wisst das alles.«

Die Sobotkas wussten von alldem nichts. Sie wüssten aber gerne, sagten sie, ob sie das Haus dann allein hätten oder mit den Senftenbergs teilen müssten. Nein, zu viert ginge das nicht, sagte Elke. Obwohl – und dann beschrieb sie die traditionelle Schlafstätte der Insel, eine veritable Bettenburg: zwei breite Lagerstätten links und rechts an die Wände gerückt, dazwischen ein Mittelgang und das Ganze auf einen hohen Unterbau gesetzt.

Aber zur Beantwortung der Frage trug das eigentlich nicht viel bei, denn besagte Betten standen natürlich in einem Zimmer. Höchstens, dass man oben auf dem Dach ein Matratzenlager aufschlagen könne. Wulf erinnerte Elke daran, dass sie ein Foto vom Haus dabei hatte, und sie suchte in ihrem Handy nach der entsprechenden Aufnahme. Das Haus von Wulf und Elke lag in Pefkos nahe Lindos. Der einzige Nachteil war laut Elke – außer der Anreise per Flieger natürlich – der Umstand, dass Engländer den Ort, die ganze Region für sich gepachtet hatten. Engländer seien im Ausland noch schlimmer als Deutsche.

»Man muss es einfach so sagen«, sagte Wulf.

Die Paare tauschten Telefon-Nummern und Email-Adressen aus. Die Sonne wanderte hinter den Scharnberg und heizte seine Höcker von hinten. Elke dachte an eine urzeitliche Echse. Wulf durfte ein kurzes Stück Flics Bike ausprobieren, bergauf, runter sei zu heikel. Er gab es dann aber nach kurzem Versuch auf. Die Senftenbergs beobachteten, wie die Sobotkas abfuhren, hintereinander. Sie standen auf den Pedalen und stemmten sich bremsend und rutschend in den Abhang, fast hielten sie an, dann ließen sie die Pedale wieder gehen, rollten, bremsten, rutschten, alles in vollkommener Synchronisation.

Als Jessica die Fensterläden aufstieß, stand im Viereck der Himmel so rein und hart wie Resopal. Eine blaue Platte, fast abweisend. Die Sobotkas, die bisher immer nur in Hotelzimmern und Apartments gewohnt hatten, waren für einen Moment hin- und hergerissen zwischen Außen und Innen und vor allem dem Garten dazwischen. Es war so viel Platz, und aller Platz war ihrer. Ungezählte kleine Aktionen hatten die Ausstattung im Inneren zusammengetragen. Die Möbel waren zweckmäßig griechisch, der Rest war aus Deutschland herbeigeschafft worden – Koffer für Koffer, Flug um Flug. Das praktische Haushaltsgerät, auf das man im Urlaub nicht verzichten mochte, war so vollständig da, dass Jessica, die gerne in Schubladen kramte, Probleme hatte, die Geräte ihrer Funktion zuzuordnen. Auf der Suche nach einem zweiten Korkenzieher, nachdem der erste, ein silber-rubinrotes Luxusobjekt, gleich beim ersten Ausprobieren abgebrochen war, fragte sie Flic, der in einer dunklen Abseite ein kleines Weinlager entdeckt hatte: »Weißt du, was ein Zestenschneider ist?« Auf den Begriff war sie gekommen, weil das Etikett, das noch auf der kleinen Haushaltshilfe aus Edelstahl klebte, eben dieses sagte: Zestenschneider und den Preis – noch in DM.

Sie sahen die CDs durch – Brendel spielt Bach, Strauß Letzte Lieder, Maria Farantouri – und fanden nichts, was ihre Wahl gewesen wäre: Northern Soul, Neue Deutsche Welle, Latin Punk Rock. Sie waren eher überrascht als enttäuscht, als sie merkten, dass kein Fernsehgerät im Haus war. Aber dann gingen sie an den Strand und ließen sich von dieser intensiven Häuslichkeit in der Fremde nicht länger beeindrucken. Dass die kleinste Welt die größte ist, so hatte Elke die Philosophie der Senftenbergs beschrieben. Am Strand waren die Sobotkas die einzigen Deutschen unter lauter Engländern.

