Was tun bei sexualisierter Gewalt? - RESPONS - E-Book

Was tun bei sexualisierter Gewalt? E-Book

RESPONS

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Beschreibung

"Was tun bei sexualisierter Gewalt?" verbindet Ansätze aus der zweiten Frauen*Lesbenbewegung in Deutschland und transformative Gerechtigkeitsansätze wie ›community accountability‹ (›kollektive Verantwortungsübernahme‹) aus Frauen*-, Queer- und trans* of Color-Kontexten in den USA. Es geht darum, Anleitungen für selbstorganisierte und gemeinschaftliche Prozesse anzubieten, die betroffene Personen unterstützen und gewaltausübende Personen zur Verantwortung ziehen. Das Handbuch fokussiert insbesondere Letzteres und schlägt eine Transformative Arbeit vor. Diese bietet Personen, die sexualisierte Gewalt ausgeübt haben, einen längerfristigen Reflexions- und Veränderungsprozess an. Der Prozess basiert auf Freiwilligkeit und muss von der gewaltausübenden Person selbst gewollt werden. Ziel ist es, die Perspektive der Betroffenen zu verstehen und zu achten, die eigene gesellschaftliche Positionierung und eigene Gewaltmuster zu reflektieren und das eigene Verhalten langfristig zu verändern. Es geht darum, alternative und weniger gewaltförmige Handlungsmöglichkeiten auf der persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Ebene zu entwickeln und umzusetzen. Damit dient Transformative Arbeit auch der Prävention. Eine Grundannahme der Transformativen Arbeit ist, dass Menschen nicht als Person ›böse‹ sind, auch wenn sie sexualisierte Gewalt ausüben, sondern die Handlung selbst strikt abzulehnen ist. Diese wird u.a. als ein Ausdruck von gewaltvollen Herrschaftsverhältnissen betrachtet, und es ist möglich, dieses Verhalten zu verlernen und Macht- und Gewaltverhältnisse damit zu durchbrechen. Solche Angebote der Transformativen Arbeit sind wichtig, damit gewaltausübende Personen die Chance zu einer solchen Veränderung haben und die Menschen im Umfeld sehen, dass (sexualisierte) Gewalt nicht einfach so geduldet wird. Zugleich stellt dieser Prozess oftmals für betroffene Personen eine Form der ›Wiedergutmachung‹ dar und es wird einem erneuten Übergriff entgegengewirkt. Das Buch enthält neben verschiedenen (theoretischen) Grundlagen, auf denen das Konzept der Transformativen Arbeit beruht, auch einen Leitfaden für die Umsetzung in der Praxis.

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EPUB
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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das RESPONS-Kollektiv besteht aus fünf Personen, die erste Idee zu einem Austausch, einer Arbeitsgruppe und später zu der Entwicklung eines Konzeptes für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen entstand 2009 in Berlin. Einige von uns unterstützen schon seit Jahren von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung betroffene Personen. Wir kommen aus unterschiedlichen Bereichen, wie Mediation, Gestalttherapie, Community Accountability und Social Justice. Mit der praktischen Transformativen Arbeit, insbesondere mit einem Transformativen Arbeitsprozess mit gewaltausübenden Personen wie ihn dieses Buch vorschlägt, haben Einzelne aus unserer Gruppe bereits seit einigen Jahren Erfahrungen gesammelt.

RESPONS

Was tun bei sexualisierter Gewalt?

Handbuch für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

RESPONS:

Was tun bei sexualisierter Gewalt?

2. Auflage, Juni 2021

eBook UNRAST Verlag, März 2022

ISBN 978-3-95405-112-0

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

I. Vorwort

II. Persönliche und gesellschaftliche Transformation

III. Wer wir sind: Über RESPONS

THEORETISCHE GRUNDLAGEN

IV. Theoretische Grundlagen der Transformativen Arbeit

1. Social Justice * Unterdrückung * Intersektionalität * Verbündete

2. Social Justice im Kontext von Sexualität und intimen Beziehungen: sexualisierte Gewalt * Definitionsmacht * Parteilichkeit * Zustimmung

