Was uns nicht gehört - Martin Gülich - E-Book

Was uns nicht gehört E-Book

Martin Gülich

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Beschreibung

Als Paul Epkes seine Freundin und kurz darauf seine Arbeit verliert, gerät sein Leben aus dem Tritt. Die einzige Konstante ist die Beziehung zu seinem Vater, der an Demenz leidet und ihn nicht mehr erkennt. Eines Abends trifft Epkes auf Maria, die, als Mireille Mathieu verkleidet, in einer zweitklassigen Show französische Chansons singt. Erst verzaubert, dann verliebt, begleitet Epkes sie auf ihre Konzertreise und erfährt eine Nähe und Freiheit, die ihm für kurze Zeit ein ungeahntes Glück beschert. Mit Charme und Witz erzählt Martin Gülichs Roman von absurden Zufällen, von der Liebe und dem manchmal unfreiwilligen Versuch, aus dem Alltag auszubrechen. Eine tragikomische und lebenskluge Liebesgeschichte.

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Seitenzahl: 219

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N & K Nagel & Kimche E-Book
Martin Gülich
Was uns nicht gehört
Roman
Nagel & Kimche
Der Autor dankt dem Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.
© 2012 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz Satz: Gaby Michel, Hamburg ISBN 978-3-312-00546-8 E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
www.martin-guelich.de
Für Zoë
I Mein Leben hatte ein paar Schrammen abbekommen. Nichts Arges, aber doch genug, um mich ein wenig aus dem Tritt zu bringen. Sonja sagte, sie habe das alles kommen sehen, aber das sagte sie immer, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. «Siehst du», sagte sie dann, «was habe ich dir gesagt», und wenn ich sie darauf hinwies, dass sie nichts dergleichen je auch nur erwähnt habe, winkte sie ab und sagte: «Ach, du wieder.» Das waren unsere Gespräche.
Ihre Trennung von mir hatte Sonja hingegen in der Tat angekündigt. Siebeneinhalb Jahre, hatte sie gesagt, seien genug, aber da ihr schon sechs und fünfeinhalb zu viel gewesen waren, hatte ich sie nicht weiter ernst genommen. So wenig wie die Trennung selbst in der Woche darauf. Sie kramte ihre Sachen zusammen, die sich in meiner Wohnung angesammelt hatten, und küsste mich zum Abschied auf den Mund. «Nicht traurig sein», sagte sie, «let’s keep in touch», und ich wusste nicht, worüber ich mich mehr ärgerte, über ihre Anweisung meinen Gefühlshaushalt betreffend oder die alberne englische Phrase.
Wir sahen uns zwei Wochen nicht, dann schliefen wir wieder miteinander. Sonja sagte, das habe nichts zu bedeuten, schon gar nicht, dass wir jetzt wieder zusammen seien. Was ich darüber dächte, sei natürlich mir überlassen, wie im Übrigen auch alles andere. Insbesondere, ob ich weiter mit ihr Sex haben wolle, nicht jeder könne das eine vom anderen trennen. Sie freilich schon, das habe sie jetzt, da unsere Liebe vorüber sei, zum ersten Mal gemerkt. Ich ließ Sonja eine Weile reden, dann wandte ich mich wortlos ab und ging ins Badezimmer. Ich ließ mir ein Bad ein und blieb in der Wanne, bis ich im lauwarmen Wasser bereits zu frösteln begann. Draußen hörte ich die Wohnungstür, ein wenig lauter als nötig, aber letztlich war ich Sonja dankbar, dass sie den Abend auf ihre Weise beendete.
Am nächsten Morgen beorderte mich mein Chef in sein Büro. Er bat mich, Platz zu nehmen, und ließ uns Kaffee bringen. Bernd Kremer war der einzige verbliebene Eigentümer von Walter & Kremer, die einmal eine Nummer im Geschäft mit Kartonagen gewesen waren. Seit einiger Zeit allerdings gingen die Absätze rapide zurück, wofür niemand eine wirkliche Erklärung fand. Am wenigsten Kremer, der von seinen Kartons überzeugt war wie am ersten Tag.