Dass man den Sobotkas besser kein Haus oder Auto, nicht einmal einen Bohrer anvertraute, hatte mit einer Kraft zu tun, die sich in genauer Opposition zu ihrer phantastischen Harmonie als Paar auswirkte. Diese Gegenkraft trieb in der Umgebung der Sobotkas auseinander, was zusammengehörte. Und die beiden waren sich ihrer im Grunde ebenso wenig bewusst, wie ihr Ying-Yang ihnen eine Überlegung wert war. Kaum hatten sie auf ihren Last-Minute-Reisen ihr Hotelzimmer bezogen, da brachen die Halterungen von Duschschläuchen ab, da hatten sie den Knopf der Wasserspülung in der Hand, und der zu schwer belastete Handtuchhalter nahm eine 45-Grad-Position an. Da die Sobotkas aber den ganzen Tag am Pool oder am Strand oder in Lokalen verbrachten, störten sie die Veränderungen in ihrem Zimmer nicht wirklich. Dass Flic eine extrem seltene Harley-Davidson, die hinter ihm vor einem Haus geparkt war, mit dem Hinterteil umschmiss, als er sich nach dem tief angebrachten Heizölstutzen bückte, erzeugte einen überdimensionalen Schaden, fiel aber letztlich in die Zuständigkeit einer Haftpflichtversicherung. Flic fuhr Heizöl aus. Anders gelagert waren die von ihnen ausgelösten Verhängnisse, die sie gar nicht oder erst mit großer Verzögerung registrierten. Jessica hatte einmal im Fitness-Center die Jeansjacke verwechselt. Monatelang hatte sie den Überwurf einer anderen getragen, bis sie in der Brusttasche einen Zettel mit einer Telefonnummer fand und auch an anderen Details feststellte, dass es sich um fremdes Eigentum handelte. Die Jacke hatte einer Frau gehört, die an dem Tag, da die Verwechslung stattfand, glauben durfte, dem Mann ihres Lebens begegnet zu sein. Begegnet ist vielleicht zu viel gesagt: Sie hatten nebeneinander im Stau gestanden, er in seinem, sie in ihrem Wagen. Dann hatten sie angefangen, wie entfesselt miteinander zu flirten. Als er sie schließlich überholte, als der Verkehr wieder floss, stand die Telefonnummer, eine Festnetznummer, an der Scheibe. Mit dickem Filzer geschrieben. Jessica rief die Nummer an, um eine Teilnehmerin am anderen Ende zu haben, die ihr nicht weiterhelfen konnte und eher gereizt reagierte. Sie war kurz angebunden, weil sie am Bügeln eines Abendkleides war – aber das Gerät war abgestellt. Ziemlich sicher.

Am zweiten Nachmittag schlossen sich Flic und Jessica den Spectors aus Birmingham an. Emma und Phil Spector. Phil, Manager eines Clubs, hatte eine Glatze, eine so und nicht anders von ihm gewollte Glatze, die seinen schlangenkahlen Schädel und seinen breiten Hals als eine plastische Einheit erscheinen ließ. Allerdings zeigten Koteletten, die an ihrem unteren Ende zu Dreiecken ausschwangen, dass auf dem Kopf Haare gewesen wären, wenn man Wert auf sie gelegt hätte. Er trug bis über die Knie reichende Shorts und Sandalen, deren Riemenwerk und Profil derart wuchtig ausgefallen waren, dass der Begriff »Kampfsandale« angebracht schien. Von der Hüfte aufwärts trug er nichts am Leib, bis auf seine Tattoos und eine silberne Halskette. Phil war nicht sehr groß, was mit seinen zu kurz geratenen Unterschenkeln zusammenhing, daher auch der Spitzname »Bantam«, der in seinem Club kursierte, ohne dass man ihn das wissen ließ. Emma, die als Beruf Property Developer angab, war größer und viel ruhiger und weicher als ihr Mann. Ihr mattblondes Haar hatte sich im weitesten Sinne noch an Lady Dis Frisur orientiert, vorne kurz und nach hinten lang und wie zu einer Schale geföhnt. Wo immer es ging – und es ging fast immer –, trug sie Pareos und Flip-Flops. Das herausragende Merkmal war ihr Busen, der so geradeaus stand, als würde das Gesetz der Schwerkraft für ihn nicht gelten. Die Männer wurden gezwungen, zweimal oder länger hinzuschauen: der Größe wegen und der Tektonik wegen. Hätte Flic englischen Slang beherrscht, hätte er von »awesome« gesprochen. Jessicas Brüste waren dagegen von mehr sachlicher Natur. Sie trug sie in Bädern und am Strand gerne oben ohne, auch dort, wo es verboten war, und diese Offenherzigkeit störte oder reizte niemanden, denn sie hatten die Wandlung vom Geschlechtsmerkmal zum Körperteil vollzogen.

