Was man sät - Marieke Lucas Rijneveld - E-Book

Was man sät E-Book

Marieke Lucas Rijneveld

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Beschreibung

Kurz vor Weihnachten bemerkt die zehnjährige Jas, dass der Vater ihr Kaninchen mästet. Sie ist sich sicher, dass es dem Weihnachtsessen zum Opfer fallen wird. Das darf nicht passieren. Also betet Jas zu Gott, er möge ihren älteren Bruder anstelle des Kaninchens nehmen. Am selben Tag bricht ihr Bruder beim Schlittschuhlaufen ins Eis ein und ertrinkt. Die Familie weiß: Das war eine Strafe Gottes, und alle Familienmitglieder glauben, selbst schuld an der Tragödie zu sein. Jas flieht mit ihrem Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna in das Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, in eine Welt voll okkulter Spiele und eigener Gesetze, in der die Geschwister immer mehr den eigenen Sehnsüchten und Vorstellungswelten auf die Spur kommen.

Was bedeuten Familie, Glaube, Zusammenhalt? Wie kann man anderen beistehen, wenn man mit den eigenen Dämonen zu kämpfen hat? Marieke Lucas Rijneveld hat einen gewagten, einen kräftigen und lebendigen Roman geschrieben, der unsere innersten Gewissheiten hinterfragt.

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Seitenzahl: 372

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Marieke Lucas Rijneveld

Was man sät

Roman

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Suhrkamp

Motto

Die Unruhe schenkt der Vorstellungskraft Flügel.

Maurice Gilliams

I

Es steht geschrieben, »Ich mache alle Dinge neu!«

Doch die Absprachen sind wie eine Wäscheleine des Kummers,

Messerscharfe Windstöße brechen den Glauben dessen

Der flüchten will aus diesem grausamen Beginn.

Der Eisregen geißelt Blüten zu glasigem Mus,

Ein Hundsfott schüttelt seinen Pelz trocken in der Gewalt.

Aus: Jan Wolkers, Verzamelde Gedichten (2008)

1

Ich war zehn und zog meine Jacke nicht mehr aus. An jenem Morgen schmierte Mutter uns gegen den Frost der Reihe nach mit Eutersalbe ein, die aus einer gelben Bogena-Dose kam und normalerweise nur bei Rissen, Hornringen und blumenkohlartigen Wucherungen an den Zitzen der Milchkühe verwendet wurde. Der Dosendeckel war so fettig, dass man ihn nur mit einem Geschirrtuch abdrehen konnte; es roch nach gedünstetem Euter, das manchmal in dicken, zuvor mit Salz und Pfeffer bestreuten Scheiben in einem Topf Bouillon auf dem Herd vor sich hin köchelte und vor dem ich mich genauso ekelte wie vor der stinkenden Salbe auf meiner Haut. Trotzdem drückte Mutter ihre dicken Finger in unsere Gesichter wie in einen Käse, den sie befühlte und beklopfte, um festzustellen, ob die Rinde allmählich reifte. Unsere bleichen Wangen glänzten im Schein der fliegendreckübersäten Glühbirne in der Küche. Schon seit Jahren sollte es einen Lampenschirm dafür geben, einen schönen mit Blumen, aber wenn wir im Dorf einen entdeckten, wollte Mutter sich lieber noch weiter umsehen. Das tat sie nun schon seit drei Jahren. An jenem Morgen, zwei Tage vor Weihnachten, spürte ich ihre fettigen Daumen in meinen Augenhöhlen, und einen Moment lang hatte ich Angst gehabt, dass sie zu fest drücken würde, dass meine Augäpfel wie Murmeln nach innen kullern würden. Dass sie sagen würde: »Das kommt davon, wenn du immer so durch die Gegend schaust und den Blick nie still hältst, wie ein guter Gläubiger es tut, der zu Gott aufschaut, als könne sich der Himmel jeden Moment öffnen.« Aber der Himmel öffnete sich hier höchstens zu einem Schneesturm, nichts, auf das man dümmlich starren müsste.

In der Mitte des Frühstückstischs stand ein geflochtenes Brotkörbchen, darin eine Serviette mit Weihnachtsengeln. Sie hielten eine Trompete oder einen Mistelzweig schützend vor ihren Pimmel; selbst wenn ich die Serviette gegen das Licht der Glühbirne hielt, konnte ich nicht erkennen, wie er aussah, ich tippte auf eine aufgerollte Fleischwurstscheibe. Auf der Papierserviette hatte Mutter das Brot sorgfältig ausgelegt: Weißbrot, Vollkorn mit Mohn und Rosinenstollen. Über den knusprigen Rücken des Stollens hatte sie durch ein Sieb akkurat Puderzucker rieseln lassen, wie der erste leichte Schnee, der heute Morgen auf die Rücken der Blaarkoppen fiel, bevor wir sie von der Weide in den Stall trieben. Der Brottütenclip lag wie immer auf der Zwiebackdose, der ging sonst verloren, und Mutter fand, eine zugeknotete Tüte sehe traurig aus.

»Erst herzhaft und dann süß«, sagte sie wie gewöhnlich. Das war die Regel, dann wurden wir groß und stark, so groß wie der Riese Goliath und so stark wie Simson aus der Bibel. Außerdem mussten wir jeden Morgen ein großes Glas frische Milch trinken, die meist schon ein paar Stunden aus dem Tank war und lauwarm und manchmal noch eine gelbliche Rahmschicht hatte, die am Gaumen kleben blieb, wenn man zu langsam schluckte. Am besten kippte man die Milch mit geschlossenen Augen hinunter, was Mutter als ehrfurchtslos bezeichnete, obwohl in der Bibel nichts über schnelles oder langsames Milchtrinken stand oder darüber, ob man den Körper einer Kuh schmeckte oder nicht. Ich nahm eine Scheibe Weißbrot aus dem Brotkörbchen und legte sie auf meinen Teller, das obere Ende mit den beiden Wölbungen nach unten, so dass sie aussah wie ein bleicher Kinderpopo, besonders wenn man sie zur Hälfte mit Schokoladencreme beschmierte, was meine Brüder und ich immer lustig fanden, sie sagten jedes Mal: »Bist du wieder am Po- und Schiet-Lecken.« Aber ich musste erst noch was Herzhaftes essen, bevor ich an die Schokocreme durfte.

