Mein kleines Prachttier - Marieke Lucas Rijneveld - E-Book

Mein kleines Prachttier E-Book

Marieke Lucas Rijneveld

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte eines Mannes und eines jungen Mädchens, die Geschichte einer fatalen Liebe von animalischer Wucht und moralischer Zweifelhaftigkeit.

Ein langer, heißer Sommer in einem abgelegenen, strenggläubig calvinistischen Dorf. Auf dem Hof eines Milchbauern nähert sich der Tierarzt der vierzehnjährigen Tochter an. Das Mädchen, auf der verzweifelten Suche nach Geborgenheit, verwechselt Begehren mit väterlicher Zuneigung. Der Sommer schreitet voran und die beiden entwickeln eine immer gefährlichere Faszination füreinander …

In der Begründung der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, den die Übersetzerin Helga van Beuningen 2022 erhalten hat, heißt es: »Wie mit absolutem Gehör begabt, lässt Helga van Beuningen die sprachlichen Register musikalisch ineinandergreifen, die für die beklemmende Attraktion von Marieke Lucas Rijnevelds Roman Mein kleines Prachttier sorgen. Ein deutsch-niederländisches Virtuos:innenstück.«

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Seitenzahl: 472

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Titel

Marieke Lucas Rijneveld

Mein kleines Prachttier

Roman

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Mijn lieve gunsteling bei Atlas Contact, Amsterdam.Diese Publikation wurde ermöglicht dank der Förderung durch die Dutch Foundation for Literature.Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2021© 2020 by Marieke Lucas RijneveldAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildung: NirutiStock/iStock by Getty Images

Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

eISBN 978-3-518-76966-9

www.suhrkamp.de

Für dich

Widmung

Dieses Buch ist Fiktion. Alle Namen, Personen, Orte und Geschehnisse sind der Fantasie der Autorin entsprungen oder sind fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen, ob lebend oder tot, mit Ereignissen oder Hintergründen ist rein zufällig.

Motto

So erkenne mich denn,wisse, wer ich bin,und tu es!