Die Sobotkas und die Spectors waren sich schnell nähergekommen. Sie bezeichneten sich übereinstimmend als »real«, auf Englisch, und das hieß, auf ihre Ferien bezogen: Urlaub hundertprozentig, die totale Freizeit. NMF – not moving forward. Kein Stress, vor allem keine Bevormundung durch Reiseleiter, Animateure und Einheimische. »I factor it out«, sagte Phil, wenn irgendeine urlaubstypische Irritation auftrat. »I factor it out.« Wo Landsleute verkehrten und Landsleute die Wirtschaft betrieben, war man am besten aufgehoben, fanden die Spectors. In der Beziehung hatten die Sobotkas natürlich den Kürzeren gezogen. Aber sie ließen sich bereitwillig von ihren englischen Scouts zeigen, wie Pefkos by night and by day funktionierte.

Emma war auf die Idee gekommen, die Moskito-Netze über ihre Lager herabzulassen, als die Paare nach kurzem Ratschlag beschlossen hatten, den trägen Nachmittag mit einem gepflegten Beischlaf zu beleben. Nicht überkreuz, so nicht, nur parallel, auf hohen Bettpodesten und unter tüllenen Zelten. Parallel hieß nicht synchron. Die Sobotkas waren auch darin die Sobotkas, dass ihr Zusammenwirken auf das Perfekteste aufeinander abgestimmt war und – zumal in Gesellschaft – wie eine Kür zelebriert wurde. Jessica hatte ihre nussbraunen Beine zu einem so regelmäßigen Dreieck gespreizt, dass Phil, von der Seite zuschauend, von einer im Grunde asexuellen Leidenschaft für die Schönheit der Geometrie gepackt wurde. Emma brauchte sehr lange, um in Fahrt zu kommen, und warf sich zum Schluss derart von weg, dass Jessica und Flic überlegten, ob ein Eimer Wasser ihr in die Realität zurückhelfen würde. 13-mal »Fuck me«, 5-mal »Oh my God«, 1-mal »I am taking off« und jede Menge »Shits« hätte jemand zählen können, hätte jemand zählen wollen. Zumal Jessica nahm das Phänomen staunend wahr, Jessica mit ihren kurzen, präzisen Orgasmen, die etwas vom Aufschrillen einer Eieruhr an sich hatten und zeitgleich mit dem Kommen ihres Mannes erfolgten. Phil schloss eine kurze Weile nach dem finalen »Oh my God« seiner Frau mit einem fast verächtlich klingenden Bellen ab und riss in seiner Erregung den Betthimmel von der Decke.