»Wenn man Goldfische zu lange in einem dunklen Zimmer hält, werden sie weiß«, flüsterte ich Matthies zu und belegte mein Brot mit sechs Scheiben Kochwurst, die genau zwischen die Ränder der Brotscheibe passten. Du hast sechs Kühe, und zwei davon werden gegessen. Wie viele bleiben übrig? Ich hörte die Stimme des Lehrers in meinem Kopf bei allem, was ich aß. Warum diese blöden Rechenaufgaben mit Essen kombiniert wurden – mit Äpfeln, Torten, Pizzastücken und Keksen –, wusste ich nicht, jedenfalls hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass ich jemals würde rechnen können und dass mein Heft jemals blütenweiß sein würde, ohne einen einzigen roten Strich. So hatte ich auch ein Jahr dafür gebraucht, die Uhrzeit zu lernen – Vater saß Stunden mit mir am Küchentisch, die Übungsuhr aus der Schule vor sich, die er manchmal vor lauter Verzweiflung auf den Boden schmiss, wodurch das Uhrwerk raussprang und das Mistding klingelte und klingelte –, und noch immer verwandelten sich die Zeiger ab und an in die Regenwürmer, die wir mit einer Mistgabel aus der Erde hinter dem Kuhstall buddelten, um mit ihnen zu angeln. Die wanden sich auch nach allen Richtungen, wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und erst wenn man sie ein paarmal antickte, gaben sie für kurze Zeit Ruhe, lagen in deiner Hand und waren wie diese süßen roten Erdbeerschnüre aus dem Bonbonladen van Luik.

»In Gesellschaft darf man nicht flüstern«, sagte meine Schwester Hanna, die neben Obbe mir gegenüber am Esstisch saß. Wenn sie etwas nicht gut fand, bewegte sie ihre Lippen von links nach rechts.

»Manche Wörter sind noch zu groß für deine kleinen Ohren, die passen da noch nicht rein«, sagte ich mit vollem Mund.

Obbe rührte gelangweilt mit dem Finger in seinem Milchglas, hielt ein Stück Haut in die Luft und wischte es rasch in die Tischdecke. Es blieb kleben wie weißlicher Schnodder. Ein ekliger Anblick, und ich wusste, die Decke könnte am nächsten Tag andersherum, mit der eingetrockneten Haut vor mir, liegen. Auf keinen Fall würde ich meinen Teller dann auf den Tisch stellen. Wir wussten alle, dass die Servietten nur zur Show dalagen und dass Mutter sie nach dem Frühstück glatt gestrichen wieder in die Küchenschublade zurücklegen würde, dass sie nicht für schmuddelige Finger und Münder bestimmt waren. Irgendwie hätte ich es auch jammerschade für die Engelchen gefunden, sie wie eine Mücke in der Faust zu zerdrücken, wodurch die Flügel brechen würden, oder ihr weißes Engelshaar mit Erdbeermarmelade zu beschmieren.

»Gerade weil ich so blass aussehe, muss ich raus«, flüsterte Matthies. Er lachte und steckte sein Messer äußerst konzentriert in den Teil des Duo-Penotti-Glases mit der weißen Schokolade, um nichts Braunes mitzukriegen. Duo Penotti gab es bei uns nur in den Ferien. Wir hatten uns schon seit Tagen darauf gefreut, und jetzt, die Weihnachtsferien hatten begonnen, war es endlich so weit – der schönste Moment kam, wenn Mutter die Schutzschicht aus Papier abzog, die Klebereste von den Rändern entfernte und uns einen Blick auf die braunen und weißen Flecken werfen ließ, als wäre es das einzigartige Fellmuster eines neugeborenen Kalbs. Wer in der jeweiligen Woche die besten Noten bekommen hatte, durfte sich als Erster aus dem Glas nehmen, ich kam immer als Letzte dran.

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, mit den Zehenspitzen kam ich noch nicht ganz bis auf den Boden. Am liebsten würde ich jeden von uns drinbehalten, wie Kochwurstscheiben im ganzen Haus verteilen. Der Lehrer der Gruppe 7 hatte gestern nicht umsonst in der Wochenzusammenfassung über den Südpol gesagt, dass manche Pinguine fischen gehen und nie mehr zurückkehren. Und auch wenn wir nicht am Südpol wohnten, kalt war es hier schon. So kalt, dass der See zugefroren und lauter Eis in den Kuhtränken war.

Neben unseren Frühstückstellern lagen für jeden zwei hellblaue Gefrierbeutel. Ich hielt einen hoch und sah Mutter fragend an.

»Zum Über-die-Socken-ziehen«, sagte sie mit einem Lächeln, das Soßenmulden in ihre Wangen grub, »dann bleibt die Wärme drin, und du bekommst auch keine nassen Füße.« Währenddessen machte sie das Frühstück für Vater fertig, der einer Kuh beim Kalben half; nach jeder Brotscheibe ließ sie das Messer zwischen Daumen und Zeigefinger durchgleiten, bis die Butter auf ihren Fingerkuppen saß, die sie danach mit der stumpfen Seite der Messerklinge abkratzte. Vater hockte jetzt bestimmt auf einem Melkschemel neben einer Kuh und nahm ihr die Biestmilch ab, kleine Wölkchen über dem dampfenden Rücken. Atem und Zigarettenrauch. Mir fiel auf, dass neben seinem Teller keine Gefrierbeutel lagen, wahrscheinlich waren seine Füße zu groß, vor allem der linke, der seit einem Unfall mit einem Mähdrescher, als er ungefähr zwanzig war, leicht deformiert war. Neben Mutter lag der silberne Käsebohrer, mit dem sie die Käselaibe, die sie morgens machte, auf ihren Geschmack hin prüfte. Bevor sie einen anschnitt, stach sie erst den Bohrer in die Mitte der Kunststoffschicht, drehte zweimal und zog ihn dann langsam zurück. Und genauso wie sie das Weißbrot beim Abendmahl in der Kirche aß, so bedächtig und fromm aß sie auch von dem Kümmelkäse, langsam und mit stierem Blick. Obbe hatte einmal aus Spaß gesagt, Jesu Leib sei auch aus Käse und deshalb dürften wir pro Tag nur zwei Scheiben Brot damit belegen, sonst wäre Er zu schnell alle.

Nachdem Mutter das Morgengebet gesprochen und Gott gedankt hatte »für Notdurft und für Überfluss; wo mancher isst vom Schmerzensbrot, hast Du uns mild und wohl gespeist«, schob Matthies seinen Stuhl zurück, hängte sich die schwarzen Eisschnelllaufschuhe um den Hals und steckte die Weihnachtskarten in seine Jackentasche, die er auf Mutters Geheiß bei einigen Bekannten einwerfen sollte. Matthies war schon früher auf den See gegangen, er lief zusammen mit ein paar Freunden die Poldertour mit. Das war eine Strecke von dreißig Kilometern, und der Sieger bekam ein Euterbrötchen mit Senf und eine Goldmedaille mit der Jahreszahl 2000. Am liebsten hätte ich ihm einen Gefrierbeutel über den Kopf gezogen, damit ihm lange warm blieb, den Klackverschluss um seinen Hals zugedrückt. Er wuschelte mir kurz durchs Haar, ich strich es schnell wieder glatt, wischte mir ein paar Krümel vom Schlafanzugoberteil. Matthies trug den Scheitel immer in der Mitte, mit Gel in den Stirnlocken, sie sahen aus wie zwei Butterflöckchen auf einem Unterteller, die machte Mutter immer um Weihnachten herum, Butter aus der Plastikdose fand sie nicht festlich, das war was für den Alltag. Und die Geburt Jesu war kein Alltag. Nicht einmal, wenn es jedes Jahr von Neuem geschah, genauso wie er auch jedes Jahr wieder für unsere Sünden starb, was ich merkwürdig fand, ich dachte mir oft: Der arme Mann ist doch schon lange tot, sie haben es bestimmt vergessen. Ich sag besser nichts, sonst gibt es keine Schokokringel und niemand erzählt mehr die Weihnachtsgeschichte mit den drei Königen und dem Stern im Osten.