«Das ist immer noch Qualität», hatte ich ihn erst jüngst auf dem Flur zu Loos, dem Leiter der Werksicherheit, sagen hören, «stellen Sie mir zehn in eine Reihe, und ich finde Ihnen mit verbundenen Augen den einen von uns heraus.»
Dazu hatte er sich den Zeigefinger geleckt und ihn in die Luft gehalten, eine Geste, die ich nicht verstand.
Loos nahm mich am Mittag in der Kantine beiseite und raunte mir zu, Kremer werde langsam komisch. «Wenn du mich fragst», flüsterte er, «ist er das Problem.»
Ich streckte meinen Zeigefinger in die Luft und sagte: «Zehn in einer Reihe», und kam mir schon im selben Moment schäbig vor. Loos freilich lachte, als hätte ich den Witz des Jahres gerissen, und ich glaubte mich zu erinnern, dass ich ihn noch nie hatte leiden können.
Ich hatte vor sieben Jahren bei Walter & Kremer in der Buchhaltung angefangen und saß dort noch immer. Kremer selbst hatte mich seinerzeit eingestellt. In einem umständlichen Gespräch hatte er mir die Strukturen der Firma erklärt, von denen ich nur soviel verstand, dass das Verhältnis zu den Brüdern Walter nicht eben ungetrübt war. Kurz darauf waren sie ihre eigenen Wege gegangen, und wie es aussah, hatten sie dabei keinen schlechten Schnitt gemacht. Sie hatten im Osten der Stadt eine neue Firma aufgebaut, die sich auf Kleinstkartonagen spezialisiert hatte, und nach allem, was man hörte, liefen ihre Geschäfte prächtig.
Kremer war ein weicher Mann, dem Entscheidungen schwerfielen, vielleicht mochte ich ihn deswegen. Angetrunken hatte er mir auf einem Betriebsfest anvertraut, dass er bisweilen schon beim Anblick des Fernsehprogramms verzweifle, im Supermarkt sowieso, manchmal, hatte er mit leiser Stimme gesagt, gehe er einfach ohne Einkäufe wieder hinaus.
«Wie ich», erwiderte ich, «genau wie ich», dabei war ich noch nie ohne Einkäufe aus einem Supermarkt gegangen, aber einem plötzlichen Impuls folgend, wollte ich Kremer etwas Gutes tun.
Er sah mich lange an. Ein wenig verwundert, ein wenig aber auch wie einen alten Freund.
«Ach, Epkes», sagte er schließlich und klopfte mir zum wiederholten Mal an diesem Abend auf die Schulter, «wir sind aus einem Holz.» Kurz darauf war er eingeschlafen.
Das alles war vier oder fünf Jahre her, und seitdem hatte sich Kremer nie mehr in solcher Weise vor mir aufgeknöpft. Vielleicht war ihm seine Vertrautheit im Nachhinein peinlich gewesen, aber vermutlich lag es allein daran, dass ich seither auf keins der Betriebsfeste mehr gegangen war. Nicht Kremers wegen oder doch Kremers wegen, so ganz war ich mir nicht im Klaren darüber.
Kremer schenkte mir Kaffee ein.
«Milch, Zucker?», fragte er, und an seinen ungeschickten Bewegungen erkannte ich, dass er nervös war.
Er lehnte sich auf seinem Sofa zurück, werkelte sich aber schon Sekunden später wieder vor zur Sitzkante.
«Epkes», sagte er, «Sie wissen, was Outsourcing bedeutet.»
«Natürlich», erwiderte ich, «jeder weiß das.»
Kremer nickte. «Gut», sagte er, «das ist gut.»