Psalm 139

Mein kleines Prachttier

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Sommer 2005

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Dank

Nachweise

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Sommer 2005

1

Mein Augenstern, ich sag es dir besser gleich: Ich hätte dich in jenem verbohrten Hochsommer wie ein Geschwür mit dem Hufmesser aus der Klauenlederhaut schneiden müssen, ich hätte Raum beim Zwischenklauenspalt schaffen müssen, damit Mist und Dreck herausfallen und niemand dich infizieren kann, vielleicht hätte ich dich mit dem Winkelschleifer nur etwas abtragen und nachfeilen müssen, mit etwas Sägemehl säubern und trocken reiben. Wie um Himmels willen konnte ich bloß die Warnung vergessen, die ich während meiner Tierarztausbildung zum Thema Klauenbeschneiden und Erkrankungen des Kronrands, Klauenseuche, Mortellaro-Krankheit, auch Stinkfuß genannt, zu hören bekam, wie einem bis zum Gehtnichtmehr eingebläut wurde, man müsse aufpassen, dass man nicht ins Leben schneidet, verletze nie das Leben, hieß es ständig, aber ach, meine Schwäche, meine Lahmheit! Du lagst in jenem störrischen Sommer wie ein Kalb in Steißlage im Kreißsaal meines vergifteten Verlangens, ich war der Handlanger des Wahnsinns, wusste nicht, wie ich dich nicht hätte wollen können, dich, die himmlische Auserkorene, und je öfter ich zwischen den dampfenden Leibern der Blaarkoppen hockte und deine zwingende Anwesenheit unweit von mir im Gras spürte, das frisch gemäht war und umrahmt von Gänsekresse, wo du unter dem Birnbaum stundenlang über den Hals deiner schneeweißen Gitarre gebeugt ein Stück von den Cranberries übtest, umso inständiger hoffte ich auf eine Labmagenverlagerung oder die Entfernung einer Gewebewucherung, damit ich länger in deiner Nähe bleiben und hören könnte, wie du wieder von vorn anfingst, wenn du eine falsche Saite angeschlagen oder mit deiner perlenden, engelsgleichen Stimme nach einer hohen Note gestrebt hattest, und dann warst du einen Moment lang still, und ich stellte mir vor, wie du dir mit roten Wangen eine Locke aus dem Gesicht pustest, eine Locke, die immer wieder zurückfiel, und ach, du hast so schön gepustet, wie ein Kind auf eine verwelkte Löwenzahnblüte, du hast von Panzern, Bomben, Gewehren, von Krieg gesungen, und bei allem, was ich tat, dachte ich an dich, ja, ich dachte an dich, wenn ich einen bis zur Schulter reichenden durchsichtig-orangen Handschuh anzog, ihn mit Veterinärgleitmittel besprenkelte, mit VetGel, und bei einer Doppelzweckkuh in die Scheide glitt, oder wenn ich meine Hand um die Beine eines glitschigen, noch in den Fruchthüllen steckenden Kalbes legte, im Rhythmus der Wehen sanft daran zog und mit der anderen Hand beruhigend über die feuchte Flanke der Mutterkuh rieb, wenn ich leise mit ihr sprach und manchmal ein paar Beckett-Sätze hersagte, die ich hier nicht wiederholen werde, keiner ist dafür empfänglich außer dir und den Blaarkoppen, und jedes Mal verlangte ich heftiger danach, dass du um mich herumschlendern mögest, wenn ich meinen grünen Tierarztkittel anzog, die Knöpfe zudrückte und mich an die Arbeit machte, dann hoffte ich, du würdest mir so zulächeln, wie du es bei den drahtigen Knechten so entzückend tatst, die sich während der Mittagspause am Küchentisch hinter ihrer Mauer aus aufgestapelten, dick mit Butter und Jagdwurst belegten Stullen versteckten, aber sie trauten sich nicht an dich heran, du warst die Art von Tier, für das sie nicht ausgebildet waren, du hattest keine vier Mägen, sondern nur einen, der unersättlich war, und ich kannte dich schon von klein auf, ich kannte dich durch und durch, auch wenn du zu jung warst, um von mir begehrt zu werden, und gleichzeitig zu beschwingt und ungeduldig für noch mehr Betütteltwerden und Väterlichkeit, und an deiner Haltung erkannte ich, dass du dich aus der elterlichen Gewalt lösen wolltest, von dem Bauernhof, auf dem du aufwuchst und der den Namen De Hulst trug, benannt nach W.G. van de Hulst, dem einzigen Schriftsteller, den dein Pa kannte und dessen gesamtes Werk er verschlungen und dir an guten Tagen vorgelesen hatte, woraufhin du träumtest, du wärst ein Zuckerbrötchen, dass jeder Appetit auf dich bekäme und von dir abbeißen wolle, dass du deinen zuckersüßen Körper fortwährend gegen den König beschützen müsstest, gegen die Süßmäuler, gegen Ameisen, und vielleicht hätte ich diesen Traum ernst nehmen müssen, überlege ich mir jetzt, da ich dies schreibe, obwohl ich nie vorhatte, es aufzuschreiben, ich achtete vor allem auf deine Haltung anstatt auf den Traum, darauf, wie du im Begriff warst, dich zu lösen, nicht nur vom Bauernhof, sondern auch von den Ställen, Asbest steckte in den Dächern, die dein Pa zu sanieren sich weigerte, denn Gott entschied, ob man Krebs bekam oder nicht, das lag nicht an ein paar alten Wellblechplatten, und auch von Ihm warst du im Begriff dich zu befreien, du wolltest Gott entkommen und hattest gleichzeitig Angst vor Seinem Zorn, vor Seinem Letzten Gericht, und du flüstertest manchmal im Bett aus Gesang einhundertachtzehn: O, erlöse mich von meinem bangen Schmerz. Doch am allerliebsten wolltest du dich von deinem Pa befreien, der sanft, aber doch sehr streng war, der Launen und Macken hatte, von dem du dich abwenden und den du trotzdem weiter hätscheln wolltest, genauso wie Bullebak, den widerspenstigen Stier, du konntest ihn nur streicheln, wenn er gerade gefressen oder nachdem er eine Kuh besprungen hatte, und ihr lieht ihn manchmal an andere Bauern aus, für jedes Mal gab es Deckgeld, das in ein Marmeladenglas auf dem Kaminsims in der Küche kam, und von dem Geld fuhrt ihr in Urlaub, ja, Bullebak sprang eure Ferien in Zeeland zusammen, und bei allem, was ihr dort von eurem Pa bekamt, angefangen bei Sandwichspread bis hin zu Donald-Duck-Heften, sagte er: Bedankt euch bei Bullebak. Und ich hörte dein Sich-Lösen vor allem an dem mürrischen und trotzigen Ton in deiner Stimme, wenn dein Pa den Reißverschluss an deinem Overall zuziehen wollte, nicht aus Vorsorge gegen den frischen Morgennebel, sondern um dich schnell noch mal berühren zu dürfen, sein Kind, das seinen rauen Händen voller Furchen und Schwielen immer mehr entwuchs, und dann blickte ich rasch auf meine eigenen Hände, die groß und stark genug waren, deine fest zu umschließen, ich hatte früher schon Kinderhände gehalten, obwohl das anders war, die hielten mich fest, und jetzt wollte ich dich halten, meine Finger mit deinen verflechten, deinem Mittelfinger, an dem ein Plastikring mit einem Marienkäfer steckte, den du von dem Kieferorthopäden bekommen hattest, als du erfuhrst, dass du eine Außenspange brauchtest, und, schwer getroffen von dieser grässlichen Nachricht, dir ein Geschenk aus der Schreckschachtel aussuchen durftest und dich für den etwas zu weiten Ring entschiedst; ich würde mit meinem Daumen noch stundenlang über deine Handfläche kreisen, wie ein Wiederkäuer mit Drehkrankheit. Und ich hörte während der Kaffeepause nur mit halbem Ohr den Geschichten deines Pas zu, der eine Kombination aus dem jungen Mick Jagger und Rutger Hauer war, wenn er voller Leidenschaft über sein Vieh sprach, über die Trockenheit der Äcker und am Deich, dass es eine dürftige Ernte würde, wenn die Doldenblütler zu schlaff waren, um für eine Vase auf