Matthies ging in die Diele, um vor dem Spiegel seine Locken zu begutachten. Obwohl sie doch vom Frost bretthart werden und platt auf seiner Stirn liegen würden.

»Darf ich mit?«, fragte ich. Vater hatte meine friesischen Holzschlittschuhe vom Spitzboden geholt und mir die braunen Lederbänder um die Schuhe gebunden. Ich lief schon seit ein paar Tagen auf den Dingern durchs Haus, Hände auf dem Rücken und Schoner über den Kufen, damit der Fußbodenbelag nicht zu viele Furchen abbekam und Mutter nicht mit der flachen Staubsaugerdüse meine Sehnsucht nach der Tour aus dem Teppich zu saugen brauchte. Meine Waden waren hart. Ich hatte jetzt genug trainiert, um ohne Klappstuhl aufs Eis zu können.

»Nein, das geht nicht«, sagte er. Und dann leiser, so dass nur ich es hören konnte: »Weil wir rüber auf die andere Seite laufen.«

»Ich will auch auf die andere Seite«, flüsterte ich.

»Wenn du größer bist, nehm ich dich mit.« Er setzte sich seine Wollmütze auf und lächelte. Ich sah seine Zahnspange mit den Brackets und den blauen Gummis im Zickzackmuster.

»Ich bin vor der Dämmerung zu Hause«, rief er Mutter zu. In der Tür drehte er sich noch einmal um und winkte mir, die Szene, die ich später in meinem Kopf immer wieder abspielen würde, bis sein Arm nicht mehr in die Höhe ging und mir Zweifel kamen, ob wir uns überhaupt verabschiedet hatten.

2

Wir hatten nur Nederland 1, 2 und 3. Vater zufolge waren da keine Nackten zu sehen, er sprach das Wort »nackt« aus, als wäre ihm gerade eine Fruchtfliege in den Mund geflogen, ein bisschen Spucke kam mit. Bei dem Wort musste ich in erster Linie an die Kartoffeln denken, die Mutter jeden Abend schälte und in das Wasser im Topf plumpsen ließ, an dieses Platschgeräusch. Ich konnte mir vorstellen, dass einem, wenn man zu lange an nackte Menschen dachte, wie bei den Kartoffeln mit der Zeit Sprossen wuchsen, die dann mit der Messerspitze aus dem weichen Fleisch entfernt werden mussten. Die grünen verfütterten wir an die Hühner, die waren wild darauf. Ich lag bäuchlings vor dem Eichenschrank, in dem der Fernseher versteckt war. Eine der Schnallen meiner Schlittschuhe war darunter gerollt, als ich sie in der Wohnzimmerecke wütend weggekickt hatte. Ich war zu klein für die andere Seite und zu groß, um hinter den Ställen auf dem Gülleabflussgraben Schlittschuh zu laufen. Laufen konnte man es sowieso nicht nennen, es war eher eine Art Schlurfen, wie die Gänse es machten, die dort auf der Suche nach etwas Essbarem niedergingen, und mit jedem Kratzer im Eis kam Jauchegeruch frei und das Eisen der Schlittschuhe färbte sich hellbraun. Wir mussten bescheuert aussehen, wenn wir wie dumme Gänse auf dem Graben standen und mit unseren eingepackten Körpern von der einen Kante zur anderen eierten, anstatt die Poldertour auf dem großen See zu laufen, zu dem das ganze Dorf gezogen war.

»Wir können Matthies nicht zuschauen«, hatte Vater gesagt, »eins von den Kälbern hat Durchfall.«

»Aber ihr habt es versprochen«, rief ich. Ich hatte sogar schon die Füße in den Gefrierbeuteln.

»Das ist eine Ausnahmesituation«, sagte Vater und hatte sich die schwarze Baskenmütze bis über die Augenbrauen ins Gesicht gezogen. Ich hatte ein paarmal genickt. Gegen Ausnahmesituationen konnten wir nichts ausrichten, gegen die Kühe kam sowieso keiner an, die wurden immer vorgezogen, selbst wenn sie nicht auf sich aufmerksam machten, wenn sie vollgestopft mit ihren dicken, plumpen Leibern in den Liegeboxen lagen, schafften sie es noch, Ausnahmesituationen herbeizuführen. Maulend hatte ich die Arme verschränkt. Die ganze Überei auf den Schlittschuhen war umsonst gewesen. Meine Waden waren noch härter als die des Porzellan-Jesus, der in der Diele stand und genauso groß war wie Vater. Ich hatte die Gefrierbeutel absichtlich in die Mülltonne geworfen, so tief in den Kaffeesatz und zwischen die Brotrinden gedrückt, dass Mutter sie nicht wie die Servietten noch mal verwenden konnte.

Unter dem Schrank war es staubig. Ich entdeckte eine Haarklemme, eine vertrocknete Rosine, einen Legostein. Mutter schloss die Schranktüren, wenn Verwandte oder Kirchenälteste zum Hausbesuch kamen; sie durften nicht sehen, dass wir uns abends vom Weg Gottes ablenken ließen – zum Beispiel schaute Mutter jeden Montag Lingo, dann mussten wir alle mucksmäuschenstill sein, damit sie an ihrem Bügelbrett die Wörter erraten konnte, wir hörten das Eisen bei jeder richtigen Antwort zischen, Dampf stieg auf. Meist waren es Wörter, die nicht in der Bibel vorkamen, die Mutter aber trotzdem zu kennen schien und Rotwerdwörter nannte, weil man von manchen rote Wangen bekam. Von Obbe hörte ich einmal, als der Bildschirm schwarz war, dass der Fernseher das Auge Gottes sei und Mutter, wenn sie die Schranktüren schloss, wollte, dass Er uns nicht sah. Sie schämte sich bestimmt für uns, weil wir auch manchmal, ohne dass Lingo lief, Rotwerdwörter riefen, die Mutter dann mit einem Stück grüner Seife aus unseren Mündern zu waschen versuchte, wie sie es auch bei Fettflecken und Matschspuren in unseren guten Schulsachen tat.