Er schwieg eine Weile, dann griff er nach seinem Kaffee und nahm ein paar kleine Schlucke. Als er seine Tasse wieder absetzte, nickte er mir ein weiteres Mal zu oder an mir vorbei, ich selbst war nicht mehr ganz bei der Sache. Im Grunde wusste ich, auf was das Ganze hier hinauslief. Ich schaute zum Fenster. Kremers Zimmer war mit einer Jalousie abgedunkelt. Einzelne Lamellen waren verbogen und gaben den Blick frei auf ein paar Bäume, von denen einer krank war. Einige Äste waren völlig entlaubt, das Holz überzogen mit weißen Placken, die an manchen Stellen bereits die Rinde aufzufressen schienen. Vielleicht, so dachte ich, hatte der Baum Krebs. Rindenkrebs. Zwar hatte ich noch nie von etwas Derartigem gehört, aber das musste nichts heißen. Von den meisten Dingen hatte ich noch nie etwas gehört, auch von solchen, von denen ansonsten jeder schon einmal gehört hatte. Erst kürzlich hatte ich in der Zeitung gelesen, dass Willy Brandt tot war. Seit neunzehn Jahren. Nicht dass ich mir Willy Brandt irgendwann in den letzten neunzehn Jahren einmal lebend vorgestellt hatte, aber ich hatte einfach nicht mitbekommen, dass er gestorben war. Oder ich hatte es doch mitbekommen, in der Zwischenzeit aber wieder vergessen, ein Gedanke, der mich auf der Stelle noch mehr beunruhigte. Es gab in meiner Familie einen gewissen Hang zur Demenz, die sich wie ein riesiger Krake alles griff, was in ihre Reichweite kam. Zuletzt meinen Vater, der unterdessen nur noch seinen Hund erkannte, oder nein: der in jedem Hund seinen Hund erkannte, ganz gleich ob Dackel oder Schäferhund, aber das alles machte aus ihm, wie es schien, keinen unglücklichen Menschen. Im Gegenteil: Alles Nörgelnde, Bevormundende, Cholerische und Egomanische, das sein Leben immer fest im Griff gehabt hatte, war von ihm abgefallen, und an manchen Tagen wünschte ich mir, seine Demenz hätte schon zwanzig Jahre früher begonnen.
Ich sah zurück zu Kremer, der in seinem Kopf erkennbar noch immer nach Worten kramte. Er rührte mit dem Kaffeelöffel in seiner Tasse, obwohl es dort schon lange nichts mehr zu rühren gab. Erst jetzt sah ich, dass vor ihm auf dem Tisch eine Mappe lag, die meinen Namen trug.
«Der Baum», sagte ich und deutete zum Fenster, «der wird nicht mehr.»
Kremer sah mich an und hörte auf zu rühren. Schließlich ließ er den Löffel los und faltete die Hände wie zum Gebet.
«Mein Gott, Epkes», sagte er leise, «Sie wissen doch, dass mir so was nicht leichtfällt.»
«Wie lange noch?», fragte ich.
«Ich zahle Ihnen acht Monatsgehälter Abfindung, das ist mehr, als Ihnen ein Gericht geben würde.»
«Sofort?»
Kremer nickte. «Ja, sofort.»
Ich stand am Fenster meiner Wohnung, wie ich es nun häufig am frühen Abend tat. Draußen dümpelte ein müder Juli vor sich hin, und obwohl der Wetterbericht nicht nachließ, Optimismus zu verbreiten, glaubte niemand mehr daran, dass der Sommer noch zu retten war. Auf einem der Balkone gegenüber sah ich, wie eine Frau ihren Mann ohrfeigte, ein Streit, der sich schon Sekunden später in einer ungelenken Umarmung auflöste. Ein wenig bedauerte ich es, dass die Auseinandersetzung, die so vielversprechend begonnen hatte, nicht wenigstens ein bisschen eskalierte. Dabei war mir nicht klar, was genau ich mir eigentlich wünschte. Vermutlich weitere Schläge der Frau, die, ich zweifelte nicht daran, den Richtigen trafen. Ich kannte den Mann vom Jedermann-Tischtennis, wo er immer ein wenig größer tat, als er in Wirklichkeit war, und gerne gegen Frauen antrat, denen er gönnerhaft ein paar Angabetricks verriet. Ein einziges Mal hatte ich gegen ihn gespielt und überraschend deutlich verloren, vielleicht war auch das der Grund, warum ich ihm ein paar Schläge mehr wünschte.