dem Tisch gepflückt zu werden, ich nickte halbherzig, nirgendwo hier auf dem Bauernhof war eine Blumenvase zu entdecken, und wer keine Grünpflanzen oder Blumen ins Haus brachte, litt öfter unter trostlosen Erntegedanken, sogar wenn es eine gute und fruchtbare Saison war, und ich nickte wieder, als er erzählte, dass Kühe eintöniges Futter lieben, dass es Gewohnheitstiere sind, genau wie er selbst, und dass er ihnen manchmal klassische Musik vorspielte, Chopin oder Vivaldi, und dass die Milch dann abends sahniger schmeckte, ich verzog mein Gesicht im richtigen Moment zu einem Lächeln, aber am liebsten hätte ich nur alles über dich erfahren, ich wollte über dich sprechen, wie wir über die Rinder sprachen, ihre Stierigkeit und ihre Launenhaftigkeit, und ich schaute zum Rasenplatz, wo du mit deinem Bruder Trampolin sprangst, wo ihr spieltet, wer als Erster den Himmel berühren kann, wer als Erster Christus kitzeln kann, du wolltest Ihn zu Tode kitzeln, und später würdest du erzählen, dass sie früher bei den Römern den Kitzeltod einsetzten, um jemanden zu foltern, dass sie den Betreffenden festbanden und eine Ziege ausgiebig an den Fußsohlen lecken ließen, und während du auf dem Trampolin sprangst, immer höher und höher, tanzten und leuchteten deine blonden Haare wie Getreidehalme um dein zartes Gesicht, ich sah, wie schnell du des Spiels überdrüssig wurdest und dann über die schimmernden Salatköpfe im Gemüsegarten und die Porreepflanzen in die Ferne starrtest, hungrig nach einem Leben, das hinter The Village für dich bereitlag, du wolltest weg von hier, wie die meisten Mädchen und Jungen in deinem Alter irgendwann von zu Hause wegwollten, einige wurden Soldaten und gingen in die Armee, um später wieder mit Heimweh nach der Tarnfarbe von The Village hierher zurückzukehren, aber du warst dir sicher, dass du nie unter Melancholie leiden würdest, alles, was du besaßt, befand sich in deinem Kopf, und ich konnte damals noch nicht wissen, dass es dir an einem Zuhause mangelte, auch wenn du euren Hof De Hulst bis in die letzte Holzfaser liebtest, und allein schon die Vorstellung, dass du von hier fortgehen würdest, dass du über den Prikkebeensedijk davonradeln würdest, in Schlangenlinien die losen Pflastersteine umfahrend, und dass du deinen Pa im Stich lassen würdest, allein schon diese Vorstellung bewirkte, dass du dich seufzend umdrehtest, um das Spiel auf dem Trampolin fortzusetzen, ja, du warst schlecht im Abschiednehmen, so bad, würdest du später sagen, und das hatte ich ziemlich schnell raus, als ich sah, wie du samstags morgens mit einem Flunsch herumstandst, wenn die Jungstiere zum Schlachten abgeholt wurden, dann hast du sie die ganze Zeit geknuddelt und hinter den Ohren gekrabbelt und ihnen unverständliche Worte zugeflüstert, erst da sah ich, wie sehr du den Verlust mit dir herumschlepptest, ich wollte ihn am liebsten mit Entzündungshemmern ausmerzen oder, noch besser, die Lücke selbst füllen, obwohl wir nie etwas zueinander sagten, auch wenn du in jenen Jahren, in denen ich auf den Hof kam, mehrmals zusahst, wie ich eine Kuh besamte oder untersuchte, dann brachtest du einen Eimer warmes Wasser und ein Stück grüner Seife auf einem Schälchen, damit ich mir die blut- und dungverschmierten Hände waschen konnte, und reichtest mir ein altes kariertes Geschirrtuch, aber es kam kein Wort über deine schön geformten Lippen, die ich am liebsten befühlt hätte, wie ich es bei Tieren mit Blauzungenkrankheit tat, du littst nicht an der Blauzungenkrankheit, du warst kerngesund und ganz bezaubernd, und ich wusste schon damals, dass ich der erste Mann in deinem Leben werden würde, der dich sah, wie du gern gesehen werden wolltest, als vierzehnjährige Erwachsene, alle Vierzehnjährigen sehnen sich danach, für älter gehalten zu werden, als sie sind, du aber wolltest es nicht nur, du benahmst dich auch so, und trotzdem sah ich unter den anmutigen und fast erwachsenen Bewegungen noch die Kindlichkeit verborgen, und dann liebte ich dich am meisten, so sehr, dass mir manchmal schlagartig schwindlig wurde, als hätte ich mich zu lange in Penicillinschwaden aufgehalten, diese Kindlichkeit fiel am stärksten auf, wenn du über den Hof geflattert bist und Selbstgespräche geführt hast, wenn du wie ein kleines Mädchen gekreischt hast, weil dein Pa dich und deinen Bruder an sonnigen Tagen mit dem Wasserschlauch bespritzte, oder wenn du mit deinen Freundinnen gickelnd vorbeigingst, die gebräunten Beine in zu großen Langschäftern, und ihr so tatet, als stünde euch die Welt offen, so wie die Wespen sich an den aufgeplatzten Birnen unter dem Baum am saftigen Fruchtfleisch gütlich tun, ihr wart diese Wespen, ihr wart stark und unverwüstlich, aber ich sah auch, wie du mit der Zwielichtzone zwischen Mädchen und Frau rangst, damit, zu jemandem zu werden, der vielleicht niemals im Vordergrund glänzen würde, mit dem Verlust, der dir wie ein Nebelschleier um die schmalen Schultern hing, und ich beobachtete dich, wie du ganz allein zwischen dem hohen Gras und dem Raps über den Deich hinter dem Hof schlendertest, wenn die Jungstiere fort waren und die Iglus still und verlassen dastanden, die du später, im Regenanzug, mit dem Hochdruckreiniger Millimeter für Millimeter sauberspritzen würdest, womit du die Existenz der kleinen Stiere aus deinem Kopf zu löschen glaubtest, und dann war ich mir sicher, dass du dort am Deich weintest, das wusste ich einfach, und zu Beginn der Sommerferien begann ich dich erst richtig zu beobachten, als du, um präzise zu sein, vierzehn Jahre, zwei Monate und siebzehn Tage alt warst und auf dem Rücken im Heu lagst, über deinem Kopf ein Buch von Roald Dahl, Danny oder Die Fasanenjagd, und ich eine Mistgabel lange und sorgfältig unter dem Wasserhahn seitlich am Stall abspülte, ich wusste, dass du dich für den Moment sicher fühltest, dass du dich in einer Welt wähntest, in der man dich verstand, in der du auf ewig verweilen wolltest, ich hörte dich von Zeit zu Zeit lachen, und du bliebst dort so lange liegen, dass das Heu plattgedrückt wurde und dein Abdruck noch sichtbar war, als du schon längst wieder weg warst und ich meine Hand auf die getrockneten Grashalme legte, die noch ein wenig nachglühten, ich wünschte mir, dass du dich immer so fühltest, ehrlich wahr, aber alles änderte sich, als du einmal, am siebten Juli, um präzise zu sein, mit mir zu reden begannst, es war am selben Tag, an dem ich zum ersten Mal mit dem Bleistift Striche im Zählerkasten machte, um im Blick zu behalten, wie viele Nächte es noch dauerte, bis ich euch für die wöchentliche Kuhkontrolle wieder besuchen würde, und an jenem bewussten Sommertag, als der Wind vorwiegend aus Südost kam, hatte ich unbefangen ein Lied mitgesummt, das im Milchstall im Radio lief, ich summte nie mit, aber dort überkam mich eine Art Leichtigkeit und Klarheit, und ich hatte herrliches Pech an jenem Tag, wodurch ich länger bei euch bleiben konnte, es gab viele lahmende Kühe, viele Kühe mit Kälberflechte oder mit Kalziummangel, und ich hatte dich nicht mal reinkommen hören, plötzlich hörte ich dich aus dem Nichts heraus sagen, dass das nicht dein Lieblingsstück sei, und du lehntest dich an den Kühltank, Lieblingsstücke wären nämlich selten im Radio zu hören, sagtest du, die müsste man schon selbst im CD