Weil alle danach mehr oder weniger nackt im Wohnzimmer zusammengekommen waren, hatte Jessica kurzerhand den Kamin mit den reichlich vorhandenen Zapfen angezündet. Und Phil hatte im Küchenschrank eine Flasche Metaxa gefunden, deren zahlreiche Sterne er mit Anerkennung quittierte, wenn er sich auch im Allgemeinen abfällig über griechische Getränke äußerte. Er beschloss, sich zügig an den Punkt heranzutrinken, an dem für ihn jene Strecke begann, die er in seinem Privatjargon »Easy Street« nannte. Im Normalzustand war Phil hochwachsam – energized. Man konnte das daran erkennen, dass seine Gliedmaßen nicht von Natur aus kurz, sondern durch eine Anspannung verkürzt wirkten. Gespannt wie ein Bogen. Easy Street, das große Nachlassen, er nahm dieses Vorhaben sehr ernst, und er bedurfte dazu nicht der Unterstützung. Er musste hier nur sitzen und langsam trinken. Doch die Idee mit dem Kamin fand er gut. Wie er überhaupt Jessica gut fand. Er hatte durch die idiotischen Netze, gleich zwei an der Zahl, und durch eigene Tätigkeit abgelenkt nicht so sehr viel mitbekommen. Er nannte die Vorhänge »fucking«, »fucking«, ein Wort, das er so häufig gebrauchte wie andere »okay«. Aber wenn er es aussprach, sagte er »fooking«, um es wirklich unanständig klingen zu lassen.

Emma aber war es nach Reden zumute. Sie wollte es einer Anregung ihrer Lieblingszeitschrift gleichtun und den G-Punkt ihrer Beziehung ermitteln. Damit war nicht das sexuelle Lustzentrum gemeint, sondern eine Stimulation der Partnerschaft durch sehr private Gepflogenheiten. Die Zeitschrift hatte Paare zu Wort kommen lassen, die den Besuch exotischer Restaurants, das gemeinsame Plattenauflegen in einer Disko, das Stehen hinter der Bühne, den Besuch von Festen, zu denen man gar nicht eingeladen war, als sehr aufreizend und zusammenschweißend empfanden, aber Emma ahnte, dass solche preziösen Vorhaben in diesem Kreis nicht verstanden würden. An Flic und Jessica war diese Frage im Grunde verschwendet, da ihre Lebensabläufe quasi auf G geeicht waren. Aber Jessica überlegte eifrig mit, weil sie Emma nicht enttäuschen wollten. Phil fragte, ob es reiche zu sagen, sein G-Punkt sei ein Sex, der unter südlichen Rahmenbedingungen quasi automatisch ablaufe. Er habe sich vor ein paar Tagen mitten im Akt gefragt, wie es wäre, wenn er jetzt Sex hätte. Das sei das Größte überhaupt, G wie Größtes, dass du gar nicht merkst, dass du ihn hast und denkst, du hättest jetzt mal Lust auf Sex. You fuck fucking. Ob sie das nachvollziehen könnten?

Bevor irgendjemand antwortete, klingelte das Telefon:

»Jessica? Hallo. Hier ist Elke. Ich wollte mich mal erkundigen. Wie geht es euch?«

Danach sagte Phil: »Das sind also eure Freunde.«

»Freunde ist definitiv zu viel gesagt. Wir kennen sie kaum.«

»Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass Leute, die euch das Haus überlassen, nicht eure Freunde sind?«

Phil wies auf das gerahmte Foto, das Elke und Wulf auf der Dachterrasse vor Meereshintergrund zeigte. Wulf in einem Polo-Hemd, das Freizeit deklarierte. Eine Bräune, die ein wenig hektisch, wie angeflogen wirkte. Im Gegensatz etwa zu Phils und Jessicas Braun, das eine so tiefe, so selbstverständliche Sättigung erreicht hatte, dass sie zur zweiten Natur geworden war. Im Angesicht von Wulfs Verwehung silberner Haare wusste Phil auf einmal, dass er Wulf niemals mögen könnte. Ihm begegneten diese Typen zu häufig. Sie kamen morgens, wenn er übernächtigt und gereizt war. Sie waren Inspektoren für Brandschutz, für Bauaufsicht, für Hygiene, für Jugendschutz. Es waren ohne Ausnahme mittelalte Männer, ausdruckslos und unablenkbar. Phils Job hatte viel mit Ablenken zu tun. Er war gut im Ablenken, aber seine bewährten Mittel versagten bei den Besuchern am Morgen im Gegensatz zu ihrer abendlichen Anwendung, wo sie gegen gewaltbereite Betrunkene, frustrierte Barfrauen, verschlagene Türsteher ankamen. »Das ist ein Minus-Mann«, sagte Phil, als die anderen schon wieder zu ihrer G-Punkt-Geschichte zurückgekehrt waren und Flick noch einmal Zapfen nachgelegt hatte.

