Was ist Religion? Über die Vieldeutigkeit eines umkämpften Begriffs - Charles Taylor - E-Book

Was ist Religion? Über die Vieldeutigkeit eines umkämpften Begriffs E-Book

Charles Taylor

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Beschreibung

Religion ist nichts Eindeutiges. "Religion" ist ein Begriff, der gerne missbraucht wird und dessen Vielschichtigkeit zu ergründen lohnt. Charles Taylor arbeitet sich aus zwei Perspektiven heran: aus einer statischen (indem er den durch militante oder spirituelle Gruppen festgelegten Sinn des Begriffs betrachtet) und aus einer flexibleren (indem er die Verbindungen und Differenzen von Religion zu Magie, Spiritualismus und Säkularismus herausarbeitet). Sein Essay demonstriert, was große Philosophie auch in kleinster Form zu leisten vermag.

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Seitenzahl: 72

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Charles Taylor

Was ist Religion?

Bedeutungsvielfalt eines umstrittenen Konzepts

Aus dem Englischen von Holger HanowellHerausgegeben von Michael Kühnlein

Reclam

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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961937-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014155-7

www.reclam.de

Inhalt

1. Was ist Religion?

2. Die achsenzeitliche Wende

3. Nachachsenzeitliche Religionen: Universell, aber unterschiedlich

4. Eine dynamische Bedeutungsvielfalt

5. Fazit

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Die große Erzählung: Viel-Kulturalität und die Religion (für Füchse)

Literaturhinweise

1. Was ist Religion?

Die Bedeutungsvielfalt des Begriffes ›Religion‹: Warum ist es wichtig, dieses Thema anzuschneiden?

Der Grund hierfür liegt auf der Hand. Dem Interesse an diesem Thema liegt Skeptizismus zugrunde – ein Skeptizismus, den ich teile – bezüglich der Möglichkeit, eine einfache und eindeutige Definition des Konzepts zu liefern. Spontan möchte ich meine Rede mit einer allgemeingültigen Regel einleiten: »Wenn jemand behauptet, ›Religion sei …‹ oder ›Religion macht …‹ ohne Umschweife, kann man von vornherein sicher sein, dass der Satz falsch ist«. Wenn jemand, wie man es heutzutage oft hört, verkündet: »Religion löst Gewalt aus«, und jemand anders antwortet darauf: »Sie irren sich, Religion bringt immer Frieden«, dann wäre die richtige Reaktion, darauf zu antworten, dass man auch dann, wenn beide Ansichten teilweise wahr sind, sehr viel Energie aufwenden müsste, um zu beweisen, dass beide Sätze hundertprozentig wahr sind. Doch würde man auf diese Weise nicht besser verstehen, was Religion ist.

Der Begriff Religion ist nicht eindeutig, und in diesem Zusammenhang ist es angemessen, von der Bedeutungsvielfalt des Begriffes ›Religion‹ zu sprechen. Wie auch immer: Man darf an dieser Stelle nicht innehalten. Die Dinge sind weitaus komplizierter. Das Konzept der Bedeutungsvielfalt kann nämlich aus vielen Blickwinkeln angegangen werden. Meine Absicht besteht darin, diese Komplexität besser zu durchdringen, um, so hoffe ich, die Verwirrung etwas zu lösen, anstatt sie noch größer zu machen. Von jetzt an werde ich mich freier zwischen den verschiedenen Kontexten bewegen, in denen das Konzept ›Religion‹ heute zur Anwendung gelangt.

Wir könnten mit der Beobachtung beginnen, dass man sich eine Zeit lang einig in Bezug auf eine bestimmte Definition von Religion war. Diese Definition wurde im Zuge der europäischen Aufklärung entwickelt, doch kann man ihre Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Es handelt sich um eine Vorstellung von Religion, die eher auf dem Deismus1 als auf dem Christentum gründet. Entsprechend dieser Vorstellung stellt jede Religion eine Überzeugung dar, dass ein Schöpfergott existiert, der uns einige ethische Grundsätze an die Hand gibt und die Menschen dann nach dem Tod belohnt oder bestraft, je nachdem wie sie sich an diese Vorschrift gehalten haben.