Durch das gekippte Fenster schwappte ein wenig Feierabendlärm in die Küche, die Stadt roch nach Anis und alten Menschen. Vom Fenster konnte ich bis zum Fluss sehen. Ein Stückchen nur, genaugenommen nicht mehr als ein paar Meter der gegenüberliegenden Uferlinie, Meter, die zudem mit einem still vor sich hin rostenden Frachtkahn zugestellt waren. Dennoch war ich davon überzeugt, dass mein Flussblick etwas Besonderes war, und auch wenn ich im Laufe der Jahre niemanden erkennbar damit beeindruckt hatte, wurde ich nicht müde, ihn in Gesprächen zu erwähnen.
Im Grunde konnte ich mir die Wohnung nach meinem Rauswurf bei Walter & Kremer nicht mehr leisten. Gewiss, ich hatte noch ein paar Monate Abfindung vor mir, aber ich kannte mich und meine gelegentliche Lethargie, und ich kannte die Zeit, die acht Monate schneller auffressen konnte als ein Schwarm Piranhas ein angekratztes Bein. Keineswegs hatte ich mir diesen Zustand erträumt, aber nun, da ich mich in ihm befand, schien er mir auch nicht schlechter als andere, die ich in meinem Leben durchlaufen hatte. Das zumindest trug ich mir bisweilen in Gedanken vor, insbesondere dann, wenn Sonja neben mir lag. Sonja schien diese Gedanken zu erraten. Mehr als einmal sagte sie Dinge wie «auch nicht schlecht, so ein Leben» oder «ausschlafen wie Epkes», auf die ich vorsichtshalber mürrisch reagierte. «Ach, du wieder», sagte sie dann und lachte, und weiter sprachen wir nicht darüber.
Sonja bestand nach wie vor auf unserer Trennung und brüstete sich, dass sie in der Zwischenzeit zu einer Art Sex-Maniac mutiert sei, dabei hatte sie, wenn ich sie richtig verstand, nur einen weiteren Mann, mit dem sie sich gelegentlich traf.
«Und du», fragte sie, «wie sieht’s bei dir aus?»
«Zwei, drei», erwiderte ich, «nichts Ernstes», und ich sah, wie sich Sonjas Gesicht verfinsterte.
«Lass das», sagte sie, «das ist nicht lustig.»
«Manchmal», sagte ich, «komme ich schon mit den Namen durcheinander. Sinja, Sonja, Ronja, Dunja, morgen treffe ich eine Svenja.»
Sonja rollte ihren fülligen Körper von mir weg und sah mich an.
«Ich glaube dir kein Wort.»
Eine Weile erwiderte ich ihren Blick, dann schloss ich die Augen. Ich tat, als träumte ich ein wenig von Sinja, Ronja oder Dunja, und hörte, wie Sonja ihre Decke zur Seite schob und sich aufsetzte, kurz darauf, wie sie den BH am Rücken schloss.
«Lass dich überraschen», sagte sie, «aber viel würde ich an deiner Stelle nicht darauf wetten, dass ich hier noch einmal auftauche.»
Ich öffnete die Augen und erkannte an jeder von Sonjas Bewegungen, wie aufgebracht sie war. So recht war mir nicht klar, womit ich sie derart in Rage gebracht hatte. Mein Witz war vielleicht ein wenig müde gewesen, aber dass sie ihn für bare Münze nahm, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Vielleicht, so dachte ich, waren es die Namen, die ich erfunden hatte. Sonja hasste ihren Vornamen, den angeblich sonst nur Kühe oder Ponys trugen. Gut möglich, dass sie glaubte, ich habe sie mit ihrer Sonja-Phobie auf die Schippe nehmen wollen, ein Gedanke, der zugegebenermaßen nicht ganz abwegig war.