- oder Plattenladen in der Stadt, drüben, am anderen Ufer des Woedeplas, suchen, aber du fändest das Lied trotzdem schön, weil es so dramatisch sei und weil die Sängerin in dem Videoclip das Lied mit ausgelaufener Wimperntusche in einem schwarzen Austin-Taxi an der Station Warwick Avenue singe und du genau wüsstest, dass sie sich in dem Moment nicht so fühlte, wie der Songtext behauptete, dass die Tränen Fake seien, denn die würden ihre Stimme sonst ersticken, aber das Lied gebe dir trotzdem etwas, wodurch du dich weniger allein fühltest, obwohl du noch nie in einem Taxi gesessen hättest, und leicht errötend sagtest du weiter, dass du manchmal so tätest, als würdest du das Stück spielen und singen, vor einem vollen Saal, mit den wichtigsten Menschen, die du kanntest, in der ersten Reihe, sie würden es toll finden, sogar fantastisch, du würdest künstliche Tränen verwenden, um denselben Effekt zu erzielen, auf Kommando könntest du nicht weinen, es klappe aber, wenn du an die Toten dächtest, aber du könntest nicht singen und gleichzeitig an die Toten denken, nein, unmöglich, nur Fahrradfahren und an die Toten denken schafftest du gut, dann würdest du dich mühelos bis in die Gräber strampeln, während dir die Tränen aus den Augen rannen, und danach hattest du dich achtlos umgedreht, als hätte es nichts zu bedeuten, dass du mit mir gesprochen hattest, als sollte ich daran zweifeln, ob du wirklich etwas gesagt hattest und ich es nicht geträumt hatte, und du glittst mit der Hand über den Milchtank, als wäre es ein Blaarkop-Rücken, ich wollte, ich hätte etwas erwidert, wäre an jenem Nachmittag so beherzt gewesen, etwas zu sagen, aber ich verstummte wie die Sängerin im Radio und lächelte deinen Rücken an, hörte nur noch, wie Gerrit Hiemstra sagte, es würde ein widerborstiger Sommer werden, vor allem im Norden des Landes, und das Wort widerborstig sollte erst später bedeutsam werden, als ich mich zu fragen begann, ob in diesem Sommer der Bruch in meinem Leben entstand, ob hier, zwischen den Melkeimern mit dem gelblichen Biestmilchrand, mein wahnsinniges Verlangen, meine wahnsinnige Begierde nach dir erwachten, oder geschah das schon früher, lag der Riss irgendwo in meinen Jugenderinnerungen, in denen ich schließlich, von den Magistraten gezwungen, elenden Mutes würde blättern müssen, jedenfalls suchte ich zu Hause, ohne mich erst umzuziehen, im Internet sofort den Text des Lieds heraus, das ich im Radio gehört hatte, und las gierig die Zeilen von »Warwick Avenue«, ich kopierte den Text in eine Word-Datei und unterstrich die Sätze, wenn ich fand, sie passten zu dem Gefühl, das ich für dich hatte, und danach hörte ich mir die Musik an, mit der ich aufgewachsen war, und unterstrich auch da die Sätze, Songs von Patti Smith, den Rolling Stones, Frank Zappa, Lou Reed, ja, vor allem Lou Reed, nachdem ich gelesen hatte, dass sein Song »Walk on the Wild Side« eine Weile boykottiert worden war und es sich später auch bei uns so anfühlen würde, ich konnte mir die Stücke nicht anhören, ohne an dich zu denken, daran, wie du die Songs analysieren würdest, während du auf Zehenspitzen auf und ab wipptest, also gab ich dir einen Monat später, als ich wegen einer Färse mit einem verdickten Euterviertel vorbeischaute, was auf eine Sommermastitis hindeutete, und ich dich wieder mit einem Buch im Heu liegen sah, diesmal mit dem ersten Band der Harry-Potter-Reihe, Harry Potter und der Stein der Weisen, den du in Gruppe acht mit Windows 95 Buchstabe für Buchstabe abgetippt hattest, nachdem du ihn in der Bücherei ausgeliehen hattest und zu schön fandst, um ihn zurückzubringen, aber auch keine irrsinnig hohe Mahngebühr riskieren wolltest, also, da gab ich dir einen Kondolenzumschlag mit den Songtexten, etwas anderes hatte ich nicht im Haus, die cremefarbenen Umschläge waren für Leute gedacht, die ihr Lieblingstier verloren hatten, nachdem ich es eingeschläfert hatte, meistens legte ich dann das Gedicht »Joy in Death« von Emily Dickinson bei, und ich sagte dir nichts zu den unterstrichenen Sätzen, das könnte ich später noch tun, dachte ich, wenn ich strahlend und stolz in der ersten Reihe säße und klatschte und pfiff und trotzdem etwas von Beckett schreien würde, ich würde mir die Hände an den Mund legen und rufen: When you’re in the shit up to your neck, there’s nothing left to do but sing. Um dann zu denken: Da steht sie, meine feurige Flüchtige, mein kleines Prachttier.