Ich tastete den Boden ab auf der Suche nach der Schnalle. Von dort aus, wo ich lag, schaute ich in die Küche und sah auf einmal Vaters grüne Stallstiefel vor dem Kühlschrank, Stroh und Kuhmist klebten daran. Er wollte bestimmt wieder ein Bündel Möhrenkraut aus der Gemüseschublade holen, das schnitt er mit dem Hufmesser ab, das immer in der Brusttasche seines Overalls steckte. Schon seit Tagen lief er zwischen dem Kühlschrank und dem Kaninchenstall hin und her. Sogar das Blätterteigteilchen nahm er mit, das noch von Hannas siebtem Geburtstag übrig war und bei dessen Anblick mir jedes Mal das Wasser im Munde zusammengelaufen war, wenn ich den Kühlschrank aufmachte. Ich hatte nicht widerstehen können, heimlich mit dem Fingernagel eine Ecke von der rosa Glasur abzubrechen und in den Mund zu stecken und dann einen Gang in die Sahne zu bohren, die im Kühlschrank fest geworden war und wie eine gelbe Mütze auf meinem Finger stehen blieb. Vater bemerkte es nicht. »Wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr davon abzubringen«, sagte die fromme Oma manchmal, und deshalb hatte ich ihn im Verdacht, dass er mein Kaninchen, das ich von unserer Nachbarin Lien bekommen hatte, für das Weihnachtsessen mästete, das nach zweimal Schlafen im Vorderhaus stattfinden würde. Sonst gab er sich nie mit den Kaninchen ab, er fand, »Kleinvieh« gehöre eher auf den Teller, und liebte nur Tiere, die sein gesamtes Blickfeld mit ihrer Anwesenheit ausfüllten; mein Kaninchen füllte noch nicht mal die Hälfte. So hatte er einmal gesagt, Nackenwirbel seien der zerbrechlichste Teil eines Körpers – ich hörte sie im Kopf knacken, als würde Mutter eine Handvoll ungekochter Fadennudeln über dem Topf in Stücke brechen –, und auf dem Dachboden hing seit kurzem ein Strick am Balken, in den eine Schlinge geknüpft war. »Für eine Schaukel«, sagte Vater, aber eine Schaukel hing noch immer nicht daran. Ich konnte nicht verstehen, warum der Strick auf dem Dachboden hing und nicht einfach im Schuppen, zwischen den Schraubenziehern und seiner Gewindebolzensammlung. Vielleicht, überlegte ich mir, wollte Vater, dass wir zuschauten, vielleicht würde es passieren, wenn wir sündigten. Einen Moment lang sah ich vor mir, wie mein Kaninchen mit gebrochenem Genick schlaff an dem Strick aufgehängt wurde, hinter Matthies’ Bett, so dass Vater es leichter häuten konnte. Das würde bestimmt so gehen wie bei der Pelle, die Mutter morgens mit dem Kartoffelschäler von der Kochwurst abzog. Nur würden sie Dieuwertje in ein bisschen echter Butter im großen Schmortopf auf den Gasherd stellen, so dass das ganze Haus nach gebratenem Kaninchen roch und die Familie Mulder schon von Weitem feststellen konnte, dass das Weihnachtsessen gleich aufgetischt würde, dass sie sich ihren Hunger aufsparen mussten. Mir war aufgefallen, dass ich, obwohl ich sonst mit dem Futter so sparsam umgehen musste, Dieuwertje jetzt eine ganze Schippe voll geben durfte, neben dem vielen Möhrenkraut, das er ohnehin schon bekam. Trotz der Tatsache, dass er ein Männchen war, hatte ich ihn nach der Lockenmadam von der Sendung Nachrichten vom Nikolaus genannt, weil ich sie so hübsch fand. Am liebsten hätte ich sie ganz obenan auf meinen Wunschzettel gesetzt, aber damit wartete ich noch ein bisschen, außerdem hatte ich sie noch nicht im Intertoys-Prospekt gesehen.

Bei meinem Kaninchen ging es um mehr als nur um Großzügigkeit, da war ich mir sicher. Darum hatte ich andere Tiere vorgeschlagen, als ich mit Vater vor dem Frühstück die Kühe vom Feld holen ging, um sie für den Winter einzustallen. Ich hatte einen Stock in der Hand, um sie aufzuscheuchen. Am besten berührte man sie an der Flanke, dann liefen sie weiter.

»Die anderen Kinder aus meiner Klasse essen Ente, Fasan oder Pute, und die stopfen sie dann durch den Hintern mit Kartoffeln, Knoblauch, Porree, Zwiebeln und Rüben voll, bis sie fast platzen.«

Von der Seite her schaute ich zu Vater. Er nickte. Im Dorf gab es unterschiedliche Arten zu nicken. Allein schon damit konnte man sich unterscheiden. Ich kannte sie mittlerweile alle. Dies war das Nicken, das Vater auch bei den Viehhändlern einsetzte, wenn sie ihm zu wenig boten, er sich damit aber zufrieden geben musste, weil dem armen Vieh was fehlte und er es sonst überhaupt nicht losgeworden wäre.

»Wimmelt hier nur so von Fasanen, vor allem im Weidenbruch«, sagte ich und schaute zu dem bewachsenen Gebiet links vom Hof. Da sah ich sie manchmal auf einem Baum oder auf der Erde hocken. Wenn sie mich sahen, ließen sie sich urplötzlich wie ein Stein auf den Boden fallen und blieben totenstill liegen, bis ich wieder verschwunden war, erst dann hoben sie den Kopf.

Vater nickte wieder, schlug mit seinem Stock auf die Erde und rief den Kühen »schschschsch, auf geht’s« zu, damit sie sich in Bewegung setzten. Ich hatte nach dem Gespräch in die Gefriertruhe geschaut: Zwischen den Päckchen Hackfleisch halb-und-halb und dem Suppengemüse lag keine Ente, kein Fasan, keine Pute.