3. Verantwortungsübernahme bei sexualisierter oder intimer Beziehungsgewalt

LEITFADEN FÜR DIE PRAXIS

V. Arbeitsstrukturen und Kommunikation

1. Austausch und Planung im Vorfeld

2. Unterstützungsarbeit nach einer Gewalthandlung

3. Wen vom Umfeld einbeziehen?

4. Einen gemeinschaftlichen Prozess anstoßen

5. Zusammensetzung der TA-Gruppe

VI. Kommunikation mit der betroffenen Person und den Unterstützer*innen

1. Kontaktaufnahme

2. Im Zentrum: Betroffenenperspektive und Kooperation mit den Unterstützer*innen

3. Definition, Forderungen und Zustimmung der betroffenen Person einholen

4. Wunsch nach Mitmachen klären

5. Es liegt keine Definition der betroffenen Person vor

6. Stopp!

VII. Einschätzen der Möglichkeiten, Gefahren und Kapazitäten

1. Verständnis der Gewalt

2. Einschätzung der Situation im Umfeld der gewaltausübenden Person

3. Einschätzung der Gefahren und Risiken

4. Form und Grenzen der Transformativen Arbeit

5. Einschätzung der Kapazitäten der TA-Gruppe

6. Auswertung

VIII. Umgang mit der gewaltausübenden Person, wenn keine Transformative Arbeit möglich ist

1. Wechsel von der Transformativen Arbeit zur Schadensbegrenzung

2. Druck als Strategie

3. Anwenden von Gewalt

4. Umgang mit staatlichen Behörden

IX. Organisation und Planung der Transformativen Arbeit

1. Bedingungen und Absprachen

2. Rahmenstruktur

3. Planung und Ablauf der Arbeit

X. Lernen an Wendepunkten – Mögliche Schritte der Transformativen Arbeit

1. In die Transformative Arbeit einwilligen

2. Umgang miteinander vereinbaren

3. Aufschreiben der Gewalt-Situationen

4. Die Forderungen und Wünsche der betroffenen Person akzeptieren

5. Verantwortung entdecken

6. Abwehrmechanismen und Rechtfertigungen herausarbeiten

7. Lernen, Emotionen wahrzunehmen und sie auszudrücken

8. Vorteile gewaltfreieren Handelns erkennen

9. ›Brief an sich selbst‹

10. Awareness bezüglich gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse und eigener Positionierung schaffen

11. Sich mit der Perspektive der betroffenen Person auseinandersetzen

12. Macht- und Gewaltmuster und Privilegien durcharbeiten

13. Konkrete Gewaltsituationen durcharbeiten

14. Weitere Situationen und Gewaltmuster durcharbeiten

15. Neue Verhaltensweisen lernen und im Alltag leben

16. Transparenz im Umfeld schaffen

17. Für eine Entschuldigung und Wiedergutmachung sorgen

18. TA-Prozess verinnerlichen und Entwickeln einer lebenslangen Perspektive

19. Verantwortungsübernahme in der Commmunity und Handeln als Verbündete*r

XI. Methoden der Transformativen Arbeit

XII. Zur Haltung der TA-Gruppe

1. Spannungsverhältnisse

2. Umgang mit der gewaltausübenden Person

3. Wertschätzung der eigenen Arbeit durch die TA-Gruppe

4. Kollektiv- & Selbst-Care

5. Politisches Verständnis

XIII. Grenzen und Herausforderungen der Transformativen Arbeit

1. Überlastung der TA-Gruppe

2. Die gewaltausübende Person entzieht sich der Transformativen Arbeit

3. Die gewaltausübende Person verletzt die Grundlagen der Transformativen Arbeit

4. Verlust der Parteilichkeit mit der betroffenen Person

5. Überfordernde Situationen für die TA-Gruppe

6. Die gewaltausübende Person wechselt das Umfeld

XIV. Erfolgreicher Abschluss der Arbeit

1. Gewalt und Diskriminierung finden nicht mehr statt

2. ›Die Buchstaben als auch der Geist‹ der Forderungen werden erfüllt

3. Neue Verhaltensweisen wurden erlernt und werden im Alltag gelebt

4. Nachhaltiges Unterstützungssystem

5. Abschluss: Erfahrungsberichte und Anerkennung

XV. Erfahrungsbericht aus der Transformativen Arbeit

XVI. Fazit

XVII. Literaturliste

Anmerkungen

I. Vorwort

Die erste Idee zu einem Austausch, einer Arbeitsgruppe und später zu der Entwicklung eines Konzepts für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen entstand 2009 in Berlin. ›Transformative Arbeit‹ bedeutet, dass soziale Umfelder, Communitys oder Freundeskreise sich zusammensetzen und gemeinsam Verantwortung übernehmen, wenn sexualisierte Gewalt in ihrem Umfeld stattgefunden hat. Der gewaltausübenden Person wird angeboten, einen Veränderungs- und Reflexionsprozess in einer gemeinsamen Gruppenarbeit einzugehen. Damit wird der gewaltausübenden Person die Chance gegeben, sich zu verändern und geschädigte Beziehungen zu reparieren, und zugleich wird den Menschen im Umfeld deutlich, dass Gewalt nicht einfach geduldet wird. Letzteres ist insbesondere für viele betroffene Personen wichtig: Gewaltausübende Personen sollen nicht einfach so weitermachen können wie bisher und einem erneuten (sexualisierten) Übergriff soll vorgebeugt werden.

Als Ziele der Transformativen Arbeit mit gewaltausübenden Personen wollen wir vor allem drei Aspekte hervorheben:

1. Verantwortungsübernahme begleiten

Verantwortung zu übernehmen stellt in unseren Augen einen Prozess dar, in dem

Verantwortung durch die gewaltausübende Person (und möglicherweise ihre Communitys) übernommen wird gegenüber der/den betroffenen Person/en und dem/n Umfeld/ern. Zu solch einem Prozess können beispielsweise die Anerkennung der Verletzungen, die verursacht oder ausgelöst worden sind, gehören sowie eine Entschuldigung, eine Wiedergutmachung, eine Transformation/Veränderung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns sowie die Verpflichtung, zukünftig nicht mehr Gewalt einzusetzen.

Verantwortung hinsichtlich der eigenen Privilegien übernommen wird und somit auch gegenüber den Menschen und ihren Umfeldern, die innerhalb von Machtstrukturen unterdrückt und marginalisiert sind.

2. Veränderung unterstützen

Transformative Arbeit soll Personen, die Gewalt ausgeübt haben, in ihrem Prozess der Veränderung unterstützen. Eine grundlegende Überzeugung dieses Ansatzes besteht darin, dass Veränderung möglich ist und dass es Alternativen zum bisherigen Handeln gibt. Im Rahmen der Transformativen Arbeit werden keine repressiven und strafenden Methoden genutzt, wie z.B. Beschämung, Schuldzuweisung, Erniedrigung, Angriff, Bestrafung, Isolierung, Entfremdung oder Entmenschlichung. Denn unseres Erachtens nach sind solche Methoden einem nachhaltigen Veränderungsprozess nicht dienlich. Die verschiedenen Methoden der Transformativen Arbeit zielen darauf ab, alle beteiligten Personen auf ihrem Weg der emanzipatorischen Transformation ein Stück weiterzubringen. Dies soll durch die Auseinandersetzung mit eigenen Diskriminierungserfahrungen, die Konfrontation mit bzw. Unterbrechung von gewaltsamen Mustern, die aktive Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln und die Effekte auf andere Personen sowie das Erlernen von neuen, effektiveren und vor allem nicht-gewaltsamen Handlungsweisen auf der persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Ebene erreicht werden.

3. Prävention

Eines der wichtigsten Ziele ist es, dass keine Gewalt mehr stattfindet, ein gewalttätiges Verhalten somit unmittelbar beendet wird und die gewaltausübende Person in Zukunft nicht mehr zu Gewalt greift. Darüber hinaus gehen wir davon aus, dass die Prozesse der Transformativen Arbeit auch in den betreffenden Umfeldern Präventionseffekte haben und mit breiter angelegten Präventionsstrategien zusammenwirken können.