2

Kurt Cobain war tot. Schon seit elf Jahren, aber du hattest das gerade erst vor einer Stunde entdeckt, nachdem du zum ersten Mal »Smells Like Teen Spirit« gehört hattest, und du spieltest das Stück immer wieder auf deinem Discman ab und erklärtest entschieden, der Musiker sei nicht an einer Überdosis Drogen gestorben oder an der Kugel, sondern an einer Überdosis Erfolg, das könne einen auf den Gedanken bringen, man könne fliegen, bis man merke, dass man ja gar keine Flügel habe, und dann stürze man plötzlich ab, wie das bei den Comicfiguren von Looney Tunes der Fall sei: Sobald sie feststellen, dass sie in der Luft hängen bleiben, stürzen sie in die Tiefe. Und du fuhrst fort, wenn du je berühmt würdest, wirklich berühmt, dann würdest du dich immer daran erinnern, wo du herkamst, du würdest den Geruch der Grassilage, die Ammoniakausdünstungen, die Kuhscheiße und deine Freundinnen nicht vergessen, ganz bestimmt nicht, aber du wusstest schon damals, dass du etwas Wesentliches verlieren würdest, dass Erfolg dich verändern und zugleich etwas bewahren oder vielleicht sogar noch verschlimmern würde, nämlich die uferlose Leere, die schon jetzt in dir war, obwohl ich diese Symptome übersah, ich, der genau wusste, wann ein Tier krank war oder wann es zu viele Stresshormone bildete, ich sah es nicht, weil ich an deine Widerstandskraft glauben wollte, die du letztendlich so dringend brauchen würdest, ich sah weg, wie ich vor vier Jahren während der Maul- und Klauenseuche auch weggeschaut und zu einem Bauern gesagt hatte, es sei eine kleine Grippe und würde schon wieder vergehen, ich wollte verdammt noch mal nicht, dass der gesamte Viehbestand gekeult würde, denn ich hatte schon einmal gesehen, wie einige Kühe, Schafe und Schweine noch lebend im Kadaverwagen landeten und mit den Klauen an die Wände schlugen, und in derselben Woche hatte ich bei einem Viehbauern reingeschaut, bei dem die Seuche voll zugeschlagen hatte, und als ich in der Mittagspause ins Haus gegangen war, um die Erdnussbutterbrote aus meiner Aktentasche zu holen, obwohl ich wusste, dass ich sie kaum hinunterbekommen würde, und nichtsahnend in die Diele trat, sah ich ihn oben am Treppengeländer hängen, ich sah erst die Sohlen seiner Langschäfter, Mist und Stroh noch im Profil, danach seinen Overall, und erst dann drang das leblose Gesamtbild in mein Bewusstsein, ich hatte die Augen zugekniffen, um mich zu retten und weil ich hoffte, dass ich ihn noch retten könne, dass ich zu dem Moment zurückspulen könne, in dem ich meinen schwarzen Fiat-Bus auf den Hof lenkte, und dass ich auf ihn hätte einreden können, wie Königin Beatrix auf ihr Volk einredete und dabei auffallend oft das Wörtchen wir verwendete und wie das wirkte, wie es offensichtlich auch bei dir wirkte, aber da wusste ich noch nicht, wie es war, das Liebste, das man hat, zu verlieren, ich wusste nicht, dass Worte manchmal nichts gegen einen Verlust ausrichten können, und dennoch hätte ich gern den Versuch unternommen, ihn aus der Schlinge zu befreien, ich hätte ihn zumindest an meine Brust drücken können, wie ich das bei den Pansentrinkern tat, bei den kranken Kälbern, um ihnen so in die Augen schauen zu können und zu sehen, wie es um ihre Pansenentwicklung stand, ja, ich würde ihn wie einen Pansentrinker festhalten und ihm vielleicht etwas ins Ohr flüstern, etwas von Leonard Cohen, ich denke, dir würde das gefallen: First of all nothing will happen and a little later nothing will happen again. Das überlege ich jetzt und hier, wenngleich ich genau wusste, dass der Viehbauer den Spruch wahrscheinlich nicht verstanden hätte oder nicht hätte verstehen wollen, denn wenn jemand zu tief in seiner eigenen Jauchegrube hockt, riecht er nur den Gestank und steckt fest in der Scheiße, nein, ich würde nichts sagen, würde ihn nur halten, bis die Ohnmacht aus ihm sickerte wie das Blut aus den Kühen, und wir würden uns beide auf die Laderaumkante meines Fiat setzen, wie ich es öfter mit einem Klienten tat, um dort meinen Befund zu besprechen, ich würde eine Zigarette anzünden und sie ihm hinhalten, während seine spröden Lippen meine Finger berührten und ich spürte, wie kräftig er an der Zigarette sog, die erst etwas schmaler und danach wieder praller wurde, als wolle er sich die Lungen mit Hoffnung füllen, mit etwas anderem als dem Todesgeruch der Keulung, und vielleicht würde ich die Tür des Laderaums schließen und mit ihm drinnen im Dunkeln sitzen, sodass wir nichts von den Geräuschen mitbekämen, von den Tieren, die auf dem Spaltenboden zusammenbrachen, und wir würden dort an dem Ort sitzen, an dem ich erst viel später eine Matratze auslegen würde, gefüllt mit Visco- und Kaltschaum, als ich so verdorrt war und besessen von dir, mein Augenstern, und wir würden so lange warten, bis wir hören würden, dass die Frontlader vom Hof führen und es so still würde, dass wir uns beide fragen würden, ob es wirklich geschehen war, ob wir uns das Grauen nicht eingebildet hatten, genauso wie ich nach dem Betrachten eines Kriegsfilms die Vorstellung hatte, ich sei selbst in die Kämpfe geraten und an jeder Straßenecke befände sich ein Soldat, der mich abknallen könne, pengpeng hörte ich dann im Kopf, aber er hing dort, und das Schlimmste war, dass die Leute vom Kadaverdienst ihn schließlich vom Geländer losbanden, dass sie mit denselben Händen, mit denen sie den Tieren das Leben nahmen, diesen Viehbauern anfassten und dass ich nichts dagegen tun konnte, ich stand betäubt in der Diele, die schlaffen Brote in der Hand, und ich weiß nicht wie, aber ich habe sie dort im Stehen alle drei hinuntergewürgt, bis auf die Krusten, die ich selten aß und in der Dose liegen ließ, auf deren Deckel ein verblichener Sticker mit zwei sich paarenden Schweinen klebte und darunter die Worte Makin’ Bacon, um dann zu Hause die Krusten wegzuschmeißen, es war ein kindischer Protest, den ich mir nicht hatte abgewöhnen können, und ich sah zu, wie sie schwarze Agrarfolie über den Viehbauern legten, mit der