Vaters Stiefel verschwanden wieder aus meinem Blickfeld. Nur ein paar Strohhalme blieben auf dem Küchenboden zurück. Ich steckte mir die Schnalle in die Hosentasche und schlich auf Socken die Treppe zu meinem Zimmer hinauf, das auf den Hofplatz ging, kauerte mich vor mein Bett und dachte an Vaters Hand auf meinem Kopf, als wir die Kühe im Stall hatten und wieder auf die Weide hinausgingen, um nach den Maulwurfsfallen zu schauen. Wenn nichts drin war, blieben Vaters Hände tief in den Hosentaschen, dann gab es nichts, was nach Belohnung rief, im Gegensatz zu den Malen, wenn wir etwas gefangen hatten und mit einem verrosteten Schraubenzieher die zusammengeklappten blutigen kleinen Leiber aus den Fallen stocherten, was ich vornübergebeugt tat, damit Vater nicht sah, dass mir beim Anblick eines kleinen Lebens, das nichtsahnend in die Falle geraten war, Tränen über die Wangen kullerten. Ich stellte mir vor, wie Vater mit ebendiesen Händen meinem Kaninchen den Hals umdrehen würde, genau wie man die Kappe einer Stickstoffflasche mit Kindersicherung abdreht: Es gab nur eine einzige Methode, es richtig zu machen. Und wie Mutter dann meinen leblosen Dieuwertje auf eine silberne Platte legen würde, auf der sie sonst sonntags nach der Kirche den Husarensalat anrichtete. Sie würde Dieuwertje auf eine Unterlage aus Feldsalat betten und mit sauren Gurken, Tomatenvierteln und geraspelten Möhren garnieren, dazu etwas Thymian. Ich blickte auf meine eigenen Hände, die bizarren Linien. Sie waren noch zu klein, um sie für etwas anderes zu gebrauchen als zum Festhalten. Noch passten sie in Vaters und Mutters Hände, aber deren Hände passten nicht in meine, das war der Unterschied zwischen ihnen und mir: Sie konnten ihre um den Hals eines Kaninchens legen, um einen Käse, der gerade in der Salzlake gewendet worden war. Ihre Hände waren suchend, und wenn man keinen Menschen und kein Tier mehr liebevoll anfassen konnte, dann ließ man besser los und wandte sich anderen Dingen zu.

Ich presste meine Stirn immer fester an den Bettrand, ich spürte, wie das kalte Holz sich in meine Haut drückte, und schloss die Augen. Manchmal fand ich es komisch, dass es fürs Beten dunkel sein musste. Aber vielleicht war es genauso wie bei meiner Glow-in-the-dark-Bettdecke: Nur wenn es dunkel genug war, leuchteten die Sterne und Planeten und boten Schutz vor der Nacht; so war es bei Gott wohl auch. Ich legte meine ineinandergeflochtenen Hände auf die Knie. Böse dachte ich an Matthies, der jetzt an einem der Getränkestände auf dem Eis warme Schokomilch trinken würde, dachte daran, wie er mit roten Wangen weiterlaufen würde, an das Tauwetter, das morgen einsetzen würde: Die Lockenmadam hatte vor glatten Dächern und Nebel gewarnt, dadurch könnten sich die Knecht Ruprechte verirren und möglicherweise auch Matthies, obwohl das dann seine eigene Schuld wäre. Einen Moment lang sah ich auch meine Schlittschuhe vor mir, die wieder eingefettet wurden und im Karton auf den Spitzboden konnten. Ich dachte daran, dass ich noch für so vieles zu klein war, dass einem aber niemand sagte, wann man groß genug wurde, wie viele Zentimeter das am Türpfosten waren, und ich bat Gott, ob er, bitte, nicht mein Kaninchen, sondern meinen Bruder Matthies nehmen könnte: »Amen.«

3

»Er ist doch nicht tot«, sagte Mutter zum Tierarzt. Sie richtete sich vom Badewannenrand auf und zog ihre Hand aus einem hellblauen Waschhandschuh, sie wollte gerade Hannas Po damit bearbeiten, sonst bekäme die womöglich Würmer, sie fraßen kleine Löcher in uns Menschen wie in Kohlblätter. Ich war alt genug, selbst dafür zu sorgen, dass ich keine Würmer bekam, und schlang die Arme um meine Knie, damit ich jetzt, wo der Tierarzt, ohne anzuklopfen, plötzlich ins Badezimmer gekommen war, weniger nackt aussah. Mit gehetzter Stimme sagte er: »In der Nähe des anderen Ufers, wegen den Fahrrinnen, war das Eis viel zu dünn. Er ist lange an der Spitze gefahren, niemand hat ihn mehr gesehen.« Ich wusste sofort, dass es nicht um mein Kaninchen Dieuwertje ging, das hatte vorhin noch wie sonst in seinem Käfig gehockt und am Möhrenkraut geknabbert. Und der Tierarzt klang ernst. Er kam oft zu uns, um über die Kühe zu reden. Zu uns kamen nur wenige Leute, die nicht wegen der Kühe kamen, aber diesmal stimmte das nicht, er hatte die Rinder noch kein einziges Mal erwähnt, auch nicht, wenn er uns – die Kinder – eigentlich meinte und fragte, wie es den Kühen gehe. Als er den Kopf senkte, richtete ich meinen Oberkörper auf, um durch das kleine Fenster über der Badewanne zu schauen. Es wurde bereits dämmrig, eine Gruppe schwarz gekleideter Diakone kam immer näher, bis sie ihre Arme um uns legen würden; sie kamen höchstpersönlich jeden Tag, um den Abend zu bringen. Ich sagte mir, dass Matthies die Zeit vergessen hatte, das kam öfter mal vor, und deshalb hatte er von Vater eine Armbanduhr mit Leuchtziffern bekommen, die er jetzt bestimmt aus Versehen verkehrt herum trug, oder er verteilte noch immer die Weihnachtskarten. Ich ließ mich ins Badewasser zurücksinken und stützte das Kinn auf meine feuchten Arme, schielte zwischen den Wimpern hindurch zu Mutter. Seit kurzem hatten wir in der Haustür einen Zugluftstopper an der Briefklappe, damit wir nicht ständig den Wind im Haus spürten, ich spähte manchmal durch die Härchen nach draußen, und weil ich jetzt durch meine Wimpern schaute, kam es mir vor, als würden meine Mutter und der Tierarzt nicht merken, dass ich zuhörte, dass ich in Gedanken die Falten um Mutters Mund und Augen ausradieren konnte, weil sie da nicht hingehörten, und dass ich mit meinen Daumen wieder Soßenmulden in ihre Wangen drücken konnte. Mutter war keine große Nickerin, dafür hatte sie zu viel zu sagen, jetzt aber nickte sie nur, und zum ersten Mal dachte ich: Sag bitte was, Mutter, selbst wenn es übers Aufräumen geht, über die Kälber, die wieder Durchfall haben, über die Wettervorhersage für die nächsten Tage, die klemmenden Schlafzimmertüren, unsere Undankbarkeit, getrocknete Zahnpasta in unseren Mundwinkeln. Sie schwieg und starrte auf den Waschlappen in ihrer Hand. Der Tierarzt zog sich den Hocker unter dem Waschbecken heran und setzte sich. Er knackte unter seinem Gewicht.

»Bauer Evertsen hat ihn aus dem See gefischt.« Er machte eine kurze Pause, sah von Obbe zu mir und fuhr dann fort: »Euer Bruder ist tot.« Ich schaute von ihm weg zu den Handtüchern, die steifgefroren am Haken neben dem Waschbecken hingen, ich wollte, der Tierarzt würde aufstehen und sagen, dass alles ein Irrtum sei. Dass Kühe sich nicht sehr von Söhnen unterschieden, auch sie zogen eines Tages in die weite Welt hinaus, kehrten aber vor Sonnenuntergang und vor der Fütterung wieder in die Ställe zurück.