Dieses Buch bietet ein Konzept für die praktische Transformative Arbeit und beschreibt darüber hinaus verschiedene Ansätze, die mit dieser Arbeit zusammenhängen oder sie erleichtern. Da wir bei der Konzeptualisierung der Transformativen Arbeit auch auf Erfahrungen und Ansätze aus den USA zurückgegriffen haben, tauchen viele Begriffe zunächst auf Englisch auf. Wir erklären diese Begriffe selbstverständlich und schlagen Übersetzungen vor, dennoch haben wir uns dafür entschieden, die Diskurse und Benennungen in den USA sichtbar zu lassen. Einen Leitfaden für die praktische Transformative Arbeit bieten wir in den Kapiteln V bis XIV. In Kapitel IV werden die theoretischen Grundlagen unseres Ansatzes erklärt. Die Kapitel können einzeln gelesen werden, doch allen, die praktisch mit diesem Buch arbeiten und üben wollen, empfehlen wir, zumindest den gesamten Leitfaden zu lesen. Wir hoffen, dass dieses Buch dabei hilft und dazu ermutigt, sich auf die Transformative Arbeit einzulassen – sei es als betroffene Person, als Person, die Gewalt ausgeübt hat, als auch als Person aus dem Umfeld, die die Transformative Arbeit anbieten möchte. Die Entwicklung dieses Ansatzes befindet sich noch in einem experimentellen und offenen Prozess, zu dem dieses Buch einen Beitrag darstellt. Es fokussiert auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt, weil hier unsere Erfahrung und Expertise liegen. Es bietet jedoch auch Anregungen für einen Umgang mit anderen Gewaltformen, wobei die jeweils spezifischen Dynamiken dieser Gewaltformen berücksichtigt werden müssen, wenn das Konzept auf sie übertragen werden soll. Wir hoffen, dass euch dieses Buch hilft, dass es euch neugierig macht und von vielen praktisch wie theoretisch aufgegriffen wird. Viel Spaß beim Lesen!

II. Persönliche und gesellschaftliche Transformation

Transformative Arbeit ist darauf ausgelegt, Personen, die Gewalt ausgeübt haben, in ihrem Prozess der Veränderung zu begleiten und zu unterstützen. Sie geht grundsätzlich davon aus, dass Gewalt ein soziales (und kein pathologisches) Phänomen ist und von der Gesellschaft wie eine ›Sprache‹ erlernt wird – und dass sich Personen verändern und Alternativen zu ihrem bisherigen Denken, Fühlen und Handeln erlernen können.

Wir reden in diesem Text von Communitys und Umfeldern, Zusammenhänge, in denen sexualisierte Gewalt sowohl passiert als auch gemeinsam bearbeitet werden kann. Manchmal sind diese Umfelder (relativ) klar abgegrenzte Strukturen, wie in Schulen, politischen Gruppen, Sportgruppen, religiösen/spirituellen Einrichtungen, Hausprojekten oder WGs, Kollektivbetrieben oder Firmen. Manchmal sind sie lose aufeinander bezogen – entweder durch geteilte Lebenserfahrungen, Verbundenheit und Nähe, wie in Freundeskreisen und Nachbarschaften, oder durch geteilte Unterdrückungserfahrungen, gemeinsame kulturelle Zugehörigkeit oder einen gemeinsamen Status (›Behinderten-Community‹, ›Queer-Community‹ oder ›syrische Community‹). Wir sind der Meinung, dass Umfelder, ganz gleich, in welcher Konstellation, kollektiv Verantwortung dafür tragen, sexualisierte Gewalt zu verhindern, aufzuarbeiten und wiedergutzumachen – in einer Weise, die langfristig und umfassend dafür sorgt, gewaltförmige gesellschaftliche Strukturen zu beseitigen.

Das Ziel der Transformativen Arbeit besteht darin, allen an diesem Prozess beteiligten Personen – und vor allem der gewaltausübenden Person – eine emanzipatorische Transformation der individuellen Verhaltensweisen und eine Erweiterung der Handlungsoptionen zu ermöglichen – und damit letztendlich auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Methode zielt darauf ab, durch die Konfrontation mit den eigenen gewaltsamen Handlungsmustern diese zu unterbrechen und eine aktive Verantwortungsübernahme zu erreichen. Darüber hinaus sollen eine Einsicht in die eigene Verstrickung in die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse erlangt und alternative, weniger gewaltförmige Handlungsmöglichkeiten auf der persönlichen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Ebene erprobt werden. Dabei kann es gegebenenfalls, jedoch nicht hauptsächlich, auch darum gehen, die eigenen Wunden, Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen der gewaltausübenden Person auf angemessene Weise mit einzubeziehen und diese als Ressourcen (nicht als Ausreden) für die Verantwortungsübernahme zu mobilisieren. Der gesamte Prozess ist daher durch das Spannungsverhältnis zwischen Empathie und Konfrontation gegenüber der gewaltausübenden Person gekennzeichnet.

Aufgrund unserer Kritik an staatlichen Strafsystemen und ihren Beschämungsstrategien, die sich struktureller Unterdrückung bedienen und sie aufrechterhalten, arbeiten wir nicht mit Erniedrigung und Bestrafung, sondern mit Menschlichkeit und Verantwortung. Wir erzeugen nicht gezielt Schuld- und Schamgefühle, sondern bauen gemeinsam an einer Vision für ein gewaltfreieres, heilenderes Miteinander. Denn wir sind der Überzeugung, dass Ansätze, die die gewaltausübende Person herabsetzen, einer möglichen Transformation im Wege stehen. Wir verstehen Menschen als soziale und nicht als autonome Wesen und Verantwortung als einen sozialen Prozess, der jenseits einer moralischen Beurteilung durch eine Autorität wie Gott oder Staat stattfinden sollte. Es geht für uns nicht darum, den Blick auf das Wesen der Person und ihren inneren, ›seelischen‹ Status zu lenken, sondern darum, das eigene Verhalten und dessen Wirkung auf andere zu reflektieren und daran zu arbeiten, gleichberechtigte Beziehungen mit anderen (wieder) aufzubauen. Wenn wir die moralische Annahme, es gäbe ›böse‹ und ›gute‹ Menschen, hinter uns lassen wollen, dann gilt dies auch für das Umfeld und die TA-Gruppe (Transformative-Arbeit-Gruppe) selbst. Auch hier werden Fehler gemacht und auch die Beteiligten bewegen sich in den komplexen Wechselbeziehungen der Machtverhältnisse. Momente der Scham, der Schuld, der Wut oder des Schmerzes können in gewisser Weise den Weg zur Veränderung eröffnen und werden die gewaltausübende Person und die TA-Gruppe immer wieder begleiten. Sie können somit eine wichtige Ressource oder Erkenntnisquelle darstellen. Veränderung ist möglich und zugleich nicht ohne Weiteres zu erreichen …