Angesichts dieser Auffassung war es durchaus möglich, vage Übereinstimmungen zwischen z. B. dem Christentum, einem christlich-inspirierten Deismus und vielleicht auch dem Islam auszumachen. Doch sobald man diese Definition etwa auf den Hinduismus anwandte, ging die Grundlage für einen Vergleich verloren. Tatsächlich hätte das Wort ›Hinduismus‹ keine Bedeutung gehabt, wenn man es im 17. oder 18. Jahrhundert benutzt hätte. Obwohl man leider den heutigen Hindutva-Nationalismus in gewisser Hinsicht als späten Nachzügler dieses früheren Bemühens verstehen kann, Religionen unter der Federführung eines europäischen Prototyps zu katalogisieren.

All jene deutlichen Unterschiede, die die Glaubwürdigkeit eines solch eng gefassten Konzepts von Religion untergruben, wurden zu jener Zeit komplett von dem europäischen Gedankengut ignoriert. Und die Ausnahmen bestätigten nur die Regel, da das Prestige der Kolonialmacht den Menschen vor Ort oftmals weismachen wollte, es sei unerlässlich, die eigene religiöse Erfahrung innerhalb dieses konzeptionellen Rahmens zu begreifen. Denken Sie nur an die monotheistischen Reformbewegungen im Hinduismus wie etwa Brahmo Sabha2 oder Brahmo Samaj3, eingeleitet durch Pandit Nobin Chandra Roy und Ram Mohan Roy. In all diesen Fällen erwies sich jedoch letzten Endes die Überzeugungskraft des Versuchs, eine westliche Sichtweise zu übernehmen, als minimal.

Um wieder zum eigentlichen Thema meiner Rede zurückzukehren: Ich will im Folgenden drei Dimensionen der Bedeutungsvielfalt des Konzepts von ›Religion‹ voneinander unterscheiden, und zwar in immer größer werdenden Graden von Komplexität.

2. Die achsenzeitliche Wende

Eine erste wichtige Quelle für die Differenzierung und somit der Bedeutungsvielfalt in der Geschichte der Religion findet sich in dem entscheidenden Übergang, den wir für gewöhnlich die ›Achsenzeit‹ nennen. Es ist allgemein bekannt, dass der deutsche Philosoph Karl Jaspers in seinem Vom Ursprung der Geschichte als erster Denker die Hypothese aufstellte, es habe auf der Erde zwischen dem 8. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. ›gleichzeitig‹ eine große spirituelle Umwälzung stattgefunden.1 Aus dieser ursprünglich rein philosophischen Behauptung, die eine Weile unbeachtet blieb, wurde einige Jahrzehnte später dank der Forschungen so talentierter Gelehrter wie Shmuel Eisenstadt4 und Björn Wittrock5 eine grundlegende historisch-soziologische Kategorie. Zuletzt wandte sich Robert N. Bellah6 in seinem jüngsten, großartigen Buch wieder diesem Themenkomplex zu.2