»Von wem sprichst du?«

»Wulf, euer Freund, ist ein Minus-Mann. Was macht er so, ich meine beruflich.«

»Wenn ich es richtig behalten habe, macht er in Materialprüfung.«

Phil jubilierte.

»Und das hier, wie findet ihr das?«

Flic hatte aus der Küche das Gerät geholt, das seiner Frau schon am ersten Tag aufgefallen war.

Er reichte es Emma, die es betrachtete wie eine Probe Mondgestein.

»Ich weiß, was das ist«, sagte Phil.

»Es ist ein Zestenschneider«, sagte Jessica. »Es steht drauf. Zestenschneider. Aber ich kann es nicht übersetzen.«

Phil nahm seine Füße und seine Kampfsandalen vom Tisch. Er setzte sich aufrecht und legte die Arme leicht angewinkelt auf die Oberschenkel wie auf zwei Schienen.

»It’s a lemon grater.«

»A lemon grater?«

»Honey, ich erkläre dieses Gerät dir und unseren Freunden.«

»Und du möchtest dabei nicht unterbrochen werden, denke ich mal.«

Ihr wachsames Halblächeln zeigte an, dass sie den Zustand ihres Mannes richtig einschätzte.

Der Angesprochene hatte einen trotzigen Zug um den Mund.

»Phil hat Koch gelernt«, schob sie schnell noch hinterher.

»Ein Koch, ein Spitzenkoch, Lester Fairchild, bei dem ich in meinem ersten Jahr gearbeitet habe, hat zu mir gesagt: Phil, die herausragende Küche beginnt mit diesem Gerät, und er drückte mir einen solchen Grater in die Hand, genau solch ein Utensil.«

»Und erzähl doch Jessie und Flic, wie das mit dir und Meister Fairchild zu Ende ging.«

Phil ließ sich nicht ablenken, wenn auch klar war, dass die verlangte Geschichte zu seinem Repertoire gehörte.

»Habt ihr eine Zitrone oder eine Orange?«

»Nicht hier. Ich glaube, im Garten wäre so etwas zu finden.«

»Der Zestenschneider hobelt nämlich die Rinde der Südfrüchte ab, nur das Farbige, nicht das Weiße, in langen dünnen Würmern. Er produziert die Essenz der Südfrüchte, pure Sub­stanz des Geschmacks, wie der Rohstoff zu einem Parfüm, wenn ihr wisst, was ich meine.«

Jessica ging in die Küche und kam wieder, um ein weiteres rätselhaftes Gerät vorzuzeigen, einen metallenen Quirl, bei dem man die Schlingen durchgetrennt hatte, sodass jetzt die Drähte wirr in alle Richtungen standen. Wie die Haare von Wulf.

Phil kannte natürlich auch dieses Gerät, aber er blieb beim Zestenschneider, der für ihn ein Totem war.

»Was ich sagen will«, setzte er erneut mit fast übernatürlichem Ernst an, »die Menschen, denen dieses Haus und dieses Gerät gehören, ich sage euch, die können nicht ganz falsch sein. I swear.«

»Phil, dann solltest du was für uns kochen. Wir haben gehört, es gibt Gas in der Küche. Ich geh mal, und dreh es dir an.«