III. Wer wir sind: Über RESPONS

Im Sommer 2009 fanden wir als Gruppe zusammen, um zu diskutieren, wie ein emanzipatorischer und präventiver Umgang mit gewaltausübenden Personen aussehen könnte. RESPONS besteht aus fünf Personen, die seit nun mehr als acht Jahren den Ansatz der Transformativen Arbeit entwickeln. Einige von uns unterstützen schon seit Jahren von sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung betroffene Personen. Wir kommen aus den Bereichen Mediation, Gestalttherapie, Community Accountability und Social Justice. Einige von uns sind selbst von sexualisierter Gewalt Betroffene. In unseren gemeinsamen Auseinandersetzungen mussten wir uns auch als Gruppe mit verschiedenen belastenden und auch stärkenden Emotionen konfrontieren. Die eigenen biografischen Erfahrungen prägen unseren Umgang mit dem Thema teilweise stark, deswegen schreiben wir hier mehr dazu.

Einige von uns sahen und sehen sich wiederholt mit weißer cis-männlicher Dominanz in der Linken konfrontiert. Zahlreiche Gruppen und Strukturen sind immer noch stark von weißen cis Männern bzw. von einem weißen, cis-männlichen Habitus und Umgang dominiert. Dieser scheinbare ›Normalzustand‹ geht mit anderen Unterdrückungsverhältnissen Hand in Hand, wie z.B. Heteronormativität, Rassismus und körperlicher Befähigung. Wir haben einzelne erfolgreiche Veränderungen und Transformationen in diesem Kontext erlebt, mussten aber auch immer wieder die Erfahrung machen, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Personen wiederholt ausgeschlossen werden und ein solidarischer Umgang mit betroffenen Personen und eine konsequente Auseinandersetzung mit Gewalt oftmals zu kurz kommen. Einige von uns haben selbst Verletzungen, Ohnmacht und Ausschluss erfahren. Uns geht es daher darum, einen politischen Raum zu schaffen, in dem die Bedürfnisse von betroffenen Personen wahrgenommen und respektiert werden. Um solche Räume zu eröffnen und aufrechtzuerhalten, sind vielfältige Interventionen notwendig, die teils auch laut und konfrontativ sein müssen, um sich angesichts der normativen Strukturen Gehör zu verschaffen – und um Räume nicht wortlos zu verlassen.

Unsere Einschätzungen und Erfahrungen unterscheiden sich jedoch auch voneinander. Dies führen wir unter anderem auf unser unterschiedliches Alter und verschiedene Hintergründe zurück. Eine Person in der Gruppe ist stark von den Errungenschaften der Zweiten Feministischen Bewegung in der weiß-deutschen Linken geprägt. Dank der Kämpfe älterer Generationen ist die Thematik (sexualisierte) Gewalt und Sexismus für jüngere Generationen präsenter. Die Frage, inwiefern dieses Thema jedoch in den alltäglichen politischen Praktiken bearbeitet und überwunden wird – anstatt als bloßes Label zu fungieren –, ist immer wieder Teil unserer Auseinandersetzung. Obwohl die Geschlechterverhältnisse in der Linken nach wie vor von weißer cis-männlicher Dominanz geprägt sind, gibt es gegenwärtig eine Vielzahl an Erfolgen, z.B. in Form von queer*feministischen Interventionen und Räumen für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Als Gruppe RESPONS verorten wir uns in diesen Kämpfen und sind denjenigen dankbar, die vor uns diese Kämpfe geführt haben. Die feministische und später auch queer*feministische Bewegung in der BRD hat große Erfolge damit erzielt, Unterstützungsstrukturen für betroffene Personen aufzubauen – auch wenn diese immer noch zu wenige sind, insbesondere in ländlichen Regionen und in Bezug auf Mehrfachbetroffenheit. Ansätze, die auf einen Umgang mit gewaltausübenden Personen abzielen und versuchen, Angebote für Reflexion und Veränderung zu entwickeln, gibt es jedoch kaum. Obwohl es diese Angebote vereinzelt gab und gibt und wir auch sehen, dass die knappen Ressourcen in der Linken zuerst den Betroffenen zur Verfügung gestellt werden sollten, hat uns hier etwas gefehlt.

Die Arbeit von Frauen*, Queers und nicht-binären Menschen of Color in den USA zu diesen Themen war für eine Person in unserer Gruppe sehr prägend (auch als Antwort auf den empfundenen Mangel an communitybasierten Veränderungsangeboten), u.a. in Form des Ansatzes der Community Accountability und Transformative Justice, (siehe Kapitel IV.3, Abschnitt »Community Accountability als kollektive Verantwortungsübernahme und Transformative Justice als Transformative Gerechtigkeit«). Sie ist durch die Frauen*-of-Color-Bewegung seit den 1970ern in den USA und der Kritik an dem Rassismus und den universalistischen Ansprüchen des weißen Mainstream-Feminismus zum Feminismus gekommen. Ihr wurde immer wieder bewusst, dass sie sowohl in unterschiedlichen Weisen betroffen, als auch in verschiedenen Hinsichten privilegiert ist und Verantwortung dafür übernehmen muss. Durch diesen persönlichen Hintergrund liegt ihr Fokus in Bezug auf Täterschaft auf den Themen Scham, Schuld und Strafen.