Sonja ging und meldete sich eine Weile nicht mehr bei mir. Ich begann sie zu vermissen, oder ich begann, den Sex mit ihr zu vermissen, der mir wichtiger geworden war, seitdem sie sich von mir getrennt hatte. Früher hatte er eine gewisse Folgerichtigkeit gehabt und war einfach Teil unseres Zusammenseins gewesen. Jetzt, da wir nichts anderes mehr miteinander teilten, hatte er in meinen Gedanken eine bizarre Größe eingenommen. Dabei hatte sich unser Sex unter den neuen Gegebenheiten eigenartig verwandelt. Er war roher und gleichzeitig kraftloser geworden. Sonja flüsterte mir obszöne Dinge ins Ohr, die sie früher nie gesagt hätte und die mir auch jetzt nicht zu ihr zu passen schienen. Ich wiederum versuchte, Sonja so mit meinem Körper zu bearbeiten, dass ich sie während des Aktes ganz unter meiner Kontrolle hatte. Auch das passte nicht. Wir vermieden es, darüber zu sprechen, aber ich war mir sicher, dass uns bisweilen beiden danach war, einfach mittendrin aufzuhören. Aufzuhören und schweigend nebeneinander zu liegen, vielleicht sogar dabei einzuschlafen, etwas, das wir uns gänzlich abgewöhnt hatten. Vermutlich, weil wir uns der Intimität des gemeinsamen Aufwachens nicht mehr aussetzen wollten, wollten oder konnten, so leicht war das nicht auseinanderzuhalten.
In der Tat bemühte ich mich, es Sonja gleichzutun und andere Frauen anzusprechen, aber all meine Versuche waren so hölzern, dass ich es nicht schaffte, auch nur eine einzige zu einer gemeinsamen Tasse Kaffee zu überreden. Eine immerhin meldete sich am Tag darauf, um sich mit mir zum Spazierengehen zu verabreden, aber als ich begriff, dass sie mich nur aus Mitleid angerufen hatte, gab ich vor, krank zu sein, und legte auf.
Ich versuchte, meinen Tagen eine Struktur zu geben, und vermied es, länger als neun Uhr zu schlafen. Neun Uhr, so schien es mir, trennte die Ausgeruhten von den Hoffnungslosen, und ich hatte nicht vor, mich allzu leichtfertig in die falsche Schlange einzureihen. Obwohl es mich jedes Mal 7,50 Euro kostete, frühstückte ich regelmäßig im Café. Das, so fand ich, gab meinem Leben eine gewisse Größe. Zudem achtete ich darauf, jeden Morgen ein frisches Hemd anzuziehen, das ich jeweils am Abend zuvor während der Tagesschau bügelte. Wer mich nicht kannte, musste mich für einen Schriftsteller oder einen Künstler oder wenigstens für einen Privatier halten.
Ich wählte für mein regelmäßiges Frühstück ein Café, in dem ich nie zuvor gewesen war. Vielleicht war das Hornstein nicht von der Sorte, in der Schriftsteller, Künstler und Privatiers verkehrten, aber nicht zuletzt deshalb hatte ich es gewählt. Schon nach wenigen Tagen genoss ich eine gewisse Prominenz und bekam mein Frühstück serviert, ohne es eigens bei der Bedienung bestellen zu müssen. Mehr noch: Ab der zweiten Woche war auf zehn Uhr für mich gedeckt, ein Tisch am Fenster mit Blick in den Garten, in dem sich ein paar Enten an einem Teich langweilten und auf ihren Futtermeister warteten, einen Vietnamesen aus der Küche, der pünktlich um elf einen Eimer mit Essensresten zwischen sie kippte und so Leben in ihr Gefieder pumpte.