»Er läuft Schlittschuh«, sagte Mutter, »und kommt bald zurück.«

Sie drückte den Waschlappen über dem Badewasser zu einem Klumpen zusammen, um die Tropfen bildeten sich Kreise, sie stieß gegen meine angezogenen Knie. Um mir eine Haltung zu geben, setzte ich ein Legoboot auf die Wellen, die meine Schwester Hanna machte. Sie hatte nicht verstanden, was gerade gesagt worden war, und ich überlegte mir, dass ich auch so tun könnte, als wären meine Ohren zugeknotet, mit einem Knoten, den man nicht mehr aufbekam. Das Badewasser war nur noch lauwarm, und ehe ich merkte, was da passierte, pinkelte ich hinein. Ich sah meinem Urin zu, der ockergelb war und zerfloss und sich mit dem Wasser vermischte. Hanna merkte es nicht, sonst wäre sie sofort kreischend aufgesprungen und hätte »du Ferkel« gerufen. Sie hielt eine Barbie in der Hand, über dem Wasser. »Sonst ertrinkt sie«, sagte sie. Die Puppe trug einen gestreiften Badeanzug, ich hatte einmal meinen Finger darunter geschoben, um die Plastiktitten anzufassen, niemand hatte es gesehen. Sie fühlte sich spröder an als der Fettknubbel an Vaters Kinn. Ich schaute auf Hannas nackten Körper, der der gleiche war wie meiner. Nur der von Obbe war anders. Er stand neben der Wanne, noch angezogen, er hatte gerade von einem Computerspiel erzählt, bei dem er auf Menschen schießen musste, die wie Fleischtomaten zerplatzten, und würde nach uns ins selbe Badewasser steigen. Unten, das wusste ich, saß bei ihm ein kleiner Hahn, durch den er pinkeln konnte, und darunter war etwas Schwabbeliges wie bei einem Truthahn. Manchmal machte ich mir Sorgen darüber, dass er dort etwas hängen hatte, über das keiner sprach. Vielleicht war er ja todkrank. Mutter nannte es Pimmelchen, aber vielleicht hieß es eigentlich Krebs, und sie wollte uns keine Angst machen, weil die nicht so fromme Oma an Krebs gestorben war. Sie hatte sich, gerade bevor sie starb, einen Eierlikör eingegossen, bei dem, wie Vater sagte, die Sahne sauer geworden war, als sie Oma fanden, dass alles sauer wurde, wenn jemand starb, plötzlich oder vorhergesehen, und noch wochenlang hatte ich nicht einschlafen können, weil ich im Dunkeln immer Omas Gesicht im Sarg vor mir sah, aus dem allmählich, aus dem halb geöffneten Mund, aus den Augenhöhlen und Poren Eierlikör, dünn wie Eigelb, tropfte.

Mutter zog mich und Hanna an den Oberarmen aus der Wanne, ihre Finger hinterließen weiße Flecken auf meiner Haut. Normalerweise würde sie ein Handtuch um uns wickeln und zum Schluss fragen, ob wir ganz trocken wären, so dass wir nicht rosteten oder, schlimmer noch, anfingen zu schimmeln wie die Fugen zwischen den Badezimmerfliesen, doch diesmal ließ sie uns zähneklappernd auf der Badematte stehen, noch mit Seifenresten unter den Achseln.

»Gut abtrocknen«, flüsterte ich meiner zitternden Schwester neben mir zu, während ich ihr ein bretthartes Handtuch reichte, »sonst müssen wir dich bald entkalken.« Ich bückte mich, um meine Zehen zu kontrollieren, dort würde der Schimmel als Erstes auftreten, und so konnte niemand sehen, dass meine Wangen feuerrot wurden, wie zwei heiße Fireballs. Wenn du ein Kaninchen und einen Jungen um die Wette laufen lässt, wie viele Stundenkilometer fehlen dem einen, um Sieger zu werden?, hörte ich den Lehrer in meinem Kopf sagen, während er mir mit dem Zeigestock in den Magen bohrte, mich zu einer Antwort zwang. Nach den Zehen kontrollierte ich flüchtig meine Fingerspitzen – Vater sagte manchmal im Scherz, dass sich unsere Haut lösen würde, wenn wir zu lange in der Badewanne blieben, und dass er sie dann an die Holzwand des Schuppens nageln würde, neben die der abgezogenen Kaninchen. Als ich mich wieder aufrichtete und das Handtuch um mich schlang, stand Vater plötzlich neben dem Tierarzt. Er zitterte, und auf den Schultern seines Overalls lagen Schneeflocken, sein Gesicht war leichenblass. Immer wieder hauchte er in seine hohlen Hände. Ich dachte an die Lawine, von der der Lehrer erzählt hatte, aber die gab es bestimmt nie auf dem flachen Land. Ich wusste erst, dass es keine Lawine sein konnte, als Vater zu heulen begann und Obbe seinen Kopf wie ein Scheibenwischer von links nach rechts bewegte, um die Tränen wegzukriegen.

Auf Mutters Bitte hin schmückte unsere Nachbarin Lien noch am selben Abend den Weihnachtsbaum ab. Vom Sofa aus, auf dem Obbe und ich saßen – ich versteckte mich hinter den frohen Gesichtern von Bert und Ernie, die vorn auf meinem Schlafanzugoberteil waren, obwohl meine Ängste einen Kopf größer waren und über ihre Scheitel ragten, und hielt die Finger an beiden Händen gekreuzt, wie wir es auf dem Schulhof machten, wenn man etwas gesagt hatte, was man so nicht meinte, wenn man seine Versprechen, seine Gebete ungesagt machen wollte –, sahen wir mit Bedauern zu, wie der Weihnachtsbaum aus dem Zimmer getragen wurde und eine Spur von Glitzer und Tannennadeln hinterließ. Erst da spürte ich einen kurzen Stich in der Brust, noch stärker als bei der Nachricht des Tierarztes: Matthies würde bestimmt wiederkommen, aber der Baum nicht. Zum Lied »Jimmy« von Boudewijn de Groot – wir konnten den Text fehlerfrei mitsingen und freuten uns auf die Zeilen über das Brett vor dem Kopp des Geschäftsmanns, weil wir »Kopp« nie sagen durften – hatten wir den Baum vor ein paar Tagen schmücken dürfen, mit kleinen, dicken Weihnachtsmännern, schimmernden Weihnachtskugeln, Engelchen und Perlenketten, Schokokringeln. Jetzt sahen wir durch das Wohnzimmerfenster, wie Lien den Baum auf einer Schubkarre, bedeckt mit einer orangeroten Plane, an den Straßenrand stellte. Nur die silberne Spitze ragte heraus, die hatten sie vergessen herunterzunehmen. Ich sagte nichts: Was hatten wir von einer Spitze, wenn wir keinen Baum mehr hatten? Nachbarin Lien zog die orangefarbene Plane ein paarmal hin und her, als würde das etwas an unserer Aussicht ändern, an unserer Situation. Matthies hatte mich neulich erst in dieser Schubkarre herumgefahren, mit beiden Händen musste ich mich an den Rändern festhalten, die von einer dünnen Schicht getrocknetem Mist überzogen waren. Da war mir aufgefallen, dass sein Rücken von der harten Arbeit krummer geworden war, als wäre er schon im Begriff, sich in Richtung Erde zu schuften. Mein Bruder war auf einmal schneller gerannt, wodurch ich bei jedem Hubbel ein Stück weit hochfederte. Es hätte umgekehrt sein müssen, überlegte ich jetzt. Ich hätte Matthies an jenem Tag über das Grundstück fahren müssen, während ich Motorgeräusche machte, auch wenn er viel zu schwer gewesen wäre, um ihn danach an den Straßenrand zu stellen, ihn mit der orangeroten Plane zuzudecken wie die toten Kälber, so dass er abgeholt wurde und wir ihn vergessen konnten. Am nächsten Tag würde er dann neu geboren werden, und es gäbe nichts, was diesen Abend von allen anderen unterschied.