normalerweise die Maismiete für die Konservierung abgedeckt wurde, neben seinen Armen zwei Sandschläuche, damit die Folie nicht durch den Wind verrutschen konnte, der durch die offenstehenden Gartentüren hereinwehte, als wollten sie sichergehen, dass er tot war und nicht wie manche Tiere noch lebend in den Leichenwagen kam, und von diesem Tag an konnte ich keine Erdnussbutter mehr ertragen, ohne das dunkelblaue Gesicht des Viehbauern vor mir zu sehen, die hervorquellenden Augen, und auch bei dir schaute ich weg, wenngleich ich diesmal nur mich selbst retten wollte, ich wollte in der von dir verursachten Betörung verharren, und gleichzeitig verabscheute ich das, aber ach, die Schwäche meines Fleisches, du warst das Feuer meiner Lenden, wie hätte ich es löschen können, ohne mich selbst zu ersticken? Ich ließ dich endlos darüber reden, dass du in dem Cobain-Song einen Verzweiflungsschrei sahst, dass du seinen Abschiedsbrief im Internet gelesen hattest und er fast zu schön und zu klar für jemanden war, der nicht mehr leben wollte, dass er Sätze durchgestrichen hatte und dabei vergaß, dass man auch durch einen Todeswunsch einen Strich ziehen kann, dass Teen Spirit eine Deodorantmarke in den Vereinigten Staaten war und dass jemand, der ratlos war, oft nichts oder aber zu viel darauf gab, wie er oder sie roch, und wie alles in diesem einen Satz steckte: I’m worse at what I do best. Genau in dem Moment bist du erschauert, wobei ich nicht wusste, ob das von dem Songtext kam, von dem plötzlichen Entschwinden des gerade erst entdeckten Musikers aus deinem jungen Leben oder von dem Hasengrauen, das hinter den Ställen heraufzog und uns langsam einhüllte, als stellte sich die kleine Totengräbergruppe aus The Village um uns auf, die auch in ihrer Freizeit schwarz gekleidet war, die Männer konnten sich nicht freinehmen vom Tod, weil der Tod sich niemals von ihnen freinahm, und ich holte die Totengräber manchmal hinzu, wenn jemand sein Lieblingstier unbedingt unter dem Apfelbaum begraben wollte, anstatt es an den Straßenrand zu legen, wo die Rendac es abholen würde, und dann gruben sie so tief, dass sie bis zu den Knöcheln im Grundwasser standen, dort, am Rande des Abgrunds, fröstelte ich, ja, ich fröstelte und kam nicht umhin, an meine eigene Existenz zu denken, an Sterblichkeit, ich hatte gerade das biblische Alter von sieben mal sieben Jahren erreicht und wusste, dass die Zahl neunundvierzig für Vollkommenheit steht, für Befreiung, außerdem mussten die Jünger neunundvierzig Tage warten, bevor der Geist Gottes über ihnen ausgeschüttet wurde, und es war auch eine unheilverkündende Zahl, wie es in Psalm neunundvierzig heißt: So geht es denen, die auf sich selbst vertrauen, und nach ihnen denen, die sich in großen Worten gefallen. Sie sind in die Unterwelt gesetzt wie Schafe. Es weidet sie der Tod. Aber ich wollte nicht mich hören, ich wollte nur dich hören, meine himmlische Auserkorene, und ich wusste nicht, in welche Wüste ich mich auf die Dauer begeben würde, doch bei dir war ich quicklebendig, bei dir existierte ich, und es war weniger schrecklich, ich konnte auf einmal lächelnd am Rand einer solchen ausgehobenen Grube stehen, während ich auf die kahl werdenden Schädel der Totengräber blickte, denn wie jung und ungestüm war ich, wie der Apfelbaum, der jedes Jahr wieder neue Blüten bekam, sogar nachdem der Tod unter ihm begraben war, durch dich verzweigte ich mich weiter, ich wuchs! Und du sagtest, du fändest, dass Kurt ein schöner Name sei, dass er wie ein ausländisches Gericht klinge, von dem du kleine Bissen nähmst, damit es länger reiche, damit du es länger genießen könntest, dass du irgendwann einen Freund haben wollest, der so heiße, und da machtest du abrupt ein trauriges Gesicht, als ginge dir gerade etwas auf, etwas Tieferes als das Wissen, dass es nur wenige Jungen gab, die Kurt hießen, um dich danach wieder zu fassen und, an die Stalltür gelehnt, zu erzählen, dass es dir öfter so ging, dass du einen Künstler entdecktest und sich dann herausstellte, dass er tot war: Jones, Hendrix, Joplin, Morrison, Pfaff, Johnson, Harvey. Dass sie sich vielleicht gerade deshalb so gut und unübertroffen in deinem Kopf anhörten, weil sie tot waren, als würden sie es kommen sehen und ihre letzte Kraft, ihren letzten Atem in ihre Lieder legen, und niemand könne die Toten übertreffen, und du wüsstest, wovon du sprächst, wir wussten beide, wovon du sprachst, aber wir gaben ihm keinen Namen, genauso wie wir der Dämmerung an jenem Abend keinen Namen gaben, die uns nicht länger umhüllte, sondern in uns kroch und dich immer langsamer sprechen ließ, über The Twenty-Seven Club, die Musiker, die mit siebenundzwanzig gestorben waren und dich maßlos interessierten, du hattest davon gelesen, wie Jones in einem Swimmingpool in Hartfield ertrank, wie Hendrix nach zu vielen Schlaftabletten und zu viel Wein an seinem eigenen Erbrochenen erstickte, wie Morrison an einem Herzstillstand starb, Joplin und Pfaff an einer Überdosis Heroin, Johnson, nachdem er in Greenwood vergifteten Whisky getrunken hatte, und der schlimmste Tod, fandst du, war der von Harvey, der während eines Auftritts mit Stone the Crows einen Stromschlag erlitt, als er ein nicht geerdetes Mikrofon berührte, und so war es eigentlich bei allen diesen Musikern: Sie waren nicht länger an die Erde angedockt. Sie gingen an ihrer Sucht nach Ruhm unter, am Drang nach Anerkennung, und du sagtest, dass Anerkennung das Wiegenlied eines Kindes sei, ohne diese Melodie würde es ewig umherirren auf der Suche nach dem richtigen, bestätigenden Blick, und ich sah das Hasengrauen jetzt auch hinter deinen Augen, ich sah, dass du hin und wieder einen hastigen Blick über die Schulter auf den Hof warfst, auf das erleuchtete Vorderhaus, du müsstest gehen, sagtest du, die Dunkelheit und die Hausaufgaben, und du zogst die Schultern hoch und sagtest also tschüs, und ich hatte nicht einmal sagen können, dass ich für dich Kurt heißen wollte, nenn mich bitte Kurt.