Als wir anfingen, uns mit dem Thema Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen auseinanderzusetzen, trafen aufgrund unserer unterschiedlichen Biografien verschiedene Reaktionen und Einschätzungen aufeinander, von Empathie und Verständnis bis zu Wut und Abwehr. Wir fanden es während der Arbeit in unserer Gruppe wichtig, weder nur positive Erfahrungen und utopische Vorstellungen hinsichtlich der Transformativen Arbeit zu berücksichtigen, noch vor allem den negativen und skeptischen Raum zu geben. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ein gewisses Transformationspotenzial und eine gewisse Gefahr, Machtverhältnisse zu reproduzieren und zu stabilisieren, in jeder politischen Praxis vorhanden sind. Obwohl wir uns immer wieder uneins darin waren, welche Aspekte wie zu gewichten sind, war uns klar, dass wir die Chancen wie Risiken der Transformativen Arbeit diskutieren wollen. Wir haben uns entschieden, in unserer Arbeit den Schwerpunkt weder auf Konfrontation, noch auf Versöhnlichkeit zu legen. Vielmehr versuchen wir, unsere Praxis immer wieder auf dieses Spannungsverhältnis hin zu befragen, damit ein Potenzial für Transformation überhaupt erst sichtbar werden kann und zugleich die Gefahr gemindert wird, die Gewaltausübung kleinzureden oder gar zu entschuldigen, oder aber die gewaltausübende Person übermäßig zu verurteilen.[1] Stattdessen wollen wir uns darum bemühen, die widersprüchlichen und ambivalenten Emotionen und Tendenzen kontinuierlich als Ressourcen für die Transformation wahrzunehmen.

Beim Schreiben dieses Konzeptes haben wir immer wieder versucht, die aus den USA stammenden Ansätze von Frauen*, Queers und nicht-binären Menschen of Color und unsere Erfahrungen in unseren weiß dominierten deutschen linken Kontexten für unsere Umfelder praktisch anwendbar zu machen. Alle Personen in unserer Gruppe sind weiß positioniert und haben mehrheitlich Erfahrungen in der weiß dominierten Linken und queer*feministischen Szene in Berlin gemacht. Somit verfügen wir nicht über das Erfahrungswissen, aus dem heraus Ansätze wie Transformative Justice und Community Accountability entstanden sind. Da wir als weiße Gruppe nicht nur von dem rassistischen System profitieren, sondern auch an dem Ausschluss von Aktivist*innen of Color beteiligt sind, war es uns wichtig, die Kritik von Schwarzen Feminist*innen und Feminist*innen of Color in unser Konzept einfließen zu lassen und unseren weißen Denk- und Wahrnehmungshorizont infrage zu stellen. Aus Kapazitätsgründen haben wir es bisher leider nicht geschafft, uns mit Gruppen außerhalb unserer eigenen Umfelder auszutauschen, wie z.B. mit Organisationen, die die Perspektiven von behinderten Personen oder von Personen, die negativ von Rassismus betroffen sind, vertreten. Das sehen wir als weiteren notwendigen Schritt für unsere Arbeit an. Wir sind uns darüber bewusst, dass wir erst zaghafte erste Schritte gemacht haben und unsere Auseinandersetzungen und Arbeit alles andere als abgeschlossen sind, sondern vielmehr immer wieder überprüft, erweitert und korrigiert werden sollten. Auch in dieser Hinsicht wollen wir Verantwortung übernehmen.

Auch Geschlecht war ein wichtiges Thema in unserer Gruppendynamik. Die Gruppe bestand aus zwei weiblich sozialisierten und drei männlich privilegierten Personen. Queer*feministische Gruppen stellten für die Männer in der Gruppe in unterschiedlichem Maße Orte dar, an und mit denen sie sich immer wieder aktiv als Verbündete einzubringen versuchten und wo sie sich mit ihren privilegierten Männlichkeiten kritisch auseinandersetzten. Während sich zwei von ihnen schon seit mehreren Jahren in sexismuskritischen und/oder Unterstützungsgruppen für betroffene Personen engagierten, fand ein cis Mann erst relativ kurz vor dem Beginn der Arbeit an diesem Konzept sein politisches Zuhause in queer*feministischen Gruppen. Parallel zu und gerade auch vor dem Hintergrund ihrer Mitarbeit an diesem Konzept haben die drei einen machtkritisch fokussierten Sensibilisierungsworkshop zu cis Männlichkeiten entworfen und mehrfach durchgeführt. Die Motivation für die Mitarbeit speiste sich für die drei aus jeweils unterschiedlichen Quellen. Für einen cis Mann war ausschlaggebend, dass in seinem nahen Umfeld verschiedene Personen, die sowohl weiblich als auch männlich sozialisiert sind, als Kinder sexualisierte Gewalt erfahren mussten. Die drastischen und langwierigen Auswirkungen dieser Gewalterfahrungen waren somit immer wieder auch Thema in seinen Freund*innenschaften. Das eigene Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Veränderung ergab sich darüber hinaus aber auch aus der Beschäftigung mit machtkritischen und an Social Justice orientierten Ansätzen, die letztendlich in der Einsicht mündete, dass Macht, Gewalt und Unterdrückung auch verdammt viel mit ihm selbst zu tun haben.

Bei allem Bemühen um eine machtkritische und solidarische Haltung als Verbündete blieb jedoch die Mitarbeit der drei cis Männer nicht ohne Auswirkungen auf die Dynamik und Atmosphäre der Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe. Die Geschlechterkonstellation führte dazu, dass wir selbst einige der Vorschläge, die dieses Buch enthält, nicht umsetzten. So haben wir uns z.B., obwohl wir es hier anregen, nicht explizit in der Gruppe über unsere eigenen persönlichen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt ausgetauscht. Dies lag daran, dass für uns die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen erst einmal ein sehr sensibles Thema ist, das mit verschiedenen schmerzvollen und Ohnmachts-Gefühlen verbunden ist und das einer vorsichtigen Annäherung bedurfte. Wir entschieden uns dafür, einen auf Wohlwollen und Interesse beruhenden Austausch in den Vordergrund zu stellen, um Vertrauen aufzubauen. Es ging uns darum, einen möglichst sicheren Rahmen entstehen zu lassen, in dem unsere eigenen Verletzungen einfließen konnten, ohne sie explizit zum Thema zu machen. Dasselbe galt für andere Erfahrungen ebenso wie für Privilegierungen. Ein sensibler und bewusster Umgang machte es möglich, dass Emotionen ausreichend Raum erhielten und wir Vertrauen und einen guten Austausch herstellen konnten.