Bis zu meinen Frühstücksbesuchen im Café Hornstein hatte ich Enten immer für liebenswerte und zivilisierte, an manchen Tagen gewiss sogar für süße Geschöpfe gehalten, nun wusste ich es besser. Sie fielen über die Essensreste her, als gäbe es kein Morgen, und hieben mit ihren Schnäbeln auf alles ein, was ihnen dabei in die Quere kam. Der Vietnamese schaute dem Treiben eine Weile ungerührt zu, bevor er den Eimer stets auf die gleiche Weise gegen seine Brust drückte und wieder in der Küche verschwand. Schnell hatte ich raus, welche der Enten mehr vom Essen abbekamen und welche hungrig auf den nächsten Morgen warten mussten, einen Morgen, der sie wieder nicht satt machen würde. Ich hatte ein paar kommunistische Gedanken, wie sie mir öfter in den Sinn kamen, wenn ich mich mit der Ungerechtigkeit der Welt konfrontiert sah. Beim Anblick von Windhunden etwa oder wenn ich in einer Zeitschrift etwas über Strandbars auf Sylt las, aber allermeist lösten sich solche Anflüge rasch in Wohlgefallen auf. Wie auch der Krieg der Enten, der keine fünf Minuten dauerte. Dann war der Inhalt des Eimers vertilgt, und die alte Langeweile kehrte an den Teich zurück, ich zahlte und ging.
Zweimal in der Woche besuchte ich nach dem Frühstücken meinen Vater. Obwohl das Pflegeheim am anderen Ende der Stadt lag, ging ich zu Fuß. Aus dem müden Juli war längst ein heißer August geworden, und weil ich ein bisschen in Form bleiben wollte, war mein Hemd regelmäßig völlig durchgeschwitzt, wenn ich bei meinem Vater ankam. Er sah mich und freute sich, wie er sich über ein Stück Birne oder einen Löffel Hustensirup freute, da machte er keine Unterschiede. Ich versuchte mir einzureden, dass mein Vater im tiefsten Inneren vielleicht doch noch irgendwelche Erinnerungen an mich aufbewahrte. Etwa die an unsere einzige gemeinsame Zelttour im Harz oder daran, dass wir einmal zusammen im Schwimmbad vom Fünfmeterturm gesprungen waren und der Bademeister uns dafür noch im Becken zusammengestaucht hatte. Und wenn nicht daran, dann an irgendetwas anderes, an einen Streit, an eine Ohrfeige, von mir aus sogar daran, dass ich ihn kurz vor meinem Auszug einmal einen «Vaterarsch» oder einen «Arsch von Vater» genannt hatte, ich selbst erinnerte mich nicht mehr so genau.
«Sehen Sie es so», hatte Dr. Janson, der Heimarzt, ein warmherziger Mann um die fünfzig, einmal zu mir gesagt, «er hat allen Ballast abgeworfen, er braucht nichts mehr davon», und so sehr mir sein Bild meines ganz leicht gewordenen Vaters gefallen hatte, so wenig war ich bereit, mich damit abzufinden.
Manchmal lieh ich mir, bevor ich auf sein Zimmer ging, am Empfang Momo, den Besuchshund, aus, der vom Haus vor einiger Zeit eigens zu diesem Zweck angeschafft worden war. Dann gab es für meinen Vater kein Halten mehr.
«Pschorri», rief er, «mein lieber Pschorri», und wenn es Momo gut mit ihm meinte, dann sprang er meinem Vater auf den Schoß und ließ sich von ihm umarmen, bis er keine Luft mehr bekam.
Der wirkliche Pschorri war bereits vor mehr als zwanzig Jahren einen gnädigen Tod gestorben. Altersschwach, wie er war, hatte er sich am Abend in seinen Korb zum Schlafen gelegt und war am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufgewacht. Pschorri wurde noch am selben Tag in Anwesenheit aller greifbaren Familienmitglieder im Garten zu Grabe getragen. Mein Vater weinte, wie ich ihn noch nie hatte weinen sehen und wie ich ihn auch später nie wieder weinen sah, noch nicht einmal beim Tod meiner Mutter im Jahr darauf. Nach Pschorri gab es keine weiteren Hunde im Leben meines Vaters, wie es nach dem Tod meiner Mutter keine anderen Frauen mehr für ihn gab, und vielleicht war diese Treue das Einzige, was ich an meinem Vater still bewunderte. Kurz bevor er begann, sich in seine Demenz zu verabschieden, hatte er sich allerdings noch einmal einen Wellensittich zugelegt, einen Piffi oder Tiffi, an dem er freilich schnell das Interesse verlor, und der, wie ich mit ziemlicher Sicherheit annehme, einen erbärmlichen Hungertod gestorben ist. Ein Begräbnis für Piffi oder Tiffi gab es nicht und vermutlich auch keine Tränen, «Ach, der», hatte mein Vater nur gesagt, als ich in der Küche auf den leeren Käfig gedeutet hatte, und weiter sprach er nicht darüber.