3

Kurt, sagtest du an einem Tag, der so warm war wie das Innere eines Hornträgers: Ich muss dir was sagen, ich war an jenem Septembertag in New York dabei. Ich wusste erst nicht, ob du mich wirklich Kurt genannt hattest oder ob ich mir das einbildete, aber gehen wir mal davon aus, dass du mich wirklich so ansprachst, ohne Umschweife und ernst, ich stand gerade neben den Kälberställen und kniff so fest in den aufgeschnittenen Milchpulversack, dass eine kleine Wolke daraus entwich und ich daraufhin verwundert dachte, dass es in keinem einzigen romantischen Film im Hochsommer schneite, denn der Zuschauer würde sich getäuscht fühlen, er würde sein Geld von der Videothek zurückfordern, der Zuschauer wollte nur realistisch aufblühende Liebe sehen, damit er denken konnte, dass ihm das ebenfalls passieren könnte, und ich wusste schon damals, dass wir außergewöhnlich waren, einzigartig, auch wenn ich das Wort einzigartig genauso hässlich fand wie einen gemästeten und hochgezüchteten Stier, und ich erkannte damals nicht, dass auch ich lediglich auf das Skelettwachstum bedacht war, ich nährte mich, indem ich jeden Moment mit dir größer machte, und schuf aus meiner tollkühnen Leidenschaft ein Fleischkalb, das immer hungriger wurde, fast ungestüm, und zugleich verwirrte es mich auch, dass du mich Kurt nanntest, ich meine: Wie lebendig war ich in deinen Gedanken in diesem Moment, würde ich nach einiger Zeit nur zu einem Lied werden, das dir nicht mehr aus dem Kopf ging, würdest du mich stets auf repeat setzen wollen, in der eitlen Hoffnung, du würdest etwas Neues finden, wodurch ich weiterhin funkeln konnte und nichts an Glanz verlor, oder glaubtest du etwas zu finden, was dich beruhigen konnte und dich durch diesen wahnwitzigen Sommer führen würde? Vielleicht war ich eine unterstrichene Liedzeile für dich, die du in den Songtexten, die ich dir gegeben hatte, nicht bemerkt oder deren Bedeutung du zumindest nicht verstanden hattest, vielleicht blieb auch ich unbemerkt, doch ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn du nanntest mich Kurt und du klangst beklommen, und ich stand mit meinen Stiefeln im Schnee und mit dem Kopf in der brennenden Sonne, zwischen Glückseligkeit und heißer Enttäuschung schwankend, und du sagtest, dass du dabei gewesen warst, dass du dort hingeflogen warst, nachdem das erste Flugzeug sich in die Twin Towers gebohrt hatte, dass du wirklich fliegen konntest, nicht infolge von eingebildetem Ruhm, sondern durch einen kleinen Fehler von Gott, oder vielleicht war es ja auch eine geheime Gabe, du fragtest, was ich dazu sagen würde, wenn du jeden Abend auf der Bettkante stehend für den nächsten Flug üben würdest und der erste fliegende Mensch würdest, dass du an einem Tag wie diesem zum zweiten Mal aufsteigen würdest, diesmal vom Futtersilo aus, schwups über die Äcker hinweg, über die Zuckerrüben und die Kornfelder, über das klare Wasser des Maalstroom, obwohl ich, sagtest du, damit rechnen müsse, dass du nicht zurückkämst, es wäre erst dann etwas Besonderes, wenn du für immer fortfliegen würdest, denn sonst wäre es ja nur ein Kunststück, und Kunststücke würden schnell vergessen, ganz vielleicht aber würdest du ja ein Zugvogel, dann kämst du nur im Sommer zurück und würdest dem Ertrag des Landes zugerechnet, dann wären alle froh, dich zu sehen, ja, das würde dir gefallen, wenn die Leute aus The Village auf dich deuten würden, wenn du aufstiegst, und behaupten, dass sie dich kennen, dass sie aber nicht gewusst hätten, wie du es die ganze Zeit geschafft hattest, deine Flügel zu verbergen, sie würden flüstern, dass du schon immer etwas Besonderes an dir gehabt hättest, aber das, nein, das hätten sie nicht bei dir vermutet, und sie würden weiter zuschauen, wie du über die reformierte Kirche flogst, über der Grundschule eine Runde drehtest, über den Deich in Richtung Süden entschwandst, und alles unter dir würde klein, so klein wie eine Kartoffel, würdest du sagen, oder besser noch: wie eine Erbse. Was ich dazu sagen würde? Und du hast noch einen draufgesetzt, ich sah, dass du das tatest, weil deine kleine Zunge gierig über deine Lippen glitt, damit die Worte saftig klangen, und du erzähltest, dass du an jenem tragischen Tag im September dorthin geflogen warst und das Schreien der Menschen unter dir hörtest, die Sirenen, und während du da flogst, wurden die Büropapiere, die aus dem Turm flatterten, zu Friedenstauben, echt wahr, sagtest du, es wurden Friedenstauben, und du sahst, wie manche Menschen sich aus den Fenstern fallen ließen, du hörtest die dumpfen Schläge ihrer aufprallenden Körper, als ob es Milchpulversäcke wären, und dann kam wieder ein Flugzeug angeflogen, das sich in das zweite Gebäude der Twin Towers grub, und wie du manchmal zweifeltest, ob es ein Flugzeug war oder ob du in das Gebäude flogst, erst mit dem Kopf, dem Rumpf und dann mit dem Rest deines Körpers, den Füßen, dass du dachtest, du seist an alldem schuld, und ich sah, wie dir Tränen in die Augen quollen, und dachte, Mensch, du warst damals erst zehn, aber ich ließ dich erzählen, davon, wie du oft fantasiert hast, ein Flugzeug würde auf Hof De Hulst abstürzen und du könntest die Mauern fallen, das Glas klirren hören, und du sahst deinen Pa, ja, du sahst deinen Pa unter der rechten Tragfläche liegen, obwohl sie es auf dich abgesehen hatten, sagtest du, und vielleicht müsstest du dich selbst anzeigen, beherzt sagen: Ich war es an jenem Tag, ich war das Flugzeug, ich habe New York in Flammen gesetzt, ich habe die Welt zum Weinen gebracht, und jetzt will ich die Welt trösten, indem ich ihr den Täter gebe. Und es klang wahrhaftig, aber noch überzeugender klang es für mich, wie sehr du an deine eigene Geschichte glaubtest und wie überraschend mühelos du zu der Pracht deiner Flügel umschalten konntest, wie umwerfend schön und stark sie wären, die Federn wasserabstoßend, als du da in der offenen Stalltür standst und die Arme so verdammt bezaubernd bewegtest, ich sah die Muskeln unter deiner Haut bei jeder Bewegung, die du machtest, und ich wollte rufen, dass du nie aufsteigen dürfest, hörst du: nie. Doch stattdessen rührte ich besessen in einem Eimer lauwarmem Wasser, vermischt mit Milchpulver, bis die Klumpen heraus waren, und sagte, bevor du fliegen kannst, musst du erst lernen, wie man landet, ich sah sofort, dass das eine falsche Antwort war, auch belehrend, bah! Dass ich dich enttäuschte und du etwas anderes erhofft hattest, vielleicht sogar, dass ich über deine Flugpläne jubeln würde, dass ich dir die Septemberkatastrophe ausreden würde, und ich hätte mich mit dem stählernen Quirl vor den Kopf schlagen können, denn du ließt deine Flügel lustlos sinken, und ich konnte die Leere, die sich wie ein drittes Flugzeug in deine Brust bohrte, fast riechen, genauso wie ich schon aus der Entfernung den Geruch eines Kalbes erkannte, das Dünnpfiff hatte, weil es sich ein Virus eingefangen hatte, ich war dein Virus, doch das konntest du damals noch nicht wissen, und am liebsten hätte ich deinen bedürftigen nymphenhaften Leib umfangen, denn alles, was du wolltest, war, gesehen zu werden, du wolltest jemand sein, auf den man zeigte, anders als sie es in der Schule taten, du wolltest, dass du nicht so hoch aufsteigen musstest, damit sie staunten, dass es jemanden gab, der wollte, dass du hierbliebst, bitte, bleib hier, weil die Äcker ohne dich aufreißen würden, weil sich der Maalstroom ohne dich mit Blaualgen füllen oder austrocknen würde, und außerdem, viele Zugvögel überlebten die raue Reise nach Süden nicht, sie fielen wie Manna zu Boden, aber das durfte ich nicht sagen, ich musste dir in deinem Gedankengang und deinem schrecklichen Geständnis folgen, ich musste mir dich vorstellen, hoch oben auf dem Futtersilo, lieber Himmel, ich zitterte schon allein bei der Vorstellung! Und ich rührte immer weiter, obwohl die Milch längst klumpenfrei war, und dann sagte ich es, verdammt, ich sagte ganz einfach: Ich werde dir beim Aufsteigen helfen. Ich richtete mich auf, als wäre dies ein Film, blieb dann steif stehen mit dem Quirl in der Hand, Milch tropfte auf die Steine, und am liebsten hätte ich dir die Klumpen aus dem Kopf gerührt, doch du machtest wieder eine ausladende Armbewegung, und durch den Schatten schien es, als hättest du tatsächlich Flügel, und so ranntest du plötzlich über den Hof, gickelnd, und riefst: Ich bin eine Krähe, ein Rabe, ich bin ein Reiher, ich bin der Vogel, den du am meisten fürchtest. Um schließlich ins Gras zu stürzen und dort totenstill liegen zu bleiben, während du in den blauen Himmel starrtest, und da sagtest du es: Mit mir stimmt was nicht, ganz und gar nicht. Um nach wenigen Sekunden aufzuspringen, und ich sah, dass der Vogel aus deiner Seele verschwunden war, ich sah, wie du mit gesenktem Kopf in den Stall gingst, wo du nach dem Mistschieber griffst und im Zickzack über den Spaltenboden fuhrst, um den Dung in die Ritzen zu schieben, und ich wandte den Blick nicht von dir ab, während ich den Kälbchen Milch gab, und was konnte ich mehr tun, als dich zu mir zu locken, ich würde dich retten, liebe Flüchtige, ich würde dich bedingungslos retten, und es muss dieser Moment gewesen sein, der meine Albträume auslöste, in denen du hoch oben auf dem Futtersilo standst, die Totengräber am Boden, sie spähten, eine Hand über den Augen, zu dir hinauf, sagten, du könntest es erst dann sicher wissen, wenn du den Sprung wagtest, und jedes Mal, wenn du kurz davor warst aufzusteigen, wachte ich schweißnass auf und wollte dich anrufen, um mich zu beruhigen, aber ich sollte deine Nummer erst viel später bekommen, wobei du noch sagtest, ich solle dich nicht anrufen, du hasstest es zu telefonieren, du hasstest Klingeltöne, vor allem Schnappi, das kleine Krokodil, das fast alle in der Klasse auf ihrem Handy hatten, außerdem fandst du das Beenden eines Gesprächs am schwierigsten, als würden beim Unterbrechen der Verbindung auch tatsächlich die Bluts- oder Freundschaftsbande zerschnitten, du wusstest nicht, wie man sich verabschiedet, und sagtest eben, mit der Leitung sei irgendwas nicht in Ordnung, und: Hallo, hallo, ich kann dich schlecht hören. Also nein, Telefonieren mochtest du nicht, ich würde erst viel später deine Nummer bekommen, und während ich ein Fertiggericht aß, bestehend aus Grünkohl, Wurst und Soße, als Camillia und meine beiden Söhne für den ganzen Tag in die Stadt gefahren waren, würde ich so lange die Zahlen auf meinem Handybildschirm anstarren, bis ich deine klare Stimme hören konnte und ich dich doch an der Strippe hatte und nach ein paar Malen wusste, dass du, wenn du rangingst, immer dieselben Worte sagtest: Dies ist die Voicemail des Vogels. Piep. Und obwohl ich deine Telefonnummer auswendig kennen würde, schrieb ich sie sicherheitshalber unter die Striche im Zählerkasten, und in jenem Sommer würde ich immer öfter bei euch vorbeikommen, um nach den Färsen zu schauen und mir danach das lokal gebraute Bier schmecken zu lassen, das dein Pa mir am Ende des Arbeitstags einschenkte, wenn der Bodennebel wie eine Schaumkrone auf den Äckern lag, und dann lächelte ich höflich über seine Scherze und Aufschneidereien, über alles, was er über das Klima zu sagen wusste, und er dachte, seine Gesellschaft mache mich so beschwingt, aber das kam nur durch dich, mein Augenstern, langsam trank ich mich in dein kleines beklemmendes, düsteres Leben hinein, am Ende des Abends stellte ich die leeren Bierflaschen in die Scheune neben den Stiefelknecht und spürte nach den zahllosen Flaschen, wie es in mir schäumte und wie närrisch strudelte, dass ich da aber schon genau wusste: Ich liebte dich.