Das Geschlechterverhältnis unserer Gruppe haben wir erst gegen Ende der Arbeit an dem Konzept reflektiert. Daher haben wir bisher nur einige Aspekte herausgearbeitet. In emotionaler Hinsicht waren die weiblich sozialisierten Personen während unserer Arbeit stärker berührt und betroffen als die männlich privilegierten. Das hatte zur Folge, dass die Auseinandersetzung ihnen auch mehr Energie abverlangte und sie insgesamt emotional engagierter in dem Prozess waren, auch wenn dies nicht immer für alle sichtbar wurde. Für privilegierte und nicht-betroffene Personen ergibt sich nicht dieselbe Notwendigkeit, sich mit Macht- und Gewaltverhältnissen zu beschäftigen. Trotz des Engagements der cis Männer in unserer Gruppe war dieser Umstand auch unter uns präsent. So entstand eine gewisse Zäsur in der Gruppe, als es um die konkrete Ausformulierung des Konzepts ging. Mit dieser Arbeit begannen zunächst nur die beiden weiblich sozialisierten Personen, bis eine männlich privilegierte Person wieder mit dazukam. Das Spannungsverhältnis zwischen einer verantwortungsvollen Arbeit der männlich Privilegierten als Verbündete und einer Zurückhaltung aufgrund des Risikos einer Reproduktion von Privilegierungen machte die Gruppenarbeit nicht immer leicht. Dies führte an bestimmten Punkten auch dazu, dass die Zurückhaltung überwog und das Risiko, sich angreifbar zu machen, nur in begrenztem Maße eingegangen worden ist. Insgesamt hatten wir jedoch den Eindruck, dass wir als Gruppe trotz dieser Dynamiken einen guten Rahmen für unsere Auseinandersetzungen schaffen konnten. Es war für uns nicht immer ein leichter Prozess und dieser ist auch noch lange nicht abgeschlossen. Die Arbeit bot somit auch für uns einen Lernprozess und eine gewisse Transformation war auch zwischen uns spürbar.

Mit der praktischen Transformativen Arbeit, insbesondere mit einem Transformativen Arbeitsprozess mit gewaltausübenden Personen, wie ihn dieses Konzept vorschlägt, haben Einzelne aus unserer Gruppe seit einigen Jahren Erfahrungen gesammelt. Eine Person hat darüber hinaus Interviews mit Personen geführt, die seit Langem bei U.S.-amerikanischen Gruppen wie Support New York und Philly Stands Up aktiv sind, um ihre Praxen kennenzulernen.[2] Darüber hinaus haben wir damit begonnen, Unterstützer*innengruppen von betroffenen Personen dabei zu unterstützen, TA-Gruppen anzustoßen. In einem Prozess waren wir selbst nicht Teil der TA-Gruppe, sondern begleiteten diese durch Supervision. In anderen leiteten wir die TA-Gruppe, die sich aus Personen aus dem Umfeld der gewaltausübenden Person und der gewaltausübenden Person selbst zusammensetzte. Dadurch konnten wir viele Anregungen aus der konkreten Praxis der Transformativen Arbeit für die Entwicklung dieses Konzeptes gewinnen. Die Fälle, in denen einige von uns selbst die gewaltausübenden Personen in ihrem Transformationsprozess begleiteten, waren Prozesse, bei denen die gewaltausübenden Personen ein aktives Eigeninteresse an der Veränderung und Reflexion hatten und sich selbst eine TA-Gruppe gesucht hatten. Allerdings haben wir diesen Leitfaden noch nie im Ganzen umgesetzt. Er ist das Ergebnis unserer Auseinandersetzungen, unserer Erfolge und teilweise auch Misserfolge und unserer Reflexionen darüber, was wir uns gewünscht hätten oder was in den Prozessen gefehlt hat. Dieses Buch soll Anregungen bieten und zu eigenen Experimente anregen, es kann aber keinen Erfolg garantieren. Daher freuen wir uns sehr über Feedback von Menschen, die den folgenden Leitfaden umzusetzen versuchen.

Theoretische Grundlagen

IV. Theoretische Grundlagen der Transformativen Arbeit

In diesem Kapitel stellen wir verschiedene Ansätze, Konzepte und Themenzusammenhänge vor, die wir als Inspiration und theoretische Grundlage für unsere Arbeit verstehen. Beginnen werden wir diesen Überblick mit eher allgemeineren Konzepten, wie z.B. der Social-Justice-Perspektive, unserem Verständnis von Unterdrückungsverhältnissen, der intersektionalen Verschränkung dieser Verhältnisse sowie dem Konzept der Verbündeten. Innerhalb dieses Rahmens haben wir unsere Arbeit entwickelt, er verdeutlicht unser politisches Verständnis. Hieran schließt eine Beschäftigung mit dem Themengebiet sexualisierte Gewalt an. Zunächst gehen wir näher auf unser Verständnis von sexualisierter Gewalt ein, um dann zu einer Diskussion der Konzepte Definitionsmacht, Parteilichkeit und Zustimmung, die in queer*-feministischen Kontexten als Gegenstrategien zu sexualisierter Gewalt entwickelt worden sind, überzuleiten. Abgerundet wird dieser Überblick durch eine Erläuterung der Konzepte ›gewaltausübende Person‹ und ›Accountability‹ bzw. Verantwortungsübernahme sowie der Ansätze ›Community Accountability‹ und ›Transformative Justice‹. Gerade die beiden letztgenannten Ansätze beschreiben die Prozesse der kollektiven Verantwortungsübernahme und einer transformativen Gerechtigkeit, die in QueerTransBiInter*People of Color[3]-Kontexten in den USA entwickelt wurden.