Gegenwärtig wird Jaspers’ These allgemein, aber nicht überall, als vielversprechende Herangehensweise akzeptiert, um ein erstaunliches historisch-kulturelles Phänomen zu erklären, das im Verlauf der Jahrhunderte wiederholt wahrgenommen wurde. Ich beziehe mich hiermit auf das weltweite Aufblühen des Spirituellen, das in den verschiedenen Winkeln der Erde während des ersten Jahrtausends v. Chr. ähnliche, allerdings nicht identische Weltanschauungen hervorbrachte. Diese achsenzeitliche Wende mündete, indem sie sich von West nach Ost ausbreitete, im Erstarken der griechischen Philosophie zur Zeit von Platon, in die jüdische Prophetie des Mittleren Ostens, in die vedischen Lehren und den Buddhismus in der Indus-Ganges-Ebene sowie in den Konfuzianismus in China. In seiner bahnbrechenden Studie legte Jaspers womöglich zu viel Gewicht auf den Aspekt, diese verschiedenen spirituellen Traditionen hätten sich untereinander unmittelbar beeinflusst, doch wiesen diese in der Tat starke gemeinsame Merkmale, jedoch eben auch unverkennbare Unterschiede auf. Doch selbst dann, wenn wir uns nur auf die Elemente der Wesensverwandtschaft konzentrieren, so trägt der Wandel der Weltanschauung, der sich in jenen Jahrhunderten vollzog, dazu bei, dass der ›achsenzeitliche‹ Durchbruch zu den revolutionärsten Veränderungen in dem Bereich führt, den wir ›Religion‹ nennen.

Wie lässt sich diese Veränderung beschreiben? Nehmen wir uns beispielsweise die Religion der Römischen Republik vor, fällt uns sogleich auf, dass diese Religion größtenteils auf Rituale und Opferhandlungen ausgerichtet war, die dazu dienten, die Republik vor jedweder Gefahr zu bewahren, und die dafür sorgten, dass sie auch weiterhin gedieh. Dieser Aspekt trifft auf die vorachsenzeitlichen Religionen generell zu. Die Rituale wurden in einem Kontext praktiziert, in dem es ziemlich klar war, was das Gute für den Menschen ausmacht, nämlich Gedeihen. Versagen ist schlecht, Gedeihen ist gut: Das erklärt sich von selbst. Doch was genau ist das menschliche Gedeihen? Gedeihen bedeutet, einfach ausgedrückt, dass es gute Ernte anstatt Hungersnot, dass es weder Dürre noch Überschwemmungen geben möge, dass die Kinder heranwachsen und weitere Nachkommen haben und dass die Erde fruchtbar sei, kurz: all jene die Dinge, die für das menschliche Wohlergehen allgemein als essenziell betrachtet wurden und werden. Das religiöse Leben wiederum vollzog sich im Einklang mit diesem Verständnis davon, was menschliches Gedeihen ausmacht, und hatte u. a. zur Folge, dass die Götter günstig gestimmt werden mussten, und zwar, indem man sich auf die Verbindung mit dem Geist geweihter Tiere oder die Quelle von Fruchtbarkeit usw. konzentrierte. Genauer: Die Güter, die durch religiöse Mittel erlangt werden, waren weltliche Güter, und sie alle hatten mit den Grundbedürfnissen des Menschen zu tun.

Welche Neuheiten brachte die Revolution der Achsenzeit aber nun mit sich? Welche Unterschiede zeigten sich? Zunächst brachte sie die Vorstellung eines überlegenen Guten mit, welches nicht einfach auf das menschliche Gedeihen reduziert werden konnte. Verglichen mit früheren Auffassungen von dem Guten im Leben, treten alle achsenzeitlichen und nachachsenzeitlichen Religionen als radikaler Durchbruch in Erscheinung und sind damit alles andere als selbstverständlich. Und tatsächlich kann man hier eine Ahnung von der Einheit mit Gott bekommen, von Nirwana oder einem Buddha-ähnlichen Zustand des Geistes, von Platons Idee des Guten, von verschiedenen Imaginisierungen der Heiligkeit – wie etwa die Vornehmheit des Geistes, die im Konfuzianismus als rén bezeichnet wird, die ultraprofane Heiligkeit von Figuren wie dem Bhikkhu7 oder dem Asket usw.

Der Übergang in der Auffassung von moralischen Quellen und Zielen, der soeben beschrieben wurde, scheint in jeder Hinsicht eine nicht umkehrbare Änderung zu sein.