An nächsten Morgen sagte Jessica zu Flic, auf das Durcheinander verweisend, das der Vorabend zurückgelassen hatte: »Gieß wenigstens die Pflanzen! Das war die einzige Bitte von Elke und Wulf gewesen. Alle drei Tage wässern. Wenn Dimitri sieht, dass jemand im Haus ist, kümmert er sich um nichts mehr.« Flic bewegte den langen Schlauch über die von Kiefernadeln weichbedeckte Erde und gab den Pflanzen Wasser: Oleander, Hibiskus, Orangen, Feigen, Zitronen, jeder Baum oder Strauch drei Minuten lang. Ein Vogel mit einem stramm aufgerichteten Hinterteil verfolgte ihn von Gießstelle zu Gießstelle. Er konnte ihn genauso wenig identifizieren wie die Pflanzen. Flic schaute auf das Meer, das wie Perlmutt schimmerte. Es hatte die Farbe des beginnenden Tages. Die Nacht war kurz gewesen. Am Strand würde er sich auf eine Liege hauen, mit dem Kopf nach unten, und erst aufstehen, wenn ihn der Gedanke an ein Bier nicht mehr losließ. Das Bier hieß hier »Mythos«. Es wurde in eisbereiften Krügen serviert.

Er hatte mit Emma geschlafen, Emma mit Jessica, Jessica mit Phil und Flic mit Emma und Jessica, während Phil in die Küche abgestiegen war, um irgendetwas Phantastisches mit diesem kaputten Quirl anzustellen. Der hatte ihm keine Ruhe gelassen. Als er wieder hochkam, servierte er eine mit karamellisierten Zuckerfäden übersponnene Eisbombe. Die hatte er aus dem Speiseeis zusammengesetzt, das Flic und Jessica im Tiefkühlfach gespeichert hatten – der einzige Vorrat, auf den sie Wert legten. Phil war nackt, bis auf eine um die Hüfte geschlungene blauweiße Tischdecke, ein Stück alter griechischer Handarbeit, auf das Elke und Wulf sehr stolz waren. Phil servierte die Bombe mit kellnerhafter Grazie. Die Anderen wussten mit seinem Gebilde nicht so recht etwas anzufangen, aber für sie hatte er es ja auch nicht gemacht.

Die Vier hatten es auf der Dachterrasse getrieben, von Duft und Brise umweht, während das Kreuz des Südens über ihren verwickelten Figuren wachte. Sie hatten bei der Gelegenheit auch festgestellt, dass das lustige Türmchen auf dem Dach ganz und gar eingerußt, ja verkohlt war. Es hatte sich also um den Schornstein gehandelt. Aber warum stellten die Leute auch Körbe mit Zapfen und Scheiten neben den Kamin? Hatten die nicht von nachhaltigem Tourismus gesprochen, damals oben auf dem Berg? Emma war wunderbar gewesen. Flic hatte von der Seite aus zugesehen, wie ihr weißes Fleisch und sogar ihr Busen erzitterten.

Zum Schluss hängte Flic den Schlauch in den großen Tontopf, der neben dem Eingang stand. Aus ihm wuchs ein krüppliger Stock mit runden fettigen Blättern, die ein wenig wie Konfetti aussahen. Dann ging er zur Außenmauer zurück, wo der Schlauch angeschlossen war und wo ein schlichter Hebel für An- und Abstellen sorgte. Flic legte den Hebel um und machte sich auf in Richtung Strand, wohin Jessica vorausgegangen war und wo er auch Emma anzutreffen hoffte.

Flic hatte aber einen Fehler begangen. Er hatte den Hebel in die falsche Richtung bewegt. Das Wasser strömte jetzt mit voller Kraft. Der Schlauch richtete sich im Topf auf wie eine Viper, pendelte unschlüssig hin und her und schlug dann im Eingangsbereich auf und ließ es strömen – unter der Tür durch, ins Innere, in die Küche ...