1. Social Justice * Unterdrückung * Intersektionalität * Verbündete

Die für uns grundlegende Social-Justice-Perspektive ergibt sich weitestgehend aus der sogenannten ›Social Justice Education‹, die einen US-amerikanischen Ansatz der politischen Bildungsarbeit darstellt.[4] Dieser Ansatz beruht auf den vielfältigen Erfahrungen und Errungenschaften der unterschiedlichen sozialen Bewegungen, die seit der Bürger*innenrechtsbewegung in den USA aufgekommen und aktiv geworden sind. Diese Perspektive haben wir mit herrschaftskritischen Ansätzen aus der weiß-deutschen autonomen Bewegung verknüpft (ohne hier explizit Namen zu nennen oder diese auszuführen, unter anderem deshalb, weil viele dieser Ansätze auf kollektivem Erfahrungswissen basieren und undokumentiert blieben). Wir begreifen die Social-Justice-Perspektive vor allem als ein Geflecht aus verschiedenen Annahmen und Konzepten, mit deren Hilfe nicht nur die unterschiedlichen und ineinander verschränkten gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse analysiert werden können, sondern sich mit ihnen auch aktiv und machtkritisch auseinandergesetzt werden kann. Damit es nicht nur bei einer vorrangig intellektuellen Analyse bleibt, bietet dieser Bildungsarbeitsansatz die Möglichkeit, durch ein Set von interaktiven und erfahrungsorientierten Methoden ein Verständnis sowohl der Bedeutung als auch der jeweiligen Auswirkung von sozialen Differenzen und Unterdrückungsverhältnissen zu erarbeiten. Darüber hinaus wird es im Rahmen der Social Justice Education grundsätzlich angestrebt, einen Raum für die (selbst-)kritische Reflexion der eigenen Positioniertheit und Verstricktheit in diese Unterdrückungsverhältnisse zu eröffnen, um sich so mit den jeweiligen Konsequenzen der damit einhergehenden Sozialisation auseinandersetzen zu können. Letztendlich zielen die dadurch angestoßenen Bildungsprozesse darauf ab, vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialen Positionierungen und Erfahrungen alternative Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns zu entwickeln und somit den Abbau von Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung zu befördern.

Das Ziel dieses Ansatzes lässt sich von daher auch als ein breit angelegter und kontinuierlicher Dialog über konstruktive und effektive Wege der Hinterfragung und Herausforderung von Unterdrückungsverhältnissen wie (Hetero-)Sexismus, Rassismus, Adultismus, Antisemitismus, Ableism und Klassismus bzw. Kapitalismus verstehen. Als Vision oder Horizont dieser Bildungsarbeit dient vor allem die Idee einer umfassenden Partizipation aller sozialen Gruppen am gesellschaftlichen Leben und somit auch die gleichberechtigte Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen, sodass die physische und psychische Sicherheit und Integrität aller Personen gewährleistet werden kann. Diese Vision spiegelt sich auch in den konkreten Prozessen der Social Justice Education wider, da diese möglichst partizipativ und inkludierend gestaltet sowie von einer grundlegenden Anerkennung der verschiedenen Erfahrungen der Teilnehmer*innen getragen werden. Denn es wird davon ausgegangen, dass die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Sozialisationserfahrungen eine kritische wie alltagsbezogene Analyse der verschiedenen Unterdrückungsverhältnisse ermöglicht. Hierdurch werden die Teilnehmer*innen nicht nur dazu ermutigt, sondern auch konkret dazu befähigt, sowohl Visionen als auch Kapazitäten für die individuelle, kollektive und institutionelle Transformation in- und außerhalb der eigenen Community zu entwickeln.

Gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse

Von daher ist für eine Social-Justice-Perspektive ein Verständnis von gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen zentral, das diese Verhältnisse als ein komplexes Zusammenwirken von systematischen Diskriminierungen mit durchdringenden Effekten auf jede*n Einzelne*n begreift. Damit ist vor allem gemeint, dass die konkreten Formen dieser Unterdrückungsverhältnisse gerade nicht als zufällige Akte individueller Gewalt zu verstehen sind. Vielmehr bilden sie die strukturelle Basis für die Konstruktion der unterschiedlichen Realitäten und der vermeintlichen gesellschaftlichen ›Normalität‹. Im Zuge dieser Konstruktion werden Personen privilegiert oder marginalisiert verortet, sodass ihnen ein bestimmtes und unterschiedlich anerkanntes sowie vor allem auch unterschiedlich dimensioniertes Handlungsvermögen zugewiesen wird. Die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse weisen für alle Personen bestimmte und jeweils unterschiedlich gelagerte Konsequenzen auf – Marginalisierte erleben diese in Form von Diskriminierung und Ausschluss aus der Gesellschaft, durch geringeren Zugang zu Ressourcen, weniger Repräsentation, Anerkennung und Würde in der dominanten Kultur und durch größere Risiken in Bezug auf Gewalt (staatliche und zwischenmenschliche), Armut, Obdach- und Arbeitslosigkeit, Traumata und Gesundheitsprobleme. Privilegierte Personen sind nicht oder in geringerem Ausmaß diesen Risiken ausgesetzt und profitieren auf vielfältige Weisen (bewusst oder nicht) von Unterdrückungssystemen. Zugleich erleben aber auch Privilegierte negative Erfahrungen durch Privilegien, z.B. wenn ihr Handeln, Denken und Fühlen auf bestimmte Möglichkeiten eingeschränkt wird, bzw. wenn ihnen die damit verbundenen sozialen Rollen besonders nahegelegt werden.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass ein entscheidender Unterschied darin besteht, welche Kosten und Einschränkungen von den jeweils unterschiedlich verorteten Personen getragen werden (müssen). Aufgrund ihrer hierarchisierenden Strukturierung gehen die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse für privilegierte und marginalisierte Personen mit jeweils sehr unterschiedlichen Auswirkungen einher. Das heißt, während sich Marginalisierte mit systematischer Ausgrenzung, Gewalt, Nicht-Anerkennung und Abwertungen aufgrund ihrer vermeintlichen Abweichung von der gesellschaftlichen ›Normalität‹ konfrontiert sehen, werden in Deutschland z.B. cis Männer, heterosexuell lebende Menschen, Akademiker*innen, Weiße, körperlich befähigte Menschen und Christ*innen von den gesellschaftlichen Zuständen enorm bevorteilt. So bestehen z.B. generelle Privilegien für sie darin, dass sie sich gesellschaftlich anerkannt fühlen können, mehr oder weniger auf einen gesellschaftlichen Konsens vertrauen können, sich sicher und zugehörig fühlen können, sie sich in den Medien repräsentiert sehen, sie über vielfältige Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen verfügen – z.B. auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt – und sie sich als ein individueller Mensch verstehen können, sodass sie weder auf ihre soziale Gruppenzugehörigkeit reduziert werden, noch diese quasi auskunftspflichtig zu repräsentieren haben. Eine weitere Facette dieser sozialen Bevorteilung besteht darin, dass diese vielfältigen Privilegierungen als derart normal und selbstverständlich wahrgenommen werden, dass sich die betreffenden Personen oft weder ihrer privilegierten Position in der Gesellschaft noch der damit einhergehenden Kosten für sie bewusst sind. Denn die jeweilige Sozialisation begünstigt es, dass die Verhältnisse als gegeben akzeptiert, verinnerlicht und letztendlich auch aufrechterhalten werden. Bei strukturell unterdrückten Personen kann diese Verinnerlichung ebenfalls stattfinden – in Form einer Akzeptanz der vermeintlichen Unterlegenheit als auch in Form einer Überlebensstrategie, die immer wieder auch in Gegenwehr und Widerstand gewendet werden kann. Bei Privilegierten geht eine solche Verinnerlichung jedoch eher mit einem (unbewussten) Überlegenheitsgefühl und einer Zustimmung zum Status quo einher, wobei sie auch durch Gefühle der Schuld, Scham und Angst sowie einem Bedürfnis nach Verleugnung und Abwehr der eigenen Beteiligung am System der Unterdrückung begleitet werden kann.