»Die Engelchen sind nackt«, flüsterte ich Obbe zu.

Sie lagen vor uns auf dem Büfett neben den Schokoladesternen, die in ihren Hüllen geschmolzen waren. Diesmal hatten die Engel keine Trompete und keinen Mistelzweig vor ihren Pimmeln. Vater musste auch übersehen haben, dass sie keine Kleider anhatten, sonst hätte er sie bestimmt ins Silberpapier zurückgelegt. So hatte ich einmal die Flügel eines Engels abgebrochen, um zu schauen, ob sie von allein wieder anwuchsen, Gott würde bestimmt dafür sorgen können. Ich wollte ein Zeichen, dass es Ihn gab und dass Er auch tagsüber für uns da war. Das erschien mir praktisch, denn dann konnte Er alles im Auge behalten, auf Hanna aufpassen und die Kühe vor Milchkrankheit oder Euterentzündungen bewahren. Als nichts passierte und die weiße Bruchstelle einfach weiter sichtbar blieb, begrub ich den Engel im Gemüsegarten zwischen ein paar vergessenen roten Zwiebeln.

»Engel sind immer nackt«, gab Obbe flüsternd zurück. Er war noch immer nicht in der Wanne gewesen und hatte sich ein Handtuch um den Hals gelegt, das er an den Enden festhielt, als wäre er bereit zum Kampf. Das Badewasser mit meinem Pipi musste inzwischen eiskalt sein.

»Erkälten sie sich denn nicht?«

»Es sind Kaltblüter wie Schlangen und Wasserflöhe und brauchen deshalb keine Kleider.«

Ich nickte und legte sicherheitshalber doch schnell die Hand auf den Porzellanpimmel eines der Engel, als Lien wieder ins Haus kam, ich hörte, wie sie sich in der Diele extra lang die Füße abtrat. Von jetzt an würde sich jeder Besucher die Füße länger abtreten, als nötig war. Der Tod erforderte in erster Linie eine Verlagerung, das Hinauszögern des Schmerzes. Die Beschäftigung mit kleinen Dingen, so wie Mutter zum Beispiel ihre Fingernägel auf getrocknetes Lab vom Käsemachen hin kontrollierte. Eine Sekunde lang hoffte ich, Lien hätte Matthies bei sich. Dass er sich in dem hohlen Baum hinten auf der Wiese versteckt hatte und jetzt genug davon hatte und wieder herausgekommen war: Mittlerweile fror es draußen. Die Waken würden jetzt bestimmt wieder zufrieren, mein Bruder würde unter dem Eis keinen Ausweg finden und den gesamten See ganz allein absuchen müssen, und das im Stockdunkeln, sogar der Bauscheinwerfer des Schlittschuhvereins würde erlöschen. Als Lien fertig war mit Füßeabtreten, sprach sie mit Mutter, so leise, dass ich nichts hören konnte. Ich sah nur, dass sich ihre Lippen bewegten und dass Mutters Lippen fest aufeinanderblieben, wie zwei sich paarende Nacktschnecken. Ich ließ meine Hand von dem Engelspimmel gleiten, weil jetzt ja doch niemand darauf achtete, und sah Mutter in die Küche gehen, wobei sie sich wieder eine Haarnadel in ihren Dutt schob. Immer mehr Nadeln kamen hinzu, als versuchte sie, ihren Kopf festzustecken, damit er nicht plötzlich aufklappte und alles zeigte, was in ihm vor sich ging. Sie kam mit den gefüllten Schokokringeln zurück. Wir hatten sie zusammen auf dem Markt bei Het Stoepje gekauft, ich konnte es kaum erwarten, den krossen Inhalt zu kosten, die Zuckerstreusel krachen zu hören, aber Mutter gab sie Lien, ebenso wie die Reistorte im Kühlschrank und den Rollbraten, den Vater beim Schlachter geholt hatte, sogar die Spule mit achtzig Meter rotweißem Küchengarn. Wir hätten das Garn um unsere Körper binden können, so dass wir nicht in Scheiben auseinanderfielen. Später dachte ich manchmal, dass hier die Leere begann: dass nicht der Tod schuld war, sondern die beiden Weihnachtstage, die in Töpfen und leeren Husarensalatschachteln weggegeben wurden.

4

Im Vorderzimmer stand der Sarg mit meinem Bruder, aus Eichenholz, mit einem Guckfenster in Höhe des Gesichts und mit Metallgriffen, seit drei Tagen stand er jetzt da. Hanna hatte am ersten Tag mit den Fingerknöcheln gegen die Scheibe geklopft und mit kleinem Stimmchen gesagt: »Jetzt find ich’s nicht mehr lustig, lass den Quatsch, Matthies.« Sie hielt kurz inne, als fürchtete sie, dass er flüsterte und sie ihn nicht verstehen würde, wenn sie nicht für einen Moment stillhielt. Als keine Antwort kam, spielte sie wieder mit ihren Puppen hinter dem Sofa, ihr dünner, kleiner Körper zitterte wie eine Libelle, ich hätte sie zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten und warmpusten mögen. Aber ich konnte ihr nicht sagen, dass Matthies ewig schlafen würde, dass wir von nun an nur in unseren Herzen, in denen unser Bruder aufgebahrt war, ein Guckfenster haben würden, und außer der nicht ganz so frommen Oma kannten wir niemanden, der ewig schlief, mit der Zeit standen wir alle wieder auf, »so der Herr will, dass wir leben«, sagte die fromme Oma oft dazu, sie litt beim Wachwerden unter steifen Knien und schlechtem Atem, »als hätte ich einen toten Spatz verschluckt«. Sowohl das Vögelchen als auch mein Bruder würde nie wieder erwachen.