4

Vielleicht war es ja gar nicht merkwürdig, sondern das Normalste von der Welt, dass ich an jenem bullenheißen Vormittag ein Bettengeschäft betrat. Dort kaufte ich die teuerste Matratze, die sie hatten, bestehend aus Visco- und Kaltschaum, und zwei mit Entendaunen gefüllte Kissen, ich schleppte die Matratze zum Laderaum meines Fiats, legte sie rein, breitete einen auseinandergeklappten Schlafsack darüber, den ich von zu Hause mitgenommen hatte, in ihm war der Buchstabe C. eingenäht, von Camillia, und ich sorgte dafür, dass die Seite mit dem Buchstaben an der Tür lag, damit du ihn nie bemerken würdest, und dann dachte ich daran, dass die Frau, die ich hatte, mir zu Füßen lag, und die Frau, die ich wollte, ungreifbar durch meinen verschwitzten Kopf flatterte; ich spähte um mich, ob jemand gesehen hatte, dass ich fast so eifrig wie die Blässhühner an einem Liebesnest baute, um danach zu dir zu fahren mit sowohl frohem als auch angeekeltem Herzen beim Gedanken daran, was ich im Laderaum mit mir herumfuhr, und das alles verschwand erst, als ich dich sah und wusste, es war richtig, was ich tat, du und ich waren unvermeidlich, wir stellten die bridge in einem Song dar, wir waren anders als alle und alles um uns herum. Und ich sah zu, wie du dich spielerisch auf die Matratze plumpsen ließt, James und der Riesenpfirsich in der Hand, und fragtest, ob ich hier schliefe, also bestätigte ich das scherzend und sagte, dass ich ein Werwolf sei und an der Ecke des nahegelegenen Parkplatzes stünde, weil ich unter dem Mond schlafen wolle, der in dieser Woche wie ein Abszess am Himmel prangte, später sollte es kein Scherz mehr sein, ich übernachtete immer häufiger an der Ecke, um so schnell wie möglich zu dir zu können, und der Sitz neben mir würde allmählich mit leeren McDonald’s-Tüten, Bechern mit eingetrockneter American-Fries-Sauce und unzähligen Sandwichverpackungen und Coladosen von der Tankstelle übersät sein, und natürlich besuchte ich zwischendurch auch noch andere Bauern und Betriebe, aber dort brachte ich meine Arbeit so schnell wie möglich hinter mich, um wieder nach The Village zu fahren, zu dir, und vielleicht war es völlig normal, dass du dich auf den Rücken fallen ließt, das Buch über deinem Gesicht, und deine Füße in meinen Schoß legtest, auf meine schmutzige Stallhose, und dass ich dann deine Zehen, jede für sich, vorsichtig befühlte und die Knöchelchen sanft drückte, sie massierte, wie ich es manchmal beim Kronrand eines Pferdehufs tat, und manchmal zucktest du leicht mit dem Bein, wenn es kitzelte, dann musste ich mich beherrschen, um dir nicht das Buch aus den Händen zu reißen und ins Gras zu pfeffern, um dich dann ungestüm und liebevoll auf den Schoß zu ziehen und meine Nase in deinem noch nassen Schwimmhaar zu vergraben, wo ich unter dem Chlorgeruch dich riechen würde, und ich könnte nicht sagen, woraus dieser Duft bestand, mir wäre bestimmt nur etwas Enttäuschendes eingefallen, du rochst nach dir und nach niemandem sonst, so war es nun mal, und während ich deine Haut zum ersten Mal berührte, die euterweich war, deine Zehen liebkosend durch meine Hände gehen ließ und so tat, als untersuchte ich die Knochenstruktur, an der ich ablesen könnte, ob du ein gesundes Tier warst, erzähltest du, dass du dir den Film Charlie und die Schokoladenfabrik von Tim Burton bestimmt zehnmal angeschaut hättest und dass in deinen Augen Willy Wonka immer nur ein Gruseltyp war, ein Vollidiot, denn er überließ die lästigen Kinder ihrem Schicksal, er machte ihnen den Mund wässrig mit der Unmenge Süßigkeiten in der Fabrik und behütete sie nicht vor den Gefahren, die Gier mit sich bringt, du sagtest, dass jedem, der zu gierig war, eigentlich etwas fehle, und dass du die Lieder im Film immer übersprangst, weil dir schlecht davon wurde und du lange Zeit gedacht hattest, auch du würdest mal so eine goldene Eintrittskarte in einer Schokoladentafel finden, dann würden alle verstehen, dass du von hier wegmusstest, aber du fandst nichts, und du erzähltest seufzend, dass Roald Dahl unter anderem mit einer Schachtel hb-Bleistifte, seiner Lieblingsschokolade von Prestat, Billardstöcken und einer Motorsäge begraben worden war und dass auf dem Friedhof in Great Missenden Fußabdrücke vom Großen Freundlichen Riesen zu seinem Grab führten und dass du irgendwann mal dorthin wolltest, um dich auf den kalten Stein zu legen und zu flüstern, dass er dir das Leben gerettet habe, auch wenn du nicht erzähltest, warum, und dass du sagen würdest, du besäßest die Kräfte von Matilda und die Höflichkeit von Charlie und dass dich Hexen hexen nächtelang nicht hätte schlafen lassen, als du ihn in Gruppe fünf in der Schule gesehen hattest und der Lehrer gesagt hatte, nur die Kinder, die eine robuste Seele hätten, dürften sich den Film anschauen, und dass du daraufhin die Hand gehoben hattest und herausfandst, dass deine Seele alles andere als robust war, und du hattest mal gehört, dass Roald Dahl mit dem Ende des Films nicht einverstanden war, dass es anders sei als im Buch und Luke von einer Maus in einen Menschen zurückverwandelt werde, und du hörtest, dass Dahl sich bei einigen Kinos mit einem Megafon vor den Eingang gestellt und gerufen hatte: Don’t go there, it’s a mousetrap. Du hättest gewollt, dass er auch am Eingang zu deinem Klassenraum gestanden hätte, dass er gesagt hätte, eine Seele sei erst dann robust, wenn man sie mehrmals verloren hätte, und du wusstest, dass Roald Dahl einmal mit einem Flugzeug abgestürzt war und sich einen Schädelbruch zugezogen hatte, wodurch er so schön schreiben konnte, und du warst dir sicher, dass du auch so etwas durchgemacht hattest, du warst zwar nicht abgestürzt, als du zum ersten Mal flogst, aber du hattest bestimmt einmal etwas an den Kopf bekommen, weshalb du über die Dinge nachdachtest, wie du es eben tatst, und vielleicht kam es ja daher, weil du den Turm der Twin Towers durchbohrt hattest, und du würdest dort am Grab des Schriftstellers gestehen müssen, dass du Der fantastische Mr. Fox nie gelesen hattest, weil Füchse nicht so dein Fall waren, die gruben die toten Legehennen aus, die hinten am Deich begraben waren, nein, sagtest du, Füchse hätten keinen Funken Anstand, also wolltest du nichts über sie lesen, und du sprachst immer weiter, während ich dich ansah, mein kleines Prachttier, während ich sah, wie sich die Matratze an deinen Leib schmiegte und groß genug war für uns beide, aber ich traute mich nicht, mich neben dich zu legen, noch nicht, und da nanntest du wieder meinen Namen, während du mit deinen Zehen meinen Schoß knetetest, wie Katzen es machen, wenn sie sich wohlfühlen, du sagtest: Kurt, ich weiß nicht, aber manchmal denke ich, es wird nie wieder normal. Du seufztest und schautest wieder auf die Zeilen in deinem Buch, und ich fragte mich, was nie mehr normal werde, aber ich stellte keine Fragen und wartete, bis du weitersprachst, du sprachst weiter und erzähltest von dem Schwimmbad am Rand von The Village, von den Jungs, die vom hohen Sprungbrett sprangen, um sich selbst, ihren Freunden und vor allem den Mädchen zu imponieren, wie du einmal in Gruppe sechs jemanden unter Wasser geküsst hattest und dass du nicht wusstest, ob du es schön oder eklig fandst, und dass sich letzten Endes herausstellte, dass er dich nur deshalb küsste, weil er sein Geld vergessen hatte, damit du hinterher eine Tüte Haribo-Frösche für ihn kauftest, und du ihn darum Den Frosch nanntest, und ab und an dachtest du noch an diesen Kuss, der nach Chlor geschmeckt hatte und ein bisschen nach Junge, und da fragte ich dich, wovon du fantasieren würdest, wenn du an Den Frosch dachtest, während ich deine Fußknöchel streichelte und den weißen Streifen von deinen Schuhen, wo die Sonne nicht hingekommen war, und ich fand dich blass so viel schöner als gebräunt, als ob du aus Porzellan wärst, so wollte ich dich sehen, als mein Porzellanmädchen, und ich wusste, dass du schon lange nicht mehr last, ich sah, dass deine Wangen rot wurden und aussahen wie mit dem Viehmarkierungsstift gefärbt, mit dem ich Mutterschafe kennzeichnete, nachdem sie geimpft waren, und du schnapptest kurz nach Luft und sagtest dann, dass der Vogel immer Den Frosch töte, er schlucke ihn auf einen Rutsch hinunter, und dass du dann plötzlich zu Dem Frosch geworden seist, dass du daran nichts ändern könntest, und dann zogst du deine Füße von meinem Schoß und drehtest dich auf den Bauch und sagtest: Ich denke am meisten an mich selbst. Und ich wusste nicht, was das mit Dem Frosch zu tun hatte, nur, dass ich an etwas gerührt hatte, worüber du nicht weiter reden wolltest, und ich konnte nichts dafür, dass ich da mit meiner unbeholfenen Geilheit saß und nicht mehr wusste, ob ich dich hätscheln oder zerreißen wollte, vielleicht beides, lieber Himmel, ja, ich wollte beides, und die schmutzige Stallhose kniff an meinem Geschlecht, und ich wollte deine Fußsohlen berühren, die noch runzlig vom Schwimmbadwasser waren, ich wollte Roald Dahls Zeilen aus deinem Kopf küssen und mit meinen Worten füllen, aber du schienst auf einmal so weit weg, als wärst du nicht länger Teil meiner Herde, und trotzdem war ich in dem Moment außerordentlich zufrieden damit, wie es mit uns lief, und vor allem auch mit dem Kauf der Matratze, mein Auto würde unser Liebesschloss werden, ich würde Poster an die Wand hängen, eines von Nirvana und eines von Königin Beatrix, sie war im letzten April zu Besuch in The Village gewesen, und du durftest Prinz Willem-Alexander eine Blume anstecken, ich schaute aus der Nähe zu, wie du an der Kirche in einer Tour nervös von einem Bein aufs andere hüpftest und Angst hattest, du würdest mit der Nadel seinen Anzugsstoff durchstechen, direkt in seine Brust hinein, dass du den Prinzen von Oranien-Nassau töten würdest, und du hattest ihm mit zitternden Händen, und ohne ein Wort zu sagen, die Blume angesteckt und danach einen prachtvollen Bericht darüber für die Schulzeitung geschrieben, den Camillia nachsehen und mir zu lesen geben sollte, wodurch ich gerührt sah, wie du mit WordArt in Riesenbuchstaben einen Titel gestaltet hattest, bevor ich den nächsten Satz las: I am almost numb with cold, but the thought that I will soon see Prince Willem-Alexander keeps me warm