2 Sommerspiele auf Schloss Lieberstett

Die Baronin hätte zur Not dafür aus eigener Tasche bezahlt: Die Konzerte auf Schloss Lieberstett mussten jeden August stattfinden, sie mussten fester Bestandteil und ihrer Ansicht nach Höhepunkt des »Kultursommers« sein und bleiben. Das hieß auch, noch einmal Herrin des Dorfes sein, eine Herrin freilich, die sich ganz und gar als Teamspielerin gab. Unter die Landfrauen, die das Rahmenprogramm beisteuerten, einen kleinen Markt aufbauten und für Speisen und Getränke sorgten, wollte sie sich nur als erste Dienerin des großen Ereignisses einreihen und sich jeder guten Idee gegenüber aufgeschlossen zeigen. Die Baronin gehörte zur Klasse der aufgeklärten und demokratisch verwurzelten Adelsfrauen, wie man sie immer häufiger antrifft. Von der Blutlinie her gehörte sie freilich diesem Stande nicht an. Der zwanzig Jahre ältere Baron hatte sie zwar aus einer Burg entführt, aber da arbeitete sie am Empfang des Burghotels, das einem seiner Freunde, einem anderen echten Freiherrn, gehörte. Die mangelnde Eingangsqualifikation kompensierte die Baronin ohne jegliche Übertreibung. Das war ihre größte Leistung überhaupt. Sie trug das blonde Haar sehr zurückhaltend als Zopf oder Knötchen, aber dann, wenn sie es fallen ließ, war jeder (vielleicht nicht jede) erst einmal erstaunt, ja hingerissen von der Haarpracht, der Fülle, die sich da in einem weichen Schwung ausbreitete, und genauso hielt sie es mit der Kleidung: an gewöhnlichen Tagen sehr schlicht, sehr praktisch. Höchstens die Wildlederslipper verrieten eine gewisse Ambition. (Als Dame des Empfangs hatte sie als erstes gelernt, die Gäste nach ihren Schuhen zu klassifizieren.) Und wenn sie dann einlud oder ein großer öffentlicher Anlass gegeben war, da führte sie sehr spezielle Modelle vor, Kleidungsstücke, die als erstes die Frage aufwarfen: Woher hat sie das wohl? Lieberstett lag fünf Kilometer von der Kreisstadt entfernt, deren Geschäfte mehr für eine vestimentäre Grundversorgung garantierten, und das Oberzentrum in sechzig Kilometern Entfernung war nun auch nicht gerade als Stadt der Mode bekannt geworden.

Die Schaustücke der Frau Baronin kamen per Post oder Lieferservice ins Schloss. Die Frage »Woher hat sie das wohl?« stellten die Landfrauen nur, weil sie bei den Versandhäusern stehen geblieben waren, die schon ihre Mütter beliefert hatten. Für das erste Konzert dieser Saison wählte die Baronin ein Midi-Kleid, einschultrig mit Rüschenärmeln. Was den zweiten Abend betraf, war sie noch unentschieden: Zur Auswahl stand ein für sie und sicher auch für das verehrte Publikum ungewöhnlicher Dress in brautkeuschem Weiß, ein A-Linien-Kleid, dessen Clou der mittlere Balken des A war: eine durchbrochene Spitze, die sich noch ein zweites Mal um den Saum herumschlang. Oder ein relativ kurzes Kleid, burgunderfarben und kurzärmlig, das dem Stil nach als »bodycon«, als körperbetont geführt wurde und mit dieser Passform auch dem sehr eng anliegenden Haushaltplan derer von Lieberstett entsprach. Dieser erlaubte keine allzu großen Extravaganzen à la Haute Couture. Wenn wir eingangs sagten, die Baronin hätte die Mittel für das Sommerkonzert auch selbst aufgebracht, so entsprach das ganz und gar ihrem Willen, aber nicht ihren finanziellen Möglichkeiten. Im Gegenteil war man unter anderem auf die Einnahmen angewiesen, die etwa 300 verkaufte Karten pro Abend erbrachten, und ebenso waren die Erträge willkommen, die aus dem Verkauf von Getränken und Speisen zuflossen – alles anteilig, versteht sich: Die Organisatoren des »Kultursommers«, die Künstler und die Landfrauen bekamen je ihre Prozente, ein jedes Mal erneut und schwierig auszuhandelnder Gewinn. Denn natürlich machte die Höhe der Musikergagen einen Unterschied.