Diese gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse werden im Ansatz der Social Justice nicht als schematisch verstanden, sondern als weder einseitig, noch statisch oder völlig bestimmend angesehen. Vielmehr werden sie als dynamisch, relational, ineinander verschränkt und als grundsätzlich veränderbar gedacht. Dementsprechend ist die Verteilung von Privilegien oder Benachteiligungen auch nur relativ zu verstehen, d.h. hinsichtlich eines bestimmten Machtverhältnisses kann eine Person privilegiert sein, während er*sie im Kontext eines anderen gerade marginalisiert wird. Dabei geht es weder um eine simple Addition der Verhältnisse, noch um ihre hierarchische Anordnung, sondern um die Einsicht, dass die Verhältnisse sich wechselseitig hervorbringen und bestärken. Bemühungen um eine individuelle und gesellschaftliche Transformation müssen also auch versuchen, dieser Komplexität gerecht zu werden.

Das Konzept der Intersektionalität

Aus einer Social-Justice-Perspektive wird hierfür nun vor allem das Konzept der Intersektionalität als hilfreich und weiterführend angesehen. Dieses Konzept, das für die Analyse der komplexen Verwobenheit von gesellschaftlichen Machtverhältnissen steht, entstand primär im Kontext des Schwarzen Feminismus gegen Ende der 1970er Jahre in den USA.[5] Die Kritik, die noch heute vor allem von Queers, Frauen*, trans* und nicht-binären Menschen of Color formuliert wird, macht darauf aufmerksam, dass die zentralen Anliegen der feministischen Bewegungen nicht lediglich auf die Unterdrückung aufgrund von Geschlecht beschränkt werden können. Vielmehr sind Frauen* in unterschiedlicher Weise von verschiedenen Machtverhältnissen betroffen – je nach dem, ob sie in den gesellschaftlichen Strukturen jeweils privilegiert oder marginalisiert positioniert sind. Von daher wird mit dieser Kritik auch davon ausgegangen, dass es gerade nicht ausreicht, im Rahmen einer vermeintlich ›globalen Schwesternschaft‹ vorrangig dem sexistischen Normalzustand den Kampf anzusagen, da z.B. Frauen* of Color zumindest auch von Rassismus negativ betroffen sind. Um nun demgegenüber einen angemessenen Umgang mit diesen Differenzen unter Frauen* und der Komplexität der miteinander verwobenen gesellschaftlichen Verhältnisse er*finden zu können, wurde der Ansatz der Intersektionalität entwickelt. Der Begriff der Intersektionalität wurde dabei zunächst von der Schwarzen Juristin Kimberlé Crenshaw gegen Ende der 1980er Jahre in die Diskussion gebracht. Anstelle einer eindimensionalen feministischen Analyse von Machtverhältnissen und der aus ihr folgenden Annahme, dass Kategorien wie Geschlecht oder ›Rasse‹ als gegenseitig exklusiv zu betrachten seien, betonte Crenshaw die Notwendigkeit, die je unterschiedlichen und sich wechselseitig bedingenden Lebensrealitäten und Unterdrückungserfahrungen anzuerkennen und zusammenzudenken.[6] In der weiteren Debatte um den Ansatz der Intersektionalität wurden darüber hinaus auch immer vielfältigere Stimmen vernehmbar. Mitunter führte dies dazu, dass nicht nur das klassische Dreiergespann von Geschlecht, ›Rasse‹ und Klasse in die Diskussion um Intersektionalität miteinbezogen wurde, sondern auch andere strukturelle Kategorisierungen, wie z.B. Sexualität, Alter, Antisemitismus sowie körperliche und geistige Befähigung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Auflistung von Unterdrückungsverhältnissen immer als unabgeschlossen anzusehen ist.

Intersektionalität hat die kontextspezifische Analyse der verschiedenen Wechselbeziehungen der genannten Unterdrückungsverhältnisse und deren vielfältigen Auswirkungen auf einzelne Personen zum Ziel. Diesem Ansatz liegt somit die zentrale Annahme zugrunde, dass sich die verschiedenen Verhältnisse oder Positionierungen nicht einfach addieren und dabei unverändert bleiben. Eine Schwarze Professorin mit körperlicher Beeinträchtigung wäre nicht durch Rassismus plus Geschlecht plus körperlicher Befähigung negativ betroffen und eine weiße