Der Sarg stand auf dem mit einer weißen Häkeldecke verhüllten Büfett, auf dem an Geburtstagen Käsestangen zu finden waren, Nüsse, Gläser mit Bowle, und wie bei Festen standen jetzt auch die ganze Zeit Leute im Kreis darum herum, die Nasen in Taschentüchern vergraben oder an anderer Leute Hals. Sie sagten schöne Dinge über meinen Bruder, obwohl der Tod hässlich war und so zäh wie eine verloren gegangene Knabbernuss, die wir Tage nach einem Geburtstag irgendwo hinter einem Stuhl fanden oder unter dem Fernsehschrank. Matthies’ Gesicht sah im Sarg auf einmal aus wie aus Bienenwachs, so glatt und straff war es, unter die Lider hatten die Schwestern kleine Stückchen Seidenpapier gelegt, damit sie geschlossen blieben, obwohl ich sie lieber offen gehabt hätte, damit wir uns noch einmal ansehen konnten, damit ich die Farbe seiner Augen auf keinen Fall vergaß, damit auch er mich nicht vergessen konnte. Als der zweite Schub Leute fort war, versuchte ich, seine Lider durch Darüberstreichen zu öffnen, und für einen Moment musste ich an die Weihnachtskrippe denken, die ich in der Schule aus buntem Seidenpapier gebastelt hatte, wie Bleiglasfenster, und darauf die Figuren von Maria und Josef, hinter der beim Weihnachtsfrühstück ein Teelicht brannte, so dass das Seidenpapier leuchtete und Jesus im erhellten Stall geboren werden konnte. Doch die Augen meines Bruders waren grau und stumpf, ohne Bleiglasmuster, ich ließ seine Lider schnell wieder fallen und schob das Guckfenster zu. Man hatte versucht, seine Gellocken nachzumachen, aber sie hingen wie welke, braun gewordene Schoten auf seiner Stirn. Mutter und Oma hatten Matthies eine Jeans angezogen und seinen Lieblingspulli, den blaugrünen mit den Großbuchstaben HEROES auf der Brust. Die meisten Helden, die ich aus Büchern kannte, konnten von hohen Gebäuden fallen oder in ein Flammenmeer geraten und trugen nichts als ein paar kleine Schrammen davon. Warum das bei Matthies nicht auch so sein konnte und er von jetzt an höchstens noch in unseren Gedanken unsterblich sein würde, verstand ich nicht. Wir durften nicht vergessen, dass er einmal sogar in letzter Sekunde einen Reiher vor dem Mähdrescher gerettet hatte, das Tier wäre sonst geschreddert in einem Heuballen gelandet und an die Kühe verfüttert worden.

Von meinem Platz hinter der Tür aus, wo ich mich versteckt hatte, hörte ich, wie Oma beim Ankleiden meines Bruders sagte: »Man muss immer ins Dunkle schwimmen, das wusstest du doch.« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es einem gelingen könnte, ins Dunkle zu schwimmen. Es ging um die Farbunterschiede. Bei Schnee auf dem Eis musste man nach dem Licht suchen, aber wenn kein Schnee lag, dann war das Eis heller als die Wake und man musste ins Dunkle schwimmen. Matthies hatte mir das selbst noch erzählt, als er vor dem Schlittschuhlaufen in meinem Zimmer stand und mir in Wollsocken zeigte, wie man die Füße abwechselnd aufeinander zu und voneinander weg bewegt. »Fische laufen«, nannte er das. Ich hatte vom Bett aus zugeschaut und mit der Zunge am Gaumen geklackt, so dass es sich wie die Eisschnelllaufschuhe im Fernsehen anhörte, wir liebten dieses Geräusch. Meine Zunge lag jetzt allerdings immer trügerischer wie eine Fahrrinne in meinem Mund. Ich traute mich nicht mehr, ein Klackgeräusch zu machen.

Oma kam mit einer Flasche Zwitsal-Seife in der Hand aus dem Vorderzimmer – vielleicht hatten sie deshalb Seidenpapier unter seine Augenlider gelegt, damit keine Seife hineingeraten und beißen konnte. Wenn sie ihn hergerichtet hatten, würden sie die bestimmt auch wieder wegnehmen, genauso wie das Teelicht in meiner Weihnachtskrippe auch ausgepustet wurde, weil Maria und Josef ihr Leben weiterleben mussten. Für einen Moment zog Oma mich an ihre Brust, sie roch nach Biestmilchpfannkuchen mit Speck und Sirup: Davon stand noch ein großer Stapel auf der Arbeitsplatte in der Küche, übrig geblieben vom Mittagessen, triefend von Fett, mit knusprig gebackenen Rändern. Vater hatte gefragt, wer das Gesicht aus Brombeermarmelade, Rosinen und Apfel auf seinen Pfannkuchen gemacht hatte, und hatte uns alle kurz angeschaut, bei Oma blieb sein Blick hängen, die ihn so fröhlich anlächelte wie ihr Pfannkuchen.

»Der arme Junge liegt schön da«, sagte sie.

In ihrem Gesicht zeigten sich immer mehr braune Flecken, wie bei den Äpfeln, die sie in Scheiben geschnitten und als Mund auf den Pfannkuchen platziert hatte. Alter macht einen mit der Zeit faulig.

»Können wir ihm nicht einen aufgerollten Pfannkuchen hinlegen? Das ist Matthies’ Lieblingsgericht.«

»Stinkt irgendwann. Willst du Würmer anlocken?«

Ich nahm meinen Kopf von ihrer Brust und schaute zu den Engeln, die auf der zweiten Treppenstufe in ihrer Schachtel lagen, um wieder auf den Spitzboden zu wandern. Ich hatte sie einen nach dem anderen ins Silberpapier zurücklegen dürfen, die Gesichter nach unten. Noch immer hatte ich nicht geweint, ich versuchte es zwar, aber es gelang mir nicht, nicht einmal, als ich mir vorzustellen versuchte, wie genau Matthies durch die Wake eingesunken war. Wie er mit den Händen das Eis nach der Öffnung abgetastet hatte, auf der Suche nach dem Licht oder dem Dunkel, Kleider und Schlittschuhe schwer vom Wasser. Kurz hielt ich den Atem an, ich schaffte es noch nicht mal eine halbe Minute.

»Nein«, sagte ich, »ich hasse diese labbrigen Würmer.«

Oma lächelte mir zu. Ich wollte, dass sie mit diesem Lächeln aufhörte, dass Vater mit einer Gabel über ihr Gesicht fuhr und alles durcheinandermatschte, wie er es bei seinem Pfannkuchen getan hatte. Erst als sie allein im Vorderzimmer war, hörte ich sie gedämpft schluchzen.