Wenn ich meinen Vater zusammen mit Momo besuchte, ging ich meist nach wenigen Minuten auf den Balkon und ließ die beiden allein, bis meine Leihzeit nach fünfundvierzig Minuten abgelaufen war. Manchmal hörte ich meinen Vater drinnen vor Freude glucksen, wie er in seinem nicht-dementen Leben selten vor Freude gegluckst hatte, und wenn doch, dann war ganz bestimmt nicht Pschorri der Grund für seine plötzliche gute Laune gewesen. Im Grunde gönnte ich meinem Vater diese Freude nicht und beschloss jedes Mal aufs Neue, Momo nicht mehr mitzubringen, aber dann überlegte ich es mir doch wieder anders und trug mich am Empfang in Momos Leihkarte ein, die vom zahlreichen Einsatz an den Rändern ganz abgegriffen war. Auch Momo selbst war an den Rändern bereits ein bisschen abgegriffen. Die vielen Tätschelhände hatten ihre Spuren hinterlassen, und wahrscheinlich träumte Momo bereits davon, sich mit einem gezielten Amoklauf zurück ins Tierheim zu befördern, wo er herkam und wo man ihn bei aller Kargheit seines Lebens wenigstens in Ruhe gelassen hatte.
Natürlich machte auch ich mich an ihm schuldig, indem ich ihn regelmäßig auslieh und den Umarmungen meines Vaters auslieferte, aber ich achtete darauf, dass ich ihn auf dem Weg dorthin und wieder zurück immer ein wenig gröber behandelte als notwendig. Dafür, so glaubte ich, würde er mich verschonen, ein Gedanke, an dem ich festhielt, bis Momo eines Tages verschwunden war. Allem Anschein nach war er einfach gegangen, wohin wusste niemand. Einer der Gärtner hatte Momo noch am Teich gesehen und später noch einmal am abgelassenen Kneippbecken im hinteren Teil des Parks, dort verlor sich seine Spur.
Ich merkte, dass ich trotz allem ein bisschen traurig war. So war es oft: Ich wünschte mir etwas vom Hals, und wenn es dann weg war, war ich betrübt. Erst kürzlich hatte ich mich von einer kleinen Zinnfigur, einem blau gekleideten Ritter mit Hellebarde, getrennt, die mich annähernd zwanzig Jahre lang nutzlos begleitet hatte. Doch kaum war sie zusammen mit dem Wochenmüll abtransportiert worden, vermisste ich sie bereits. So sehr, dass ich nach einer Woche eine neue Zinnfigur kaufte und sie an den Platz der alten stellte, aber weder war der neue Ritter blau gekleidet noch hielt er eine Hellebarde in seinen Händen. Überhaupt wirkte er insgesamt wenig ritterlich, ein Fehlkauf, der die Lücke, die der alte Ritter hinterlassen hatte, in keiner Weise zu füllen vermochte, nach drei Tagen warf ich auch ihn in den Müll.
Ich ging zum Fahrstuhl und fuhr nach oben zu meinem Vater. Anders als sonst saß er eingewickelt in eine Decke auf dem Balkon und bemerkte es nicht, als ich ins Zimmer trat. Ich zögerte, dann setzte ich mich in seinen Sessel und schaute ihm dabei zu, wie er unbewegt in die Ferne sah und immer wieder für kurze Momente lächelte. Einmal winkte er jemandem zu oder winkte ins Nichts, ich konnte es von meinem Platz nicht sehen. Auch ich lächelte von Zeit zu Zeit oder bildete mir ein zu lächeln, eine seltsame, nein: eine seltene Rührung breitete sich in mir aus, so hatte ich meinen Vater noch nie gesehen, nach fünfundvierzig Minuten stand ich auf und ging.
In der Stadt traf ich auf Loos. Er trug ein kurzärmeliges Hemd und kurze Hosen in sommerlichen Farben, sah ansonsten aber ziemlich blass aus.
«Du weißt es schon, oder?», sagte Loos.
Er hatte mich von der anderen Straßenseite aus erkannt und war ohne Umschweife auf mich zugestürmt. Auf seiner Oberlippe standen ein paar Schweißperlen, und obwohl es noch nicht einmal ein Uhr war, hatte ich den Eindruck, dass Loos getrunken hatte.
«Nein», erwiderte ich, «was denn?»
Loos nickte und zog ein wenig asthmatisch Luft ein. Dann schlug er sich urplötzlich die Hände vors Gesicht und begann zu zittern.
«Mensch, Loos», sagte ich und legte meine rechte Hand auf seine Schulter, zog sie aber sofort zurück, als ich die warme Feuchte seines Körpers durch den Stoff seines Hemdes spürte.
«Kremer», sagte Loos schließlich, «er ist am Ende.»
«Kremer?»
«Die Firma, alles vorbei, gestern war unser letzter Tag.»
Loos ließ seine Hände sinken und setzte sich auf ein nahes Mäuerchen. Gänzlich ungeniert zog er ein kleines Fläschchen Schnaps aus seiner Hosentasche und leerte den Rest darin in einem Zug.
«Ach, komm», erwiderte ich, ohne recht zu wissen, was ich damit sagen wollte. Vielleicht: «Ach, komm, Kremer wird die Kurve schon kriegen», oder: «Ach, komm, du bist doch noch jung», aber Loos war nicht mehr jung, und daran, dass Kremer noch einmal die Kurve kriegen würde, glaubte ich in Wahrheit auch nicht.
«Du hast es gut», sagte Loos in die Stille, die kurz, aber schwer über uns gefallen war, «du hast wenigstens noch eine fette Abfindung kassiert, jetzt ist der Topf leer.»
Ich spürte, wie sich ein paar Krallen in meine Brust bohrten. Mir war nicht klar, wer Loos von meiner Abfindung erzählt hatte, ich jedenfalls nicht, aber das war es nicht, was mich aus seinen Worten ansprang. Anders als von Kremer angekündigt, hatte ich mein Geld nicht auf einen Schlag ausgezahlt bekommen, sondern in Raten zum Monatsende. Das war mir bislang durchaus recht gewesen, und ich hatte keinen Grund gesehen, Kremer an unsere Abmachung zu erinnern. Ich bezog acht Monate weiter mein reguläres Gehalt, und auch wenn ich mir damit kaum einreden konnte, noch immer bei Walter & Kremer im Brot zu stehen, gaben mir die Überweisungen am Monatsende ein gutes Gefühl. Genaugenommen war es bislang nur eine gewesen, die für Juli, mein Augustgeld stand noch aus, und das, obwohl die ersten beiden Septemberwochen schon fast vorüber waren.
«Kremer», sagte Loos, «hat sich erst einmal mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus gelegt. So geht’s natürlich auch.»
«Ja, ja», erwiderte ich ein wenig abwesend, «so geht’s auch», und überschlug in Gedanken den Puffer, den mein Konto noch aufweisen musste, ein Puffer, der sich vermutlich im niedrigen dreistelligen Bereich bewegte. Selbst bei kärglichstem Haushalten würde mich das kaum zwei Wochen weit bringen.
«Ach, Epkes», flüsterte Loos neben mir, «wenn ich meine Frau nicht hätte, säße ich jetzt ganz schön in der Scheiße.»